Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 9: Kopflos ------------------ Montagmorgen kam und mit ihm zwei unangenehme Feststellungen. Zum einen würde ich duschen müssen, um gewisse Körperregionen wieder vollständig zu entkleben. Zum anderen hatte ich dazu keine Zeit, weil ich verschlafen hatte.   „Fuck!“   Ich sprang aus dem Bett und hatte gerade so die Badtür erreicht, als Henning schon im Flur auftauchte und mich aufhielt. „Wo willst du denn hin? Und warum bist du nicht angezogen? Es ist längst Zeit zum Frühstück.“   „Weiß nicht“, murmelte ich und fuhr mir mit der Hand durch die völlig zerwuschelten Haare. „Bin irgendwie wieder eingepennt. Kann ich nicht noch schnell ins Bad?“   Henning schüttelte den Kopf. „Keine Chance. Teilnahme an den Mahlzeiten ist Pflicht, das weißt du. Zieh dir halt eben was über und beeil dich dann nach dem Frühstück. Was für einen Dienst hast du?“ „Badezimmer.“ „Mhm. Dann wäre heute Morgen eigentlich Putzen angesagt. Du weißt schon, die Dusche abziehen und so weiter. Hast du einen Vorschlag, wie du das alles noch vor der Schule schaffen willst?“   Ich zog die Nase kraus und versuchte, möglichst hilflos auszusehen. „Kann ich das heute Morgen nicht mal ausfallen lassen?“ „Dienst ist Dienst.“   Ich seufzte. „Wenn ich mich doll beeile? Bitte, Henning. Ich … ich kann so nicht in die Schule.“   Oder zum Frühstück.   Jetzt war es Henning, der seufzte. „Du machst es einem nicht leicht, weißt du das?“   Ich deutete ein Lächeln an. „Fünf Minuten?“   Er knurrte.   „Na schön. Fünf Minuten. Aber erst nach dem Frühstück. Und wenn du nicht fertig bist, musst du nackt in die Schule gehen. Ist mir dann egal.“   Ich lächelte ihm noch einmal zu. „Bist ein Schatz.“   Er zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts und auch ich drehte mich lieber schnell um und sah zu, das sich wenigstens noch ein Shirt überwarf, bevor ich mich zum Frühstückstisch begab. Dort saßen die anderen schon bereit. Als ich dazukam, hob Sven den Kopf. „Oh, ist das die neueste Mode? Schlabberlook frisch aus der Gosse?“   Ich zog die Oberlippe nach oben, um ihm ein Zähnefletschen anzudeuten, bevor ich mich neben Leif auf meinen Stuhl fallen ließ. Der saß bereits mit seinem üblichen Toast da. Ohne Belag, nur mit einem Hauch Butter. „Hey“, warf ich ihm rüber zusammen mit einem kurzen Blick. Er grüßte zurück, ohne eine Miene zu verziehen, bevor er fortfuhr, winzige Stückchen von seinem Toast abzubeißen. Als er merkte, dass ich ihn immer noch beobachtete, meinte er leise: „Ist schon der zweite, okay? Kein Grund zur Panik.“   Natürlich hatte ich mir nicht wirklich Sorgen gemacht, aber dass er das jetzt sagte, fühlte sich trotzdem irgendwie gut an. Ein bisschen so wie gestern.   Mit sehr viel mehr Enthusiasmus als gerade noch, langte ich selber zu und vernichtete meine übliche Portion in maximal der halben Zeit. Als ich fertig war, sah ich bittend zu Henning rüber. „Kann ich schon aufstehen? Ich soll mich doch beeilen.“   Ich sah, dass Henning nicht gerade begeistert war. Es galt die Regel, dass sitzengeblieben wurde, bis alle fertig waren. Oder wenigstens alle außer Leif. Ein vorzeitiges Aufstehen stellte somit einen erneuten Regelbruch dar. Etwas, von dem Henning anscheinend beschlossen hatte, es nicht durchgehen zu lassen. „Nein. Du wartest, bis die Mahlzeit beendet ist.“   Natürlich hatte das genau die gegenteilige Wirkung von dem, was ich mir erhofft hatte. Plötzlich schien es Sven überhaupt nicht mehr eilig zu haben. Er griff noch einmal zu und beschmierte sich genüsslich ein weiteres Brötchen. Auch die anderen hatten auf einmal alle Zeit der Welt. Ich hingegen saß wie auf heißen Kohlen. Im Notfall würde das Duschen halt ausfallen müssen, aber mit wäre mir doch lieber gewesen.   Zum meinem Glück schien auch Henning die Schikane zu bemerken. Nach endlosen Minuten, in denen ich auf meinem Stuhl herumzappelte, sah er auf die Uhr und meinte gönnerhaft, dass ich vielleicht doch schon mal gehen könnte, um meinen Dienst zu verrichten. Ich sprang sofort auf und war aus der Tür, bevor die anderen protestieren konnten. Dass ich außerdem nochmal kurz unter das heiße Wasser springen wollte, mussten sie ja nicht wissen. Ich beeilte mich, um wirklich alles noch hinzukriegen. Lediglich die Putzaktion der Dusche fiel vielleicht ein bisschen weniger gründlich aus als gewollt.   Hole ich heute Mittag nach, nahm ich mir vor und wollte eben nur mit einem Handtuch bekleidet in mein Zimmer huschen, als Leif am Ende des Flurs auftauchte. Er warf mir einen amüsierten Blick zu, während er auf mich zukam und dann aber an mir vorbeiging, ohne etwas zu sagen. Ich blieb stehen und sah ihm nach. Eigentlich hatte ich so gar keine Zeit mehr. Andererseits war das verräterische Klicken seiner Tür ausgeblieben. Er hatte sie also mit Absicht offengelassen.   Ach scheiß drauf!   Sollte mich Henning doch ankacken, weil ich zu spät war. Wäre schließlich das erste Mal diese Woche.   Mit einem Grinsen ging ich zu Leifs Tür und schob sie langsam auf. Er saß an seinem Schreibtisch; vor ihm das Buch, in dem er letztes Mal schon geschrieben hatte. Als ich um die Ecke kam, blickte er auf. „Bin gleich fertig“, sagte er und beendete noch eben seinen Eintrag, bevor er den Stift weglegte und das Buch schloss. Danach drehte er sich zu mir um. Erneut maß er mich mit einem Blick, in dem ein bisschen mehr mitschwang als vorsichtiges Interesse. Ich reckte mich, damit er mehr zu gucken hatte. Ein Wassertropfen fiel durch die Bewegung aus meinen Haaren und rann meinen Brustkorb hinab. Wie hypnotisiert folgte Leif ihn mit den Augen. Unbewusst strich er sich mit der Zunge über die Lippen, bevor er mir wieder in die Augen sah. Etwas, das ihn sicherlich Überwindung kostete anhand meines aufreizenden Aufzugs. Ich wackelte mit den Augenbrauen. „Noch schnell ein Quickie vor der ersten Stunde.“ „Quatschkopf“, erwiderte er grinsend. Ich grinste zurück. Anschließend hätte ich wohl wieder gehen sollen. Mich anziehen und so. Aber ich wollte nicht. Also sah ich mich in seinem Zimmer um. Die Bilder an den Wänden waren tatsächlich Fotos. Ein Typ tauchte mehr als einmal darauf auf. Ich war mir nicht sicher, ob die Posen, in denen er mit Leif zusammen zu sehen war, eher auf „Bro“ oder auf „Lover“ schließen ließen. Während ich noch überlegte, wie ich das wohl rausbekommen könnte, stand Leif auf. „Du … du solltest dich vielleicht fertigmachen. Wir müssen los.“   Ein wenig unschlüssig stand er mit dem Buch in der Hand da. Er sah mich kurz an, dann drehte er sich zum Bett und schob es wieder an seinen Platz unter der Matratze. Ganz und gar öffentlich. Ich beobachtete ihn dabei, wie er sich wieder aufrichtete. Seine Hände öffneten und schlossen sich, bevor er sich gegen den Schreibtisch lehnte und sie dort hinter seinem Rücken verbarg. Noch einmal sah ich zu seinem Bett.   „Ist das ein Tagebuch?“, hörte ich mich fragen. Leif schüttelte den Kopf. Dann lächelte er schmal. „Na ja, eigentlich schon so ein bisschen. Ich … ich schreibe auf, was ich esse.“   Ich brauchte einen Augenblick, um die Information zu verarbeiten. Anschließend runzelte ich die Stirn. „Wozu ist das gut?“   Leif senkte den Blick und presste die Lippen zusammen. Ich war kurz davor ihm zu sagen, dass er es mir nicht verraten musste, als er schließlich doch antwortete. „Wenn ich es nicht tue, muss ich die ganze Zeit daran denken. Ich wiederhole es wieder und wieder in meinem Kopf, damit ich nichts vergesse. Das ist … lästig. Wenn ich es aufschreibe, kann ich mich wieder besser auf andere Sachen konzentrieren. Ich kann es dann besser … kontrollieren.“   Er hob leicht den Blick und sah mich von unten herauf an.   „Ziemlich schräg, oder?“   Ich ließ geräuschvoll die Luft entweichen.   „Na ja, schon ein bisschen. Ich versteh nicht ganz, warum das so wichtig ist. Du bist doch nicht dick oder so.“   Leif zuckte mit den Achseln.   „Ich weiß. Es ist nur …“   Was er sagen wollte, ging in einem lauten Klopfen unter, dass uns beide zusammenschrecken ließ. „Leif? Los jetzt! In zwei Minuten geht es zur Schule. Bisschen zackig, wenn ich bitten darf.“   Hennings schwere Schritte entfernten sich, um an Svens Tür und das gleiche Spiel abzuziehen. Danach würde er zu meiner Tür gehen. Meiner Tür, die nur angelehnt war.   „Scheiße! Wenn er sieht, dass ich nicht in meinem Zimmer bin, wird er mich suchen kommen.“   Leif reagierte sofort. Er schnappte sich seine Schultasche, lief an mir vorbei und auf seine Tür zu. „Versteckt dich“, zischte er.   Sollte das ein Scherz sein? Hier gab es nichts, um mich zu verstecken. Oder sollte ich etwa in den Schrank hüpfen?   Als Leif sah, dass ich nicht reagierte, griff er nach meinem Arm und bugsierte mich hinter die Tür. Danach öffnete er sie und verließ den Raum mit einem lauten „Ich komme ja“. Als er die Tür schloss, vernahm ich seine Stimme, die Henning geschickt in ein Gespräch verwickelte, während er ihn immer weiter von meiner Tür weglockte. Erst, als ich hörte, dass sie bereits das Treppenhaus erreicht hatten, wagte ich wieder zu atmen.   Ich wollte mich gerade auf den Weg nach drüben machen, als mein Blick an Leifs Bett hängenblieb. Das Bett, unter dessen Matratze sein Tagebuch lag.   Bevor ich es mir recht überlegt hatte, hatte ich mir das Teil schon gegriffen und flüchtete damit über den Flur. Ich warf mich in Windeseile in meine Klamotten und verstaute das Buch in meinem Rucksack. Dann schlüpfte ich noch schnell in meine Schuhe und sah zu, dass ich nach unten kam. Am ersten Treppenabsatz begegnete ich Henning. „Du bist zu spät“, brummte er und wirkte dabei wie ein Bär, der eine Fliege in seinem Honigtopf gefunden hatte. „Ja, sorry, tut mir leid. Ich hatte meine Hausaufgaben oben vergessen“, log ich ohne mit der Wimper zu zucken. Henning nickte nur und ich machte, dass ich an ihm vorbei zu den anderen kam. „Na endlich“, maulte Sven. „Standest du zu lange vor dem Spiegel?“   „Nee, ging nicht. Da war ein dicker Sprung drin. Hat deinen Anblick wohl nicht verkraftet.“   Feixend wich ich dem Tritt aus, den Sven in meine Richtung abgab, und hörte zu, wie er dafür einen Rüffel von Henning kassierte. Danach trottete ich brav mit den anderen hinüber zum Hauptgebäude. Leif sah ich dabei nicht einmal an und versuchte auch sonst nicht daran zu denken, dass ich gerade sein Tagebuch geklaut hatte. Ich wusste, dass er es spätestens heute Mittag vermissen würde. Und er würde wissen, wer es hatte.   Was hab ich mir dabei nur gedacht?   Die erste Stunde begann. Frau Schmidt erging sich wieder in ihren dämlichen Mathethemen. Meine Finger trommelten auf der Tischplatte herum, während sie erklärte, was sie schon die drei letzten Stunden bis zum Erbrechen durchgekaut hatte. Meine Gedanken kreisten derweil um das Buch. Ich hatte keine Ahnung, was ich darin zu finden erwartete. Vielleicht ein paar Antworten. Antworten, auf Fragen, die ich niemals gestellt hatte. Oder etwas anderes. Ich wusste es nicht. Aber ich wusste, dass ich Jason gleich eine reinhauen würde, wenn er noch einmal eine so selten dämliche Frage stellte, die Frau Schmidt schon gefühlte acht Mal beantwortet hatte.   Als endlich Stillarbeit angesagt war, und Frau Schmidt sich von ihrem Stuhl zu den einzelnen Plätzen bequemte, griff ich mir das Buch aus dem Rucksack. Es war braun und aus Leder, wenn mich nicht alles täuschte. Die Ecken waren bereits abgestoßen und der Einband hatte mehrere Kratzer. Und einen Fleck. Gerade als ich mich fragte, was ihn wohl verursacht hatte, hörte ich vor mir ein Räuspern. „Und, Manuel, kommst du mit den Aufgaben zurecht?“   Mein Kopf ruckte nach oben und ich sah direkt in Frau Schmidts Augen, die mich aufmerksam musterten. Sie deutete mit dem Kopf auf das Tagebuch. „Ich nehme nicht an, dass das da dein Mathebuch ist.“   Ich schüttelte den Kopf.   „Dann wäre ich dir dankbar, wenn du es jetzt beiseite legen und dich deinen Aufgaben zuwenden könntest.“   Mit zusammengebissenen Zähnen schob ich das Buch beiseite und griff stattdessen nach dem Aufgabenzettel, den Frau Schmidt ausgeteilt hatte. Schon die erste Aufgabe ließ mich stöhnen.   Um eine Baugrube auszuheben, brauchen 4 Bagger 14 Tage. Wie lange würden 7 Bagger für die gleiche Grube brauchen? „Das ist doch Schwachsinn“, murmelte ich. „Niemand würde 7 Bagger anmieten. Das ist doch viel zu teuer. Außerdem haben die da doch gar keinen Platz.“   Frau Schmidt, die das offenbar gehört hatte, schmunzelte. „Da hast du einen wichtigen Punkt gefunden. Sehr umsichtig von dir. Aber würdest du es bitte trotzdem ausrechnen?“   Ich schickte ihr einen Blick unter gerunzelten Augenbrauen hervor, ehe ich mich daran machte, die dumme Baggeraufgabe auszurechnen. Danach mussten Schweinehälften zerteilt werden. Während ich die ersten Zahlen hinschrieb, stellte ich mir vor, wie es wohl war, in so einer Fabrik zu arbeiten. Tag für Tag tote Tiere in Stücke zu schneiden war sicherlich nicht gerade ein Traumjob. Ob ich später auch mal in so was enden würde? An irgendeinem Fließband, wo ich tagein, tagaus wieder und wieder die gleichen Arbeitsschritte wiederholen musste. Wie eine Maschine. Ich würde wohl durchdrehen, wenn es so wäre. „Manuel. Nicht träumen.“   Die anderen kicherten und selbst Jason warf mir einen amüsierten Blick zu, bevor er sich wieder über seinen Zettel beugte und mit großen, runden Buchstaben seine Lösung hinschrieb. Noch so was, das mir auf den Geist ging. Im ganzen Satz antworten. Was für eine Scheiße! Das hier war immerhin Mathe und nicht Deutsch. Ich klierte irgendeine Antwort hin. Keine Ahnung, ob es die richtige war. Ich wollte auch gar nicht darüber nachdenken. Stattdessen nahm ich mir die nächste Aufgabe vor. Irgendwas von Pumpen und Pools und wie lange es wohl dauerte, bis die gefüllt waren. Als wenn ich jemals auch nur in die Nähe eines Pools gekommen wäre.   Ob Leifs Eltern einen Pool haben?   Aus den Andeutungen der anderen war herauszuhören gewesen, dass seine Eltern Kohle hatten. Sie bezahlten wohl auch den Aufenthalt hier. Warum, wusste ich nicht.   Wie von selbst glitt mein Blick wieder zu dem Buch, das da so unschuldig am Rand meines Tisches lag. Halb verborgen unter dem Arbeitsblatt. Ob ich wohl …   Ein schneller Check verriet mir, dass Frau Schmidt gerade beschäftigt war. Einer der jüngeren Schüler hatte mit dem Stift Löcher in sein Arbeitsblatt gebohrt, statt die darauf stehenden Aufgaben zu lösen. Das würde bestimmt eine Weile dauern, denn er zeigte sich nicht gerade einsichtig.   Ohne aufzusehen schob ich meine Hand zu dem Buch und zog es langsam zu mir heran. Ich öffnete es an irgendeiner Stelle und schob dann das Arbeitsblatt darüber. Dann lehnte ich mich zurück und schielte unter das Papier. Die Seiten des Buches waren in Wochentage eingeteilt. Immer eine Doppelseite für eine Woche. Vier links, drei rechts. Darunter noch ein Feld für besondere Ereignisse und übergreifende Notizen. Dieses Feld war allerdings leer geblieben. Im Rest stand eine erkleckliche Liste. Da war zum Beispiel der Mittwoch. Ein Apfel und eine Scheibe Brot. Mehr hatte er an diesem Tag nicht gegessen? Und am Donnerstag einen Salat. Ohne Dressing. War das sein fucking Ernst? „Manuel?“   Ich hob den Kopf. Schon wieder Frau Schmidt. Dieses Mal sah sie so gar nicht erfreut aus. „Ich hatte dich gebeten, das wegzulegen. Da du das offenbar nicht kannst, werde ich es wohl in Verwahrung nehmen müssen.“   Sie streckte die Hand nach dem Buch aus. Unwillkürlich schob ich meine schützend darüber. „Ich lege es weg. Versprochen!“, gelobte ich in den höchsten Tönen, aber mein Umstimmungsversuch scheiterte. Frau Schmidt blieb unerbittlich. „Du kannst ohnehin während des Unterrichts nicht hineinsehen. Es macht also keinen Unterschied, ob es bei dir oder in meinem Pult liegt.“ „Aber …“ „Und wenn es dort liegt, bist du zumindest nicht weiter in Versuchung, dich davon ablenken zu lassen.“ „Aber …“ „Manuel, gib mir jetzt das Buch!“   Meine Finger krampften sich um den Ledereinband.   „Sie können mir das nicht wegnehmen. Es gehört mir.“   So in der Art zumindest.   „Und deswegen wirst du es auch wiederbekommen, wenn der Schultag vorbei ist. Ich werde Herrn Zimmermann darüber informieren. Ansonsten würde ich es zu schätzen wissen, wenn du es in Zukunft einfach zu Hause lassen würdest. Das macht weniger Probleme für uns beide.“   Ich biss mir auf die Zunge, um sie nicht darauf hinzuweisen, dass das Heim ja wohl kaum mein „Zuhause“ war, aber andererseits hatte ich ja nichts, was sich sonst so bezeichnen ließ. Die Wohnung meiner Eltern war schon lange kein Zuhause mehr für mich.   „Bitte, Frau Schmidt. Ich packe es weg. In meine Tasche. Ich schwöre es.“   Ich versuchte es mit einem Hundeblick. Wenn sie mir das Buch wegnahm, würde ich gar nicht mehr darin lesen können. Nicht mal in der Pause. Wobei wir da ja auch regelmäßig irgendwelche Beschäftigungen bekamen. Puzzle oder Ausmalbilder. Wie im Kindergarten. Es war wirklich ein Witz.   „Ich glaube nicht, dass ich dir da vertrauen kann“, erwiderte sie. „Und jetzt gib mir bitte das Buch. Wir wollen weitermachen.“   Ich schluckte. Entweder ich gab meinen Fund jetzt her oder es würde noch größere Kreise ziehen als ohnehin schon. Schlimm genug, dass alle andere aus der Klasse mich anstarrten wie einen Tiger im Käfig. Würde er den Wärter anfallen, der ihm gerade das stibitzte halbe Hähnchen wieder wegnehmen wollte, oder nicht? Andererseits: Wie sah das aus, wenn ich jetzt klein beigab? Wenn Jason das herumerzählte …   Langsam hob ich das Kinn.   „Wenn Sie es haben wollen, kaufen Sie sich ein eigenes.“ Frau Schmidt sah mich noch einen Augenblick lang an, bevor sie tief einatmete. „Wie du willst. Wir können das auch anders regeln.“   Sie griff nach ihrem Piepser. Damit konnte sie jederzeit die Erzieher herbeirufen. Henning würde kommen oder vielleicht auch Maik. Das Buch würde in ihren Besitz übergehen und dann … dann hatte ich endgültig verkackt. „Okay, okay. Ich hab verstanden. Nehmen Sie es halt.“   Ich schmiss ihr das Buch hin, sodass es mit einem Klatschen auf dem Tisch landete, bis zur Kante schlitterte und von dort zu Boden segelte. Ich hörte, wie es landete. Das flatternde Geräusch der Seiten. Ob ich welche verknickt hatte? „Warum denn nicht gleich so?“, seufzte Frau Schmidt. Sie bückte sich mit einem langen Blick auf mich nach dem Buch, hob es auf und trug es zu ihrem Tisch. In dessen Schublade war schon alles Mögliche gelandet. Flummis, Spielkarten, Taschenlampen, Aufziehtiere. Einmal sogar ein Handy, das einer aus der anderen Gruppe dämlicherweise hierher mitgebracht hatte. Er war natürlich erwischt worden. Ebenso wie ich gerade. Ich hätte mir in den Hintern beißen können, aber es half nun nichts mehr. Das Buch lag sicher verschlossen in Frau Schmidts Pult und ich würde bis heute Mittag warten müssen, bis ich es wiederbekam. Der Vormittag schlich nur so vor sich hin. Dreisatz, Zeitformen und das bekloppte Sonnensystem. Als wenn mich interessiert hätte, wie irgendwelche Gas- oder Gesteinsklumpen da oben hießen und auf welchen dummen Gott diese Benennung zurückging. Und dieser dämliche Merksatz konnte mich auch mal kreuzweise.   Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unseren Nachthimmel.   So eine Scheiße! Als wenn mein Erzeuger sich auch nur ein einziges Mal die Mühe gemacht hätte, mir irgendwas zu erklären. Für ihn war ich doch nur gut gewesen, um ihm ein frisches Bier aus dem Kühlschrank zu holen oder seinen Scheiß wegzuräumen, wenn ich irgendwo meine Hausaufgaben machen wollte. Im Leben hätte er sich nicht mit mir hingesetzt und hätte sich die Sterne angeguckt. Nicht mal, wenn er sternhagelvoll gewesen wäre.   Endlich fand das Grauen des Schultags ein Ende und ich wartete mit unruhig wippendem Knie darauf, dass die anderen sich endlich verzogen, damit ich Herrn Zimmermann um die Rückgabe des Buches bitten konnte. Als endlich alle verschwunden waren, sah er mich verwundert an. „Ist noch was, Manuel?“ „Ja, ich … ich hätte gerne das Buch wieder, dass mir Frau Schmidt heute Morgen abgenommen hat.“ „Ein Buch? Was denn für ein Buch?“   Ich stöhnte innerlich. Das ging ihn ja nun kaum etwas an. Ich hütete mich jedoch, darüber jetzt einen Streit anzufangen. Wenn ich mich nicht beeilte, würde Leif womöglich …   „Manuel?“   Scheiße!   Leif stand an der Tür und sah zwischen mir und Herrn Zimmermann hin und her.   „Habt ihr noch was zu besprechen? Dann geh ich schon mal vor.“   Ja, bitte!   „Nein, nein. Ich will Manuel nur eben sein Buch zurückgeben. Warte einen Augenblick.“   Fuck, fuck, FUCK!   Mit klopfendem Herzen sah ich zu, wie die Schreibtischschublade geöffnet wurde, Herr Zimmermann hineingriff und dann … dann hatte ich nur noch Augen für Leif. Leif, der bleich wie die weiße Wand wurde, als er das Buch in den Händen meines Lehrers erkannte. Leif, dessen Kopf so heftig zu mir herumruckte, dass ich Angst hatte, dass er abbrechen würde. Leif, in dessen Blick Unglaube und Panik stand. Blanke Panik.   „Danke, Herr Zimmermann“, sagte ich schnell, griff nach dem Buch und drehte mich um. Nur weg von hier. Nur weg. „Leif, kommst du? Bitte?“   Ich konnte das Flehen in meiner Stimme selber hören. Es war ziemlich erbärmlich, aber nicht so schlimm wie der tonnenschwere, schleimige Klumpen, der schon wieder meinen Magen ausfüllte. Wenn ich ihn ausgekotzt hätte, hätte er vermutlich die Größe eines Fußballs gehabt. Aber ich konnte ihn nicht loswerden. Ich konnte nur hoffen, dass …   Leif kam. Er sah mich nicht an. Ich versuchte mit ihm zu reden, aber er ging einfach an mir vorbei. So schnell, dass ich nicht reagieren konnte. Am Ende des Gangs stand schon Maik und trieb uns zur Eile an. Ich wünschte, es wäre Tobias gewesen. Den hätte ich fragen können, was ich tun sollte. Aber Maik? Der nahm mich nie so richtig ernst.   „Leif! Leif, warte!“, rief ich halblaut, aber Leif hörte nicht auf mich. Er stürmte weiter und sogar an den anderen vorbei, ohne sich noch einmal umzusehen oder sich um Maiks Protest zu kümmern. Zum Glück rannte er direkt auf das Wohnheim zu, wo er ungeduldig wartete, bis wir endlich auftauchten. Maik versuchte, ihn zur Rede zu stellen, aber er antwortete nicht. Er stürzte lediglich die Treppe hinauf. Gleich darauf konnte man eine Tür zuschlagen hören. Da die Zimmer alle abgeschlossen waren, konnte es nur die Badtür sein. Maik knurrte unwirsch. „Los, in eure Zimmer und dann runter zum Essen. Thomas wartet schon auf euch. Ich kümmere mich um Leif.“   Mit einem Arsch voll schlechtem Gewissen stieg ich hinter Maik die Treppe hinauf. Ich wusste, dass ich etwas sagen musste, damit Leif keinen Ärger bekam. Immerhin war er nur meinetwegen so durchgedreht. Gleichzeitig konnte ich Maik nicht sagen, was wirklich der Grund war. Er hätte das Buch womöglich sehen oder gar darin lesen wollen. Das konnte ich nicht zulassen. Und schon gar nicht durften die anderen irgendwie Wind davon bekommen. Dann konnten wir uns gleich einsargen lassen. Aber wie, wie sollte ich das wieder geradebiegen? Wie?   „Leif, mach sofort die Tür auf. Oder ich mache sie auf. Du hast die Wahl.“   Maik klopfte noch einmal höchst energisch an die Badtür. Sven war gerade in seinem Zimmer verschwunden und die anderen drei auf der anderen Seite des Treppenhauses. Das war womöglich meine einzige Chance. „Maik, ich … kann ich es mal versuchen?“   Maik sah mich erstaunt an.   „Du? Hast du hiermit was zu tun?“   Ich zuckte mit den Schultern. Die Tatsache, dass er mich gleich verdächtigte, schmeckte mir nicht. Andererseits war niemandem damit gedient, wenn ich es jetzt abstritt. Ich hatte doch keine Zeit.   „Vielleicht. Ich … ich muss da was mit Leif klären. Alleine. Geht das?“   Maik sah nicht besonders überzeugt aus.   „Ich kann euch in so einem Fall nicht allein lassen. Wenn ihr euch was antut …“ „Werden wir nicht. Versprochen.“   Er seufzte. „Na schön. Versuch es meinetwegen. Aber wenn das nicht klappt, hole ich ihn da raus.“ „Okay.“   Ich ließ mich von Maik auf mein Zimmer bringen und wartete ab, bis der Lärm im Flur verklungen war. Dann schlich ich mich zur Badezimmertür und klopfte leise an. „Leif? Kannst du mich hören?“ „Geh weg!“   Er klang trotzig und wütend. Richtig wütend. Allerdings hatte ich etwas, dass ihn wohl dazu bringen würde, die Tür aufzuschließen. „Und dein Buch? Willst du es nicht wiederhaben?“   Ich hörte Geräusche auf der anderen Seite der Tür. Der Schlüssel wurde herum gedreht und die Tür einen Spalt breit geöffnet. „Gib es her!“, schnauzte Leif und ich hielt das Buch so, als wollte ich es ihm geben. Als sich sein Blick darauf senkte, sprang ich jedoch vor, drückte die Tür auf und war im Raum, bevor er wusste, wie ihm geschah. Als ich drinnen war, stürzte Leif sich auf mich. Ich bekam einen Schlag, dann wurde mir das Buch entrissen. „Du bist echt das Letzte“, fauchte er dabei und drückte das Buch gegen seine Brust. Seine Unterlippe zitterte und sein Atem ging stoßweise. „Es … es tut mir leid. Ich … ich hab nicht nachgedacht.“   Er sah mich an. In seinen Augen stand tiefe Enttäuschung. „Du hattest kein Recht, es dir einfach zu nehmen“, flüsterte er, bevor er sich umdrehte und den Raum verließ. Ich hörte, wie er zuerst in sein Zimmer ging und dann durch den Flur und die Treppe hinablief. Irgendwann brachte ich es fertig, ihm zu folgen.   Als ich nach unten in die Küche kam, saß er bereits auf seinem Platz und hatte sich Nudeln aufgetan. Eine winzige Portion mit einem Hauch Soße. Ich wusste, dass es meine Schuld war, dass er so wenig aß. Ich wusste es einfach.   Weil du eben doch ein Arschloch bist, höhnte es in meinem Kopf, während ich mir selbst von den Nudeln nahm und ordentlich Soße draufklatschte. Sollte ich fett werden, würde es jetzt wohl eh niemanden mehr interessieren. Am allerwenigsten Leif.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)