Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 2: Runde Eins --------------------- „So. Alle satt?“   Thomas sah erwartungsvoll in die Runde. Hier und da antwortete ihm ein Brummen.   „Gut. Wer hat heute welchen Dienst?“   „Ich hab gekocht“, sagte Nico sofort. „Und Sven ist mit Abwaschen ran.“ „Das kann ich selber sagen, du Spacko.“ „Selber Spacko!“   „Jungs! Ruhig bleiben, ja?“ Thomas’ tiefer Bass unterbrach den Streit. Er wandte sich an Dennis. „Was machst du heute?“ „Treppenhaus“, kam es einsilbig zurück. „Ich hab Tisch gedeckt und mach die Fußböden“, gab Jason bekannt. „Manuel kann mir ja mit dem Wischen helfen.“ „Mit dem Wischen oder mit dem Wichsen?“, fragte Nico. Sofort bekam Jason feuerrote Ohren.   „Du bist so ein Penner!“, schrie er und sprang auf. „Jungs!“ Wieder gelang es Thomas, sich Gehör zu verschaffen. „Hier wird keiner beleidigt. Und du, Nico, hörst mit dem Gestichel auf. Jason, du hast nachher noch Wäsche zu machen.“   „Bettwäsche zum Beispiel“, frotzelte Nico weiter und grinste breit. Jason wollte schon wieder auffahren, als der Lange abwehrend die Hände hob. „Hey, ist doch nur Spaß. Alles easy, Küken.“ „Ich geb dir gleich mal easy“, knurrte Jason, packte den Topf und stampfte damit in Richtung Küche. Auch der Rest der Truppe stand auf, nahm ihren Teller und brachte ihn zur Spüle, wo sich bereits Kochutensilien zu einem abenteuerlichen Stapel türmten. Sofort maulte Sven rum, dass die Spülmaschine nicht ausgeräumt war. In den Streit, der daraufhin entbrannte, mischte sich diesmal nicht nur Thomas sondern auch Tobias ein, indem er die Streithähne kurzerhand dazu abkommandierte, das Geschirr gemeinsam auszuräumen. Jason zockelte der weil los, um Besen und Mopp zu holen. Einzig ich und Leif saßen noch am Tisch. Als ich zu ihm rübersah, erhob er sich betont langsam.   „Ich geh dann mal die Klos putzen. Wenn du also ein Bedürfnis hast, kommst du entweder gleich mit oder du verkneifst es dir.“   Er schenkte mir noch einen langen Blick, bevor er sich auf dem Absatz umdrehte und immer noch unendlich langsam zum Ausgang schlenderte. Als Tobias ihn zurückpfeifen wollte, weil er seinen halbvollen Teller hatte stehenlassen, beschloss ich, die Gelegenheit zu nutzen. „Ich mach das schon“, rief ich, griff mir meinen und Leifs Teller und stapelte sie so ineinander, dass man nicht sehen konnte, dass wir beide total viel übrig gelassen hatten. Ich das Gemüse, er den Rest. „Okay, danke Manuel“, sagte Tobias und lächelte mich an. „Wir verschieben das Gespräch am besten auf die Hausaufgabenstunde, dann ist bestimmt wieder Ruhe eingekehrt. Halbe Stunde?“   „Ja, okay. Ich … ich müsste allerdings mal.“ „Die Treppe hoch und dann rechts. Ich bring dich eben hin.“ „Nein, nein, ich schaff das schon. Ich will ja hier keinen von der Arbeit abhalten.“   Tobias zögerte kurz, bevor er nickte. „Okay, dann geh allein. Aber keinen Unsinn anstellen, verstanden?“ „Klar. Großes Ehrenwort.“   Ich setzte ein Lächeln auf, von dem ich wusste, dass es Herzen zum Schmelzen brachte. Auch bei Tobias schien etwas davon anzukommen. Er bedeutete mir mit dem Kopf, mich endlich zu verdrücken, und ich leistete Folge. So schnell mich meine Füße trugen, lief ich den Flur entlang. Erst, als ich an der Haustür vorbeikam, wurde ich unwillkürlich langsamer. Da draußen war der Frühling in vollem Gange. Die Sonne schien auf den Hof, die Bäume standen in sattem Grün. Noch nicht zu warm, aber schön genug, um nicht zu frieren. Ideal um irgendwo abzuhängen. Vielleicht was zu trinken. Zu rauchen. Wieder kribbelte es in meinem Mund.   Scheiße, ich brauch ne Zigarette.   Mit Gewalt riss ich mich von dem Anblick los und sah zu, dass ich nach oben kam. Ich hielt mich nicht damit auf, nach irgendwelchen offenen Türen zu suchen, sondern ging gleich zu den Toiletten, wo Leif gerade dabei war, mit einem Lappen das Waschbecken zu säubern. Als ich in der Tür erschien, hielt er inne.   „Hast ja lange gebraucht“, meinte er, bevor er sich wieder dem Putzjob zuwandte. Er öffnete den Wasserhahn, spülte die Reste des Schaums weg und tat so, als wäre ich nicht da. „Musste mich erst loseisen“, gab ich zurück und lehnte mich an die Wand. Von hier aus hatte ich einen guten Blick auf ihn. Er war schmal, hatte lange, dünne Beine, sehnige Arme. Ansonsten war nicht viel zu erkennen unter dem weiten Shirt und der Jeans, die trotz des engen Schnitts ziemlich locker saß. Als ich versuchte, mir den dazu gehörigen Rest vorzustellen, hörte ich ein belustigtes Schnauben. „Willst du da weiter rumstehen, oder machst du endlich die Tür zu, damit wir zur Sache kommen können?“   Alles klar, er war direkt. Gefiel mir. Da sagte ich nicht Nein. Ich trat in den Raum, drehte mich um und schloss die Tür. Kaum, dass ich den Riegel umgelegt hatte, spürte ich ihn schon hinter mir stehen.   „Na los. Erst du, dann ich. “   Ich fragte nicht, wie er das meinte. So schnell ich konnte, öffnete ich meine Hose. Er trat noch näher und griff um mich herum. Als sich seine Finger um meinen Schwanz legten, zischte ich leise.   „Fuck, du hast ja Eishände.“ „Das Wasser war kalt“, raunte er an meinem Ohr und begann mich zu wichsen. Binnen Sekunden hatte er mehr in der Hand als zuvor. Anerkennend pfiff er durch die Zähne. „Mhm, nett.“   „Ich kann auch gut damit umgehen“, setzte ich hinzu, bevor ich für einen Moment die Augen schloss. Seine Finger bewegten sich schnell und geschickt und mir war klar, dass es nicht lange dauern würde. Er wusste, was er da tat. Sein harter Atem streifte meinen Hals, sein Körper berührte meinen jedoch kaum. Nur seine Hand, die sich unablässig schneller und schneller bewegte. Ich merkte, wie es anfing zu kribbeln. Zu ziehen. Ich unterdrückte ein Keuchen. Lehnte mich gegen die Wand, um mich abzustützen. Gleich … gleich würde es passieren.   „Warte“, zischte ich, so leise ich konnte. „Soll ich etwa gegen die Tür …?“ „Mein Handtuch kriegst du jedenfalls nicht.“   Ich lachte halb. Die andere Hälfte war ein erneutes Keuchen. Ich war so kurz davor. „Manuel?“   Scheiße! Tobias.   Sofort verschwand die Hand aus meinem Schritt und ich starrte wie benebelt die Tür an, an der es jetzt klopfte. „Manuel, bist du da drin?“   Ich muss antworten.   „Ja, ich … es hat ein bisschen gedauert. Ich komme.“   Oder auch nicht.   In Windeseile packte ich meinen Schwanz wieder ein und riss den Reißverschluss nach oben. Schnell noch richten, das Shirt drüber. Fertig.   „Manu~el“   „Jaha, ich mach ja.“   Ich fuhr mir noch einmal mit der Hand über das Gesicht und warf einen Blick nach hinten. Leif tat so, als würde er den Fußboden schrubben. Mit einem letzten Durchatmen öffnete ich die Tür.   Tobias’ Stirn war gerunzelt. Er äugte an mir vorbei in den Raum. Als er Leif entdeckte, wanderten seine Augenbrauen nach oben. „Was geht hier vor?“, wollte er wissen. „Was habt ihr zwei gemacht?“   „Nichts“, antwortete ich sofort. Leif reagierte nicht.   „Und warum war die Tür dann zu?“   Ich verdrehte die Augen.   „Na weil ich pinkeln war. Ich wollte halt nicht, dass mir jeder zuguckt.“ „Aber Leif schon?“   Ich wollte mir irgendeine glaubhafte Ausrede einfallen lassen, als mein Mitverschwörer sich endlich dazu bequemte, auch mal was zu sagen. „Mensch, Tobi, nun mach dir mal nicht ins Hemd. Ich hab geputzt und da haben wir halt ein bisschen gequatscht. Ist doch nichts dabei. Deswegen musst du uns doch nicht gleich so zusammenscheißen.“   Tobias zögerte. Man konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Vermutlich, weil er es ja gewesen war, der mich von der Leine gelassen hatte. Wenn ich Scheiße gebaut hatte, würde er vermutlich Ärger dafür kriegen. Schließlich gab er sich einen Ruck. „Na schön, aber lasst nächstes Mal die Tür dabei offen“, erklärte er mit fester Stimme. „Wir haben hier klare Regeln für so was.“ „Klar“, sagte ich sofort und hob in einer entschuldigenden Geste die Hände. „War mein Fehler. Ich hätte gleich zurückkommen sollen.“   Als Tobias immer noch nicht erweicht war, senkte ich den Blick und ließ meine Stimme leiser werden. „Ich … ich wollte halt mal von einem der anderen hören, wie es hier so ist. Ohne Zuhörer.“   Tobias’ Blick wurde weicher.   „Okay, das kann ich nachvollziehen. Trotzdem darfst du dich hier am Anfang noch nicht so frei bewegen. Wir müssen dich ja erst kennenlernen.“ „Klar.“   Ich tat geknickt, weil mir klar war, dass, wenn Tobias rausbekam, was wir hier gerade getrieben hatten, es nicht so bald wieder eine zweite Gelegenheit dazu geben würde. Ich sah von unten herauf zu ihm hoch.   „Krieg ich jetzt noch die versprochene Einweisung?“   Tobias lachte leicht. „Natürlich. Komm mit. Thomas übernimmt heute die Hausaufgabenhilfe hat er gesagt.“ „Schön, ich freu mich.“   Ich lächelte ebenfalls und ließ Tobias vorgehen. Als er an mir vorbei war, warf ich noch einen Blick zu Leif. Der saß mit seinem Putzlappen auf dem Boden und glich dadurch mehr denn je einem Frosch.   Ich unterdrückte ein Grinsen und beeilte mich, Tobias zu folgen. Das, was wir heute begonnen hatten, würden wir ein andermal fortführen.     Nachdem wir wieder im Erdgeschoss angekommen waren, gingen wir dieses Mal nicht nach links in Richtung Küche, sondern steuerten die rechte Glastür an. Tobias zückte den Schlüssel, um sie zu öffnen. Im Flur dahinter gab es mehrere Türen. „Wir gehen hier rein“, sagte Tobias und öffnete einen kleinen Raum, in dem es einen Tisch gab und vier Stühle. Bücherregale zierten die Wände und ein Bild von einem Frosch, der halb im Schnabel eines Storches verschwunden war, bevor er das Langbein am Hals gepackt und ihm die Luft abgeschnürt hatte. „Niemals aufgeben“ stand daneben. Der Storch sah reichlich gefickt aus. „Hier finden unsere Einzelgespräche statt. Das hast du einmal die Woche, wenn du möchtest, auch öfter.“   Ich nickte nur dazu und ließ mich auf Tobias’ Geheiß hin auf einem der Stühle nieder. Er setzte sich ebenfalls. Auf dem Tisch landete eine Akte. Mein Name stand darauf. „So, wie du siehst, hat uns dein früherer Betreuer ein bisschen was zukommen lassen. Da stehen deine Noten drin, Zeugnisse, ärztliche Gutachten und so weiter. Mit anderen Worten, nur Bockmist.“   Tobias grinste, als er mein erstauntes Gesicht sah. „Ein Scherz. Wir haben das natürlich gelesen um abzuschätzen, ob du hier gut reinpassen würdest. Es gibt hier noch eine weitere Gruppe, aber ich denke, du bist hier ganz gut aufgehoben. Wir möchten dir gerne helfen, Manuel. Doch das Allerwichtigste ist eigentlich, was du hier möchtest. Denn auf dich kommt es an.“   Danach entstand eine Pause, die ich wohl hätte mit Worten füllen können. Oder sollen. Als ich nichts sagte, hakte Tobias nach. „Warum bist du hier?“   Ich verzog den Mund zu einem abschätzigen Grinsen. „Das steht doch bestimmt auch in der Akte. Weil ich mich rumtreibe, nicht zur Schule gehe, von zu Hause abgehauen bin …“   „Nicht ohne Grund, nehme ich an“, unterbrach Tobias mich. Ich gab ein unbestimmtes Schnauben von mir. Darauf wollte er also hinaus. „Nein, nicht ohne Grund“, gab ich zu und sah weg.   Tobias wartete eine Weile, aber als ich nicht mehr dazu sagte, seufzte er.   „Du willst nicht darüber reden? Okay. Kann ich verstehen. Ist bestimmt nicht leicht, so von der eigenen Familie behandelt zu werden.“ „Das hat nichts damit zu tun.“ „Nein? Und ich dachte, dein Bruder hätte dich krankenhausreif geprügelt. Wäre mit einem Messer auf dich losgegangen.“   Ich antwortete nicht darauf. Er wusste schließlich, dass es stimmte. Warum mir also noch die Mühe machen und es zugeben?   Tobias seufzte leise. „Na schön. Ist ein schwieriges Thema. Ich versteh schon.“ „Einen Scheiß verstehst du.“   Erst stutze Tobias, dann lächelte er. „Vielleicht hast du recht. Aber ich sagte ja schon, dass es hier um dich geht. Was möchtest du erreichen?“   Wieder so eine Frage aus irgendeinem Psycho-Lehrbuch. Was wusste ich denn? Was konnte ich denn erreichen? Einen Schulabschluss? Einen Job? Familie? Kinder womöglich. Wobei sich die Natur da ja nun keine Sorgen machen brauchte. Mit Nachwuchs würde ich die Welt verschonen.   „Okay, dann sage ich dir einfach mal, was wir uns vorgestellt haben. Wir werden dich hier in die Gemeinschaft aufnehmen. Das machen wir zu einem großen Teil erst mal, damit du sicher bist.“ „Mir passiert schon nichts.“ „ Ach, ist das so? Und wenn dein Bruder wieder aus dem Gefängnis kommt? Wenn ihn nächstes Mal niemand aufhält, wenn er ein Messer zückt? Oder wenn er sich ne Knarre besorgt? Dann ist die Welt um einen Manuel ärmer und das würde ich persönlich echt schade finden.“   Als er das sagte, huschte mein Blick einmal kurz zu ihm rüber. Meinte er das jetzt ernst? Daran glaubte ich nicht. Der war doch auch nur hier, weil er dafür bezahlt wurde. „Was? Denkst du, ich mache das hier nur, weil ich dafür bezahlt werde? Glaub mir, im Zoo den ganzen Tag Elefantenscheiße zu schaufeln, wäre einfacher, als auf euch aufzupassen. Und Elefanten haben verdammt große Scheißhaufen, das kannst du mir glauben. Die kacken mit einem Mal ne ganze Schubkarre voll.“   Ich musste gegen meinen Willen grinsen. „Quatsch. Höchstens ne halbe.“ „Ach, bist du jetzt Experte für Elefantenscheiße oder was?“ „Klar. Ich wollte immerhin mal Tierarzt werden.“   Das Lächeln auf meinem Gesicht erstarb. Tobias bedachte mich mit einem Blick, der mich schlucken ließ. „Ist verdammt lange her, oder?“ „Mhm.“   Ich antwortete nicht. Diesen Wunsch hatte ein anderer Manuel gehabt. Einer, den es heute nicht mehr gab.   Ich hörte Tobias tief durchatmen. „Ob das mit dem Tierarzt klappt, kann ich dir natürlich nicht versprechen. Aber wir können gemeinsam dafür sorgen, dass du dein Leben in den Griff bekommst. Dass du was lernst, später mal Geld verdienst. Ein richtiges Zuhause hast. Aber dafür braucht es vor allem eines.“   Ich zog die Schultern hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und das wäre?“ „Verdammt viel Mut. Und Ausdauer. Und den Arsch in der Hose, sich hinzusetzen und die Scheiße wieder auf die Reihe zu kriegen. Ich sage nicht, dass das einfach wird. Aber ich verspreche dir, dass wir dir dabei helfen werden, so gut wir können.“   Ich verzog keine Miene, aber die spitze Bemerkung, die mir sofort dazu in den Sinn kam, kitzelte meine Zungenspitze. Ich schaffte es nicht, sie zurückzuhalten. „Und wofür? Damit ich dann später mal irgendwelchen Losern dämliche Vorträge halten kann?“   Wieder war da ein Lächeln auf Tobias’ Lippen. „Nein. Sondern damit du morgens in den Spiegel blicken kannst, ohne das Kotzen zu kriegen. Deswegen solltest du es machen.“     Der Satz, den mir Tobias da an den Kopf geworfen hatte, wirkte noch nach, als ich kurz darauf neben meinem Bett stand. Mittagsruhe war angesagt. Das hieß, es gab keine laute Musik, jeder musste in seinem Zimmer bleiben. Zeit, um auszupacken. Zeit um anzukommen. Zeit allein.   Ich trat an das Fenster, das ich zwar öffnen, aber nicht als Fluchtmöglichkeit nutzen konnte. Da draußen gab es einen Außenbereich. Zwei Sitzgruppen, Rasen, Blumen, Büsche. Dahinter einen Sandplatz. Eine Schaukel, ein Klettergerüst. Ich starrte die Spielgeräte an und konnte die Erinnerung nicht verhindern, die damit nach oben kam. Da hatte es jemanden gegeben, der mir genau dieses Gefühl gegeben hatte. Dass ich nicht nur zum Kotzen war. Dass ich nicht nur ein dummes Arschloch war, das nur an sich selbst dachte.   „Tja. Hab dir jetzt wohl das Gegenteil bewiesen, oder Bambi?“   Vermutlich ahnte er noch nicht mal was davon. Mit einer Verabredung hatten wir uns verabschiedet. Für Donnerstag. Das war in drei Tagen. Ich hatte gewusst, dass ich nicht kommen würde. Ich hatte es gewusst, aber nichts gesagt. Ich hatte mir geholt, was ich gewollt hatte. Wofür ich gearbeitet hatte. Wochenlang. Ich hatte es mir verdient. Hatte ich gedacht und mich so vor mir selbst gerechtfertigt. Aber dann … Er war so scheiße lieb gewesen. Aufgeregt. Es war sein erstes Mal. Und irgendwie … irgendwie hatte ich dann gewollt, dass es schön für ihn war. Dass er, obwohl ich ihn danach fallen lassen würde, das Ganze in guter Erinnerung behielt. Dass er mich in guter Erinnerung behielt. Ich hatte was Besonderes für ihn sein wollen. Im Nachhinein kam mir das albern vor. Absolut lächerlich. Aber in dem Moment hatte es sich richtig angefühlt.   Und dann bin ich einfach gegangen.   Weil ich eben doch ein Arschloch war. Ich hatte ihn gewarnt, dass es so war, aber er hatte nicht hören wollen. War immer näher und näher gekommen.   Das passiert mir nicht noch mal.   Denn egal, wie sehr ich mir sagte, dass er selbst schuld war; ich wusste, dass es nicht stimmte. Ich hatte ihn benutzt und dann weggeworfen. Und ich wusste, wie sich das anfühlte. Wenn man sich wie Dreck an der Schuhsohle vorkam. Wenn man nichts tun konnte, um das zu ändern. Ohne es zu merken, hatte ich plötzlich die Türklinke in der Hand. Mir war schwindelig. Schlecht. Ich musste hier weg.   Ich riss die Tür auf, stürzte auf den Gang. Mein erster Impuls war, nach unten zur Haustür zu laufen. Immer wieder und wieder gegen das Glas zu treten, bis es splitterte und mich wieder freigab. Herausließ aus diesem Käfig.   Eine Tür öffnete sich und Tobias trat hindurch.   „Manuel? Warum bist du nicht in deinem Zimmer? Ist was passiert?“   Ich antwortete nicht. Natürlich war etwas passiert. Mein ganzes Scheißleben war passiert. Ich wollte das nicht. Ich wollte hier weg. Weg von allem, was mich daran erinnerte. „Komm, es ist Mittagsruhe. Du musst in deinem Zimmer bleiben.“ Schon hörte ich, wie sich die ersten Türen öffneten. Die anderen steckten ihre neugierigen Fressen in den Flur. Wollten sehen, wie ich mich blamierte. Scheiße! „Na los, ich bring dich zurück.“   Wie betäubt ließ ich mich mitziehen und befand mich im nächsten Moment wieder in dieser Zelle, aus der ich doch gerade erst ausgebrochen war. Wie war das passiert? „Jetzt erzähl mal. Was ist denn los?“   Tobias’ Art brachte mich gegen meinen Willen runter. Ich wollte nicht runterkommen. Nicht so. „Fick dich!“, schnauzte ich ihn an und wollte mich an ihm vorbeidrängen. Vielleicht bekam ich die Tür ja doch auf. „Oh nein, mein Freund. Du bleibst schön hier.“   Mit erstaunlich kräftigen Händen hielt er mich fest und hinderte mich allein mit seinem Körper daran, wieder in den Flur zu rennen. Ich stieß ihn vor die Brust. Er ließ mich los und trat einen Schritt zurück. In seinen Augen stand Sorge. „Okay, was brauchst du?“   Meine Hand ballte sich zur Faust. Ich wollte ihn so gerne schlagen. Damit er aufhörte, so ne Scheißfragen stellte.   „Willst du reden oder dich ne Runde abreagieren? Ich kann dich runterbringen.“   Für einen Moment wusste ich nicht, was er meinte, aber dann fiel es mir ein. Der Time-out-Raum. Dort konnte man schreien, wüten, toben, so viel man wollte. Nicht alleine, immer in Begleitung, solange man niemanden angriff. Tobias hatte ihn mir gezeigt. Er sah aus wie ne Gummizelle.   „Nein!“ Das Adrenalin rauschte immer noch durch meine Adern. Es wollte raus, wollte etwas kaputtmachen. Aber ich wollte nicht dort unten eingesperrt werden wie ein Verrückter, der sich sonst selbst die Arme aufschlitzte. Ich war nicht so verrückt. „Raus!“, schnauzte ich und machte drohend einen Schritt auf Tobias zu. Er hob beschwichtigend die Hände. „Es reicht, wenn du mir das ruhig sagst. Ich gehe. Aber nur, wenn es wirklich das ist, was du willst.“   Beinahe wäre mir über die Lippen gekommen, dass ich das nicht wollte. Dass ich nicht alleine sein konnte in diesem Zimmer. Dieser Zelle. In meinem verdammten Leben. „Ich komme klar“, sagte ich und drehte mich um, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte. Ich hörte ihn durchatmen. „Ich kann wirklich bleiben, wenn du das möchtest. Oder wir drehen ne Runde draußen auf dem Platz. Die überschüssige Energie loswerden, den Kopf freikriegen.“ „Geh weg!“   Wieder eine Pause. Unendliche Augenblicke, in denen ich mich beherrschen musste, um nicht weich zu werden. Nicht schwach. Erbärmlich.   „Gut. Wenn du das so willst, gehe ich. Aber du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du es dir anders überlegst. Ich meine das so. Wir sind für euch da.“   Danach sagte er nichts mehr. Ich hörte nur, wie die Tür geschlossen wurde und sich seine Schritte auf dem Flur entfernten. Aus dem Nebenzimmer drang leise Musik an mein Ohr. Ich setzte mich auf mein Bett und hörte zu, bis der Klang plötzlich verstummte und ein allgemeines Türöffnen das Ende der Mittagsruhe verkündete. Die Pause war vorbei. Auf zu Runde zwei.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)