Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 14: Tiefe Gräben ------------------------ Tobias steckte den Kopf ins Wohnzimmer, wo ich mit als Einziger noch über meinen Hausaufgaben brütete. „Manuel? Denkst du dran, dass wir in zehn Minuten loswollen? Du solltest also so langsam zusammenpacken.“ „Klar.“ Tobias verschwand wieder und ich wandte mich wieder meinen Mathehausaufgaben zu, die heute irgendwie besonders zäh waren. Thomas hatte mich mehrmals gefragt, ob er mir helfen sollte, aber es lag nicht daran, dass ich die Aufgaben nicht verstand. Es lag daran, dass ich mich nicht konzentrieren konnte. Kaum hatte ich das gedacht, drifteten meine Gedanken schon wieder ab. Unter anderem zu dem Termin, der vor mir lag. Er machte mir fast noch mehr Magenschmerzen als der, zu dem Tobias mich letzte Woche noch geschleppt hatte. Dr. Dubanski hatte mich gründlich durchgecheckt und mich am Ende als gesund und mit der Empfehlung, mir eine andere Ablenkung zwecks Rauchentwöhnung zu suchen, entlassen. Nun war ich im Besitz eines Monatsvorrats an normalen Kaugummis und eines grünen Stressballs. Den ich nicht gegen die Wand werfen durfte, wie Tobias mir mehrmals eingeschärft hatte. Zumindest nicht während der Mittagspause. Aber die fiel ja heute aus. „Du kannst dich im Sportraum abreagieren“, hatte er gesagt. Seit ich von meiner Tour wiedergekommen war, ließ er mich tatsächlich kaum noch aus den Augen. An manchen Tagen hatte ich so viel zu tun, dass ich abends einfach nur noch ins Bett fiel und einschlief. Ich ging zur Schule, absolvierte meine Dienste, arbeitete im Haus oder Garten, machte Sport, bekam Nachhilfe. Es war kaum auszuhalten. Wie im Militärcamp. Und heute hatte er mich dann beim Psychologen angemeldet. Demselben, zu dem Leif auch ging. Und das war noch nicht mal das Schlimmste. „Na los, ihr beiden.Wir wollen nicht zu spät kommen.“ Mit einer auffordernden Geste hielt Tobias uns die Tür auf. Leif sah kurz zu mir rüber, bevor er Tobias’ Aufforderung als Erster nachkam. Ich folgte ihm zögernd. Als ich draußen war, puffte Tobias mir in die Seite. „Hey, nun mach doch nicht so ein Gesicht. Dr. Leiterer wird dich schon nicht fressen.“ Ich grinste schwach. „Tja, aber ich vielleicht ihn.“ „Das würde ich dir nicht raten. Er sieht zäh aus.“ Tobias lachte und ich schaffte es irgendwie den Eindruck zu erwecken, das ich das auch tat. Doch in mir sah es ganz anders aus. Als wir am Auto ankamen, stand Leif bereits neben der hinteren Tür auf der Fahrerseite. Der Anblick erinnerte mich unangenehm an den Vorfall eine Woche zuvor. Damals hatte ich mich mit Sven um die Sitzplätze gestritten. Jetzt stand ich hier und hätte am liebsten keinen von ihnen gehabt. Konnte ich bitte wieder zurückgehen? „So, rein mit euch. Es ist offen.“ Ich warf Leif einen Blick über das Wagendach zu. Er erwiderte ihn kurz, bevor er den Kopf senkte, die Tür öffnete und einstieg. Für einen Moment war ich versucht, mich neben ihn zu setzen. Einfach nur, weil … Aber mir war klar, dass das keine gute Idee war. Seit einer Woche herrschte zwischen uns so gut wie Funkstille, wenn man von so Sachen wie „gibst du mir mal die Butter“ absah. Es hätte also nichts gebracht, mich zu ihm zu setzen, nur um uns dann anzuschweigen. Außerdem hätte Tobias es bestimmt komisch gefunden, wenn ich mich nach hinten verkrümelt hätte. Also griff ich mit einem lautlosen Seufzen nach der Beifahrertür und stieg neben ebenfalls ein. Die Praxis von Dr. Leiterer befand sich im zweiten Stock eines Wohnhauses in der Innenstadt. Lediglich ein Schild an der Hauswand wies darauf hin, dass sich hier mehr als nur Müllers, Meiers und Schulzes tummelten. Mit schweren Schritten folgte ich Leif und Tobias die Treppen hinauf. Wir klingelten schrill an einer der Türen und wurden nur Sekunden später summend eingelassen. Drinnen erwartete uns eine umgebaute Wohnung mit einem langen Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Am Ende war eine von ihnen ausgehängt worden. „Wartezimmer“ stand auf einem Schild darüber. Der Raum dahinter wirkte merkwürdig kahl. Als hätte jemand die Hälfte der Möbel daraus entfernt und vergessen, neue reinzustellen. Es gab nur eine Reihe mit Stühlen und einen wackeligen Tisch mit Zeitschriften. „Du kannst übrigens zuerst gehen“, sagte Leif auf einmal zu mir. Ich war so erstaunt, dass er mich ansprach, dass ich fast über meine eigenen Füße stolperte. Irritiert sah ich ihn an. „Warum? Ich dachte, dein Termin ist vor meinem.“ „Ist doch egal“, gab er mit einem Achselzucken zurück. „Wir müssen eh warten, bis der andere fertig ist. Du kannst ruhig zuerst.“ Damit ließ er sich auf einem Stuhl nieder und nahm sich was zu lesen. Ich hingegen wusste nicht recht, was ich tun sollte. „Setz dich doch. Wir haben noch Zeit“, meinte jetzt auch Tobias und wies auf einen der Stühle. Ohne hinzusehen nahm ich dort Platz. Die Arme auf die Oberschenkel gestützt saß ich da und wartete, dass die Zeit verging. Schräg neben mir konnte ich aus den Augenwinkel Leifs Knie sehen. Auf seinem Schoß lag sein Tagebuch. Wahrscheinlich würde er es Dr. Leiterer zeigen, um mit ihm seine Fortschritte zu besprechen oder etwas in der Art. Wir beide hatten nicht mehr über das Buch geredet, aber als ich einmal unauffällig nachgesehen hatte, war es von seinem Platz unter der Matratze verschwunden gewesen. Wo er es jetzt aufbewahrte, wusste ich nicht und wollte es auch nicht wissen. Die Botschaft war angekommen. Eine halbe Ewigkeit später öffnete sich endlich die Tür am anderen Ende des Ganges. Ein großer, grauhaariger Mann begleitete eine dunkel gekleidete Frau zur Wohnungstür. Sie verabschiedeten sich bis nächste Woche, bevor er sie hinausließ und anschließend zu uns ins Wartezimmer kam. „Ah, die beiden Thielenseer“, sagte er mit einem Lächeln. „Sehr schön. Wer von euch kommt denn zuerst zu mir?“ „Manuel“, sagte Leif, bevor ich antworten konnte. Dr. Leiterer sah mich auffordernd an. „Gut, dann mal rein mit dir. Und keine Angst, ich beiße nicht.“ Ich warf Tobias einen vielsagenden Blick zu, doch der grinste nur und so blieb mir nichts anderes übrig, als Dr. Leiterer in sein Sprechzimmer zu folgen. Es war ein karger Raum mit hohen, weißen Wänden. In einer Ecke stand ein Schreibtisch, daneben ein Regal mit Büchern und einem Drucker. Direkt neben der Tür standen zwei Sessel an einem kleinen Tisch. Dr. Leiterer forderte mich auf, mich zu setzen, während er auf dem anderen Stuhl Platz nahm und nach einem Notizblock griff. Er zog einen Stift aus der Rückseite der schwarzen Mappe, klickte den Kugelschreiber heraus und sah mich freundlich an. „Na dann, Manuel, wo drückt denn der Schuh?“ In dem Moment wäre ich am liebsten wieder aufgestanden und gegangen. Allein die Tatsache, dass Tobias und Leif draußen saßen und ein solcher Auftritt noch peinlicher gewesen wäre als dieser Spruch, ließen mich sitzenbleiben. Ich verzog die Lippen zu einer Art Lächeln. „Danke, aber die passen eigentlich ganz gut.“ Dr. Leiterer lachte und offenbarte dabei noch mehr Falten als ohnehin schon. Wenn ich hätte schätzen müssen, hätte ich gesagt, dass er bestimmt schon so um die 60 war. Allerdings wirkte er fit. Wie eine von diesen Werbungen für glückliche Rentner. Vermutlich spielte er Golf oder etwas in der Art. Er sah aus, wie jemand der Golf spielte. Lag vielleicht an seinem hellblauen Poloshirt. „Gut, ich werde meine Frage anders formulieren. Hast du eine Vorstellung, warum du hier bist?“ Ich schnaubte leise. Jetzt ging die Tour wieder los. „Weil ich aus dem Heim abgehauen bin“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich hatte keine Ahnung, ob das stimmte, aber ich wusste, dass es sowieso irgendwann zur Sprache kommen würde. Also konnten wir auch gleich zur Sache kommen. „Ah ja, Herr Ritter hat mir davon erzählt. Möchtest du darüber reden?“ Okay, damit war es amtlich. Der Typ hatte einen Katalog für dumme Fragen zum Frühstück gehabt und beabsichtigte offenbar, mir eine nach der anderen wieder vor die Füße zu kotzen. Aber nicht mit mir! „Nein, eigentlich nicht“, gab ich lässig zurück und ließ mich in dem Sessel nach unten sinken. Es war einer von diesen Stoffdingern, in denen man ein bisschen wippen konnte. Ich probierte es aus und stieß prompt mit der Stuhllehne gegen die Wand. „Oh, dafür ist es wohl etwas eng hier“, meinte Dr. Leiterer und hob die Hand. „Vielleicht wenn du den Stuhl etwas von der Wand wegrückst. Dann hast du mehr Platz.“ Für einen Moment war ich versucht, die Lehne noch einmal gegen die Wand zu stoßen, doch dann stand ich halb auf und zog den Sessel ein Stück nach vorn, bevor ich mich wieder darauf setzte. Nach Wippen war mir jetzt allerdings nicht mehr zumute. „Also“, begann Dr. Leiterer erneut, „wenn du nichts Konkretes auf dem Herzen hast, würde ich dir einfach mal ein paar Fragen stellen und wir sehen, wohin wir kommen. Ist das in Ordnung?“ Ich nickte stumm. Weg konnte ich hier ja eh nicht. Sollte er halt fragen. Ich musste ja nicht antworten. „Sag mir mal, Manuel, warum bist du in Thielensee? Hast du Schwierigkeiten zu Hause gehabt?“ Beinahe hätte ich gelacht. Darum waren wir doch alle dort, oder nicht? Weil wir zu Hause nicht bleiben konnten. Entweder, weil unsere Familien es nicht mit uns aushielten oder umgekehrt. Oder sogar beides. In Svens Fall war ich mir sicher, dass es so war. Aber weil Dr. Leiterer so interessiert guckte, tat ich ihm den Gefallen. „Meine Eltern haben sich nicht ausreichend um mich gekümmert und irgendwann hat das Jugendamt beschlossen, dass ich nicht mehr bei ihnen wohnen sollte.“ Dr. Leiterer quittierte das mit einem Nicken. „Das klingt nicht gerade erfreulich. Aber da es sich um eine geschlossene Unterbringung handelt, nehme ich an, dass du vorher schon in anderen Einrichtungen gewesen bist. Ist das richtig?“ „Ja. Bin aber immer wieder abgehauen. Deswegen bin ich jetzt hier.“ „Mhm“, machte Dr. Leiterer und notierte sich etwas. „Das heißt, dass es dir dort, wo du warst, nicht gefallen hat?“ Ich zuckte mit den Schultern. Natürlich hatte es mir nicht gefallen. Wem gefiel so etwas schon. „Und jetzt in Thielensee. Gefällt es dir dort?“ Ich schnaufte. Das war echt anstrengender, als ich gedacht hatte. So viele dämliche Fragen auf einmal. „Doch, es gefällt mir“, antwortete ich, nur um mal was anderes zu sagen. „Also nicht alles. Das Aufstehen nervt. Und das ständige Putzen und Aufräumen. Und die Schule. Und dass ich nicht rauchen kann. Das hat vorher noch nie jemanden interessiert. Aber die sind da echt pingelig.“ Wieder notierte sich Dr. Leiterer etwas. Mich hätte ja interessiert, was er da schrieb, aber ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als zu fragen. „Kommen wir doch nochmal zu deinen Eltern. Was kannst du mir denn so über sie erzählen?“ Ich wendete den Blick ab und sah aus dem Fenster. „Nichts“, gab ich einsilbig zurück. Ich hatte keine Lust, über meine Eltern zu reden. Wozu auch. Ich war mit ihnen fertig. Endgültig. „Hast du noch Geschwister?“ Ich presste die Kiefer aufeinander und antwortete nicht. Über Pascal wollte ich noch viel weniger reden. „Manuel?“ „Was?“, fauchte ich. „Sie wissen doch sicher schon, dass ich einen Bruder habe. Er sitzt im Knast, weil er versucht hat, mich abzustechen. Sonst noch Fragen?“ Dr. Leiterer antwortete nicht. Ich starrte weiter auf das Fenster mit diesem … Rahmen. Wie man sie in alten Häuser sah. So in der Mitte zum Aufklappen. Die Bude hier musste schon ganz schön alt sein. Sicher zog es im Winter tierisch. „Bist du wütend auf deinen Bruder?“ „Was?“ Ich blinzelte und drehte den Kopf zu Dr. Leiterer. Er saß in seinem Stuhl und musterte mich vollkommen entspannt. „Ich habe gefragt, ob du wütend auf deinen Bruder bist. Nach dem, was er dir angetan hat, wäre das durchaus verständlich.“ Ich drehte wandte den Kopf ab. Ich wusste nicht, ob es wirklich Wut war, was ich fühlte, wenn ich an Pascal dachte. Es war eher das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. „Manuel?“ „Ich will nicht darüber reden.“ „Ich verstehe. Allerdings möchte ich dir noch sagen, dass alles, was wir hier besprechen, vertraulich behandelt wird. Niemand erfährt etwas davon. Auch nicht deine Erzieher oder deine Eltern oder dein Bruder.“ Ich lachte auf. Das war ja ein ganz großer Trost. Ja wirklich. Ein ganz. Großer. Trost. Es folgte eine kleine Stille, die durch nichts unterbrochen wurde als die leisen Geräusche, die aus dem Hof zu uns hoch drangen. Anscheinend warf da unten gerade jemand Flaschen in den Müll. War das überhaupt erlaubt? „Gut, dann versuchen wir etwas anderes. Wie steht es mit deinen Freunden?“ „Hab keine.“ Auch dieses Wie und Warum würde ich ihm sicherlich nicht auseinandersetzen. „Warum nicht?“ Kotz! Dr. Leiterer sah mich abwartend an. Aber da konnte er lange gucken. Ich würde ihm bestimmt nichts darüber erzählen, wie es war, in der Schule ständig Spießrutenlaufen zu machen. Die Blicke, die dummen Sprüche hinter meinem Rücken oder die ganzen mit Edding auf meinen Tisch geschmierten Sprüche. Mich hatte zwar nie jemand angerührt, das hatten sie sich nicht getraut, aber sie hatten so getan, als wäre ich gar nicht da. Das war absolut beschissen gewesen. „War das schon immer so?“ Ich warf ihm einen grollenden Blick zu. „Was?“ „Na, dass du keine Freunde hast. Du wirkst auf mich nicht wie jemand, der …“ „Ich hatte Freunde, klar?“, knurrte ich. Leider prallte meine Wut an Dr. Leiterer ab wie ein zu lasch geworfener Ball an einer weißen Wand. Ich sah in die andere Richtung. Wenigstens hatte ich immer gedacht, dass ich welche hatte. Wir hatten früher immer zusammen abgehangen. Gespielt, gerauft, die Umgebung erkundet, am Kanal Brücken gebaut und so was. Dass ich keinen Bock auf Fußballspielen im Verein hatte, hatte niemanden gestört. Wir hatten auf der Straße gekickt. Ohne Regeln. Das hatte mir besser gefallen. „Hast du jetzt noch Kontakt zu ihnen?“ Ich schnaubte wieder. „Nein. Wie denn auch? Ich krieg ja mein Handy nicht.“ Dass da eh nur noch wenige Nummern drin standen, musste er ja nicht wissen. „Wie geht es dir damit?“, hörte ich Dr. Leiterers Stimme irgendwo am Rand meiner Wahrnehmung. Er versuchte immer noch, mich auszuquetschen. Ich zuckte mit den Schultern. „Ich komm klar.“ Wieder schrieb er etwas auf. Das machte mich rasend. Ich wollte nicht noch eine Akte über mich. Nicht noch jemand, der mich aushorchte, mich kontrollierte, mir sagte, was ich tun oder lassen sollte. Ich wollte hier weg. „Vielleicht erlaubst du mir noch eine Frage zu deinem Bruder. Wie war euer Verhältnis vor dem Angriff?“ Ich hätte am liebsten gestöhnt. Was hatte der nur mit meinem Bruder? „Normal“, gab ich zurück. „Was bedeutet das?“ Ich verdrehte die Augen. „Na, normal halt. Wie zwei Brüder eben.“ „Habt ihr miteinander gespielt?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil er fünf Jahre älter war als ich. Er hat sich nicht für meinen Kram interessiert.“ Wieder Notizen. Es regte mich auf. „Und du? Hast du dich für seinen Kram interessiert.“ „Manchmal.“ „Und hat er dich mitmachen lassen?“ „Nein.“ Ich zog die Nase hoch und sah wieder aus dem Fenster. „Meistens nicht. Bis ich mal einen bei mir aus der Schule verdroschen habe. Das fand er cool und hat mich seinen Freunden vorgestellt.“ „Und weiter?“ „Wie weiter?“ Dr. Leiterer ließ den Stift sinken. „Hat sich euer Verhältnis dadurch geändert? Ich könnte mir vorstellen, dass er sich dann mehr um dich gekümmert hat.“ „Er hat sich auch vorher gekümmert!“ Dr. Leiterer schaute interessiert. „Ach ja? Wie das?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Naja, er hat mir… Sachen gekauft. Oder zumindest dachte ich, dass er sie gekauft hat. Hat sich rausgestellt, dass er das Meiste davon nicht bezahlt hatte.“ Ich grinste schwach und Dr. Leiterer schrieb sich etwas auf. „Und wie fandest du das?“ „Was?“ „Na, dass er dir geklaute Sachen geschenkt hat.“ „Ich wusste es ja nicht.“ Und manchmal wünschte ich heute noch, dass ich es nie erfahren hätte. Dann wäre vielleicht alles etwas anders gelaufen. „Das heißt also, dass sich dein Bruder mehr oder weniger um dein Wohlergehen gekümmert hat. Hat er auch gekocht? Eingekauft?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil ich das selber gemacht habe.“ „Verstehe.“ Wieder schrieb er was auf. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen. Dass ich „Weiberkram“ gemacht hatte, wie mein Vater es manchmal genannt hatte. Er hatte sich oft darüber lustig gemacht. Meine Mutter war immer froh gewesen, wenn ich ihr was abgenommen hatte. Sie hatte dann manchmal gelächelt. „Nun gut. Dann wenden wir uns vielleicht mal deiner aktuellen Situation zu. Wie kommst du denn mit deinen Betreuern klar.“ „Es geht.“ „Die anderen Mitbewohner?“ „Es geht.“ „Schule?“ „Geht.“ Dr. Leiterer lächelte. „Du machst es dir gerne schwer, oder?“ „Jeder Mensch braucht ein Hobby.“ Dr. Leiterer machte sich eine Notiz. „Möchtest du vielleicht über etwas anderes reden?“ „Nein.“ Ich erwartete, dass er mir sagte, dass wir aber reden müssten. Dass es seine Aufgabe war herauszufinden, was mit mir nicht stimmte und wie man das abstellte. Aber er sagte gar nichts. Er saß einfach nur da und wartete. Na gut, konnte er haben. Im Anschweigen war ich Weltmeister. Wir schwiegen also um die Wette, während meine Zeit hier drinnen verstrich. Das wurde erst in dem Moment ätzend, als mir einfiel, dass ich ja während Leifs Termin auch noch da draußen sitzen und warten musste. Noch eine weitere Stunde Schweigen. Wie aufregend. „Machen Sie das mit Leif eigentlich auch so?“, fragte ich, ohne Dr. Leiterer anzusehen. „Was meinst du?“ „Na, schweigen Sie den auch einfach an, wenn er nicht reden will. Immerhin hat er ja wirklich eine Schraube locker.“ Ich hörte Dr. Leiterer schmunzeln. Er antwortete jedoch nicht. Als ich zu ihm rübersah, lächelte er entschuldigend. „Ich habe dir gesagt, dass alles, was zwischen mir und einem Patienten passiert, vertraulich ist. Das gilt auch für die anderen.“ Gegen meinen Willen wollten sich meine Mundwinkel ein bisschen nach oben bewegen. Der Kerl war vielleicht doch gar nicht so schlecht. Dachte ich wenigstens, bis zu dem Moment, als er schon wieder anfing, mir Fragen zu stellen. „Warum denkst du, dass Leif, wie du so schön sagst, 'eine Schraube locker hat'?“ Ich schnaubte. „Na weil er nicht isst. Also manchmal. Ist doch nicht normal, oder?“ Wieder bekam ich keine Antwort. War ja klar. Mich konnte man ausfragen, aber wenn ich mal was wissen wollte … Dr. Leiterer klappte auf einmal seine Mappe zu. Ich sah ihn erstaunt an. „Was ist los?“ Er lächelte leicht. „Nun, deine Zeit ist fast um. Ich habe gleich meinen nächsten Patienten.“ Ja. Leif. Hatte ich nicht vergessen. Ich war ja nicht blöd. Unsicher biss ich mir auf die Lippe. „Kriegen Sie ihn wieder hin?“ „Wie meinst du das?“ Ich sah zu Boden. „Na ja. Das mit dem Essen und so. Das wird doch wieder, oder?“ „Ich bin überzeugt, dass wir auf einem guten Weg sind.“ „Also geht es ihm besser?“ Dr. Leiterer seufzte. „Ich sagte doch, dass ich dir darüber keine Auskunft geben kann. Warum interessiert dich das eigentlich so?“ Ich hob erneut die Achseln. „Weiß nicht. So halt. Ich wohne immerhin mit ihm zusammen.“ „Du magst ihn also?“ Bei dieser Frage wurde mir ein bisschen warm. So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Aber ja, es stimmte wohl. Ich mochte Leif. Ich mochte es, mit ihm zusammenzusein. Aber momentan ging das nicht. Ich hatte Hausverbot. Sozusagen. „Ja“, antwortete ich ein wenig zu spät. „Er ist … nicht so ein Idiot wie die anderen.“ Dr. Leiterer lächelte schon wieder. „Wie wäre es, wenn du ihn diese Dinge selber fragst? Wenn er möchte, kann er dir ja von unseren Sitzungen erzählen.“ „Und wenn er nicht möchte?“ Es folgte ein kurzes Schweigen. „Hast du Angst davor, dass er das nicht will?“ Mein Kopf ruckte nach oben. Wütend funkelte ich Dr. Leiterer an. „Ich habe vor gar nichts Angst!“ Er lächelte sanft. „Na dann würde ich vorschlagen, dass du ihn fragst.“ Ich wollte noch etwas erwidern, aber Dr. Leiterer wies auf die Uhr, die an der Wand hing. „Tut mir leid, die Zeit ist um. Aber vielleicht können wir uns nächstes Mal darüber unterhalten, wie es war. Viel Glück, Manuel.“ Ein wenig unsicher stand ich auf. Das war quasi ein Rausschmiss. Ich erkannte einen, wenn ich ihn sah. „Ja, dann … geh ich mal.“ „Bis nächste Woche.“ Draußen vor der Tür merkte ich, dass ich geschwitzt hatte. Am liebsten hätte ich geduscht. Ich hatte das Gefühl zu stinken. Trotzdem bemühte ich, mir nichts anmerken zu lassen. „Du kannst rein“, sagte ich zu Leif und ließ mich ohne einen weiteren Blick in seine Richtung auf einen der Stühle fallen. Ich hörte, wie er aufstand, die Zeitung weglegte und durch den Flur in das Sprechzimmer ging. Als sich die Tür hinter ihm schloss, atmete ich auf. Erst danach bemerkte ich, dass da ja auch noch Tobias war. Ich hatte ihn vollkommen vergessen. „Anstrengend?“, fragte er nur. Ich machte eine Kopfbewegung, die sowohl“ Ja“ wie auch „Nein“ heißen konnte. „Es ging“, schob ich noch hinterher. Tobias sollte nicht denken, dass ich ein Weichei war, dass bei der Erwähnung seiner Mutter in Tränen ausbrach oder so. „Wollen wir rausgehen?“ Ich blinzelte Tobias erstaunt an. „Raus?“ „Ja. Ne Runde um den Block gehen oder so. Bis Leif fertig ist.“ Ich zuckte. Es lag mir auf der Zunge zu sagen, dass er das bei mir wohl nicht gekonnt hatte, aber ich ließ es bleiben. Ich stand eben immer noch unter Beobachtung. „Okay.“ Tobias fragte nicht weiter, worüber ich mit Dr. Leiterer geredet hatte. Er sagte einfach gar nichts. Stumm gingen wir nebeneinander her im Sonnenschein spazieren. Dabei sah ich kaum, wo wir langliefen. In Gedanken war ich immer noch bei dem, was Dr. Leiterer gesagt hatte. Dass ich Leif einfach nach den Sitzungen fragen sollte. So einen ähnlichen Rat hatte ich von Tobias auch schon mal bekommen. Aber was, wenn er sagte, dass mich das nichts anging? Wenn er mir sagte, dass ich mich verpissen sollte. Aber hatte er nicht gesagt, wir wären Freunde? Blödsinn! Freunde quatschen nicht über so was. Die machen was zusammen, hängen ab. Nur waren die Möglichkeiten dafür momentan ziemlich eingeschränkt. Wie sollte ich das anstellen? „Er scheint ja einen ziemlichen Eindruck gemacht zu haben“, hörte ich plötzlich Tobias von schräg links hinter mir. Verwundert blieb ich stehen und sah mich um. Tobias stand vor einer Eisbude und grinste. „Wer?“, fragte ich und kam mir dämlich vor. Hatte er mit mir gesprochen? „Na, Dr. Leiterer. Seit du bei ihm raus bist, hast du kaum zwei Worte gesagt. Und du grübelst die ganze Zeit vor sich hin. Also hab ich mir gedacht, dass er dir wohl irgendwas Wichtiges gesagt hat.“ Ich verzog den Mund zu einem halben Lächeln. „Tja, weiß nicht. Vielleicht. Ich muss noch drüber nachdenken.“ Tobias Grinsen wurde breiter. „Kannst du das auch, während du Eis isst?“ „Auf jeden Fall.“ Ich bekam ohne weitere Nachfrage zwei Kugeln Vanilleeis in die Hand gedrückt, während Tobias sich für Erdbeer entschied. Als ich probierte, breitete sich ein wunderbar cremiger Geschmack in meinem Mund aus. Süß, aber nicht zu süß, und voll mit diesen kleinen, schwarzen Pünktchen. Echte Vanille, wie Tobias mir sagte. Nicht dieses nachgemachte Zeug. Die beste Eisdiele der ganzen Gegend. „Mhm, das ist wirklich gut“, meinte ich zustimmend und leckte noch einmal an meinem Eis. „Hab ich ja gesagt“, erwiderte Tobias mit vollem Mund. Das musste wohl der Teil sein, den ich verpasst hatte. „Ob wir Leif eins mitbringen sollen?“, überlegte ich laut, bevor ich darüber nachgedacht hatte, was ich da sagte. Tobias schenkte mir einen merkwürdigen Blick. „Wir können ihn ja fragen, wenn wir ihn abholen. Ich würde auch noch eins essen.“ „Ich auch“, erwiderte ich grinsend. Das Eis war wirklich hervorragend. Und es half ein bisschen gegen das Nachdenken. Außerdem wollte ich sehen, wie Leif auf die Idee reagierte. Immerhin gab es niemanden, der kein Eis mochte, oder? Da würde bestimmt nicht mal er Nein sagen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)