Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 7: Happy Birthday ------------------------- Es klopfte an meiner Tür, ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht und im nächsten Moment steckte Tobias seinen Kopf herein. „Hey, bist du fertig?“ „Ja, gleich.“   Ich schloss den letzten Knopf an meinem Hemd und strich es über der Brust glatt. Es hatte ein paar Falten, aber ich hatte keine Zeit mehr gehabt, es zu bügeln. Tobias maß mich mit einem prüfenden Blick. „Siehst schick aus. Ist ein besonderer Tag heute, oder?“   Ich sagte nichts dazu. Die Wahrheit wäre gewesen, dass mir mein Herz wie blöd gegen die Rippen hämmerte und ich kurz davor war mich zu übergeben. Aber ich ließ es mir nicht anmerken, trat in den Flur und sah zu, wie Tobias meine Tür abschloss. Im Haus war es ruhig. Man hörte keine Musik, keine Stimmen, nichts. Nur die Vögel, die draußen vor dem Fenster sangen. „Na dann los“, sagte Tobias und wies auf die Tür. „Gehen wir.“   Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich Tobias die Treppen hinunter folgte. Er schloss die Haustür auf und ließ mich nach draußen treten. Danach schloss er ab. „Mein Auto steht auf dem Parkplatz.“   Nebeneinander gingen wir über den Weg, der auch am Schulhaus vorbeiführte. Durch die offenen Fenster waren Stimmen zu hören. Die anderen saßen jetzt dort und lernten. Eine Tatsache, die mir am Morgen noch jede Menge dumme Sprüche eingebracht hatte. Am liebsten hätte ich mit einem von ihnen getauscht. „Ist offen“, sagte Tobias überflüssigerweise. Ich hatte das Klacken der Verriegelung schon gehört. Ohne irgendwelche Gedanken im Kopf öffnete ich die Tür, stieg ein und schnallte mich an. Dann legte ich meine Hände auf meine Oberschenkel und wartete, dass Tobias den Motor startete. „Hey“, kam von meiner Seite. „Keine Bange. Wird schon gut gehen.“   Ich hoffte es. Ich hoffte es so sehr.     Die Fahrt durch die Stadt verlief unspektakulär und endete an einem grau betonierten Gebäude mit unzähligen Fenstern und weißen Gardinen. Eine Anzeigetafel im Foyer schickte uns in den ersten Stock. Nadelfilz zu meinen Füßen, Infopakate an den Wänden und kleine Sitzgruppen mit Tischen, auf denen Broschüren ausgelegt waren. Themen wie ungewollte Schwangerschaft, Krisenmanagement und der Kindernotruf. Was man halt so fand in einem Jugendamt.   Tobias ging direkt zu einer Tür und klopfte dort. Als von drinnen ein leises „Herein“ zu hören war, drückte er die Klinke nach unten.   „Hallo Frau Täubert. Sind Sie schon für uns bereit?“ „Na klar. Kommen Sie rein.“   Tobias winkte mir und ich folgte ihm in das Büro. Es war klein, aber hell. Eine Verbindungstür ins nächste Zimmer war nur angelehnt. Die Fenster waren geöffnet. Zwei Zimmerpflanzen, Schreibtisch und Aktenschrank. Dahinter eine blonde Frau, die mich freundlich anlächelte. „Hallo! Du musst Manuel sein. Komm herein.“ Sie stutzte kurz. „Oder soll ich lieber Herr Heuser sagen?“   Ich schüttelte den Kopf. Sie lächelte erneut. Ihre Lippen waren geschminkt und sie trug eine helle Bluse. Ihre Gardinen bewegten sich im Wind. „Dann setz dich mal und wir unterhalten uns ein bisschen. In Ordnung?“ Die Frage war reine Formsache. Immerhin hatten wir einen Termin und dass ich dafür die Schule schwänzen durfte, sagte doch eigentlich schon genug. Das hier war kein Höflichkeitsbesuch.   Frau Täubert griff nach einem Pappordner und schlug ihn auf. Darin jede Menge Zettel. Mindestens die Hälfte davon hatte ich bestimmt schon mal in der Hand gehabt. Unverständliches Kauderwelsch, das mit jeder Menge unnötiger Worte ausdrückte, dass ich in einem Heim gut aufgehoben war. Nun sollte ich das bitte auch noch bestätigen. Damit alles seine Richtigkeit hatte. Frau Täubert blickte auf. „Also, Manuel. Zuerst einmal möchte ich von dir wissen, wie es dir geht.“   Sie lächelte, während sie das fragte. Ihre Augen ruhten auf mir. Graublau waren sie. Die Haare aschblond. So nannte man das wohl. Dazu silbergrauer Lidschatten, der sich in den kleinen Falten um ihre Augen gesammelt hatte. „Manuel?“   Ich schrak zusammen.   „Gut. Es geht mir gut“, beeilte ich mich zu versichern. „Ich bin gerne in Thielensee. Die Leute sind nett. Besonders die Erzieher. Sie machen einen tollen Job. Ich lerne sehr viel dort.“   Ich hörte Tobias neben mir einen unbestimmten Laut von sich geben. Hatte ich es etwa übertrieben? Die Vorstellung war auf jeden Fall nicht meine beste gewesen. Frau Täubert jedoch schien zufrieden zu sein mit dem, was sie zu hören bekommen hatte. Sie machte sich ein paar Notizen. Dann seufzte sie leicht. „Herr Ritter hat dir ja sicher schon mitgeteilt, warum du hier bist, nicht wahr?“   Ich nickte leicht. Ja, das hatte Tobias mir gesagt. Sie sprach es trotzdem noch einmal aus. „Deine Eltern haben Widerspruch gegen deine Unterbringung eingelegt. Sie möchten, dass du wieder nach Hause kommst.“   Ich spürte den Kloß in meinem Hals. Das erste Mal, als ich diesen Satz gehört hatte, war etwas passiert in meiner Brust. Wie ein kleiner Vogel hatte es sich angefühlt. Einer, der rasend schnell mit den Flügeln schlug. Dieses Mal blieb der Vogel still sitzen. Er wusste, dass er nichts zu erwarten hatte. „Ich will da nicht wieder hin.“ Der Satz hatte es irgendwie an dem Ding in meinem Hals vorbei geschafft. Frau Täubert nahm es zur Kenntnis. Schrieb es auf. Dann sah sie mich erneut freundlich an. „Ich denke, in Anbetracht der Umstände können wir damit rechnen, dass der Widerspruch abgelehnt werden wird. Trotzdem muss der Antrag natürlich geprüft werden. Deine Eltern haben das Recht darauf zu bestimmen, was mit ihrem Kind passiert.“   Und was ist mit meinen Rechten, hätte ich am liebsten geschrien. Aber ich tat es nicht. Ich biss mir auf die Innenseite der Wange und schluckte all die bösen Worte hinunter, die ich hätte sagen können. Wie Schnecken und Würmer krochen sie in meinem Bauch umeinander. Mir wurde wieder übel. „Aber ich bin … ich bin seit heute 16. Da darf ich doch ausziehen.“   Frau Täubert sah auf ihren Zettel. Dann lächelte sie. „Ja, tatsächlich. Du hast heute Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!“   Ich registrierte ihre Glückwünsche kaum. Ich wollte wissen, wie das mit dem Ausziehen war. Frau Täubert legte den Zettel beiseite und ihre Hände auf den Schreibtisch. „Tatsächlich ist es so, dass du mit 16 von zu Hause ausziehen darfst. Allerdings haben deine Eltern ein Aufenthaltsbestimmungsrecht. Das heißt, sie legen fest, wo du wohnen darfst. Im Normalfall sind sie es dann auch, die den Mietvertrag und solche Sachen unterschreiben müssen, da du noch nicht volljährig bist. Allerdings liegen in deinem Fall die Dinge natürlich etwas anders.“   Sie sah mich an und bekam so einen Ausdruck im Gesicht, der mich an diese Mütter im Fernsehen erinnerte. Die, die für ihr Baby nur das Beste wollten und deswegen natürlich nur Marke XY kauften. „Du musst dir erst einmal keine Sorgen machen. Dein Aufenthalt in Thielensee wird mindestens sechs Monate betragen. Wahrscheinlich sogar länger. Danach wirst du vermutlich in eine offene Wohngruppe wechseln können, in der du weiter betreut wirst. In welcher Form das geschehen kann und wird, werden wir dann noch klären müssen. Ich kann dir natürlich keine hundertprozentige Zusage machen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass so ziemlich jedes Gericht zu deinen Gunsten entscheiden wird. Wenn du jetzt noch zeigst, dass du dich wirklich anstrengst, vielleicht sogar deinen Abschluss machst, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass deinen Plänen nichts mehr im Wege steht. Herr Ritter wird mich weiter über deine Fortschritte informieren und dann schaffen wir das schon.“   Sie lächelte wieder und ein Blick nach rechts zeigte mir, dass auch Tobias optimistisch dreinsah. Die beiden schienen sich ihrer Sache sicher zu sein. Das machte den schleimigen Stein in meinem Magen ein bisschen kleiner, auch wenn er nicht ganz verschwand.   „Gut“, verkündete Frau Täubert und schlug die Mappe zu. „Dann würde ich sagen, dass du es überstanden hast und dir jetzt noch einen schönen Tag machen kannst. Hast du schon Pläne?“ „Wir machen Pizza zum Mittag“, murmelte ich. Mir war so gar nicht nach Feiern zumute. „Pizza, wie lecker! Na, dann wünsche ich guten Appetit und wir sehen uns dann in etwa drei Monaten wieder.“   Tobias erhob sich und ich folgte ihm, indem ich mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte. Draußen im Flur blieb er stehen. „Alles in Ordnung?“, fragte er mit Sorge in den Augen und der Stimme.   „Ja ja, alles prima“, log ich und beschleunigte meine Schritte, um hier endlich rauszukommen. Es fühlte sich an, als hätte ich eine Schlinge um den Hals, die mich nicht atmen ließ. Ich wollte sie endlich abstreifen. Draußen vor der Tür blieb ich stehen und holte erst einmal tief Luft. Ich hörte Tobias leise lachen. „Du magst Ämter so gar nicht, hab ich recht?“ „Ich kann sie nicht ausstehen“, knurrte ich. „Diese Sesselfurzer, die mit einem Stempel über dein Wohl und Wehe entscheiden, ohne dir überhaupt einmal in die Augen zu schauen. Ich hasse sie.“   Tobias lachte noch einmal, dieses Mal lauter. „Oh, da tust du Frau Täubert aber unrecht. Sie ist wirklich sehr engagiert und arbeitet eng mit uns zusammen. Wir schauen ganz genau hin, das kannst du mir glauben. Wir wollen, dass es dir gutgeht. Dazu sind wir da.“   Im nächsten Moment hatte ich eine Hand in meinen Haaren, die sie gründlich verwuschelte. „Na los, Großer. Wir sind hier fertig.“ „Hey!“, rief ich und schlug nach Tobias’ Arm. Er wich mir aus und grinste. „Na komm. Zeit für den Rückweg.“   Ich unterdrückte ein Seufzen. Mein erster Tag in Freiheit und den verbrachte ich in einem Amt. Es war einfach nicht fair.     Wieder im Auto merkte ich gleich, dass irgendwas nicht stimmte. Die Straße, durch die wir fuhren, war nicht die, durch die wir gekommen waren. „Wo fährst du hin?“, wollte ich wissen, bekam aber nur ein Grinsen zurück und die wenig informative Antwort, dass ich das wohl abwarten müsse. Als wir hielten, sah ich nur wenige Meter entfernt den See in der Sonne glitzern. „Wir sind da.“   Ich stieg aus und folgte Tobias, der zielstrebig auf ein kleines Holzhäuschen zuging und dahinter verschwand. Ich runzelte die Stirn und folgte ihm zögernd. Als ich um die Ecke kam, bezahlte er gerade an einem kleinen Kiosk zwei Eistüten. Immer noch grinsend kam er auf mich zu und hielt sie mir hin. „Hier. Große Auswahl hast du nicht, aber immerhin gibt es Erdbeer und Vanille. Alles Gute zum Geburtstag.“   Ich sah die verpackten Tüten an. Es war eine Billigmarke, die man hier offenbar einfach aus den Kartons nahm und einzeln verkaufte. Auch der Rest der Bude wirkte eher spartanisch. Kaffee, Cappuccino, Softdrinks und heiße Würstchen. Mit Brötchen. Mehr gab es nicht. Trotzdem war es, als würde mir Tobias gerade ein Stück Freiheit entgegenhalten. Wann hatte ich das letzte Mal Eis gegessen? „Danke“, sagte ich und nahm Tobias das Vanilleeis ab. Wir entledigten uns der Verpackungen und stießen mit den Eistüten an, als wären es Bierflaschen. Als Tobias dann in sein Eis biss, verzog ich das Gesicht. „Waf?“, fragte er, den Mund voller Erdbeereis.   „Ich wusste nicht, dass du ein Beißer bist“, gab ich lachend zurück. „Das sind ganz schreckliche Menschen.“   „Ach echt?“ Tobias musterte sein Eishörnchen, an dem eine große Ecke fehlte. „Wie soll man das denn sonst essen?“ „Na lecken!“, gab ich zurück und führte es ihm vor. Fast schon verführerisch fuhr ich mit der Zunge an dem Gebilde aus Eis, Schokolade und Nussstückchen entlang. Tobias lachte auf. „Alles klar, ich versuche es mal.“   Gespannt beobachtete ich, wie er dieses Mal langsam mit der Zunge über die Spitze des Eises fuhr. Es sah fast schon komisch aus. Nicht im Geringsten wie das, was Leif manchmal mit mir anstellte. Auch Tobias war unzufrieden. „Nee, das geht gar nicht“, stellte er naserümpfend fest. „Da kommt ja gar nichts bei rum. Also ich beiß weiter ab.“   Sprach’s und machte seine Eiswaffel ein ganzes Stück kleiner. Ich schüttelte den Kopf und widmete mich wieder meiner eigenen kalten Köstlichkeit. Es schmeckte gigantisch. Genau wie früher.   „Komm. Wir gehen runter zum See.“   Tobias zeigte auf ein Stück sandiges Ufer, das gleich unterhalb der Bude lag. Am Wasser angekommen, ließ er sich einfach zu Boden fallen. „Setzen. Eis essen“, kommandierte er. Dass er nicht noch „Spaß haben“ dazu befahl, wunderte mich fast. Ich ließ mich trotzdem neben ihm nieder und sah von dort auf den See hinaus. Man konnte das gegenüberliegende Ufer noch gut erkennen. Es stand voller Bäume und der Schilfgürtel, der an dieser Seite des Sees durchbrochen war, bildete dort eine durchgehende, grüne Wand. Das dunkle Wasser wurde vom Wind in leichte Wellen versetzt und ein Stück weiter draußen tauchten zwei Vögel immer wieder unter, nur um kurz darauf an anderer Stelle wieder an der Oberfläche zu erscheinen. „Das sind Blässhühner“, erklärte Tobias und wies mit den Resten seiner Waffel auf die komischen Tauchvögel. „Ich find die putzig.“ „Putzig?“, fragte ich nach und schob die Augenbrauen in Richtung Haaransatz. „Na wenn du meinst.“ Wir schwiegen. Ich verdrückte mein Eis und sah auf das Wasser hinaus. Wenn man so in die Weite schaute, konnte man fast vergessen, was einen gleich wieder erwartete. Leider galt das nicht für Tobias. Nachdem wir eine Weile so da gesessen hatten, sah er auf die Uhr. „Die anderen haben bald Schulschluss. Dann sollten wir zurück sein.“ Trotz dieser Ankündigung machte er keine Anstalten, sich zu erheben. Im Gegenteil ließ er sich noch ein Stück tiefer in den Sand sinken. Fragend sah ich ihn an. Er blickte zu mir hoch und blinzelte, weil ihm die Sonne in die Augen schien. „Eigentlich hatte ich mir noch eine kleine Ansprache überlegt. So ne aufbauende Rede und so. Aber grad bin ich mir nicht sicher, ob du die überhaupt hören willst.“   Ich sah auf meine Füße hinunter. Die Turnschuhe hatte ich heute Morgen noch geputzt. Jetzt klebte der leicht feuchte Sand daran. „Was denn für eine Rede?“   Tobias machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass du deine Sache echt gut machst. Ich mein, du bist jetzt knapp vier Wochen da und es läuft einfach toll. Ja wirklich. Ich hab lange niemanden mehr erlebt, der sich so schnell eingefügt hat. Du kümmerst dich um deine Sachen, übernimmst deine Dienste meist ohne zu meckern, machst kaum Stress, du strengst dich im Unterricht an, du duschst regelmäßig.“   Ich schnaubte. „Das findest du erwähnenswert?“   Tobias grinste mich an.   „Wenn du wüsstest, wie viel Überzeugungsarbeit wir da bei einigen leisten müssen. Du würdest dich schütteln.“   Sein Grinsen wich einem weicheren Lächeln.   „Aber ich mein das wirklich so. Du machst das richtig, richtig gut. Ich bin stolz auf dich.“   In dem Moment, in dem er das sagte, konnte ich ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich drehte den Kopf weg und sah wieder den Hühnern beim Tauchen zu. In meiner Nase kribbelte es ein bisschen und Tobias’ Worte schienen in meinem Kopf widerzuhallen.   Ich bin stolz auf dich.   „Und du rauchst nicht mehr. Ist dir aufgefallen, dass ich dir seit drei Tagen schon keine neuen Kaugummis mehr besorgen musste.“   Meine Mundwinkel wanderten ein Stückchen nach oben. Es stimmte. Gerade in so Momenten wie diesen hier hatte ich zwar immer noch das Verlangen, mir eine anzustecken, aber die meiste Zeit dachte ich nicht daran. Die Mittagspause überbrückte ich mit den Kaugummis, den Rest der Zeit gab es fast immer was zu tun, um mich abzulenken. Manchmal sogar nachts. Nur dass davon niemand was wissen durfte.   „Na komm, Geburtstagskind. Wir wollen Pizza backen.“   Tobias war aufgestanden und hielt mir die Hand hin. Ich ergriff sie und ließ mich nach oben ziehen. Das T-Shirt spannte über seinen Oberarmen. Wie er sich wohl anfühlte? Eine Frage, die nicht nur mich beschäftigte.     „Wo wart ihr?“   Leif stand neben mir und verteilte Paprikastreifen auf seinem Stück der Pizza. Als er damit fertig war, kamen Pilze dran.   „Musste zum Amt was klären. Und danach war ich mit Tobias Eis essen. Am See.“   Leifs Kopf ruckte herum. Seine Augen waren groß geworden. „Im Ernst? Und? Wie war’s?“   Ich verzog die Lippen zu einem genüsslichen Lächeln. „Ich hab ihn dazu gebracht, dass er mit seiner Zunge an seinem Eis rumspielt. Sah geil aus.“ Leif entwich ein Stöhnen.   „Scheiße, hör bloß auf. Die Vorstellung allein!“   Ich versetzte ihm einen kleinen Stoß und griff nach der Salami. Großzügig verteilte ich einige Scheiben auf meiner Pizzahälfte. Danach hielt ich Leif die Schüssel hin. „Du auch?“ „Nein. Aber gib mir mal den Käse.“   Er verteilte eine winzige Menge auf seinem Gemüse. Ich zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Er aß die Pizza, das war die Hauptsache. Nach welchen Regeln er dabei vorging, war seine Sache. Trotzdem sah ich Probleme auf uns zukommen. „Wenn meine Pizzahälfte fertig ist, ist deine verbrannt“, orakelte ich und besah mir meinen fast schon überladen wirkenden Teil. „Das geht doch nicht gut.“   „Dann hättest du dir eben ein Blech mit Jason teilen müssen“, kam prompt zurück. „Der hat sein Teil ebenso fett belegt wie du.“   Ich streckte Leif die Zunge raus, bevor ich mir das Blech griff und es vom Tisch zum Küchentresen trug. Dort warteten bereits die anderen Pizzen auf ihren Einsatz.   „Seid ihr endlich fertig?“, nölte Sven prompt.   „Kann ja nicht jeder zum Trog stürzen wie ne besengte Sau“, würgte ich ihm rein, sah dann aber zu, dass ich außer Reichweite kam, bevor er den Spruch kapierte. Das konnte bei Sven schon mal länger dauern. „Na los, schieb die Dinger endlich rein“, verlangte Nico. „Der Ofen ist längst heiß“.   „Eile mit Weile“, gab Thomas lachend zurück, öffnete aber tatsächlich den Backofen, um die Bleche darin zu versenken. „So, und jetzt wird aufgeräumt. Sonst haben wir nachher keinen Platz zum Essen.“   Allgemeines Gemurre brach aus, aber dann schnappte sich doch jeder irgendeine Schüssel und brachte sie wieder in die Küche. Tobias nahm alles in Empfang und stellte es auf die Arbeitsfläche „für den Fall, dass nachher noch jemand Hunger hat“. In Anbetracht der Pizzagröße hielt ich das für ein Gerücht. „Dennis ist mit Tischdecken dran“, verkündete Nico als Nächstes und verzog sich mit Sven in Richtung Wohnzimmer. Die Uhr auf dem Backofen zeigte an, dass wir noch knapp 20 Minuten Zeit hatten. Ich sah Leif an.   „Wollen wir mitgehen oder …“   Ich ließ ungesagt, was ich damit meinte. Ich wusste, dass er mich auch so verstand. Er fuhr sich leicht mit der Zunge über die Lippen, bevor er sich vorbeugte und mir ins Ohr flüsterte: „Das heben wir uns lieber für heute Abend auf. Geburtstagsüberraschung.“   Er zwinkerte mir zu und ich wusste, dass ich mich sehr über mein Geschenk freuen würde. Sehr sehr sehr.   Die restliche Zeit bis zum Essen verbrachten wir im Wohnzimmer. Nico hatte ein Kreuzworträtsel begonnen und wir überboten uns dabei, schwachsinnige Begriffe zu erfinden, die nie und nimmer in die Kästchen passten. Mitten in unser Gelächter hinein klopfte es. Ich hob den Kopf und sah Herrn Steiner im Türrahmen stehen.   „Hallo ihr vier. Ich hoffe, ich störe nicht.“   Sein Blick richtete sich auf Leif. „Leif, da ist Besuch für dich. Deine Eltern.“   Von jetzt auf gleich war das Grinsen aus Leifs Gesicht verschwunden. Stattdessen wurde er blass und seine Augen groß. „Aber sie … sie wollten doch erst morgen kommen.“   Herr Steiner sah offenbar ebenfalls, was hier abging. Er nickte leicht.   „Soll ich ihnen sagen, dass sie wieder gehen sollen?“   Mein Blick glitt zu Leif zurück. Wie würde er reagieren. Er schluckte. Ich sah den Adamsapfel in seinem Hals hüpfen. Als versuchte er, ihn herunterzuschlucken. „Nein“, krächzte er. „Ich komme.   Mit steifen, ungelenken Bewegungen erhob er sich. All die Leichtigkeit, die ihn gerade noch erfüllt hatte, war verschwunden. Stattdessen schienen jetzt Bleigewichte an seinen Gliedern zu hängen. Jeder Schritt war ein Kampf.   Herr Steiner ging derweil in die Küche. Ich hörte, wie er Tobias und Thomas über den unerwarteten Besuch informierte. Was Thomas dazu zu sagen hatte, konnte ich nicht hören. Dafür war Tobias umso lauter. „Das kommt gar nicht infrage“, stellte er fest. „Es war vereinbart, dass sie Leif erst morgen abholen. Noch dazu ist jetzt Essenszeit.“   „Herr Ritter, bitte beruhigen Sie sich“, antwortete Herr Steiner bemüht diplomatisch. „Ich habe den Johannsens bereits gesagt, dass wir dieses Vorgehen nicht tolerieren werden. Aber Sie wissen, dass sie immer noch diejenigen sind, die Leif hierher geschickt haben. Sie können ihn auch jederzeit wieder aus der Einrichtung nehmen.“   „So ein Bullshit!“, fluchte Tobias und irgendetwas klirrte. Vermutlich der Löffel in seiner Teetasse. Im nächsten Augenblick sah man ihn an der Tür vorbeilaufen, Herr Steiner hinterher. Was danach im Flur gesprochen wurde, verstand ich nicht mehr, aber es war ziemlich laut und wütend. Leif stand immer noch da wie bestellt und nicht abgeholt. In der Küche begann eine Uhr zu piepsen. „Die Pizza ist fertig“, rief Sven und sprang auf. Er und die anderen liefen an Leif vorbei, aber ich sah, dass sie sehr wohl mitbekommen hatten, was hier gerade abging. Der eine oder andere Blick streifte Leif, doch dann waren sie alle raus und wurden von Thomas angewiesen, die Untersetzer auf den Tisch zu legen, damit die Backbleche das Holz nicht versengten. Leif und ich blieben allein zurück. Er sah zu mir rüber.   „Tja, sieht so aus, als müsstest du noch ein bisschen auf dein Geschenk warten“, sagte er leise. „Meine Eltern sind da, um mich abzuholen.“ Ich wusste, dass ich in dem Moment etwas hätte sagen sollen, aber kein Laut kam über meine Lippen. Stattdessen sah ich zu, wie Leif sich umdrehte und den Raum verließ. Erst, als er weg war, sprang ich auf und lief zur Tür.   Im Flur hörte man die anderen in der Küche lärmen. Ich jedoch schlich mich in Richtung Treppenhaus. Die Glastür stand offen und von draußen vernahm man Stimmen. Darunter zwei, die ich nicht kannte. Mit angehaltenem Atem blieb ich stehen und lauschte. „Ah, Leif, da bist du ja“, sagte ein Mann. Vermutlich Leifs Vater. „Dann können wir ja los.“   „Ich habe noch nicht gepackt“, wandte Leif ein.   „Ach, du brauchst doch nichts mitzunehmen. Wir haben alles zu Hause“, hörte ich eine Frauenstimme. Seine Mutter offenbar.   „Aber wir wollten gerade essen“, erklärte Tobias. „Einer der anderen Jungen hat Geburtstag. Sie sollten später noch einmal wiederkommen.“   Ein abfälliges Schnauben machte deutlich, was Leifs Mutter von diesem Vorschlag hielt.   „Wenn Leif darauf Wert gelegt hätte, an dieser Feierlichkeit teilzunehmen, hätte er uns ja darüber informieren können. Wir haben ihm schließlich gesagt, dass wir ihn dieses Mal früher abholen. Und ihn gebeten, Ihnen das auszurichten. Es ist also nicht unsere Schuld, wenn er das versäumt hat.“   „Na ja, das kann ja mal vorkommen“, versuchte Herr Steiner einzulenken. „Zur Sicherheit sollten Sie solche Absprachen immer mit mir oder einem der Erzieher treffen.“ „Ja, das wäre wohl besser“, gab Leifs Vater zurück. „Auf unseren Sohn ist in dieser Beziehung wohl kein Verlass. Wie bei so vielem anderen.“ „Papa, bitte!“   Leif klang jetzt gereizt. Sein Vater nahm das jedoch kaum zur Kenntnis. Er verkündete lediglich, dass sie jetzt gehen und Leif am Sonntag zurückbringen würden. Danach klappte die Tür und die Stimmen – auch die von Herrn Steiner – entfernten sich. Schritte kamen den Flur entlang und bevor ich reagieren konnte, war Tobias um die Ecke gebogen. Auf seinem Gesicht stand nur mühsam unterdrückte Wut. „Was …? Oh. Manuel.“ Er stockte und blieb stehen. Holte tief Luft. Ich wies mit dem Kopf in Richtung Treppenhaus. „Sie haben ihn mitgenommen, oder?“ „Ja. Leifs Eltern holen ihn einmal im Monat ab.“   Da war noch mehr, was er nicht aussprach. Weil es mich nichts anging. Aber ich spürte es. Ich spürte, dass es da eine ganze Menge Dinge gab, die Tobias zu dieser Sache zu sagen hatte. Doch keiner von uns verlor auch nur ein Wort darüber. „Na komm, deine Pizza wird kalt.“   Er legte mir den Arm um die Schultern und schob mich sanft in Richtung Küche. Dort hatte die kalte Schlacht am heißen Buffet gerade ihren Höhepunkt erreicht. Jason und Sven hatten beide bereits mehr als die Hälfte ihrer Pizza verdrückt und wetteiferten nun darum, wer von ihnen nun auch noch den Rest am schnellsten hinunterschlingen konnte. Thomas saß mit amüsiertem Gesicht daneben, tat jedoch nichts, um es zu verhindern. Nico feuerte die beiden an, während Dennis nur stumm seine Pizza mümmelte. Als ich mich neben ihn setzte, sah er auf. „Haben sie ihn wieder abgeholt?“, fragte er. Tobias nickte und ich war erstaunt, dass Dennis überhaupt eine Bemerkung dazu gemacht hatte. Eine weitere Reaktion kam jedoch nicht. Ich blickte auf das Pizzablech hinab, das Leif und ich zusammen belegt hatten. Auf meiner Hälfte war der Käse gerade mal geschmolzen, während Leifs Seite schon deutlich gebräunt war. „Du kannst ruhig seine Hälfte nehmen“, sagte Dennis auf einmal und deutete auf das Blech vor mir. „Wenn er wiederkommt, wird er das eh nicht mehr essen wollen.“   Mir lag auf der Zunge zu fragen, wie er das meinte, aber ich schluckte die Frage herunter. Ich wollte nicht darüber reden.   „Nein, ich werde sie ihm aufheben“, bestimmte ich und machte mich daran, mir ein Stück von meiner Seite der Pizza abzuschneiden. So viel war ich Leif schuldig. Dass er die Pizza bekam, die er sich ausgesucht hatte.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)