Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 6: Unerkannt -------------------- Der nächste Morgen begann ebenso wie der vorangegangene. Mit Henning, der neben meinem Bett stand und verlangte, dass ich aufstand. Allerdings war er dieses Mal gefühlt zwei Stunden früher dran. Oder ich war einfach zu spät ins Bett gegangen. Obwohl … im Bett war ich ja schon. Der Gedanke ließ mich grinsen. Allerdings nur so lange, bis ich aus dem Bad wiederkam und roch, was Henning mit Sicherheit auch gerochen hatte. Mein Zimmer stank nach Sex und das nicht zu knapp. Scheiße! Ich riss das Fenster auf – so das denn möglich war – und zog noch schnell mein Bett ab, bevor ich mich beeilte, um in die Küche zu kommen. Dort warf ich einen prüfenden Blick auf Henning, während ich die Teller aus dem Schrank holte. Hatte er was gemerkt? Der rote Riese hob den Kopf und sah mich an. „Ist was?“ Schnell schüttelte ich den Kopf und drehte mich weg. „Nein, alles gut.“ Ich machte, dass ich den Tisch deckte und nahm mir vor, beim nächsten Mal vorsichtiger zu sein. Das nächste Mal … Der Gedanke gefiel mir. Nicht, dass ich mich nicht selber darum hätte kümmern können, aber eine fremde Hand an meinem Schwanz war alle mal besser als meine eigene. Als wäre das sein Stichwort gewesen, tauchte Leif in diesem Moment in der Küche auf. Hinter ihm polterten bereits die anderen die Treppe hinunter, aber für einen kurzen Augenblick waren wir unbeobachtet. Nahezu allein. „Morgen“, sagte ich und sah ihn an. „Morgen“, grüßte er zurück. Sein Blick irrte an mir vorbei in Richtung Frühstückstisch. „Hast du alles oder brauchst du noch Hilfe?“ „Nein, ist alles schon fertig.“ „Gut.“ Ein kurzes Nicken von ihm war alles, was ich noch bekam, bevor der Rest in die Küche stürmte. Während wir aßen, schaute ich immer mal kurz zu Leif hinüber. Er aß. Heute zwei Toastbrote mit Butter und Marmelade. Als er jedoch bemerkte, dass ich ihn beobachtete, senkte ich schnell den Kopf und vermied es für den Rest der Mahlzeit, noch einmal zu ihm rüberzusehen. Ich hielt mich fern, während wir zur Schule gingen, und auch auf dem Rückweg machte ich dieses Mal, dass ich mit Sven und den anderen zurück zum Wohnheim kam. Selbst Tobias ließ ich stehen, um nicht mit Leif zusammen gehen zu müssen, und ignoriere das Gefühl, dass das in meinem Bauch machte. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mir sogar beim Mittagessen einen anderen Platz gesucht. Aber da die Sitzordnung nun einmal feststand, blieb mir nichts anderes übrig, als an seiner Seite auszuharren, bis wir uns endlich für die Mittagsruhe verabschieden konnten. Kaum war die jedoch vorbei, landete ich wieder an diesem dämlichen Tisch und damit an Leifs Seite. Es war zum Verrücktwerden. „Also Leute“, begann Thomas und sah sich in der Runde um. „Heute steht unsere wöchentliche Gruppensitzung an. Bevor wir mit unseren Punkten anfangen, dürft ihr aber erst mal. Hat irgendwer von euch was auf dem Herzen?“ Niemand reagierte auf die Frage, bis Nico sich schließlich erbarmte. „Wir könnten mal wieder schwimmen gehen. Ich mein, es ist Sommer und so.“ Zustimmendes Nicken aus der Runde. Lediglich ich und Leif hielten uns dabei zurück. Tobias notierte den Vorschlag auf einem Zettel. Danach sah er jeden von uns an. „Sonst noch was?“ Keiner sagte etwas. Tobias nickte leicht. „Na okay. Dann werde ich mal.“ Er räusperte sich, bevor er weitersprach. „Also zum einen war schon wieder eine der Toiletten drüben im Schulhaus verstopft. Gemeldet hat es natürlich mal wieder keiner, bis die Suppe dann übergelaufen ist. Ich sag’s ja nicht gerne, aber das war echt scheiße. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn das nochmal vorkommt, werdet ihr alle kollektiv zum Aufwischen verdonnert. Ist das klar?“ „Aber wir waren das nicht“, rief Sven sofort, während der Rest von uns zustimmend murrte. „Das waren garantiert die Pisser aus der anderen Gruppe.“ „Sven! Wortwahl!“, Thomas warf ihm einen tadelnden Blick zu, aber Sven reagierte nur mit einem Schnauben. „Na ist doch wahr. Die bauen Scheiße und wir kriegen den Ärger.“ „Die kriegen den gleichen Ärger wie ihr“, berichtigte ihn Tobias. „Außerdem hätte ja einer von euch was sagen können, als er es entdeckt hat. Ich will einfach, dass ihr versteht, dass das etwas ist, was echt Arbeit macht. Und wenn das nur passiert, indem ich euch den Mist selbst wieder wegmachen lasse, dann ist das eben so.“ Daraufhin wagte keiner mehr zu widersprechen und Tobias machte einen Haken auf seinen Zettel. „Und jetzt zum zweiten Punkt. Es ist schon wieder eine Rolle Klebeband verschwunden. Hat die einer von euch genommen?“ Schweigen breitete sich am Tisch aus. Tobias sah von einem zum anderen, aber niemand meldete sich. Er seufzte. „Ehrlich, Jungs. Wenn ihr Klebeband braucht, könnt ihr fragen. Oder euch welches von eurem Taschengeld kaufen. Ist ja nicht so, dass ihr hier auf dem Trockenen sitzt. Wer immer es also genommen hat, legt es bitte wieder zurück. Ich verlasse mich darauf. Sonst müssen wir in Zukunft die Zimmer auf den Kopf stellen, bis wir es finden, und das wird sicher keiner von euch wollen. Wir erwarten hier Ehrlichkeit und Klauen geht gar nicht.“ Immer noch sagte niemand ein Wort. Insgeheim fragte ich mich, warum wohl irgendwer Klebeband klauen sollte, aber da ich es nicht hatte, machte ich mir keine weiteren Gedanken darüber. Ich hatte da nämlich noch etwas auf dem Herzen und wollte, dass diese Veranstaltung möglichst schnell vorbei war, damit ich Tobias danach fragen konnte. Es kam allerdings noch ein Punkt, der vermutlich längere Zeit in Anspruch nehmen würde. Ich stöhnte innerlich auf. „Dann wollen wir am Wochenende anfangen, die Flure zu streichen. Habt ihr euch inzwischen Gedanken über Motive gemacht?“ Wieder war Sven der erste, der den Mund aufriss. „Kann der nicht einfach weiß bleiben? Ist doch prima so. Ich versteh gar nicht, warum wir uns da jetzt nochmal die Arbeit machen sollen.“ Tobias lächelte leicht. „Weil das hier euer Zuhause ist. Zumindest für eine Weile. Und das soll schließlich schön sein, oder nicht? Findest du nicht, dass du ein schönes Zuhause verdienst?“ Sven wollte wohl noch etwas erwidern, aber dann klappte er den Mund einfach wieder zu und verschränkte die Arme vor der Brust. Von ihm war offenbar kein Vorschlag zu erwarten. „Hat denn keiner eine Idee?“ Tobias sah auffordernd in die Runde. „Niemand?“ Plötzlich hob Dennis die Hand. Ich dachte erst, mich verguckt zu haben, aber anscheinend hatten es auch die anderen gesehen, denn alle Köpfe wandten sich jetzt zu ihm um. „Wir könnten … die Wände ja mit Spraydosen anmalen. Das dauert nicht so lang und macht außerdem mehr Spaß.“ Tobias schürzte die Lippen, während er nachdachte. „Eigentlich keine schlechte Idee. Leider kenne ich mich mit dem Sprayen nicht wirklich aus und ich fürchte, die meisten von uns auch nicht. Aber vielleicht kann ich da was drehen, damit wir Unterstützung von jemandem kriegen, der uns dabei anleiten kann. Sonst noch Vorschläge? Vielleicht zur Gestaltung an sich?“ Wieder hallte Tobias nur Schweigen entgegen. Was sollte man denn da auch sagen? Was immer es war, würde von den anderen garantiert in der Luft zerrissen werden. Schlug man eine Unterwasserwelt vor, witzelte garantiert irgendwer darüber, ob man auch Arielle und den komischen Fisch mit reinmalen wollte. Beim Dschungel, ob man noch in den Kindergarten ginge. Und irgendwelche Landschaften wären einfach nur megaöde gewesen. Wenn ich mir Sven so ansah, würde er vermutlich irgendwelche Horrorzombies an die Wand malen. Nicht, dass ich was dagegen gehabt hätte. Ich mochte Zombies. „Wie wäre es mit einer Stadt?“, fragte Leif plötzlich. Ich war ganz verblüfft, dass er auch etwas zur Diskussion beitrug. „Ne Stadt? Was soll das denn für Schwachsinn sein?“, kam sofort von Sven, aber Tobias brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Er wandte sich an Leif. „Wie meinst du das?“ Leif zuckte mit den Schultern. „Ja, keine Ahnung. So ne Art Skyline. Dabei könnte man die Türen mit einbinden als Gebäude oder so.“ Sven gab ein unanständiges Geräusch von sich. „Voll lame. Da ist das mit dem Sprayen echt sinnvoller.“ „Man könnte ja auch die Skyline sprayen.“ „Nee, wenn, dann sollen das ein paar fette Tags werden und nicht irgendsoein Spießerkram.“ Als jetzt auch noch die anderen Sven zustimmten, zog Leif den Schwanz ein. Er sagte gar nichts mehr und senkte den Blick. Keine Ahnung, warum er diesen dämlichen Vorschlag überhaupt gemacht hatte. War doch klar, dass der nach dem von Dennis schlecht abschnitt. Aber ich tat auch nichts, um ihn zu verteidigen. Warum hätte ich das auch tun sollen? Je eher das hier zu Ende war, desto besser. „Na schön, dann verschieben wir die Motivwahl erst mal auf später. Aber wenn keine weiteren Vorschläge kommen, malen wir da ne Stadt an die Wand.“ Lautes Protestgeheul begleitete diese Ankündigung, woraufhin Tobias lachend sagte, dass es doch nur ein Spaß gewesen sei. „Wir machen hier nichts, mit dem ihr nicht einverstanden seid. Ist schließlich euer Wohnheim.“ Damit schloss er die Sitzung. Während die anderen sich größtenteils nach draußen trollten, machten Leif und Dennis sich beide auf den Weg zu ihren Zimmern. Als Tobias ihnen nachrief, reagierten sie beide nicht. Ich hörte ihn seufzen, bevor er merkte, dass ich noch da war. „Manuel? Ist was?“ Ich gönnte ihm ein kurzes Lächeln. „Na ja, ich … also ich müsste wohl mal meine Bettwäsche waschen und wollte fragen …“ Tobias’ Mundwinkel zuckten. „Dann lass dir am besten von Jason zeigen, wo alles ist. Der kennt sich damit bestens aus.“ Ich sah zu Boden. „Könntest du nicht … ?“ Tobias lächelte und schüttelte den Kopf. „Sorry Kumpel, ich hab heute Nachmittag noch eine Einzelsitzung mit Leif. Der braucht noch ein bisschen Aufbautraining.“ „Für seine Muskeln?“ „Für seine Psyche.“ Ich presste die Lippen aufeinander. War ja klar, dass das vorging, aber … „Ist es wegen der Sache mit dem Essen?“ Ich wusste nicht, warum ich das fragte. Tobias sah mich an. „Hast es also gemerkt.“ Ich zuckte mit den Achseln. „War ja schwer zu übersehen. Was hat er denn?“ Tobias lächelte leicht. „Wenn du das wissen willst, solltest du ihn vielleicht selber fragen.“ Ich schnaubte nur. „Er wird mir bestimmt nicht antworten.“ Und ich will’s eigentlich auch gar nicht wissen. Noch immer lächelte Tobias. „Wer weiß. Manchmal braucht es vielleicht einfach nur jemanden, der zuhört.“ Damit ließ er mich stehen und sagte mir noch, dass Jason und ich den Schlüssel zum Haushaltsraum von Thomas bekommen würden. Dann ging er. Zu Leif. Und ich stand da und hatte entweder die Wahl, nochmal in meiner angewichsten Bettwäsche zu schlafen, oder mir von Jason eine Einweisung zu holen. Hätte ich gewusst, was mich erwartete, hätte ich das Erste genommen. „Und dann musst du hier noch die Temperatur einstellen und …“ Ich schnitt dem Strahlemann mit der fetten Kette das Wort ab. „Danke, aber ich weiß, wie eine Waschmaschine funktioniert.“ Jeder andere hätte das wohl als Aufforderung zum Gehen verstanden. Jason nicht. Der blieb. „Echt? Woher das denn?“ Ich verkniff mir ein Knurren. Mit diesem Idioten in der winzigen Waschküche zu stehen, in der es außer einem Regal, einer Waschmaschine und dem Trockner nicht viel zu sehen gab, war schon nicht ohne. Mich dabei noch volllabern zu lassen, sprengte echt den Rahmen. „Hab ich mir selbst beigebracht“, antwortete ich trotzdem. Immerhin hatte er mir was von seinem Waschmittel angeboten. Hier hatte jeder sein eigenes. Ich würde mir also welches besorgen lassen müssen, wenn ich mich nicht weiter durchschnorren wollte. „Warum das?“ Jason war anscheinend immer noch nicht fertig mit seiner Fragerunde. „Weil ich saubere Sachen brauchte.“ Jason runzelte die Stirn. „Hat das nicht deine Mama für dich gemacht? Ich musste zu Hause nie waschen. Oder aufräumen. Wenigstens nicht, bis ihr komischer Macker bei uns eingezogen ist. Ab da hieß es nur noch die ganze Zeit 'Jason mach dies' und 'Jason mach das' und 'Nimm deinen fetten Arsch vom Sofa hoch'. Dabei hab ich da gerade was geguckt. Echt mal.“   Er zuckte mit den Schultern und schlug sich auf den Bauch. „Hab aber schon ordentlich abgenommen. Bald werden sich die Mädels die Finger nach mir lecken.“ Ich hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Wenn er meinte, dass er ein Aufreißertyp war, würde ich ihn nicht aufklären. „Hast du ne Freundin?“ Ich schloss die Klappe der Waschmaschine und stellte das Kurzprogramm ein. Für das bisschen Wichse würde das wohl reichen. „Und? Hast du?“, bohrte Jason weiter nach. „Nein“, gab ich schlicht zurück. Warum und weshalb ging ihn schließlich nichts an. „Sven hat eine, sagt er. Und Nico auch. Die hab ich sogar schon mal gesehen. Ist voll hübsch. Wenn er hier raus ist, will er mit ihr zusammenziehen, hat er gesagt.“ „Schön für ihn.“   Die Waschmaschine hatte angefangen, sich unter meinen Fingern zu drehen. Dreimal rechts herum, dreimal links herum. Einfach aber effektiv. Es sollte mehr Dinge geben, die auf Knopfdruck so reibungslos funktionieren. Oder sich abschalten ließen. „Weißt du schon, was du machen willst, wenn du hier rauskommst?“   Mein pummeliger Freund hatte immer noch nicht aufgegeben, sich mit mir unterhalten zu wollen. Ich zuckte mit den Schultern.   „Keine Ahnung. Bin ja grad mal den dritten Tag da.“   Jason verzog das Gesicht. „Ich bin am Anfang hier immer voll ausgerastet, weil ich wieder nach Hause wollte. Deswegen haben sie mich überhaupt hierher gebracht. Weil ich immer abgehauen bin von wo sie mich hingebracht haben.“ Er lachte plötzlich.   „Du bist auf jeden Fall viel gechillter als ich.“   Noch während ich überlegte, ob das jetzt ein Kompliment war, steckte Thomas den Kopf durch die Tür. „Alles okay hier bei euch?“ „Ja klar. Hab Manuel nur alles gezeigt mit dem Waschen und so. Der kennt sich aber schon aus.“   Thomas schenkte mir einen Blick und ein Lächeln. „Sehr schön. Soll ich dir vom Einkaufen heute was mitbringen?“ „Ja, ich … ich hätte gerne Waschmittel.“ „Kein Problem. Schreib einfach auf, was für welches. Wir bringen das dann mit. Oder Jason?“ „Klar.“   Das Grinsen, das danach auf Jasons Gesicht erschien, zusammen mit Thomas’ Aufforderung an ihn, Nico zu holen, weil sie gleich loswollten, machte mir klar, was hier gerade abging. Die beiden, Nico und Jason, würden mit zum Einkaufen gehen.   Thomas, der meinen Blick bemerkte, lächelte noch einmal aufmunternd. „Keine Bange. Wenn du dich hier eingewöhnt hast und dich an die Regeln hältst, darfst du auch wieder raus. Erst begleitet, später auch alleine. Wir üben mit euch ja auch so Sachen wie Einkaufen, Bus fahren und so weiter.“ „Ich kann Bus fahren“, knurrte ich. Thomas lachte. „Fein. Dann können wir die Lektion ja auslassen. Na komm, ich schließ hier ab, solange deine Wäsche läuft. Wenn sie fertig ist, macht dir Tobias dann wieder auf.“   Widerwillig folgte ich Thomas’ Aufforderung. Kaum, dass ich vor der Tür stand, hatte ich auf einmal das Gefühl, hier vollkommen falsch zu sein. Alle, wirklich alle wussten, was sie jetzt zu tun hatten, und ich? Ich stand wie Falschgeld in der Gegend herum. Ohne Plan, ohne Ziel. Ohne Vorstellung davon, wie meine Zukunft aussehen sollte. Ich schaff das nie, hämmerte es in meinem Kopf. Die Schule, die ganzen Regeln und selbst wenn, was kommt dann? Wo soll ich denn dann hin?   Wie von selbst setzten sich meine Füße in Bewegung. Durch die Küche nach draußen, in den Hof und von dort in den Park. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen steuerte ich auf den Baum zu. Den, der so nah an der Mauer stand. Als ich kurz davor war, blieb ich stehen. Die Gelegenheit war günstig. Thomas war abgelenkt wegen des Einkaufens, Tobias noch nicht mit Leif zurück. Niemand würde merken, wenn ich verschwand. Niemand würde mich vermissen. Das würde mir einen Vorsprung verschaffen. Mindestens eine halbe Stunde. Eine ganze, wenn ich Glück hatte.   Langsam legte ich die letzten Schritte zum Baum zurück, doch statt hinaufzusteigen, ließ ich mich neben dem Stamm zu Boden sinken. Wegzulaufen war doch genauso sinnlos. Ich wusste es; hatte doch gerade gestern erst beschlossen, es nicht zu tun. Warum stand ich dann schon wieder hier?   „So allein, schöner Mann?“ Ich schreckte hoch und sah genau in Leifs grinsendes Gesicht. Er nickte mit dem Kopf in Richtung Haus. „Hab gesehen, dass du hier draußen bist und dachte, ich schau mal nach dir.“   Ich antwortete nicht. Wusste er, warum ich hier war? Hatte er auch das gesehen?   Er deutete auf den Boden neben mich. „Darf ich?“   Ich rückte ein symbolisches Stück zur Seite und er ließ sich neben mir auf dem Rasen fallen. Erst, als er neben mir saß, fiel mir auf, dass er heute ein T-Shirt trug. Keine langen Ärmel. Das war neu. Seine Arme waren dünn und weiß, aber kräftiger als ich gedacht hatte. „Wie war’s mit Tobias?“, fragte ich und versuchte dabei gelangweilt zu klingen. Als er antwortete, hörte ich ihn grinsen. „Prima. Hab mich von ihm flachlegen lassen, jetzt geht’s mir besser.“   Ich wusste, dass er mich verarschte, also reagierte ich nicht, bis mich ein spitzer Ellenbogen zwischen die Rippen traf. „War nur Spaß. Der fischt nicht an unserem Ufer.“   Ich schnaubte kurz. „Woher willst du das wissen?“ „Hab ihn gefragt. Er hat ne Freundin. Seit Ewigkeiten glücklich und so. Ist wirklich ein Jammer.“   Bei seinem verzweifelten Klagen, konnte ich nicht anders. Ich musste lachen. Als ich zur Seite sah, grinste er ebenfalls. „Was? Meinst du etwa, dass ich nicht gesehen habe, wie du ihn abgecheckt hast. Ist schon nicht übel gebaut. Dann die Tattoos und so. Wer würde da nicht genauer hingucken.“   Sein Lächeln wurde ein wenig weicher und er sah mir intensiv in die Augen. „Wenn du noch ein bisschen trainierst, kommst du aber bestimmt bald an ihn ran.“   Ich spürte meine Mundwinkel zucken und drehte den Kopf weg. „Tja, nur wachsen werd ich wohl nicht mehr.“ „Och, ich find deine Größe eigentlich ganz gut.“   Sein Tonfall machte klar, dass er dabei nicht von der Entfernung meines Scheitels zum Erdboden sprach. Ich spürte erneut ein Lächeln an meinen Mundwinkel zupfen. „Was soll das werden? Willst du mich in die nächste Besenkammer zerren und vernaschen?“   Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Keine Ahnung. Wenn wir eine hätten, würde ich’s wohl in Erwägung ziehen.“   Ich sah zu ihm rüber und er schaute zurück. Irgendwas an ihm war heute anders, aber ich konnte den Finger nicht darauf legen, was es war. Mein Blick glitt kurz zu seinen Lippen, bevor ich ihm wieder in die Augen sah. „Heißt das, wir haben heute Abend eine Verabredung?“   Er verschob den Mund zu einem schmalen Lächeln.   „Das heißt es wohl. Wenn du hierbleibst, versteht sich. Ich würde mich dafür auch erkenntlich zeigen.“   Er leckte sich kurz über die Unterlippe. Die Feuchtigkeit, die seine Zunge hinterließ, glänzte im Sonnenlicht. Ganz plötzlich hatte ich das Verlangen, sie zu kosten. Einen kurzen Augenblick nur, bevor ich mich wieder von dem Anblick losriss und in eine andere Richtung blickte.   „Bin ich nicht eigentlich dran?“, fragte ich und bemühte mich dabei, fest und sicher zu klingen. Die Vorstellung, nochmal einen von ihm geblasen zu bekommen, ließ meinen Schwanz zucken. Leif machte ein unbestimmtes Geräusch.   „Ach, ich nehm’s da nicht so genau. Solange wir beide auf unsere Kosten kommen, ist das schon okay.“   Ich wusste, dass er log. Trotzdem nach ich mir vor, ihn beim Wort zu nehmen. „Gut“, meinte ich leichthin, lehnte den Kopf wieder an den Stamm, schloss die Augen und versuchte, das Pochen zwischen meinen Beinen zu ignorieren. „Dann darfst du heute Abend gerne nochmal ran. Und wer weiß … vielleicht revanchiere ich mich heute ja doch.“   Das leichte Lachen neben mir mischte sich in den Gesang irgendeines Vogels, der in der Baumkrone über uns saß. Das Vieh hatte mit Sicherheit keine Ahnung, was hier unten gerade vor sich ging. Dieses Schicksal teilte er sich allerdings mit einer nicht gerade unerheblichen Anzahl an Menschen und wenn es nach mir ging, würde das auch noch eine ganze Weile so bleiben.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)