Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 13: Steine und Scherben ------------------------------- In dem Moment, in dem ich Schritte auf dem Flur hörte, sprang ich aus dem Bett. Ich war bereits seit einer halben Ewigkeit umgezogen und startklar, aber die Zeit hatte einfach nicht vergehen wollen. Zäh wie mein nicht vorhandenes Kaugummi hatten sich die Minuten hingezogen. Als Tobias nun endlich bei mir klopfte und die Tür aufschloss, war ich kurz davor zu schreien. „Alles okay hier?“, fragte er und ließ einen argwöhnischen Blick durch mein Zimmer schweifen. Ich fragte mich, was er wohl zu finden hoffte? Drogen? Ein Feuer? Einen halbnackten Gogo-Tänzer? „Ja, alles bestens“, gab ich zurück und bemühte mich, nicht allzu offensichtlich herumzuzappeln. Ich musste Leif erwischen, bevor wir nach unten gingen. Ich musste.   Leider hatte das Schicksal andere Pläne. „Sieh an, wer wieder angekrochen gekommen ist.“   Svens nervtötende Stimme war gepaart mit einem abschätzigen Grinsen.   „Hast es wohl nicht ohne uns ausgehalten.“   Ich entblößte die Zähne. „Halt doch einfach die Klappe!“ „Halt du deine!“ „Jungs!“   Tobias trat zwischen uns und sah von einem zum anderen. „Keine Stänkereien, haben wir uns verstanden. Wenn ihr ein Problem miteinander habt, können wir das gerne vernünftig klären.“   „Ich hab kein Problem mit dem“, meinte Sven sofort. „Er fängt doch immer Streit an.“   „Ich?“ Ich glaubte mich verhört zu haben. „Du lässt mir doch keine Ruhe, lästerst ständig über mich rum, versteckst meine Sachen …“   Ich unterbrach mich, als mir klar wurde, was ich gerade gesagt hatte.   „Er macht was?“ Tobias sah erst mich und dann Sven an. „Stimmt das?“ „Was weiß denn ich“, murrte der und schob den Unterkiefer vor. „Der bildet sich wohl ein, dass er wichtig ist.“   Tobias wandte sich wieder an mich. „Warum hast du nichts davon gesagt?“   Ich fühlte förmlich die Wand in meinem Rücken. Warum hatte ich wohl nichts gesagt? Weil das nichts brachte. Weil es dadurch nur noch schlimmer wurde. Weil man demjenigen, der einen verpfiff, hintenrum nur noch mehr eine reinwürgen wollte, und auch immer Wege fand, um das zu tun. Ich kannte mich aus. Ich hatte das selber schon zur Genüge gemacht. „Weil …“ „Weil’s nicht stimmt. Der lügt doch, wenn er den Mund aufmacht.“ Sven war rot angelaufen und hatte die Fäuste geballt. Ich wusste, wenn er gekonnt hätte, hätte er mir jetzt eine reingehauen. Aber das musste er gar nicht. Ich wusste auch so, was ich tun musste.   Ein Lächeln hob meine Mundwinkel in die Höhe. „Ja“, gab ich zu und zuckte mit den Schultern. „Sven hat recht. Ich hab mir das nur ausgedacht, um ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Tut mir leid.“   Ich sah Tobias an, dass er mir nicht glaubte, aber er seufzte nur und schüttelte leicht den Kopf.   „Na schön. Dann ab mit euch nach unten. Ich hole Leif.“ Damit drehte er sich um und ging zum Ende des Flurs. Sven warf mir einen merkwürdigen Blick zu, bevor er an mir vorbei in Richtung Treppe ging. Dass er mir dabei eins mit der Schulter verpasste, wunderte mich gar nicht. Ich atmete tief durch und folgte ihm.   Nach der Hälfte der Stufen blieb er plötzlich stehen, drehte sich zu mir um und starrte mich an.   „Warum hast du das gemacht?“   Ich verstand nicht, was er meinte. „Du hättest mich eben verpfeifen können. Warum hast du’s nicht gemacht?“   Ich hob die Schultern ein wenig an.   „Was soll das bringen? Ich sitze hier ebenso fest wie du und ich will keinen Stress. Keine Ahnung, warum du so ein Problem mit mir hast, aber ich hab nicht vor, dir in die Quere zu kommen. Ich will einfach nur meine Ruhe.“   Ich erwartete nicht, dass er noch etwas dazu zu sagen hatte, und das tat er auch nicht. Er drehte sich einfach nur um und ließ mich stehen. Während ich noch dastand und überlegte, was das jetzt gerade gewesen war, hörte ich über mir Schritte und Stimmen. Leif und Tobias kamen den Flur entlang. Als sie auf dem Treppenabsatz erschienen, warf ich einen Blick nach oben. Leif erwiderte ihn. Er war blass und um seine Augen lagen tiefe Schatten. Er sah echt scheiße aus. „Ist was?“, wollte Tobias wissen. Ich schüttelte schnell den Kopf. „Ich brauch nur einen Kaffee, das ist alles.“   Ich trollte mich in die Küche, wo ich mit einigem Hallo begrüßt wurde. Besonders Jason konnte es gar nicht abwarten, mich auszuquetschen. Als Thomas und Tobias gerade nicht hinsahen, raunte er mir zu: „Und? Wo warst du?“   Ich grinste.   „In Hamburg. Hab die Nacht mit Ficken und Saufen verbracht.“ „Wow. Echt jetzt?“ „Klar! Glaubst du mir etwa nicht?“   Mein Grinsen wurde breiter. Als Jason sich jedoch bewegte, gefror es auf meinem Gesicht. Gleich hinter ihm stand Leif. Seine Augen bohrten sich in meine. „Und woher hattest du die Kohle?“, wollte Jason jetzt wissen. Ich hatte für einen Augenblick vergessen, dass er da war. Mit einiger Anstrengung riss ich mich von Leifs Anblick los und blickte wieder zu Jason, der kurz davor war, wie ein übermütiger Welpe vor Aufregung auf den Teppich zu pinkeln. „Hör zu, ich hab … ich hab geschwindelt, okay? Es war gar nicht so toll. Eigentlich war es sogar ziemlich Scheiße. Ich hatte kein Geld, nichts zu essen und wusste nicht, wo ich schlafen sollte. Es war ne dämliche Aktion.“   Ich sah, wie Jasons anfängliche Begeisterung abflachte und sich dann in Luft auslöste. „Tut mir leid, Mann“, sagte er und hieb mir mit der Pranke gegen den Arm. Ich nickte ihm zu und tat so, als hätte der Schlag nicht weh getan. Nur keine Blöße geben. Als ich mich jedoch an den Tisch setzen wollte, blieb ich wie angewurzelt stehen.   Leif hatte sich bereits hingesetzt und tat so, als sähe er mich nicht. Das allein wäre noch nicht das Problem gewesen, wenn er nicht auf Tobias’ Platz gesessen hätte.   Binnen Sekunden war der Stein wieder da. Dieser schleimige Klumpen, dessen Gewicht mich in die Knie zwingen wollte. Das brennende Gefühl in meiner Brust. Ich schluckte und schluckte, aber es wollte nicht weggehen. Mein Körper reagierte nur noch. Ich griff nach meiner Stuhllehne, zog sie zurück. Nahm auf der Sitzfläche Platz. Als Tobias mich fragte, ob ich Kaffee wollte, schob ich ihm meine Tasse rüber. Mein Kopf blieb unten. Ich schüttete die schwarze Brühe in mich hinein und stopfte irgendwelche Kekse hinterher, die so trocken waren, dass sie vermutlich noch aus der Steinzeit stammten. Etwas, das auch den anderen auffiel. „Man, was ist das denn?“, fragte Nico angewidert. „Die schmecken ja wie Hundekuchen.“   „Woher weißt du, wie Hundekuchen schmecken?“, wollte Sven wissen und grinste. „Ich hab die früher wirklich gegessen. Waren eigentlich ganz lecker. Besonders die gelben, die aussehen wie kleine Knochen.“ „Boah, ist das widerlich.“   Jason und Sven begannen zu bellen und zu hecheln, woraufhin Nico mit einem halben Keks nach ihnen warf. Lachend fing Sven ihn und warf zurück. Der Keks flog durch die Küche und zerschellte an der Tür des Kühlschranks.   „Tor! Eins zu Null für mich!“, grölte Sven und die anderen fielen lachend mit ein, während Thomas anfing zu schimpfen und Tobias verkündete, dass Sven den Dreck gefälligst wegmachen würde. „Und deine Trefferquote solltest du lieber beim Basketball verbessern. Habt ihr Lust auf ne Runde. „Klar.“ „Immer.“ „Bin dabei.“   Tobias’ Blick richtete sich auf mich. Die Tatsache, dass er jetzt zwischen mir und Leif saß, hatte er nicht weiter kommentiert. „Und du?“, fragte er. „Machst du auch mit?“   Ich nickte brav. „Klar. Kann mir nichts Besseres vorstellen.“   In Wirklichkeit fielen mir eine Menge Sachen ein, die ich sehr viel lieber gemacht hätte als das. Leif gefragt, was die Scheiße mit dem Umsetzen sollte zum Beispiel. Aber ich kam nicht dazu. Nach dem Essen wurde ich zunächst zum Putzen abkommandiert und dann von Tobias abgeholt, damit ich mit zum Ballspielen kam. „Schulaufgaben machen wir dann danach“, verkündete er noch und ich ahnte, dass er mich wohl vorerst nicht mehr aus den Augen lassen würde. Dann muss das mit Leif eben bis heute Abend warten, nahm ich mir vor, aber auch damit hatte ich kein Glück. Möglicherweise lag es daran, dass ich mich beim Basketball heute nicht ganz so dämlich anstellte wie sonst. Möglicherweise hatte Sven durch unser Geplänkel im Flur irgendeine Art von Erleuchtung gehabt, die ihn fortan zu einem besseren Menschen machen würde. Möglicherweise hatte das Schicksal aber auch nur beschlossen, mich heute so richtig zu ficken. Was immer es war, dass für diese Scheiße verantwortlich war: Ich kam den ganzen Tag nicht dazu, ein Wort alleine mit Leif zu wechseln. Entweder wurde ich von Tobias auf Trab gehalten, von meinen neuen Freunden belagert oder er wich mir aus. Als er sich dann auch noch früher vom Fernsehen verabschiedete, war ich kurz davor ihm zu folgen, als Tobias mich zurückrief.   „Wo willst du denn hin?“   Ich blieb in der Tür stehen und verzog das Gesicht. War ja klar, dass ich nicht so einfach davonkam. „Bin müde“, antwortete ich und gähnte demonstrativ. „Ich denke, ich sollte heute früher ins Bett gehen. Damit ich morgen ausgeschlafen bin.“   „Okay, dann bring ich dich noch eben hoch. Hab sowieso gleich Feierabend.“   Ich versicherte ihm, dass das nicht notwendig war, aber Tobias ließ sich nicht davon abhalten. Die ganze Zeit während ich im Bad war und mir die Zähne putzte, blieb er wie ein Wachhund draußen stehen und wartete, dass ich fertig wurde. Als ich wieder rauskam, besah er sich gerade die Wände. „Ich sollte vielleicht mal wegen des Termins nachfragen. Du weißt ja. Der Sprayer, der uns helfen will.“ „Ja, ich weiß.“   Tobias starrte noch einen Augenblick die Wand an, bevor er sich wieder mir zuwandte. Er bemühte sich um ein Lächeln. „Hab ich dir schon von dem Sportraum erzählt, den wir einrichten wollen? Maik hat einen alten Boxsack von einem Kumpel besorgt, Thomas bekommt von seinem Nachbarn ein paar Hanteln und dann kriegen wir vielleicht noch zwei alte Fitnessräder. Die müssen zwar noch ein bisschen auf Vordermann gebracht werden, aber dann geht auch Training in der Halle. Außerdem hab ich überlegt, ob wir vielleicht öfter mal Laufen gehen sollten. Nico würde da bestimmt mitmachen und vielleicht können wir ja auch noch wen von den anderen motivieren. Was meinst du?“   „Klingt gut“, gab ich zurück. Tat es wirklich. Ich hatte nur gerade keinen Sinn dafür. „Was ist los?“, fragte Tobias nun auch noch nach. „Du bist den ganzen Tag schon so komisch. Brennt dir noch was auf der Seele?“   Ja! Ja, das tut es, schrie es in meinem Kopf. Trotzdem schüttelte ich ihn nur. „Nein, alles okay.“ „Wirklich?“ „Ja, Mann!“ Dass ich mir damit selbst widersprach, war mir klar. Dass er nicht gehen würde, bevor er eine befriedigende Antwort hatte, allerdings auch. Ich seufzte.   „Ich bin einfach müde, okay? Lass mich mal ne Nacht über alles schlafen.“ Tobias sah aus, als wenn er noch was sagen wollte, doch dann nickte er nur leicht. „Okay. Aber wirklich schlafen und keinen Unsinn machen, klar?“ „Geht klar.“   Er brachte mich noch in mein Zimmer und wünschte mir eine gute Nacht, bevor er leise die Tür hinter sich zumachte. Ich hörte, wie er zu Leif hinüberging, anklopfte und dann aufschloss. Sie wechselte einige Worte miteinander. Wahrscheinlich waren es die gleichen Ermahnungen, die auch ich zu hören bekommen hatte. Und dann, endlich, zog Tobias ab und die Bahn war frei.     Ich wusste, dass ich nicht viel Zeit hatte. Da morgen Schule war, würden die anderen nicht ewig vor der Glotze sitzen bleiben. Wenn ich das mit Leif klären wollte, musste ich jetzt zuschlagen. Entschlossen drückte ich meine Türklinke nach unten und spähte in den Flur. Es war niemand zu sehen, nur das Licht brannte noch. Der Bewegungsmelder würde erst später angeschaltet werden, wenn alle im Bett waren. Meine Flurüberquerung würde somit, zumindest was das anging, nicht weiter auffallen. Mehr Sorgen machte ich mir um meine Zimmertür. Wenn ich sie offen ließ, würde das auf den ersten Blick auffallen. Wenn ich sie schloss, kam ich nicht wieder hinein, ohne einen Erzieher zu bitten, dass er mir aufschloss. Das hieß, wenn ich mich jetzt entschloss zu gehen, gab es kein Zurück.   Ich muss Leif unbedingt fragen, wie er das immer macht, schoss es mir durch den Kopf, während ich die Tür mit klopfendem Herzen ins Schloss zog. Ganz kurz, bevor der Schnapper einrastete, bekam ich noch einmal Panik. Was, wenn Leif mich nicht reinließ. Wenn er nicht mit mir sprechen wollte?   Dann behaupte ich eben, dass ich nochmal auf dem Klo war und der Wind die Tür zugeschlagen hat.   Es war eine dumme Lüge, aber eine, von der mir niemand das Gegenteil beweisen konnte. Abgesehen davon, dass es hier kein Zug gab. Und ich gerade erst auf dem Klo gewesen war. Und es ungefähr tausend Gründe gab, warum mir Henning, der wieder zur Nachtschicht erschienen war, nicht glauben würde. Es war also ein verdammt hohes Risiko, aber eines, das ich eingehen musste, wenn ich wollte, dass …   Ich verbot mir sämtliche Gedanken darüber, was genau ich nun eigentlich von Leif wollte. Ich würde ihm nochmal sagen, dass es mir leidtat, was ich gemacht hatte, und danach war hoffentlich wieder alles beim Alten. Hoffentlich.   Vor Leifs Tür angekommen, zögerte ich noch einmal. Von drinnen war nichts zu hören. Ob er schon schlief? Er hatte ausgesehen, als wenn er ebenfalls eine viel zu kurze Nacht gehabt hatte. Meinetwegen?   Mach dich nicht lächerlich. Er war sicher froh, dass du weg warst.   Mit einem Mal war ich mir gar nicht mehr so sicher, dass ich das hier wirklich wollte. Warum sollte ich mich eigentlich so klein machen? Ich hatte mich doch schon entschuldigt. Und wie es aussah, hatte Leif beschlossen, den Beleidigten zu spielen. Vielleicht sollte ich ihn da einfach schmollen lassen. Immerhin hatte ich ja jetzt Anschluss bei den anderen gefunden. Ich brauchte ihn nicht mehr, wenn man mal vom Sex absah. Und da standen meine Chancen doch eigentlich gar nicht so schlecht, dass er irgendwann wieder bei mir angekrochen kommen würde, wenn ich ihn einfach links liegen ließ. Oder etwa nicht?   Noch während ich versuchte, diesen Streit mit mir selbst auszumachen, ging auf einmal die Tür auf. Leif stand plötzlich vor mir und schrak zusammen.   „Fuck! Scheiße! Was soll das? Was machst du hier?“   In seiner Aufregung hatte er so laut gesprochen, dass ich ihm am liebsten den Mund zugehalten hätte. Stattdessen zischte ich ihn nur an. „Psst, sei doch leise. Die hören uns noch.“ „Na und?“, gab er patzig zurück. „Sollen sie doch mitkriegen, dass du dich hier draußen rumtreibst. Vielleicht bekommst du dann ja doch noch ein großes Schloss an deine Tür. Oder vielleicht an deinen Hosenstall. Besser wär’s wohl.“   Er drängte sich an mir vorbei und ging in Richtung Bad. Kurz vor der Tür holte ich ihn ein und riss ihn zurück. „Wie meinst du das?“, fragte ich scharf. Er funkelte mich wütend an.   „Wenn du das nicht weißt, musst du dein Spatzenhirn eben mal ein bisschen anstrengen. Oder hast du dir heute Nacht so gründlich das Hirn rausgevögelt, dass das nicht mehr geht?“   Mit einer ruppigen Bewegung machte er sich von mir los und stürmte ins Badezimmer. Er wollte die Tür schließen, aber ich war schneller. Mein Fuß wurde zwischen Tür und Rahmen zusammengequetscht und ich atmete scharf gegen den Schmerz an, um nicht laut loszuschreien. Das hätte nämlich mit Sicherheit jemand gehört.   „Ah scheiße, bist du verrückt?", winselte ich und presste die Kiefer aufeinander. Nur nicht zu laut sein.   „Schade, dass es nicht dein Schwanz war“, fauchte er und holte aus, um die Tür noch einmal gegen meinen Fuß zu schlagen. Ich ließ es nicht so weit kommen und versetzte ihm einen Stoß, der ihn rückwärts ins Bad taumeln ließ. Schnell folgte ich ihm, schloss die Tür und sicherheitshalber auch noch ab. Danach drehte ich mich zu ihm herum. „Jetzt beruhige dich mal“, schnaufte ich und versuchte, das Pulsieren meines mittlerweile blau angelaufenen Fußes zu ignorieren. „Warum regst du dich eigentlich so auf?“   „Weil … ach vergiss es.“ Er drehte sich um und wandte mir demonstrativ den Rücken zu. „Du bist einfach ein Idiot. Das ist alles.“   Der Anblick, wie er so da stand in seinem zu großen T-Shirt, die Beine in weiten Boxershorts steckend, die Arme um den Körper geschlungen, als würde er frieren … das alles ließ ihn seltsam klein wirken. Dabei war er das nicht. Eigentlich war er sogar noch ein Stückchen größer als ich. Etwas, das auf ziemlich viele Kerle zutraf. Aber diese anderen Kerle waren jetzt nicht hier, sondern er.   „Hör zu, ich … ich wollte dir noch was sagen. Wegen gestern.“   Leif hob den Kopf, als er das hörte, aber er drehte sich nicht um.   „Was?“, fragte er abweisend. „Was willst du denn noch?“   Plötzlich war da wieder dieser Stein in meinem Magen. Er wuchs und wuchs mit rasender Geschwindigkeit, drückte mein Zwerchfell nach oben und machte das Atmen schwer. Mein Hals war wie zugeschnürt und ich brachte keinen Ton heraus. Alles, was ich Leif hatte sagen wollen, war wie weggeblasen. Stattdessen waren da nur noch Steine. Überall. In meinem Kopf, meinem Bauch, meinem Mund. Sie lähmten mich, machten mich krank und stumm.   Denn was sollte ich auf diese Frage antworten? Was konnte ich antworten? Was konnte ich wollen? Doch nicht mehr, als das alles wieder so wurde wie vorher. Ein paar geklaute Minuten in der Nacht, eine warme Hand an meinem Schwanz und vielleicht einen kurzen Augenblick, in dem wir … zusammen waren. Mehr gab es da doch nicht. Mehr hatte er nicht zu bieten und ich auch nicht. Aber nicht einmal das brachte ich heraus. Das Einzige, was ich konnte, war schweigen.   Irgendwann hatte er offenbar genug vom Warten.   „Wenn das alles war, könntest du dann gehen? Ich muss pinkeln.“   Ich wollte einen Scherz machen. Ihm sagen, dass ich ihm schon nichts abgucken würde oder dass ich das alles schon gesehen hatte, aber auch das kam mir nicht über die Lippen. „Gehst du jetzt endlich?“ Ich schluckte. Wenn ich es jetzt nicht hinbekam, meinen Mund aufzumachen, würde es vorbei sein. Endgültig vorbei. Noch eine Chance würde er mir nicht geben. „Es tut mir leid“, brach es schließlich aus mir heraus. Mir war, als würden sich die Worte mit Gewalt aus meiner Kehle zwängen. Als würden sie sich ihren Weg nach oben mit Zähnen und Klauen freikämpfen und dabei alles in blutige Fetzen reißen. Szenen wie aus einem Horrorfilm. Wahrscheinlich würde ich gleich meine Lunge rauskotzen. Oder ein Alienbaby. Es würde einmal niedlich quieken und dann würde es uns fressen. Eine wunderbare Vorstellung im Vergleich zu dem Blick, den Leif mir zuwarf.   Ich konnte sehen, dass etwas darin lag. Etwas, das vorher nicht da gewesen war. Oder vielleicht doch, aber ich hatte es nicht bemerkt. Jetzt war es kaputt und die Splitter ragten mir scharfkantig und anklagend entgegen. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie begannen, in der steigenden Flut zu versinken. Schnell wandte Leif den Kopf ab, damit ich nicht sah, dass ihm die Tränen in die Augen gestiegen waren. Aber es war zu spät. Ich hatte es bereits gesehen. Warum zum Henker fing er denn jetzt an zu heulen? Ich hatte doch gesagt, dass es mir leidtat.   „Geh bitte.“   Leifs Stimme war nur noch ein Flüstern. All die Spannung, die gerade noch in seinem Körper gewesen war, war gewichen. Er sah aus, als würde er gleich zusammenbrechen. Ich konnte es nicht ertragen. „Man, Leif“, begann ich und merkte, wie mir die Situation zusehends entglitt. „Ich … ich hab doch nicht gewusst, dass dieses blöde Buch so wichtig für dich ist. Ich dachte, es …“ Er lachte auf. Plötzlich waren die Tränen verschwunden und die überhebliche Maske schnappte an ihrem Platz zurück. „Ja“, schnarrte er und verzog den Mund zu einem Grinsen. „Ich hätte wissen müssen, dass du das nicht verstehst. Du bist eben einfach nur dumm. Aber dumm fickt ja bekanntlich gut. Hätte mir klar sein müssen.“   „Ich bin nicht dumm“, knurrte ich und meine Hände ballten sich wie von selbst zu Fäusten. „Und wenn es so wichtig für dich ist, warum hast du es mir denn eigentlich gezeigt? Hättest es doch weiter geheim halten können. Dann wäre das alles nicht passiert“   Leif lachte auf. Es war ein hässliches Geräusch „Ja, das hätte ich wohl tun sollen. Aber vielleicht bin ich auch dumm. Nicht so dumm wie du, aber immer noch dumm.“ Wieder lachte er. Es war wie ein gläsernes Messer, das er in meine Brust rammte und dann die Klinge abbrach, nachdem er sie weit genug hineingetrieben hatte. „Ich hätte wissen müssen, dass du es gegen mich verwenden wirst. Hast ja nicht lange gefackelt, bevor du es herumgezeigt hast. Und es hat anscheinend geklappt. Die anderen und du, ihr seid jetzt ja best buddies.“   Ich hörte es, aber ich begriff nicht, was er gerade gesagt hatte.   „Was?“   Leifs Gesicht verzog sich zu einer gehässigen Fratze. „Bist du jetzt nicht nur dämlich, sondern auch noch taub? Ich sagte, du hast ja nicht lange gefackelt, bevor du es herumgezeigt hast.“ „Aber ich … ich habe es niemandem gezeigt. Ehrlich nicht. Ich wollte … nur mal reingucken.“   Ich sah Leif an, dass er mir nicht glaubte, aber immerhin war das Lachen verschwunden. „Und was hast du gedacht, was du da drinnen findest?“ „Ich … ich weiß nicht.“   Wusste ich wirklich nicht. Ich wusste ja nicht mal, warum ich es mitgenommen hatte. Es war einfach so passiert. Leif schnaubte. „Wenn du es nicht … warum hatte es dann dein Lehrer?“ „Frau Schmidt hat es einkassiert, weil ich drin gelesen habe, statt Mathe zu machen. Sie hat es dann in ihrem Tisch eingeschlossen und Herr Zimmermann hat es mir nach Schulschluss zurückgegeben. Das war alles. Es hat niemand außer mir hineingesehen.“   Leif atmete hörbar aus. War es das, was ihn so aufgeregt hatte? Dass er gedacht hatte, dass ich das Buch rumgezeigt hatte. Ich schluckte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Ich habe es wirklich niemandem gezeigt oder davon erzählt. Nicht mal Tobias. Niemandem.“   Leifs Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln. Er lachte. Ganz kurz nur. „Warum lachst du?“ „Weil das witzig ist.“ „Was?“   Er sah mich an. „Tobias weiß von dem Buch. Er … er kontrolliert es manchmal. Also ich gebe es ihm, damit er sehen kann, dass ich genug esse.“ „Du meinst so was wie einen Apfel am Tag?“   Leif schlug die Augen nieder.   „Das ist lange her. So schlimm ist es nicht mehr. Ich … ich kann essen. Meistens jedenfalls.“   Er schwieg, sprach nicht weiter, und ich wusste nicht, was ich jetzt sagen sollte. Die Eröffnung, dass Tobias von dem Buch wusste, hatte mich auf dem falschen Fuß erwischt. Dann war es doch eigentlich gar nicht so was Besonderes, dass Leif es mir gezeigt hatte, oder? Hatte ich gedacht, dass es das gewesen war?   „Warum hast du es mir gezeigt?“   Die Frage hatte ich ihm vorhin schon einmal gestellt, aber er hatte sie nicht beantwortet. „Sagte ich doch schon. Weil ich dumm bin“, wich er mir erneut aus. Ich glaubte ihm nicht. „Du lügst.“ Die Feststellung hatte ein Schulterzucken zur Folge.   „Vielleicht. Ist doch auch egal. Es war dumm. Ein Missverständnis. Schwamm drüber.“   Er setzte ein Lächeln auf, das so falsch war wie die Zähne meiner Oma. Ich sah es, aber ich sagte nichts dazu. Was hätte ich auch sagen sollen? „Dann … dann treffen wir uns wieder?“, fragte ich langsam. „Morgen Abend oder so?“   Er blickte an mir vorbei in Richtung Tür. „Willst du das wirklich? Immerhin hattest du doch gerade erst … wen anders.“   Ich schluckte. Das hatte er also mitbekommen. „Ich hab aufgepasst. Es ist bestimmt nicht passiert.“   Er sollte nicht denken, dass er sich bei mir was wegholte. Das hatte mir schon mal jemand gesagt und es war damals genauso scheiße gewesen wie jetzt. Leif schien jedoch was ganz anderes zu meinen.   „Wir sollten trotzdem noch etwas warten damit. Du wirst erst mal unter Beobachtung stehen. Ist immer so, wenn einer getürmt ist. Wenn wir erwischt werden, gibt das richtig Stress.“   „Verstehe“, sagte ich schnell.   Natürlich verstand ich das. Was ich nicht verstand war das Gefühl, das ich dabei hatte. Als würde etwas mein Herz zusammenquetschen.   „Dann sind wir immer noch … Freunde?“ Leifs Lächeln bekam einen harten Zug. „Natürlich. Freunde.“ Das Zittern, das dabei in seiner Stimme lag, hatte ich mir mit Sicherheit eingebildet. Auch das Zucken seiner Hand, als wolle er mich berühren, das kurze Zögern, als er schließlich an mir vorbei nach draußen ging. Im nächsten Moment war ich allein im Bad. Der Stein in meinem Magen war zurück und ich hatte das Gefühl, es vermasselt zu haben. So richtig. Ich wusste nur nicht, warum das so war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)