Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 4: Drei Jahre --------------------- „Manuel, Aufstehen!“   Mühsam öffnete ich die Augen ein Stück und blinzelte den Schatten an, der da turmhoch neben meinem Bett aufragte. Er hatte rote Haare und eine Brummstimme. Ein Bär? „Na los, du Schlafmütze. Die anderen sind schon auf. Beim nächsten Wecken bring ich einen Wassereimer mit.“   Ich schloss die Augen wieder, weil die Deckenbeleuchtung einfach viel zu hell war, und versuchte mich zu erinnern, wo ich mich befand. Als es mir einfiel, hätte ich beinahe laut aufgestöhnt. Scheiße! Ich war echt eingeschlafen. Und der Bär war kein Bär sondern Henning. Henning, mit dem ich mich gestern noch angelegt hatte, weil ich zu lange im Bad gewesen war. Und dann nochmal, weil ich meine Koffer immer noch nicht ausgeräumt hatte. Ich hätte mich wahrscheinlich noch weiter mit ihm herumgestritten, wenn er am Ende nicht einfach das Licht ausgemacht und mir eine Gute Nacht gewünscht hätte. Danach hatte ich mich in mein Bett gelegt und gewartet, dass es an der Tür klopfte. Aber das war nicht passiert. Ich hatte gewartet und gewartet, aber Leif war nicht aufgetaucht. „Wie spät ist es?“, murmelte ich.   „Halb sieben.“ „Halb sieben?“, wiederholte ich ächzend. „Das ist ja mitten in der Nacht.“ „Ich bringe euch um halb acht rüber zur Schule. Bis dahin müsst ihr gefrühstückt und die Küche wieder auf Vordermann gebracht haben. Also los, auf geht’s!“   „Nur noch fünf Minuten“, bettelte ich und vergrub mich noch einmal in den Kissen. Doch Henning kannte keine Gnade. „In ner Viertelstunde gibt’s Frühstück. Bis dahin muss der Tisch gedeckt sein. Da das deine Aufgabe ist, würde ich lieber zusehen. Ansonsten verspeisen die anderen dich zum Frühstück.“ „Kacke“, knurrte ich unter meiner Decke hervor und erntete dafür ein bäriges Lachen. „Na los, hoch mit dir und anziehen.“   Ich streckte ihm unter dem Kissen den Mittelfinger hin und machte mich dann daran, mich halbwegs passabel herzurichten. Im Bad begegnete ich Sven, was die Sache nicht besser machte. Er verzog das Gesicht zu einem gehässigen Grinsen. „Du siehst ja beschissen aus.“ „Danke gleichfalls“, murmelte ich und schlurfte erst mal in Richtung Toiletten. Vielleicht hatte ich da ja meine fünf Minuten Ruhe.   Als ich in die Küche kam, war die Hälfte der Truppe schon anwesend. „Wird ja Zeit, dass du kommst“, muffelte Nico mich gleich an. „Los, Tisch decken! Ich hab Hunger.“ „Ja ja“, gab ich zurück und fing an, in den Schränken nach Tellern zu suchen. Zum Glück half Henning mir, alles Notwendige zu finden. Die anderen standen derweil nur rum und guckten mir zu. Am liebsten hätte ich sie angepflaumt, dass sie einfach mal mitanpacken sollten, aber mir war klar, dass ich mir damit eine Abfuhr einhandeln würde.   Muss ich wohl doch früher aufstehen. Die Erkenntnis passte mir nicht, aber die Aussicht, jedes Mal mit Publikum zu arbeiten, war auch nicht gerade berauschend. Als ich die letzten Teller hinstellte, kamen auch Leif und Dennis in die Küche. Beide würdigten mich keines Blickes, sondern setzten sich lediglich stumm an den Esstisch. „Guten Morgen!“, rief Henning auffordernd und bekam zwei gemurmelte Antworten. Immerhin etwas.   Ich riss mich zusammen, um nicht allzu auffällig zu Leif rüberzusehen. Warum war der Arsch denn gestern nicht gekommen? Ob Henning ihn erwischt hatte? Aber das hätte ich bestimmt gehört. Mein Zimmer lag immerhin am Kopfende des Ganges. Wenn jemand zu den beiden anderen wollte, musste er an meiner Tür vorbei.   Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Henning wie eine Elfe vorbeigeschwebt ist.   Blieb also nur die Möglichkeit, dass Leif es sich aus irgendwelchen Gründen anders überlegt hatte. Warum auch immer.   Na und? Sein Problem. Ist ja nicht so, dass ich Notstand hätte.   Ich beschloss, ihn nicht weiter zu beachten. Stattdessen griff ich nach der Lehne des Stuhls, der mir am nächsten stand, als Sven plötzlich die Hand auf die Sitzfläche legte. „Hier ist besetzt“, sagte er und sah mich herausfordernd an. Ich starrte zurück. Auch das noch. Auf Stress hatte ich nun wirklich keine Lust. Schon gar nicht vor dem Frühstück. Aber einfach den Schwanz einziehen war definitiv auch nicht drin.   „Und für wen?“, fragte ich und sah mich um. „Sitzen doch schon alle.“   „Für Henning“, erklärte Sven scheinheilig.   Henning, der gerade aus der Küche kam, lachte. „Das ist ja nett, dass du mir einen Platz freihältst. Du überlässt ihn mir doch, oder Manuel?“   Ich zögerte kurz, bevor ich nickte und mich auf die andere Seite des Tisches verzog. Hier waren noch zwei Stühle frei und beide waren direkt neben Leif.   Muss an seiner wunderbaren Persönlichkeit liegen.   Ich zog mir einen der Stühle heran und ließ mich darauf fallen. Ohne Leif auch nur eines Blickes zu würdigen, griff ich nach dem Brotkorb. Es gab drei verschiedene Brotsorten. Alle frisch. Sogar der Toast war noch warm. Henning hatte ihn wohl gerade erst aus dem Toaster gezogen. „Los, reich mal weiter“, forderte mich Nico auf und ich gab ihm den Korb über den Tisch. Ob Leif auch etwas hatte oder gar haben wollte, ignorierte ich dabei geflissentlich. Immerhin schuldete er mir noch eine Erklärung für letzte Nacht. Da sollte er mal schön den ersten Schritt machen und mich ansprechen. „Ist kein Müsli mehr da?“, wollte Dennis wissen und ich war irgendwie erstaunt, seine Stimme zu hören. Henning verneinte. „Ist alle. Wir müssen heute erst neues kaufen. Schreibst du es auf die Liste?“   Dennis nickte, stand auf und nahm sich einen Stift, der an der Wand neben einem Notizblock hing. Als Henning meinen Blick bemerkte, lächelte er. „Wenn du was brauchst, kannst du es da aufschreiben. Am besten setzt du deinen Namen in Klammern dahinter, damit wir wissen, für wen es ist. Aber keinen Blödsinn wie Wodka oder so.“   „Okay,“ sagte ich und fing an, mir mein Brot mit Butter zu beschmieren. Drei Scheiben Salami vervollständigten das Gebilde. Als ich den ersten Bissen nahm, merkte ich, wie hungrig ich war. Dem ersten folgte ein zweites und noch ein drittes Brot. Dabei bemühte ich mich nach Kräften, nicht nach rechts zu schauen, wo Leif immer noch an seinem Toast herummümmelte. Die Art, mit der er sich langsam Stückchen für Stückchen in den Mund schob, hätte mich nur wahnsinnig gemacht. Wie konnte man nur so langsam sein?   „Ich bin fertig. Kann ich aufstehen?“   Nico hatte sich schon halb erhoben. Hennings Blick ging zu Leif. „Ja, mach ruhig. Leif kann seinen Teller dann selbst in die Spülmaschine stellen.“   Fast erwartete ich, dass jemand eine Bemerkung über die sprichwörtliche Extrawurst machte, die Leif bekam, aber niemand sagte etwas dazu. Alle fingen an, gemeinsam den Tisch abzuräumen und waren dabei ausgesprochen friedlich. Nico machte sogar einen Witz und die anderen lachten darüber. Leif nicht, wie mir ein schneller Check in seine Richtung verriet. Als ich mich wieder wegdrehen wollte, hob er auf einmal den Kopf und sah mich an. Ganz kurz trafen sich unsere Blicke, dann senkte er die Augen wieder auf den Teller, auf der inzwischen nur noch eine Toastrinde lag. Er schob sie ein bisschen hin und her, zupfte kleine Stückchen davon ab und verteilte sie auf dem Teller. Als er fertig war, stand er auf. „Ich bin auch fertig“, verkündete er, drehte sich um und verschwand durch die Tür. Den Teller hatte er stehen lassen.   „Dieser Pisser!“, schimpfte Nico, griff sich aber trotzdem den Teller und trug ihn in die Küche. Ich bekam einen Lappen und wischte den Tisch ab. Dabei sah ich, dass auch um Leifs Stuhl herum ziemlich viele Krümel lagen. Wenn man das alles zusammennahm, hatte er vielleicht eine halbe Scheibe Toast gegessen. Nicht gerade viel.   Na und? Ist mir doch egal. Nico hat schon recht. Er ist ein Pisser.   Ich wischte die Krümel zusammen und ließ sie dann einfach auf den Boden fallen, den Jason ohnehin gerade kehrte. Er meckerte ein bisschen, bemühte dann aber nochmal den Besen, um auch meine und Leifs Krümel mitzunehmen. Kurz darauf war die Küche tiptop in Ordnung. „Habt ihr toll gemacht, Jungs“, lobte Henning und bekam dafür zumeist aufgesetzte Gleichgültigkeit gezeigt. Nur Jason strahlte. „Klar, wir sind doch ein Team“, verkündete er, bevor er sich zusammen mit den anderen trollte, um seine Schulsachen zu holen. Es war acht vor halb. „Du bekommst dann alles drüben“, informierte Henning mich. „Da erfährst du dann auch, in welche Klassengruppe du kommst.“   „Wir haben nicht alle zusammen Unterricht“, fragte ich verblüfft.   „Nein, die Klassen richten sich nach dem Leistungsstand wie in der richtigen Schule. Allerdings sind die Klassen hier sehr viel kleiner.“   Diese Ankündigung hätte mir wahrscheinlich Mut machen sollen, aber stattdessen bildete sich ein eigenartiger Knoten in meinem Bauch. Ich ahnte, was kommen würde, aber ich schob den Gedanken lieber weit, weit weg. „Ich geh mir nochmal schnell die Zähne putzen“, hörte ich mich sagen. Henning ermahnte mich noch, mich zu beeilen, aber da war ich schon zur Tür raus. Wie gerne hätte ich jetzt eine geraucht. Vielleicht auch zwei oder drei. Der Gedanke, dass ich das nicht konnte, traf mich mit voller Wucht. Ich konnte nichts selbst entscheiden. Alles wurde mir weggenommen. „Fuck!“, fluchte ich halblaut und blieb stehen, als ich von oben Stimmen hörte. Die anderen waren bereits wieder auf dem Weg nach unten. Sven, Nico und Jason, die herumblödelten und sich gegenseitig damit aufzogen, wer am meisten Schiss hatte, vom oberen Treppenabsatz zu springen. „Ich hab mir bei so was mal den Arm gebrochen“, behauptete Jason und wurde von den anderen dafür ausgelacht, dass er sich so ungeschickt angestellt hatte. Als sie unten ankamen, sah ich, dass auch Dennis mit von der Partie war, auch wenn er wie üblich schwieg. Nur Leif fehlte. „Na los, husch husch, Prinzessin. Du willst doch nicht am ersten Schultag zu spät kommen“, stichelte Sven, als er mich entdeckte. „Halt die Klappe“, gab ich ein bisschen lahm zurück.Ich warf einen kurzen Blick die Treppe hinauf. Eigentlich musste ich nicht nach oben gehen. Die Sache mit dem Zähneputzen war ohnehin nur vorgeschoben gewesen, damit ich mich aus der Küche verdrücken konnte. Und da oben war außer Leif niemand mehr. Warum mich also zu ihm ins Abseits begeben? Ich konnte ebenso gut hierbleiben.   Als wäre es genau so geplant gewesen, ließ ich mich auf der Treppenstufe nieder, auf der ich gerade stand und lehnte mich lässig zurück. Die konnten mich mal. Kreuzweise!   Leider hatten die vier wohl beschlossen, mich weiterhin wie Luft zu behandeln. So saß ich ziemlich dämlich da und hörte ihnen zu, wie sie ihre Witze rissen. Wenigstens dauerte es nicht lange, bis Henning auftauchte. „Sind alle da?“, fragte er und ließ den Blick über die „Menge“ schweifen. „Leif fehlt noch“, informierte ihn Nico.   „Gehst du ihn dann bitte holen?“ „Soll Manuel das doch machen. Der ist eh am nächsten dran.“   Henning öffnete den Mund um zu antworten, aber ich war schneller. „Ich geh schon“, sagte ich und erhob mich. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend joggte ich nach oben und ging durch den Gang nach hinten bis zu Leifs Zimmer. Die Tür war nur angelehnt, also schob ich sie auf und trat ein. Leif saß an seinem Schreibtisch und schrieb etwas in ein kleines Buch. „Kommst du? Die anderen warten.“ Ich sah, wie er zusammenzuckte und das Buch mit einem Knall zuschlug, bevor er offenbar versuchte, es vor mir zu verstecken. „Man, kannst du nicht anklopfen?“ „Dann hättest du die Tür zumachen sollen.“   Leif verzog das Gesicht, sagte aber nichts dazu. Er drehte sich nur von mir weg und griff nach einem Rucksack, der neben seinem Bett stand. Dabei schob er das kleine Buch unter die Matratze. Er versuchte zwar, es mich nicht sehen zu lassen, aber ich war ja schließlich nicht dumm. Als er sich mir wieder zuwandte, war sein Gesicht verschlossen. Mit zwei schnellen Schritten war er bei mir.   „Raus hier! Das ist mein Zimmer.“   Ich gönnte ihm ein Grinsen,   „Und wenn nicht?“   Auge in Auge standen wir uns gegenüber. Seine waren braun, genau wie meine. So aus der Nähe konnte ich sehen, dass dunkle Schatten darunter lagen. Er war blass.   „Hör zu“, begann er und leckte sich über die Lippen. „Wegen heute Nacht. Ich …“ „Manuel? Leif! Kommt ihr?“   Hennings tiefer Bass dröhnte durchs Treppenhaus. Leifs Blick glitt an mir vorbei in den Gang. Er wirkte gehetzt. „Wir sollten gehen“, sagte er und trat noch näher, um mich aus der Tür zu befördern. Ich ließ ihn gewähren. Ließ zu, dass er die Tür ins Schloss zog und dann an mir vorbei ging, ohne seinen Satz zu beenden. Meine Hand zuckte zwar, um ihn zurückzureißen und ihn zu fragen, was die Scheiße sollte, aber dann ließ ich es bleiben. Wir hatten jetzt erst mal Schule. Um das hier zu klären, blieb uns hinterher noch genug Zeit.   Henning brachte uns rüber ins Hauptgebäude, in dem Tobias auch meinen Zimmerschlüssel geholt hatte. Dieses Mal gingen wir zu anderen Seite, wo hinter einer Glastür ein langer Gang mit verschiedenen Türen lag. Die anderen fünf verteilten sich auf verschiedene Zimmer, während Henning mit mir im Flur stehenblieb. „Es kommt gleich jemand, um dich abzuholen“, informierte er mich. Tatsächlich erschienen gleich darauf zwei Frauen und drei Männer. Einer von ihnen kam gleich auf mich zu. „Hallo, du musst Manuel sein. Ich bin Herr Steiner, der Leiter hier. Ich hoffe, du hast dich schon ein bisschen eingelebt.“   Der Mann schüttelte mir die Hand und übergab mich dann an einen Herrn Zimmermann, der, wie ich erfuhr, Lehrer an einer benachbarten Schule war. Die Lehrkräfte kamen von dort hier herüber, um uns zu unterrichten. Herrn Zimmermann war nun die Aufgabe zugefallen herauszufinden, wie schlecht es um mich stand. „Keine Bange“, erklärte er fröhlich, „Du musst keinen Test schreiben. Wir gucken nur, wo du am besten hinpasst.“   Während er lächelte, hatte ich nur Augen für seine braungebrannte Halbglatze mit den kurzgeschorenen, weißen Seitenstreifen. Eine kleine, runde Brille saß über seinen Augen. Er sah freundlich aus. Aber das taten sie alle am Anfang. Henning verabschiedete sich, gab dem Lehrer aber einen Piepser für den Fall, dass er Hilfe brauchte. Hilfe, wenn ich ausrastete, wahrscheinlich. Oder versuchte wegzulaufen. Dabei würde ich doch ohnehin nicht weit kommen. Auch hier waren die Türen abgeschlossen.   „So, wir beide gehen mal hier rein, da haben wir unsere Ruhe.“ Die Schlüssel in Herrn Zimmermanns Hand klimperten, während er einen der Klassenräume aufschloss. Die anderen Türen waren bereits geschlossen. Hinter einer hörte man einiges an Tumult und die Stimme einer Lehrerin, die zur Ruhe mahnte. Es war die Klasse, in der Sven und Leif verschwunden waren.   „Nimm dir doch einen Stuhl, dann schauen wir uns mal an, was wir so über dich haben, ja?“   Ich sah mich in dem Raum um. Es gab eine Tafel an der Stirnseite und zwei weitere an den Wänden. In zwei Reihen standen zwei Doppeltische und zwei einzelne. Ganz vorne ein Pult für den Lehrer. Ein Regal mit Büchern, eine Karte an der Wand, einen Schrank aus Metall, der mit Sicherheit abgeschlossen war. Wahrscheinlich, weil da irgendwas drin war, was man klauen konnte.. „Manuel?“   Ich drehte mich um und sah mich wieder Herrn Zimmermann gegenüber. Er wies auf einen Stuhl. „Ich hatte dich gebeten, dich zu setzen. Wenn du so freundlich wärst?“   Einen Augenblick lang überlegte ich zu antworten, dass ich lieber stehenblieb. Aber dann nahm ich mir doch einen Stuhl und setzte mich auf die andere Seite des Tisches. Herr Zimmermann kommentierte das nicht und las stattdessen in seiner Akte. „Also, das letzte Zeugnis, dass ich von dir habe, ist das Halbjahreszeugnis aus der siebten Klasse. Sieht doch eigentlich ganz ordentlich aus. Den Stoff beherrschst du also?“ Es war eine Frage, aber ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Ich weiß nicht mehr, was damals dran war.“   Herr Zimmermann brummte und blätterte noch ein bisschen die Akte durch. Als er sich bei einem der Blätter länger aufhielt, wusste ich, was das sein musste. Mein Mund zuckte und ich spürte den Drang, aufzustehen und eine zu rauchen.   „Hier steht, dass du suspendiert wurdest, weil du dich geprügelt hast.“   Wieder hob ich die Schultern. „War ein Arschloch.“   Ein Arschloch, dass gedroht hatte, Fotos von mir und einem Typen in der ganzen Schule rumzuzeigen. Sein Gesicht hatte daraufhin Bekanntschaft mit meiner Faust gemacht und ich hatte drei Tage „dem Unterricht fernbleiben“ müssen. Meine Alten hatte das nicht besonders interessiert und mein Bruder hatte nur gemeint, dass ich wohl doch nicht so aus der Art geschlagen wäre. An dem Abend hatte er mich das erste Mal zu einem Treffen mit seinen Freunden mitgenommen.   „Hier steht, dass du dann die Schule gewechselt hast. Auf die Hauptschule. Wie kam das?“   Ich reagierte mit einem erneuten Achselzucken. „Hatte halt schlechte Noten.“   Was vielleicht unter anderem daran lag, dass ich ab dem Zeitpunkt abends lieber mit Pascal und seinen Kumpels auf Tour gegangen war, statt zu lernen. Abhängen, rauchen, trinken, Mädels abchecken. Dass die mich eigentlich nicht interessierten, hatte er nie rausgefunden. Als dann die ersten blauen Briefe kamen, hatte Pascal gemeint, ich solle mir da keinen Kopf machen. Würde ich eben runtergestuft werden. Tja, und so war ich dann auf Pascals ehemalige Schule gekommen.   „Mhm, verstehe. Aber den Abschluss hast du dort nicht gemacht. Warum nicht?“   Ich schnaubte nur und drehte den Kopf weg. Warum, warum, warum? Das stand doch da mit Sicherheit drin. Weil ich so dämlich gewesen war, mich von Pascal dazu überreden zu lassen, mit ihm auch noch ganz andere Sachen zu machen. Er war schließlich dafür in den Bau gewandert, aber die Quittung, die hatte ich bekommen. Zuerst von meinen Mitschülern, dann von meinen Eltern. Wie oft hatte ich mir anhören müssen, dass sie lieber mich als Pascal im Kittchen gesehen hätten. Immerhin hatte er bisher ihren Stoff bezahlt und ich war im Vergleich dazu vollkommen nutzlos. Danach hatte es nicht lange gedauert, bis ich angefangen hatte, meine Nächte nicht mehr zu Hause zu verbringen. Und dann die Tage. Und dann hatte irgendwann das Jugendamt vor der Tür gestanden. „Hier steht, dass du dann auf einer weiteren Hauptschule gewesen bist. Das war letztes Jahr.“   Ich nickte leicht. Das war, als ich das erste Mal für ein paar Monate im Heim gelandet war. Nur dass meinen Erzeugern dann eingefallen war, dass sie dadurch, dass ich nicht mehr bei ihnen wohnte, auch keine Kohle vom Amt mehr für mich bekamen. Also hatten sie dafür gesorgt, dass ich wieder zurückkam. Ich weiß noch, wie sie dagesessen hatten, um mich abzuholen. Sie in ihrem besten Kleid, er in einem Anzug, den er sich wohl irgendwo geliehen hatte. Und ich Idiot hatte damals wirklich gedacht, dass sich dadurch etwas ändern würde. Dass sie es wieder gutmachen würden. Irgendwie. Aber es hatte sich nichts geändert. Es war nur noch schlimmer geworden. Ich war immer wieder von dort abgehauen, aber die Polizei hatte mich immer wieder zurückgebracht. Weil ein Kind ja zu seinen Eltern gehörte. Was für ein Bullshit!   „Anfang des Jahres hast du dann noch einmal die Schule gewechselt. In eine kleine Grund- und Hauptschule nahe der dänischen Grenze. Hier steht jedoch, dass du auch dort massive Fehlzeiten hattest.“   Ich verzog keine Miene. Das war nach der Sache mit Pascal. Als er auf Bewährung rausgekommen war und mich noch am selben Tag fast umgebracht hatte. Da hatten sie mich rausgeholt und weit weg von zu Hause untergebracht. Zur Sicherheit. Aber auf der Schule, auf die ich dann kam, war vom ersten Tag an klar gewesen, dass ich der Neue war. Der Komische. Das Heimkind. Ich hatte nicht in diese heile Welt zwischen Dorffesten und Kuhweiden gepasst, auch wenn einige das nicht hatten sehen wollen. So wie Bambi zum Beispiel.   Herr Zimmermann schloss die Akte und sah mich über den Tisch hinweg an. Seine Brille funkelte im Sonnenlicht. „Ich denke, wir können also davon ausgehen, dass dir noch einiges an Stoff der siebten Klasse fehlt. Ich würde deswegen dort mit dir wieder ansetzen wollen. Je nachdem, wie gut es klappt, kannst du dich dann weiter vorarbeiten.“   Ich sagte nichts dazu. Was hätte ich auch sagen sollen? Die Erkenntnis, dass da eine riesige Lücke in meinem Lebenslauf klaffte, würde auch ein Schulabschluss nicht ändern. Wozu sollte ich mich dann überhaupt noch anstrengen. Arbeiten gehen konnte man doch auch ohne Abschluss.   Als Herr Zimmermann die Stirn kraus zog, wurde mir klar, dass ich den letzten Satz laut ausgesprochen hatte. „Ja, das ist richtig. Es gibt jede Menge Hilfsarbeiten, die man auch ohne Schulabschluss ausführen kann. Einige Betriebe bieten auch Ausbildungsstellen an. Fakt ist aber, dass du durch einen Abschluss deine Chancen um ein Vielfaches verbessern würdest. Außerdem bist du noch schulpflichtig. So oder so wirst du also nicht drum herumkommen, hier noch etwas zu lernen.“   Ich verzog meinen Mund zu einem abfälligen Grinsen.   „Ich kann auch einfach die ganze Zeit nichts tun.“   Herr Zimmermann nickte, nicht im Geringsten beeindruckt. „Ja, das kannst du. Du kannst dich hinsetzen und nichts tun. Nicht darauf reagieren, wenn man mit dir spricht. Dir die Ohren zuhalten, wenn ich oder einer der anderen Lehrer etwas erklärt. Diese Wahl hast du tatsächlich. Aber ist das auch das, was du wirklich willst.“   Das Grinsen erstarb auf meinem Gesicht. So, wie er es erzählte, klang es absolut lächerlich.   „Ich bin kein kleines Kind“, stieß ich hervor. Er sollte bloß nicht denken, dass er mich wie eines behandeln konnte. „Dann solltest du dich vielleicht auch nicht wie eines benehmen.“   In diesem Moment klingelte es und Herr Zimmermann sah auf seine Uhr. „Die erste Stunde ist um“, sagte er. „Ich denke, ich bringe dich jetzt am besten in deine Klasse.“ „In die siebte?“, fragte ich nach. Mein Ton war ätzend wie kochende Säure. „Bis du mir das Gegenteil beweist, ja.“   Damit war die Sache für ihn offenbar abgeschlossen. Hatte ich mich vorhin noch darüber beschwert, dass mir sämtliche Wahlmöglichkeiten genommen worden waren, war mir hier eine um die Ohren geschlagen worden, die ich gar nicht haben wollte. Weil beide Möglichkeiten beschissen waren. So oder so war ich der Gearschte.   Ich erhob mich betont langsam. Der Typ sollte nicht denken, dass er mich irgendwie beeindruckt hatte. Trotzdem musste ich zugeben, dass es mich schon irgendwie wurmte, dass das erste Gesicht, was ich sah, als er die Tür öffnete, das von Jason war. Ich war also echt bei den Kleinen gelandet.   „Frau Schmidt? Ich bringe Ihnen Ihren neuen Schülern.“   Frau Schmidt, eine Mittfünfzigerin mit rot geschminkten Lippen und orangen Haaren, nickte.   „Gut, er kann sich da hinten hinsetzen. Ich kümmere mich gleich um ihn.“   Einen Moment lang war ich versucht, mich einfach in die erste Reihe zu setzen. Dorthin, wo man mich nicht übersehen konnte, aber dann entschloss ich mich, doch lieber den angewiesenen Platz zu nehmen. Von dort hinten hatte ich alle anderen im Blick. Das war besser als andersherum.   Als Frau Schmidt dann zu mir kam und mir meine Bücher hinlegte, blieb mein Blick an dem obersten Einband hängen. „Mathematik Klasse 7“ stand in roten Buchstaben darauf. Das erste Mal, als ich so ein Buch bekommen hatte, war ich dreizehn. Jetzt stand bald mein 16. Geburtstag an. In dem Moment wurde mir klar, dass ich drei Jahre verloren hatte. Drei Jahre meines Lebens, die ich einfach nur mit Scheiße verbracht hatte. Sinnlos verplempert und niemand, nicht einmal der Papst, würde mir die verlorene Zeit wieder zurückgeben können. Ich hatte es einfach mal vollkommen verkackt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)