Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 12: Katerstimmung ------------------------- Als Tobias’ Auto in Sicht kam, wurde ich nervös. Ich saß jetzt schon eine ganze Weile zusammen mit Tom vor der Tür seines Hauses und wartete, dass mich jemand abholte. Die Reaktion auf meinen Anruf war … routiniert gewesen. Natürlich war Frau Hansen, die Sekretärin, rangegangen, aber als sie mitbekommen hatte, wer dran war, hatte sie schnell Bescheid gegeben und ich hatte nur Augenblicke später Tobias am Ohr gehabt. Er hatte nicht lange gefackelt und nur gefragt, wo ich war und ob er mich abholen sollte. Ich hatte ihm Toms Adresse genannt und mich nach dem Auflegen erst einmal setzen müssen. Tom hatte mich mitleidig angesehen. „Ich hol uns mal was zum Frühstück“, hatte er verkündet und war kurz darauf mit einer Tüte vom Bäcker wieder gekommen. Wir hatten gegessen, Kaffee getrunken und an dem winzigen Küchentisch zusammen geraucht. Geredet hatten wir nicht. Ich hatte nicht gewusst, worüber, und Tom hatte mein Schweigen akzeptiert. Vielleicht war sein Kopf aber auch mit der gleichen Watte gefüllt gewesen wie meiner. Als jetzt jedoch Tobias auf der anderen Straßenseite parkte und ausstieg, blickte Tom interessiert auf. „Ist er das?“   Ich nickte nur, obwohl ich wusste, dass Tom das sicherlich falsch verstehen würde. Ich war nicht in der Stimmung, die ganzen Umstände zu erklären. Warum ihn damit belasten, wenn er doch eh nichts daran ändern konnte.   Tobias sah sich um und überquerte die Straße. Am besten wäre ich wohl aufgestanden, hätte mich von Tom verabschiedet und wäre ihm entgegengegangen. Aber ich tat es nicht. Ich wartete, bis Tobias zu mir kam. Er blieb etwa einen halben Meter vor mir stehen und sah auf mich herab.   „Hallo Manuel.“ Sein Ton war ein wenig reserviert. Bildete ich mir zumindest ein. Sein Gesicht sagte mir nichts. Ich konnte nicht einschätzen, woran ich war; das trieb meinen Puls in die Höhe. Jetzt würde es also Ärger geben. Langsam, viel langsamer, als angemessen gewesen wäre, erhob ich mich.   „Hi“, kam es gerade noch so aus meinem Mund. Meine Kehle war wie zugeschnürt.   „Hey, ich bin Tobias“, sagte Tobias jetzt und hielt Tom die Hand hin.   „Tom“, antwortete der und stand jetzt ebenfalls auf. Er hatte immer noch die schwarzen Sachen an und seine Füße steckten in ausgetretenen Chucks ohne Schnürsenkel.   „Du hast also Manuel heute Nacht Unterschlupf gewährt?“ „Klar. War ja keine große Sache. Wir haben genug Platz.“ Das war eine Lüge. In der winzigen Einzimmerwohnung war nun wirklich nicht „genug Platz“, aber Tobias nahm es so hin. Er nickte Tom zu. „Danke. Das hätte nicht jeder gemacht.“   „Man tut, was man kann“, gab Tom zurück und lächelte. Danach wandte er sich an mich.   „Ich werd mal hochgehen. Meine Schicht fängt bald an. War schön dich kennenzulernen.“   Bevor ich etwas dagegen tun konnte, trat er zu mir und legte die Arme um mich. Ich war viel zu perplex, um die Geste zu erwidern, aber Tom schien das nichts auszumachen. „Pass auf dich auf, ja?“, sagte er, bevor er sich noch von Tobias verabschiedete und sich dann nach drinnen begab. Plötzlich war ich mit Tobias allein.   „Komm, wir gehen zum Auto.“   Ich folgte Tobias, immer noch nicht sicher, worauf das Ganze jetzt hinauslaufen würde. Auf offener Straße eine Szene machen würde er sicherlich nicht. Im Auto dann? Als ich einstieg, schwitzten meine Handflächen. Ich wischte sie unauffällig an meiner Jeans ab. Der, die ich bereits seit gestern Morgen trug und die ebenso wie der Rest meiner Sachen nach Rauch und Kneipe roch. Ich wünschte, es wäre anders gewesen.   Tobias ließ sich auf den Fahrersitz sinken, schnallte sich aber nicht an. Stattdessen legte er die Hände auf das Lenkrad und atmete tief durch. Erst dann begann er zu sprechen. „Also … bevor wir losfahren, will ich noch eben eine Bestandsaufnahme machen. Dass du geraucht hast, riech ich bis hierher. Dass es nicht nur Zigaretten waren, seh ich an deinen Augen. Ich gehe recht in der Annahme, dass du auch was getrunken hast?“   Ich war versucht zu antworten, dass ich heute Morgen drei Tassen Kaffee hatte, aber ich verkniff mir den Scherz und nickte nur. Tobias atmete noch einmal tief durch. Dieses Mal klang ein wenig erleichert. „Gut. Sonst noch was, das ich wissen sollte? Diebstahl, Einbruch, Körperverletzung?“   Mein Kopf ruckte herum. „Nein! Natürlich nicht!“   Wie kam er nur darauf?   „Gut. Dann muss ich also keine Reparationszahlungen leisten oder mit dir nochmal zur örtlichen Polizei gehen. Du weißt, dass wir die das eigentlich hätten regeln lassen müssen, oder?“ Ich wollte ihn nicht mehr ansehen. Ich wollte nicht sehen, wie er mich voller Abscheu musterte. Was er nicht tat. Er war ernst aber nicht … weg. Er war hier, bei mir, obwohl er es nicht musste. Vielleicht auch gar nicht durfte. Ich wusste es nicht. Aber ich verstand, dass er ganz schön was für mich riskierte. Für mich. Obwohl ich mich so scheiße verhalten hatte. Scheiße und unheimlich dumm. Wie ein kleines Kind. „Tut mir leid“, sagte ich und wandte jetzt doch den Blick ab. „Ich hätte nicht … na ja.“   „Nicht abhauen sollen? Ja, das wäre gut gewesen.“ Tobias seufzte.   „Aber es ist nun mal passiert. Lass uns einfach das Beste daraus machen.“   Seine Hand bewegte sich in Richtung Zündschlüssel. „Noch was, das ich wissen sollte?“   Er sah mich fragend an. Ich ahnte, worauf er hinauswollte, aber ich wollte nicht mit ihm darüber reden. „Ich … ich hab mir gestern in der Bar ein herrenloses Bier geschnappt. War noch halbvoll. Und ich bin schwarzgefahren. S- und U-Bahn. Und bei BK hab ich ne Pommes mitgehen lassen, die ich nicht bezahlt hatte.“   Tobias lächelte kurz, bevor er wieder ernst wurde. „Du weißt, dass ich das nicht meine. Brauchst du einen Arzttermin.?“ „Nee. Hab aufgepasst.“ „Das reicht nicht.“ „Man, ich hab vorgesorgt, okay? Bin ja nicht blöd.“   Dass ich diese Umsicht mehr Kiki und Tom zu verdanken hatte, ließ ich wohlweislich unter den Tisch fallen. Tobias musste ja nicht alles wissen. Zum Glück ließ er das Thema auf sich beruhen. „Wie bist du überhaupt hierher gekommen?“ „Per Anhalter.“   Er runzelte die Stirn. „Dir ist schon klar, dass das gefährlich ist?“ „Ja, aber … ich hab nicht nachgedacht.“ „Das hab ich gemerkt.“   Tobias seufzte wieder.   „Noch was?“   Ich schluckte. Da war noch was, das ich ihm sagen wollte. Weil es irgendwie rausmusste. Ich wusste nur nicht …   „Ich war bei meinen Eltern:“   Für einen Moment herrschte Stille.   „Und?“, fragte Tobias schließlich. Ich zuckte mit den Achseln. „Mein Vater hat mir eine gelangt, meine Mutter den Kopf eingezogen. Also alles wie immer.“   Ich schnaubte halb amüsiert, halb bitter.   „Aber immerhin weiß ich jetzt, warum sie mich zurückhaben wollen. Sie müssen aus ihrer Wohnung raus. Ist zu groß für die beiden.“   Ich sah aus den Augenwinkeln, dass Tobias etwas erwidern wollte. Irgendwas Beruhigendes, Nettes. Aber vermutlich fiel selbst ihm zu dieser Scheiße nichts mehr ein. „Ich werde das mal an Frau Täubert weiterleiten“, sagte er am Ende und ich nickte nur. Was das bringen sollte, verstand ich zwar nicht, aber wenn er meinte, dass das eine gute Idee war, sollte er machen. „Ich denke, wir sollten langsam mal los. Die anderen warten sicher schon.“ „Okay.“   Während Tobias den Motor startete und den Wagen aus der engen Parklücke bugsierte, schaute ich aus dem Fenster. Ich blickte auf die abgewrackten Häuser und neu errichteten Paläste, die breiten Straßen und kleinen Gassen, die Bäume und Parks und natürlich die Elbe mit ihren zig Kanälen und Seitenarmen. Es war die Stadt, in der ich aufgewachsen war und von der ich sicherlich nur einen Bruchteil kannte. Doch jetzt, wo sie im Eiltempo an mir vorbeizog, hatte ich auf einmal das Gefühl, dass ich eine sehr lange Zeit nicht mehr hierher kommen würde. Und vielleicht auch nicht sollte. Um Abstand zu gewinnen von dem, was ich zwischen den Lichtern und Häuserschluchten gesucht, aber nie wirklich gefunden hatte. Vielleicht, weil es nicht existierte.     Irgendwann erreichten wir den Kreisel und damit die Autobahn. Hier draußen hatte man schon gar nicht mehr das Gefühl, in Hamburg zu sein. Es gehörte nicht mehr dazu. Rechts und links der Straßen gab es nur noch Bäume und Lärmschutzwände. Grün und Grau im stetigen Wechsel. Als die Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben wurde, beschleunigte Tobias noch einmal und wir waren endgültig unterwegs.   „Und?“, fragte er irgendwann mit einem Seitenblick auf mich „Willst du mir jetzt vielleicht sagen, was gestern los war? Im Heim, meine ich.“   Ich verzog das Gesicht. „Das hat Maik dir doch bestimmt schon alles erzählt.“ „Ja, aber ich will es von dir hören.“   Ich atmete tief durch. Das musste wohl sein. Also fing ich an. „Ich hatte Zoff mit Maik. Weil ich nicht richtig geputzt hab.“ „Und warum nicht?“ „Hatte verschlafen.“   Tobias reagierte nicht darauf. Brauchte er auch nicht. Ich wusste auch so, was er sagen wollte. „Jaa, schon klar“, stöhnte ich und starrte wieder aus dem Fenster. „Das ist allein meine Schuld und ich hätte eben früher aufstehen müssen. Ich hab’s kapiert.“   Ein Lächeln zupfte an Tobias’ Mundwinkeln. „Schön, dass wir uns da einig sind. Und weiter? Was war in der Schule los?“ „Nichts besonderes. Hab mich mit Frau Schmidt angelegt. Du weißt doch, wie sie ist.“   Ich hoffte, dass Tobias sich damit zufrieden geben würde, aber leider wurde meine Bitte nicht erhört.   „Und was war mit Leif? Maik hat gesagt, ihr beide hattet Stress. Was war da los?“ „Nichts“, sagte ich viel zu schnell, als das Tobias mir hätte glauben können. Ich sah weiterhin stur geradeaus. „Also nichts Wildes. Ich … ich hab was Dämliches gemacht und er war sauer deswegen.“   „Und was?“   Ich schwieg daraufhin und Tobias fragte zum Glück nicht weiter nach. Was hätte ich auch sagen sollen? Ich konnte Tobias ja schlecht von dem Tagebuch erzählen. Schlimm genug, dass ich es hatte mitgehen lassen, aber Leif auch noch zu verraten? Nein. Das würde ich nicht tun.   „War das alles?“, hakte Tobias nach einer Weile nach. Ich zuckte mit den Schultern. Erst, als er einen Blick auf meinen Schoß warf, fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit mit dem Bein wackelte. Ich hielt die Bewegung sofort an, aber die Nervosität blieb. Das Kribbeln, das Verlangen, mich irgendwie runterzukriegen, wurde mit jedem Moment stärker und bewirkte doch das genaue Gegenteil. Tobias nahm das zum Anlass, das Gespräch auf ein neues Thema zu lenken.   „Ich hab gehört, dass deine Kaugummis alle sind.“   „Ja“, sagte ich und tat, als ob mir das nichts ausmachte. „Gab es Ärger deswegen?“   „Nein. Aber leider darf ich dir auch keine mehr mitbringen, wenn wir nicht das Okay von einem Arzt bekommen. Vielleicht sollten wir also doch mal einen Termin machen. So für alle Fälle.“   Ich wusste, dass er damit auch auf die andere Sache anspielte, aber sei’s drum. Dann würde ich mich eben durchchecken lassen. War ja nicht so, dass ich was zu verbergen hatte. „Und was sonst noch?“, wollte ich wissen und betrachtete eingehend die Landschaft. „Bekomme ich jetzt Stubenarrest? Elektronische Fußfesseln? Nachteinschluss? “   Tobias lachte auf.   „Quatsch! Thielensee ist doch kein Gefängnis. Wenn wir dich nur wegsperren wollten, könnten wir das auch einfacher haben.“ „Du meinst so mit Zäunen und Mauern? Abschließbaren Fenstern und Türen ohne Klinken? So was etwa?“   Wieder lachte Tobias. Es klang, als hätte er Spaß.   „Die sind doch nur dafür da, um dir die Flucht zu erschweren. Dir die Möglichkeit zu geben, noch einmal darüber nachzudenken, ob du das wirklich tun willst. Du weißt doch selbst, dass du jederzeit rauskommen würdest. Es wird immer wieder Gelegenheiten dafür geben, früher oder später.“   Ich sagte nichts dazu. Natürlich war es naiv gewesen anzunehmen, dass die Erzieher nichts von dem Baum im Park wussten. Und garantiert war ich nicht der Erste, der einfach von seinem Ausgang oder einer Einkaufstour nicht zurückgekommen war. Die Idee hatten sicherlich schon andere vor mir gehabt.   „Das eigentliche Ziel ist, dass du nicht mehr weg willst. Und damit meine ich nicht irgendwelche psychologischen Tricks, sondern tatsächlich die Einsicht, dass wir für dich da sind und dir helfen wollen. Vielleicht sogar können. Das ist nämlich unser Job, schon vergessen?“   „Nein“, brummte ich. „Natürlich nicht.“   „Dann lass uns unseren Job auch machen. Rede mit uns! Wir finden eine Lösung. Nicht für dich, sondern mit dir zusammen.“   Tobias machte eine kurze Pause, um einen Lkw zu überholen, bevor er wieder zu reden begann.   „Also jetzt mal Butter bei die Fische. Warum bist du weggelaufen?“   Die Frage kam so plötzlich, dass ich Tobias einfach nur anstarren konnte. Irgendwann zuckte ich – mal wieder – mit den Schultern.   „Ich weiß nicht. In dem Moment schien es mir einfach das Richtige zu sein.“ „Das Richtige oder das weniger Falsche?“   Ich schnaufte, statt zu antworten. Natürlich wusste ich, dass es falsch gewesen war wegzulaufen. Das musste er mir nicht die ganze Zeit unter die Nase reiben.   „Keine Ahnung“, sagte ich schließlich, als die Stille zu lang wurde. „An dem Tag ist irgendwie so viel Scheiße passiert. Da wollte ich einfach weg.“   „Warum hast du nicht versucht, die Probleme zu lösen?“ „Wie denn?“   Meine letzte Frage hatte verzweifelter geklungen, als ich gewollt hatte. Tobias schickte mir einen kurzen Blick.   „Wie denkst du denn, dass du sie hättest lösen können?“   Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht und durch die Haare. Diese ganze Fragerei regte mich tierisch auf. „Ich sagte doch schon, dass ich das nicht weiß. Wenn ich es gewusst hätte, wäre ich ja nicht … Dann wäre ich nicht weggelaufen.“ „Siehst du? Genau das ist der Punkt.“ Tobias grinste, als hätte ich gerade eine bahnbrechende Erkenntnis gehabt. Ich dagegen kam mir einfach nur dumm vor.   „Was denn für ein Punkt?“ „Der Punkt, an dem du ansetzen kannst. Wenn du weißt, wie du deine Probleme aus der Welt schaffen kannst, musst du nicht mehr vor ihnen davonlaufen. Wäre doch praktisch, oder?“   Mir lag auf der Zunge zu sagen, dass ich sechzehn und nicht sechs war, aber dann ließ ich es bleiben. Es hätte noch lächerlicher geklungen, es auch noch auszusprechen. „Ja, wäre es“, gab ich murrend zu. Denn natürlich wäre es besser gewesen, wenn ich pünktlich aufgestanden wäre. Es wäre besser gewesen, Leifs Buch nicht zu klauen und schon gar nicht hätte ich es mit in die Schule nehmen dürfen. Ich hätte Maik nicht so anpampen sollen und vor allem hätte ich mich von Sven nicht so provozieren lassen sollen. Und schon gar nicht hätte ich einfach aus diesem Supermarkt abhauen sollen. Damit hätte ich dann eine ganze Liste an Dingen, die ich besser nicht getan hätte. Doch wo waren jetzt die Alternativen? Tobias schien zumindest nicht daran zu zweifeln, dass es sie gab. „Na gut, dann halten wir das mal als Plan fest. Ich und Thomas haben uns auch schon ein bisschen was überlegt. Du wirst sehen, wir kriegen das hin. Du kriegst das hin.“     Trotz dieser Versicherung, wurde mir leicht mulmig, als das Heim endlich in Sichtweite kam. Wie die anderen wohl reagieren würden, wenn ich wieder zurückkam? Ob sie mich auslachten, weil ich so schnell den Schwanz eingekniffen hatte? Oder weil ich überhaupt weggelaufen war? Aber Tobias hatte gesagt, dass eigentlich fast jeder irgendwann mal ausgerissen war. Und dass ich jederzeit zu ihm kommen konnte, wenn ich mal wieder das Gefühl hatte, es nicht auszuhalten.   „Und wenn du dann wieder freihast?“, hatte ich gefragt und erst danach gemerkt, dass sich das wie ein Vorwurf anhörte. Auch Tobias hatte mich ein bisschen merkwürdig angesehen. „Dann sind doch noch die anderen Betreuer da.“ „Ja, aber …“   Ich hatte mich unterbrochen, weil ich selbst gemerkt hatte, wie armselig sich das anhörte. Tobias hatte leicht gelächelt. „Ich freue mich ja, dass du mir ein bisschen mehr vertraust als den anderen. Aber glaub mir, die wissen auch, was sie tun. Vielleicht sogar besser als ich. Thomas hat, wie du ja inzwischen weißt, selber Kinder und den totalen Überblick. Henning ist immer sehr besonnen in seinen Entscheidungen und hat ein Gemüt wie ein Schaukelpferd. Und Maik hat den Kram sogar studiert. Die kennen sich aus. Glaub mir. Und manchmal ist es besser, sich mehr als eine Wahrheit anzuhören, bevor man sich für etwas entscheidet.“ Daraufhin hatte ich nichts mehr gesagt. Ich hatte lediglich aus dem Fenster gestarrt und mich dagegen gewehrt zu glauben, was er gesagt hatte. Vielleicht auch, weil ich es nicht hatte glauben wollen. Jetzt waren wir wieder hier und der Klumpen in meinem Magen hatte erneut angefangen zu wachsen.     „Sieh an, der verlorene Sohn“, begrüßte Thomas mich in der Küche des ansonsten wie ausgestorben wirkenden Wohnheims. Tobias hatte ihn zwischendurch angerufen, um ihm zu sagen, dass wir auf dem Rückweg waren. Ich hatte im Auto gewartet, während Tobias telefoniert hatte, aber ich nahm an, dass Thomas vollkommen im Bilde war, was und wo ich mich rumgetrieben hatte.   „Hi“, grüßte ich zurück. Während ich noch überlegte, wie ich mich jetzt am besten verhalten sollte, wandte Thomas sich schon an Tobias.   „Seid ihr gut durchgekommen?“ „Klar. Um die Zeit ist ja kaum Stau. Ging alles glatt.“ „Und hast du Manuel schon von den zusätzlichen Maßnahmen erzählt?“   Ich horchte auf.   „Zusätzliche Maßnahmen?“   Ich mochte nicht, wie sich das anhörte. Thomas sah mich an.   „Du sollst ein paar Sitzungen bei einem Psychologen bekommen. Hat Tobias dir das nicht erzählt?“ „Nein. Hat er wohl vergessen.“   Ich schoss einen Blick in Tobias’ Richtung ab. Er lächelte entschuldigend. „Wir haben erst mal über die konkreten Probleme gesprochen.“ „Okay, dann nochmal in Kürze. Ausgang ist erst mal wieder gestrichen. Nicht, weil wir dich bestrafen wollen, sondern um dir die Flucht beim nächsten Mal ein bisschen schwerer zu machen. Du darfst allerdings weiter mit zum Einkaufen.“ „Ich darf was?“   Gefühlt fielen mir gerade die Augen aus dem Kopf. „Ja, aber du wirst dabei ein bisschen mehr unter Beobachtung stehen. Es war nicht gerade toll festzustellen, dass mir auf einmal einer meiner Schützlinge fehlt. Ich würde das gerne beim nächsten Mal vermeiden.“   Als Thomas das sagte, wurde mir erst so richtig bewusst, wie das wohl für ihn gewesen sein musste. Immerhin hatte er mit Sven im Supermarkt gestanden, zwei Wagen voller Einkäufe und ich auf einmal weg. Das war bestimmt scheiße gewesen.   „Tut mir leid“, murmelte ich und senkte den Blick. „Ich hab nicht nachgedacht.“   „Ja, das dachten wir uns schon. Kurzschlussreaktionen kommen vor. Wir werden daran arbeiten. Außerdem wollen wir ein regelmäßiges Sportprogramm auf die Beine stellen. Tobias hat da schon ein paar Ideen, die dir bestimmt gefallen werden. Und du wirst ein individuelles Konfliktmanagement-Programm bekommen. Ich hab das Gefühl, dass du in den Gruppenveranstaltungen noch nicht so ganz mitbekommen hast, worum es geht.“   Wieder sah ich Thomas nicht an. Diese Stunden, in denen wir in irgendwelchen Rollenspielen Streits simulieren und lösen sollten, waren einfach nur ätzend. Allein deswegen, weil ich immer das Gefühl hatte, dass Sven und Nico nur darauf warteten, dass ich mir irgendeine Blöße gab. „Hast du noch irgendwelche Fragen?“   Ich schüttelte den Kopf.   „Okay. Da du das Mittagessen verpasst hast, kannst du dir gerne noch ein Brot machen, wenn du möchtest. Deinen Dienst kannst du dann nach der Mittagsruhe ableisten. Die Schulaufgaben musst du ebenfalls noch nachholen. Die Arbeitsblätter liegen in deinem Zimmer. Wenn du willst, helfen ich oder Tobias dir nachher dabei.“   Ich nickte, froh darüber, dass das offenbar alles gewesen war. Es gab kein Geschrei, keine Vorwürfe, kein Gemecker. Nur die Aufforderung, alles nachzuholen und in Zukunft besser zu machen. Mit Hilfestellung. Ein ganz schöner Brocken.   „Kann ich dann gehen?“   Eigentlich hatte ich noch Hunger, aber mir schwirrte im Moment einfach zu viel im Kopf herum. „Natürlich. Wir sehen uns dann um drei.“ Tobias brachte mich zu meinem Zimmer. Nachdem er mich reingelassen hatte, sah er mich fragend an.   „Kommst du klar? Wenn nicht, sag es lieber gleich, bevor du hier alles kurz und klein schlägst.“   „Nein, schon okay“, versicherte ich schnell. „Ich denke, ich werde mich noch ein bisschen hinlegen.“   „Gut. In ner halben Stunde ist ja auch schon wieder Zeit zum Kaffee trinken.“   Ich nickte und lächelte, aber als Tobias die Tür geschlossen hatte, fiel das alles von mir ab. Nun war ich also wieder hier. Im Heim. Und irgendwie fühlte sich das komisch an. So wie am Anfang, als ich noch ganz neu hier gewesen war. Der Drang, sofort wieder zu verschwinden, kam auf. Schon lag meine Hand an der Türklinke, aber ich hielt mich selbst gerade noch rechtzeitig zurück.   Du kannst nicht raus, sagte ich mir selbst und versuchte mich zu beruhigen. Die Türen sind zu, die Fenster sind zu. Du kannst nicht raus.   Minutenlang stand ich so da, bis ich es endlich schaffte, die Hand wieder von dem blauen Plastik zu lösen. Plötzlich war ich unheimlich müde. Als wäre ich wirklich gerannt. Weit, weit, weit gerannt.   Ich schaffte es noch bis zu meinem Bett und ließ mich darauf fallen. Kaum hatte mein Kopf jedoch das Kissen berührt, stieg mir ein ganz bestimmter Duft in die Nase. Leifs Shampoo. Das Zeug, das nicht zu ihm gehörte und mich trotzdem an ihn erinnerte.   Mein Herz begann schneller zu schlagen und gleichzeitig wurde es schwieriger zu atmen. Ich wusste nicht, was das war, aber es fühlte sich eigenartig an. Schmerzhaft. Komisch. Meine Finger krallten sich in den Stoff, als wollten sie ihn nie wieder loslassen. War es wirklich erst gestern gewesen, dass er mich so angesehen hatte, als wolle er nie wieder ein Wort mit mir sprechen?   Ich muss dass mit dem Tagebuch mit ihm klären. Heute noch!   Auf einmal konnte ich es gar nicht mehr abwarten, bis die Mittagspause endlich vorbei war.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)