Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 10: Ein Schritt zu weit ------------------------------- Ich scheuerte gerade mit einem schon ziemlich abgenutzten Putzschwamm am Wasserhahn des Badezimmers herum, als es hinter mir klopfte. Maik stand in der Tür und sah mich ernst an.   „Manuel? Kannst du mal bitte herkommen?“ Der Ton, in dem er das sagte, verhieß nichts Gutes. Langsam ließ ich den Schwamm sinken, spülte mir die Hände ab und wischte sie an meiner Jeans trocken. Dann erst drehte ich mich zu ihm herum. „Ja?“ „Ich hab heute Morgen die Putzdienste kontrolliert. Du warst nicht gründlich genug. In der Dusche waren noch Schaumreste und die Wände hattest du auch nicht abgezogen. Du weißt doch, dass das anfängt zu schimmeln.“   Ich verdrehte die Augen.   „Jaa, ich hatte es ein bisschen eilig. Hatte verschlafen.“ „Wir haben hier Regeln. Regeln, die für alle gelten. Auch für dich. Dazu gehört, dass man seine Aufgaben erledigt und zwar ordentlich.“   Wollte der mich jetzt echt ankacken? „Man, Maik, ich hab doch geputzt. Und ich mache es jetzt wieder gut, okay? Kein Grund so auszurasten.“ Er schüttelte den Kopf. „Du hast mich noch nicht erlebt, wenn ich ausraste. Glaub mir, das sieht anders aus.“ „Jaja.“   Konnte der jetzt bitte mal gehen? „Jaja heißt aber was anderes.“ „Na und?“   Echt, der Pisser sollte sich jetzt mal nicht so anstellen. Ich machte doch schon. Was wollte er denn noch? „Du musst wirklich an deinem Ton arbeiten. Heute in der Schule hattest du auch schon Ärger, hab ich gehört.“   Ich drehte den Kopf weg. Darüber wollte ich nun wirklich nicht mit ihm reden.   „Wenn irgendwas ist, kannst du jederzeit zu uns kommen. Das weißt du.“ „Ja, weiß ich.“   Nur dass ich das, was gerade wirklich los war, einfach niemandem erzählen konnte. Ich hätte gar nicht gewusst, was ich sagen sollte. Ich hatte doch nur dieses dämliche Buch mitgenommen. Leif hatte es mir schließlich selbst gezeigt. Wenn es so furchtbar geheim war, dann hätte er eben besser darauf aufpassen müssen. Es stand doch eh nichts Besonderes drin. Warum regte er sich eigentlich so auf? „Kann ich jetzt weiter putzen?“, fragte ich gedehnt. Maik sah aus, als würde er noch etwas sagen wollen, doch dann beließ er es bei einem Seufzen. „Sieh zu, dass du fertig wirst. Hausaufgabenzeit fängt gleich an.“ „Ich wäre schon längst fertig, wenn du mich nicht vollgelabert hättest.“   Maik, der sich bereits zum Gehen gewandt hatte, drehte sich noch einmal zu mir um.   „Wir gehen hier respektvoll miteinander um. Das beruht aber auf Gegenseitigkeit. Also reiß dich ein bisschen zusammen.“   Ich biss mir auf die Zunge, um nicht noch eine dumme Bemerkung zu machen. Stattdessen angelte ich mir die Packung mit den Kaugummis aus meiner Hosentasche. Als ich eines herausschüttelte, stellte ich fest, dass es das letzte war. „Scheiße!“   Für einen Augenblick überlegte ich, es zu halbieren, aber da die Dinger eh nicht besonders groß waren, steckte ich es ganz in den Mund. Meine Hoffnung, das Thomas sich vielleicht bereiterklären würde, mir neue zu kaufen, stellte sich jedoch als falsch heraus. „Woher hast du die?“, wollte er wissen und sah nicht eben begeistert aus. „Die hat mir Tobias gegeben.“ „Die ganze Packung?“ „Ja.“   Thomas murmelte etwas, das ich nicht verstand. Ich runzelte die Stirn. „Ist etwas nicht in Ordnung?“   Thomas seufzte leicht.   „Die Dinger dürfen eigentlich nicht ohne ärztliche Aufsicht an Minderjährige abgegeben werden. Und schon gar nicht unkontrolliert konsumiert werden. Tobias hätte das wissen müssen.“   Ich machte ein zerknirschtes Gesicht.   „Bekommt er jetzt Ärger deswegen?“   Thomas setzte ein schmales Lächeln auf. „Nein. Ist ja zum Glück nichts passiert. Ich muss aber mal mit Herrn Steiner reden, wie wir das in Zukunft machen. Die Dinger werden ja nicht umsonst in der Apotheke verkauft. Möglicherweise müssen wir uns da erst noch ein Okay von einem Arzt holen, bevor du die weiter bekommen kannst. Oder du guckst einfach mal, ob du es nicht ohne aushältst. Ich denke, du könntest das schaffen.“   Ich rang mir ebenfalls ein Lächeln ab, obwohl diese Ankündigung mich innerlich die Faust ballen ließ. Noch eine Prüfung, noch eine Untersuchung. Es musste immer erst alles abgesichert und von acht Leuten unterschrieben werden, bevor mir irgendwas erlaubt wurde. Das fühlte sich scheiße an. „Vielleicht kannst du dir ja heute Nachmittag beim Einkaufen ein paar normale Kaugummis mitnehmen. Das hilft vielleicht schon. Was sagst du?“ „Klar.“   In Wirklichkeit hatte ich total verdrängt, dass ich heute zum ersten Mal mit zum Taschen schleppen sollte. Ich konnte mir kaum was Öderes vorstellen. Als ich allerdings ins Wohnzimmer kam, wäre es mir am liebsten gewesen, wenn wir sofort losgefahren wären.   Leif saß auf dem Sessel, auf dem er immer saß, hatte die Beine angezogen und seinen Schreibblock auf den Oberschenkeln. Möglichst beiläufig ließ ich mich neben ihn auf das Sofa fallen und nahm ebenfalls meinen Schulkram heraus. Als ich das Buch in der Hand hatte, stieß ich ihn unauffällig mit dem Fuß an. Er reagierte nicht. Also stieß ich noch einmal. Er hob den Kopf und sah mich genervt an. „Ist was?“   Sein Gesicht war eine einzige Absage. „Nein. War ein Versehen“, antwortete ich und wandte mich den Knoten in meinem Magen ignorierend meinem eigenen Kram zu. Ich brauchte ihn schließlich nicht. So gar nicht.     Die Mittagspause über lag ich auf meinem Bett und kaute auf dem mittlerweile ausgelutschten Kaugummi herum. Als ich den Geschmack nicht mehr ertragen konnte, nahm ich es aus dem Mund und klebte es an die Unterseite des Bettes. Der Gedanke, dass es dort wohl noch kleben würde, wenn ich schon nicht mehr hier war, ließ mich grimmig lächeln. Wenigstens etwas, dass sie nicht kontrollieren konnten.   Meine Zufriedenheit über diesen kleinen Sieg bekam allerdings einen gehörigen Dämpfer, als ich sah, wer der zweite Kandidat für die heutige Einkaufstour war. Warum ausgerechnet er? „Warum ausgerechnet der?“, fragte auch Sven, als ich in die Küche kam und Thomas verkündete, dass wir dann ja loskönnten. „Weil Manuel auch mal mit Einkaufen dran ist.“   Die Antwort stellte weder Sven noch mich besonders zufrieden. Natürlich prügelten wir uns fast darum, vorne zu sitzen. Am Ende landeten wir beide auf der Rückbank, wo wir schweigend dasaßen, die Arme vor der Brust verschränkt und in verschiedene Richtungen aus den Fenstern des Wagens starrend, der in die Kategorie quadratisch, praktisch, gut fiel. Komischerweise passte das Ding irgendwie total zu Thomas. Lag vielleicht auch an dieser grinsenden, kleinen Sonne, die in der Ecke meines Fensters klebte. Sven hatte das Gleiche mit einer Wolke. Nur der Regenbogen fehlte. „Haben meine Kinder gemacht“, erklärte Thomas, als wir auf dem Parkplatz ankamen. Ich zog die Augenbrauen hoch. „Kinder? Wie alt sind die?“   „Inzwischen 17 und 19“, antwortete er lachend. „Na los, jeder von euch holt mal einen Wagen. Wir haben eine lange Liste.“   Die Einkauferei stellte sich, wie erwartet, als absolut nervig heraus. Nicht nur, dass wir jede Menge dumme Blicke auf uns zogen, während wir durch die Gänge schoben, aus den Lautsprechern über uns die neuesten Angebote geplärrt wurden und dazwischen gruselige Popmusik lief. Sven schien es sich obendrein auch noch zur Aufgabe gemacht zu haben, mir den Einkauf gründlich zu vermiesen. Er ließ auf jeden Fall keine Gelegenheit aus, mir an den Karren zu pissen. „Pass doch auf“, schnauzte er mich an, während er mir mal wieder mit dem Wagen direkt vor die Füße fuhr. Er drängelte sich an mir vorbei und versetzte meinem Wagen sogar noch einen Stoß, sodass er fast in die neben mir aufgestapelten Toastbrote donnerte. Dabei sollte ich das Brot holen. Hatte Thomas gesagt. Ich schluckte jedoch eine entsprechende Bemerkung herunter und wandte mich stattdessen an Thomas. „Soll ich noch was anderes besorgen? Sven kümmert sich anscheinend um das Brot.“   Thomas blickte auf seine Liste und schickte mich dann zu den Nudeln. Danach Milch, Joghurt, Käse. Es zog und zog sich und Thomas’ Erklärungen, dass die teuren Sachen immer in Blickhöhe standen und man sich deswegen ein bisschen bücken oder strecken musste, wenn man Geld sparen wollte, machten es auch nicht besser. Bei der Wurst angekommen fingen Sven und Thomas dann an zu diskutieren, was und wie viel sie kaufen wollten. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nicht zu Potte gekommen waren, während ich dumm in der Gegend rumstand und von den vorbeifahrenden Hausfrauen angegafft wurde, reichte es mir endgültig. „Brauchen wir sonst noch was?“   Thomas überlegte kurz. „Du kannst schon mal bei den Süßigkeiten gucken gehen. Pack einfach ein, worauf du Lust hast. Wir treffen uns dann dort.“   Ich nickte und schob langsam mit meinem Wagen an der Fleischabteilung vorbei in Richtung Süßwaren. Gummibärchen, Schokolade und Co stapelten sich hier in mehreren Gängen. Die Kekse und ähnlicher Kram kamen noch dahinter und dann gab es noch ein riesiges Regal mit Chips. Dem gegenüber standen gerade zwei Mädchen vor endlosen Reihen von Wein- und Sektflaschen. Sie hielten irgendeine rosa Plörre in der Hand und lasen sich das Etikett durch. Als sie mich mit dem Einkaufswagen kommen sahen, kicherten sie und steckten die Köpfe zusammen. Schnell ging ich noch einen Gang weiter und landete bei den harten Sachen. Schnaps, Wodka, kleiner Feigling. Alles, was bei Pascals Freunden früher rumgegangen war. Auch ich hatte davon getrunken. Bis zum Kotzen.   Ich ließ meinen Wagen stehen und ging um das Regal herum. Hier lachten mich lauter ach so glückliche Haustiere an. Es gab Tierfutter in Tüten, Dosen, Säcken. Daneben Spielzeug, Hundeleinen, Kauknochen und dann … die Kassen.   Ich sah den freien Durchgang sofort. Die Kasse war noch nicht besetzt, aber die Kassiererin hatte schon mal die Barriere zur Seite geschoben und war gerade dabei, dieses Metallding mit dem Wechselgeld an Ort und Stelle zu bugsieren. Wie aufgezogen kam ich näher. Es war, als hätten meine Füße ein Eigenleben entwickelt. Als ich fast am Kassenband angekommen war, blickte sie auf. „Ich bin gleich so weit. Du kannst deine Sachen schon mal hinlegen.“   Mein Herz wummerte gegen meinen Brustkorb. Es brauchte nur noch ein, zwei Schritte, dann war ich draußen. Vor den Kassen gab es mehrere gläserne Eingangstüren. Menschen gingen dort ein und aus. Wenn ich mich unter sie mischte, würde ich gar nicht auffallen. Ich wäre wie einer von ihnen. „Ich hab leider mein Geld vergessen“, sagte ich und hielt zum Beweis meine leeren Hände hoch. Pokerface. Ich war cool. Ich hatte nichts zu verbergen. Nur ein ganz normaler Kunde, der nochmal nach draußen musste, bevor er hier einkaufen konnte. Die Kassiererin nickte und beachtete mich nicht weiter und ich … ich ging einfach an ihr vorbei, durch die Tür und immer weiter. Erst, als ich am Ende des Parkplatzes angekommen war, fing ich an zu rennen.   Ich rannte und rannte, bis meine Lunge pfiff und ich Seitenstechen bekam. Doch erst, als ich mir sicher war, genug Abstand zwischen mich und den Supermarkt gebracht zu haben, wurde ich langsamer. Im gleichen Moment fing mein Gehirn an zu arbeiten.   Mir war klar, dass ich hier so schnell wie möglich weg musste. Da ich kein Geld hatte, fielen Bus und Bahn mehr oder weniger flach. Die Gefahr, dort erwischt zu werden, war viel zu groß. Leidige Erfahrung aus Anfängerfehlern. Blieb also nur, auf eine Mitfahrgelegenheit zu hoffen. Eine, die mich weit, weit von hier wegbrachte.     Eine gute, halbe Stunde stand ich am Zubringer der Bundesstraße, bis endlich ein kleines Auto neben mir hielt. Die Fahrerin, eine junge Frau mit kurzen, dunklen Haaren, ließ die Scheibe herunter. „Wo soll’s denn hingehen?“, wollte sie wissen. „Eigentlich nach Hamburg, aber ich nehm alles, was irgendwie in die Richtung geht.“ „Na dann, steig ein. Ich bin gerade auf dem Weg nach Bremen, da liegt das auf der Strecke.“   Das ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen. Ich pflanzte mich auf dem Beifahrersitz und schnallte mich pflichtschuldig an. Im Radio lief „Highway to hell“. Wie passend. „Bist du fertig?“ „Ja, kann losgehen.“ Sie setzte den Blinker und fuhr los. Eigentlich wartete ich darauf, dass sie fragen würde, was ich in Hamburg wollte und ob ich nicht zur Schule musste und all solche Sachen. Aber sie fragte nicht und ich sagte nichts. Stattdessen sah ich aus dem Fenster und versuchte mir sämtliche Gedanken an das, was ich gerade tat, zu verbieten. Als wir auf die Autobahn wechselten, atmete ich auf. Jetzt konnte nicht mehr viel passieren. Für irgendwelche Radiodurchsagen oder Suchmeldungen war es noch zu früh. Wahrscheinlich suchten Thomas und Co erst mal die nähere Umgebung ab. Ob sie Tobias anriefen? Und was Leif wohl dazu sagen würde, dass ich abgehauen war? Wahrscheinlich war es ihm egal. Er war bestimmt froh, dass ich weg war.     Eine gute Stunde später setzte mich die Autofahrerin auf einem Parkplatz an der Autobahn ab. Sie verabschiedete sich und brauste davon, während ich mir die Arme um den Oberkörper legte, um mich zu wärmen. Hier war es merklich kühler als dort, wo wir losgefahren waren. Es war heute nicht so warm wie die Tage zuvor und ich hatte meine Jacke in Thomas’ Auto liegenlassen. Was absolut dämlich war, wenn man es genau nahm. Aber ich hatte das hier ja auch nicht geplant.   Als ich mich umdrehte, ahnte ich bereits, was mich erwartete. Die Hochhäuser, die man in der Ferne sah, kannte ich nur allzu gut. Wie weiße Felsen standen sie in der Abendsonne und warfen lange Schatten. Ich brauchte mich nur in die Büsche zu schlagen und gleich darauf stand ich in einer der Straßen, in denen ich früher mit dem Fahrrad herumgefahren war. Da war die Bushaltestelle, der Supermarkt, der Brunnen, der nie funktionierte, was vielleicht daran lag, dass wir immer allen möglichen Mist in die Öffnungen stopften. Auf dem Platz, auf dem manchmal Floh- oder Wochenmmärkte veranstaltet wurden, lungerten ein paar Jugendliche herum. Für einen Moment war ich versucht, zu ihnen hinüberzugehen. Vielleicht kannte ich noch jemanden von ihnen. Ich war immerhin gerade mal ein halbes Jahr von hier weg. Genug, um Gras über einige Dinge wachsen zu lassen.   Doch dann entschied ich mich dagegen und ging lieber weiter. Immer am Kanal entlang, bis ich zu der Straße kam, die ich früher mein Zuhause genannt hatte. Ich wusste nicht, was mich hierher getrieben hatte. Ich zwang mich, nicht darüber nachzudenken. Stattdessen setzte ich unbeirrt einen Fuß vor dem anderen, bis ich irgendwann vor der gläsernen Haustür von Block B stand. Die linke Scheibe hatte ein Loch, nur verdeckt von einem Stück Folie, das jemand mit gelbschwarzem Klebeband dort befestigt hatte. Unzählige Namen standen auf dem metallenen Türschild, aber mein Blick galt nur einem bestimmten Klingelknopf. Wie oft hatte ich das Ding wohl bis zum Anschlag ins Klingelbrett gedrückt und mir dafür einen Anschiss abgeholt. Ich sollte gefälligst draußen bleiben und spielen. Irgendwann war es meinen Eltern zu bunt geworden und sie hatten mir einfach einen eigenen Schlüssel gegeben. Damals war ich fünf oder sechs gewesen. Es hatte sich angefühlt wie ein Stück Freiheit.   Den Schlüssel hatte ich noch. Er lag in meinem Koffer im Wohnheim. Gut versteckt in einer geheimen Seitentasche. Tobias hatte vergessen, ihn mir abzunehmen.   Nur nicht dran denken.   Entschlossen streckte ich die Hand aus und klingelte. Es dauerte, bis mir ein mürrisches „Ja“ aus der Sprechanlage entgegenschallte. Ich öffnete den Mund um zu antworten, aber kein Ton kam über meine Lippen. Wäre nicht in diesem Moment ein Mann aus dem Haus gekommen, hätte ich mich wohl auf dem Absatz herumgedreht und wäre geflohen. So jedoch schlüpfte ich kurzerhand in den Hausflur und wartete, bis die schwere Tür hinter mir ins Schloss gefallen war. Erst dann ging ich Schritt für Schritt auf den roten Fahrstuhl mit dem vergitterten Sichtfenster zu. Ich drückte den Rufknopf. Ein Klappern und Summen war zu hören. Kurz darauf öffneten sich die inneren Türen und ich konnte einen Blick in die winzige Kabine werfen. Sie war leer, wenn man von dem Schmierereien absah, die überall das abgeschabte, beige Metall bedeckten. Mit einiger Mühe wuchtete ich auch die Fahrstuhltür beiseite und stieg ein. Drinnen atmete ich noch einmal tief durch, bevor ich den Knopf für den siebten Stock drückte. So wie früher. Die Metalltüren schlossen sich und der Fahrstuhl setzte sich langsam in Bewegung. Als ich oben ankam, war mir schlecht vor Angst.   Ich trat aus dem Fahrstuhl, die Hose gestrichen voll. Da waren die Türen der Nachbarn, die ich zur Genüge kannte. Eine ausländische Familie, die kaum Deutsch sprach und ungefähr hundert Kinder hatte, und eine ältere Frau, die immer zur Jahreszeit passende Dekorationen vor der Tür stehen hatte. Als ich noch kleiner war, hatte sie mir manchmal ein bisschen Geld gegeben, damit ich für sie Milch oder etwas anderes aus dem Supermarkt holte. Den Rest hatte ich immer behalten dürfen. Irgendwann hatte ich damit aufgehört. Warum wusste ich selbst nicht genau.   Der Gang mit dem schwarzweißen Fußboden bog ab und dann stand ich vor der Tür mit dem Türspion, durch die ich schon so viele Male gegangen war. Von drinnen hörte man den Fernseher dröhnen. Ich zögerte. War das wirklich eine gute Idee? Sollte ich nicht lieber die Beine in die Hand nehmen und laufen? Aber wohin? Und vielleicht … vielleicht war es dieses Mal ja anders. Vielleicht.   Ich streckte meine Finger nach dem Klingelknopf aus. In meinem Kopf schrillten tausend Alarmglocken. Sie verstummten, als sie von der Klingel übertönt wurden. Ein durchdringendes Geräusch, das sogar lauter als der Fernseher war. Von drinnen konnte ich meinen Vater brüllen hören, dass meine Mutter gefälligst aufmachen sollte. Schlurfende Schritte und dann …   „Manuel!“   Die Tasse, die meine Mutter in der Hand gehalten hatte, fiel zu Boden. Sie zerschellte auf dem abgetretenen, orangefarbenen Teppich und hinterließ einen großen, dunklen Fleck. Kaffee vermutlich. Oder etwas anderes. Ich wusste es nicht. Ich hatte nur Augen für meine Mutter, die mich unverwandt anstarrte. Sie sah schlecht aus. Fleckige Haut, stumpfe Haare, das Gesicht eingefallen und mit mehr Falten, als ich es in Erinnerung hatte. Ihre Tränensäcke waren dunkel und geschwollen. Sie sah aus wie ein Gespenst. „Wo kommst du denn her?“   Die Frage war eigentlich dumm, denn immerhin wussten sie doch, wo ich war. Oder wussten sie es nicht? Hatte man ihnen verheimlicht, wo man mich untergebracht hatte?   „Ich bin abgehauen“, antwortete ich. „Kann ich reinkommen?“   Eigentlich wollte ich nicht. Ich wusste doch genau, was mich da drinnen erwartete. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich einen Riesenfehler gemacht hatte. Aber jetzt war es zu spät zum Umkehren. „Ich will mir nur eben eine Jacke holen“, sagte ich und drängte mich an meiner Mutter vorbei. Im Wohnzimmer konnte ich den Fernseher sehen. Mein Vater saß davor, ein Bier in der Hand und die Lautstärke auf Anschlag. „Wer war das?“, fragte er, doch bevor meine Mutter antworten konnte, hatte ich mich schon umgedreht und war in den kleinen Flur gegangen, von dem mein und Pascals Zimmer abgingen. Die Luft roch verbraucht und abgestanden. Ich öffnete die erste Tür und fand den Raum so vor, wie ich ihn verlassen hatte. Schnell ging ich zum Schrank, griff mir ein altes, schwarzes Sweatshirt und war schon wieder auf dem Weg nach draußen, als die Wohnzimmertür aufging und mein Vater herauskam. Er glotzte mich mit ebenso großen Augen an wie meine Mutter. Im Gegensatz zu ihr war sein Gesicht jedoch rot und wurde noch röter, als er mich sah. „Du?“, knurrte er. „Na du hast vielleicht Nerven, hier einfach so aufzutauchen. Haben sie dich rausgeschmissen, oder was?“   „Ich bin abgehauen.“   Es fühlte sich falsch an, das zuzugeben. Als würde ich ihm damit das Messer in die Hand geben. Und natürlich enttäuschte mein Vater nicht. „Tzz, als wenn ich es nicht gewusst hätte. Du machst überall nur Ärger. Nach all dem, was du uns und Pascal angetan hast, war es ja nur eine Frage der Zeit …“   Ich hörte ihm nicht mehr zu. Hatte er gerade gesagt, was ich Pascal angetan hatte?   „Er hat mich fast abgestochen“, platzte ich heraus. „Euer feiner Sohn, mein Bruder, hat mich zusammengeschlagen und wollte mit einem Messer auf mich losgehen. Ich war im Krankenhaus. Ist euch das eigentlich klar?“   Meine Mutter zog den Kopf ein. „Natürlich wissen wir das. Die Polizei hat es uns ja gesagt. Wir wollten immer mal vorbeikommen, aber …“   „Erzähl nicht so einen Schwachsinn“, unterbrach sie mein Vater. „Als wenn wir den auch noch besucht hätten. Er hat sich ein paar gefangen. Mein Gott, das kommt vor. Soll sich nicht so anstellen. Er lebt doch noch.“ „Was nicht euer Verdienst ist.“   Ich sah die Schelle kommen, aber ich war zu langsam, um zu reagieren. Erst, als mein Kopf zur Seite flog und meine Wange zu brennen begann, realisierte ich, dass mein Vater mich gerade geschlagen hatte. „Sei nicht so undankbar“, raunzte er mich an. „Wir haben dir schließlich ein Dach über dem Kopf gegeben. Was zu Essen. Haben dich in die Schule geschickt. Und zum Dank dafür müssen wir jetzt aus unserer Wohnung raus. Sie ist zu groß, haben die gesagt. Weißt du, was das heißt? Ich wohne seit 20 Jahren hier. Länger, als du überhaupt auf der Welt bist. Und jetzt muss ich hier ausziehen, nur weil du so ein jämmerlicher Waschlappen bist.“   Ich sah ihn an. Versuchte zu begreifen, was er gerade gesagt hatte. Die Erkenntnis, die mir das brachte, war bitterer, als ich gedacht hatte. „Ach deswegen der Aufstand“, sagte ich abfällig. Ich schob die Mundwinkel nach oben. „Ihr wollt mich wieder hier haben, damit ihr die Wohnung behalten könnt. Aber darauf könnt ihr lange warten. Ich komm nicht mehr zurück.“ Schneller als mein Vater reagieren konnte, brachte ich mich aus seiner Reichweite und war aus der Tür, bevor meine Mutter auch nur ein Wort an mich gerichtet hatte. Doch was immer sie hatte sagen wollen, wäre ohnehin im Gebrüll meines Vaters untergegangen.   „Fein!“, schrie er mir nach und seine Stimme donnerte durch das Treppenhaus. „Hau bloß ab! Ich hoffe, du landest in der Gosse. Dann wirst du dich dran erinnern, wie gut du es hier hattest. Du undankbares Stück! Hörst du mich? Du wirst noch darum betteln, dass wir dich wieder zurücknehmen. Du wirst darum betteln!“   Ich glaube, er schrie noch mehr, aber die Metalltür des Treppenhauses schluckte seine Stimme und ließ sie zu einem dumpfen Murmeln herabsinken. Meine Füße flogen die Treppen hinunter. Mein Herz raste. Wieder einmal war ich auf der Flucht, aber dieses Mal war es die richtige Entscheidung. Ich gehörte nicht mehr hierher. Als ich vor die Tür trat, waren Wolken aufgezogen. Der Wind war aufgefrischt und ich war froh, dass ich mir wenigstens was zum Anziehen geholt hatte. Eilig zog ich das Sweatshirt über den Kopf und ließ die Kapuze gleich oben. Es machte die Geräusche leiser und die Blicke, die mich trafen. Es machte alles leiser.   Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und fing an zu laufen. Den Blick gesenkt wusste ich, wo ich jetzt hinwollte. Dorthin, wo es besser war als hier. Zumindest war es das früher gewesen. Ich hoffte, dass es das jetzt immer noch war.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)