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About Clowns and Heroes

von

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Memories


 

1
 

Langsam füllt Joker das Becken mit Wasser – kaltem Wasser, was anderes gibt es jetzt ja nicht – und spritzt einen Klecks Spülmittel dazu. Während er zusieht, wie sich Schaum bildet und das schmutzige Geschirr damit immer mehr verdeckt wird, hört er leise einen Motor aufheulen. Geistesgegenwärtig dreht er den Hahn wieder zu und tritt an eines der Wohnzimmerfenster heran. Als er den schwarzen Vorhang zur Seite zieht, erblickt er unter sich eine große, mit Kies bestreute Fläche, die sich in einiger Entfernung verschmälert und schließlich in einer waagerecht verlaufenden Straße mündet, deren Oberfläche von Schlaglöchern nur so wimmelt. Auf der anderen Seite der Straße steht ein langgezogener, mehrstöckiger Apartmentkomplex, der scheinbar nur noch von guten Gedanken und Wünschen zusammengehalten wird. Das Gebäude scheint nicht ein einziges intaktes Fenster mehr zu haben und an mindestens drei Stellen sind große Stücke der Fassade herausgebrochen. Die unteren zwei Meter der Außenwand sind mit unzähligen, zum Teil schon bis zur Unkenntlichkeit verblassten Graffitis bedeckt, was dem Ganzen einen seltsam traurig-fröhlichen Anblick zugedenkt.
 

Das Tor der von Edward erwähnten Garage scheint sich genau unter seinen Füßen zu befinden. Ganz leise kann er es nun rumpeln hören. Kurz darauf kann der Clown zwei muskulöse Männer sehen, die auf den Kiesplatz hinaustreten und sich geschäftig in der Gegend umsehen. Nur einen Moment später heult abermals der Motor auf und langsam stößt ein Wagen aus der Garage heraus. Für den Grünhaarigen ist es nicht zu übersehen, wem dieses Auto gehört: Dem Riddler. Oder besser gesagt Edward Nigma. Der Chevrolet ist zwar nicht neonlackiert, doch das Grün ist dennoch ziemlich grell. Zudem verteilen sich schwungvolle, dunkelgrüne Fragezeichen über die gesamte Karosserie. Nur das Dach bildet eine Ausnahme. Es ist schwarz und besteht aus schwerem Segeltuchstoff, da der Bel Air wie Jokers Lamborghini ebenfalls ein Cabrio ist. Trotz der Tatsache, dass der Wagen aus den 50ern stammt und somit mindestens vierzig Jahre alt sein muss, wirkt der Oldtimer so unversehrt und strahlend, als wäre er gerade erst vom Band gelaufen. Unweigerlich schleicht sich ein Schmunzeln auf die Lippen des Jungen. Der Wagen spiegelt perfekt das durchgeplant-ordentliche Wesen des Rätselmeisters wider.
 

Ein letztes Mal heult der V8-Motor auf, gefolgt von einem kurzen Hupen. Dann setzt sich der Bel Air in Richtung Straße in Bewegung, während ihm die Männer hinterherwinken. Als der Chevrolet außer Sicht ist, rumpelt unter Jokers Füßen wieder leise das Garagentor. Die beiden Männer bleiben jedoch auf dem Vorplatz und patrouillieren dort entlang, wobei sie sich angeregt zu unterhalten scheinen. Mit einem Seufzen will sich der kleine Clown wieder dem Geschirr widmen, doch daraus scheint nichts zu werden. Sein Blick wandert erneut zu dem verfallenen Apartmentkomplex zurück und klebt dort regelrecht fest. Er weiß nicht, was es ist, doch irgendetwas an diesem Gebäude kommt ihm bekannt vor. Aber was? Er kann sich nicht erinnern, jemals zuvor in den Narrows gewesen zu sein. Also was ist es nur, dass dieses vertraute und doch auf unerklärliche Weise furchterregende Gefühl in ihm auslöst? Ungewollt und auch völlig unbemerkt, driftet der Grünhaarige in Erinnerungen ab, an die er sich bewusst überhaupt nicht mehr erinnern kann, von will ganz zu schweigen...
 


 

2
 

Der Grund, warum Joker das Gebäude so bekannt vorkommt, ist eigentlich sehr einfach: Er hat dort gewohnt! Oder besser gesagt, der kleine Junge, aus dem später der Joker werden soll, hat dort gewohnt. Wurde dort sogar geboren. Der schicksalhafte Tag, der diese Erinnerung aus dem bewussten Gedächtnis des Clowns gelöscht hat, ist zwölf Jahre her, und ereignete sich zu einer Zeit, in der die Narrows noch als Bezirk der armen Arbeiterklasse galten. Nicht lange später hielten jedoch immer mehr Kriminelle dort Einzug, und mit ihnen kam die Zerstörung und die Verwahrlosung, bis hin zu dem Trümmerfeld, das Ed nun versucht wiederaufzubauen.
 

Doch vor zwölf Jahren lebten hier hart arbeitende Familien am Existenzminimum, und die schlichte Behausung, die der Rätselmeister jetzt sein Eigen nennt, war damals die gerade erst fertiggestellte Wohnung des Mannes, der in der Garage darunter eine gut laufende Autowerkstatt geführt hat. Zu seinen Angestellten gehörte ein Mann, der damals fester Bestandteil in Jokers Leben war, an den er sich heute aber in keinster Weise mehr erinnern kann, obwohl er allein dafür verantwortlich ist, dass aus dem kleinen Jack ein wahnsinnig grinsender Clown geworden ist: Sein Vater.
 

Der achtjährige Jack ist ein ganz typischer, amerikanischer Junge mit blonder Wuschelmähne und großen, braunen Kulleraugen. Stets hat er nur Flausen im Kopf und liebt es, andere Leute mit seinem Unfug zum Lachen zu bringen. Das bis dahin Auffälligste an ihm ist einzig und allein die Tatsache, dass er für sein Alter ziemlich kurzgeraten ist, sodass er mehr wie fünf als wie acht aussieht. Zudem wirkt er mit seinen großen Augen und den sehr fein gezeichneten Gesichtszügen eher mädchenhaft. Diese bescheidene Kombination animiert andere Kinder ständig dazu, ihn zu ärgern, doch das macht Jack wenig aus. Es sind nur Worte, Sticheleien, die allerhöchstens seelischen Schmerz zufügen. Also kein Vergleich mit den körperlichen Leiden, die er hinter geschlossenen Türen durchmachen muss...
 

Was ihm allerdings etwas ausmacht, ist die Strenge seines Vaters. Sobald der Junge von der Schule nach Hause kommt, ist alles Lachen und jede Art von Spaß so radikal vorbei, als würde man einer Maschine den Saft abdrehen, bis er am nächsten Morgen erneut aufbricht, um am Unterricht teilzunehmen.
 

Sein Vater – Owen Napier – ist nicht nur überaus streng, sondern ihm rutscht auch sehr schnell die Hand aus, erst recht, wenn er getrunken hat, was ziemlich häufig der Fall ist. Dann trifft sein Zorn jedoch nicht nur sein einziges – und zudem auch noch überaus ungewolltes – Kind, sondern auch seine Frau Mia. Es gleicht einem makabren Wunder, dass der kleine Jack überhaupt auf der Welt ist, hat sein Vater doch praktisch täglich versucht, das winzige Leben aus dem Leib seiner verzweifelten Mutter heraus zu prügeln. Man kann es wohl als weiteres Wunder bezeichnen, dass das Kind vollkommen gesund das Licht der Welt erblickte – zugegebenermaßen um einiges kleiner als seine Altersgenossen, dafür aber auch viel intelligenter. Das Einzige, was man vielleicht auf die Misshandlungen durch seinen Vater im Mutterleib zurückführen könnte, sind seine ungewöhnlichen Zähne. Die ersten waren noch völlig normal, doch jeder vermeintlich Bleibende drängte sich spitz und scharf wie eine Rasierklinge durch das zarte Fleisch, weshalb der kleine Jack gezwungen ist, zwei spezielle Schienen zu tragen, die dieses animalische Gebiss verdecken.
 

Soviel aber erst einmal zur Vorgeschichte, betrachten wir uns jetzt den schicksalhaften Tag, der alles verändert hat...
 

Die meiste Zeit dieses verregneten Mittwochs verläuft ruhig, sodass sich sowohl Mia als auch Jack in vorsichtige Sicherheit wiegen. Dieses zarte Gefühl zerbricht aber schon am frühen Abend, als Owen nach Hause kommt – wieder einmal sturzbetrunken. Darauf bedacht, dass es ganz sicher Ärger geben wird, schickt Mia ihren kleinen Sohn in sein Zimmer. Er soll sich ruhig verhalten und seinem Vater keinen Anlass für Streit geben. Wohlwissend kommt der Junge dieser Bitte nach und setzt sich an seine Hausaufgaben. Deutlich kann er dabei das Poltern vernehmen, mit dem sich sein Vater durch die Wohnung bewegt, bis er sich mit einem weiteren Bier vor dem Fernseher niederlässt. Sorgenvoll betrachtet ihn die Blondine einen Moment, ehe sie sich zum Abwaschen in die Küche zurückzieht.
 

Gedankenverloren taucht sie ihre Hände in das Seifenwasser und reinigt das Besteck vom Mittagessen. Bei jedem Geräusch aus dem nahegelegenen Wohnzimmer zuckt sie jedoch hilflos zusammen und hofft, dass sie die schweren Schritte ihres Mannes nicht hört. Das würde definitiv Ärger bedeuten. Das Faszinierende an Betrunkenen ist allerdings, dass sie über ganz wundersame Eigenschaften zu verfügen scheinen, sobald sie einen gewissen Pegel erreicht haben. Bei Owen ist es die Tatsache, sich dann lautlos wie eine Katze bewegen zu können.
 

So bemerkt Mia ihn erst, als er sich von hinten gegen sie drückt, die Arme um ihren Bauch schlingt und den Kopf auf ihrer Schulter ablegt. Heftig schreckt sie in seiner unerwarteten Umarmung zusammen und spürt im selben Moment, wie sich seine harte Erregung ungestüm gegen ihre Kehrseite presst. „Owen, bitte, ich mache gerade den Abwasch...“, versucht sie ihn halbherzig abzuwehren. Manchmal lässt er sich darauf ein und verschiebt derlei Gedanken auf nachts, wenn sein verhasster Sohn schläft, doch nicht heute.
 

„Is egal. Ich will dich jetz!“, raunt er ihr schwer ins Ohr, wobei er sich nachdrücklich an ihr reibt. Der widerliche Gestank seines Bieratems steigt ihr in die Nase und sie schluckt hart, um zu verhindern, sich übergeben zu müssen. „Können wir das nicht verschieben? Ich fühle mich nicht so gut...“, gibt sie unterwürfig zurück. Erst gestern hatte er sie bis zur Besinnungslosigkeit verprügelt, sodass sie jetzt kaum schmerzfrei gehen oder auch nur stehen kann, da kann sie das nun unmöglich durchstehen. Und sollte sie währenddessen vor Schmerzen schreien müssen, würde ihn das nur zu noch mehr Gewalt animieren. Oh, und wenn Jack das mitbekommt, wird er versuchen wollen, ihr zu helfen, was dann auch nur damit enden würde, dass auch er den Zorn seines Vaters zu spüren bekommt. Der arme Junge ist so klein und doch so tapfer, irgendwann wird Owen ihn noch umbringen...
 

„Halt die Klappe und mach die Beine breit, Schlampe!“ Entgegen seiner Worte klingt seine Stimme völlig ruhig, nur seine Hand umfasst überaus grob ihre linke Brust. Mit der rechten öffnet er nun seine Hose, wühlt sich anschließend unter ihr Kleid und versucht ihr den Slip herunterzuziehen. Er wird es tun, er wird sie vergewaltigen, wie so viele Male zuvor. Sie kann es nur versuchen zu ertragen, so still wie möglich, und hoffen, dass sie davon nicht wieder schwanger wird, so wie damals mit Jack...
 

„Owen, bitte...“, versucht sie es ein letztes Mal, doch er ignoriert ihr Flehen. Stattdessen packt er sie grob am Hinterkopf und rammt ihre Stirn dann mit voller Wucht gegen die untere Kante des Küchenschranks, der über der Spüle hängt. Leise klirren darin die Gläser, während sich ein betäubender Schmerz in ihrem Kopf ausbreitet. Ihr droht schwarz vor Augen zu werden, doch das muss sie um jeden Preis verhindern! Wer weiß schon, was er alles tun könnte, wenn sie erst einmal ohnmächtig wird?
 

Krampfhaft klammert sie sich an die Wirklichkeit, während er so hart in sie eindringt, dass sie einen Aufschrei nicht mehr unterdrücken kann. „Wusste doch, dass dir das gefällt!“, lacht er ihr trunken ins Ohr und stößt fest zu. Mia kommen die Tränen und sie beißt sich so fest auf die Unterlippe, dass sie ihr eigenes Blut schmecken kann. Hilflos lässt sie den Kopf hängen und starrt in das seifige Spülwasser, betet dafür, dass es schnell vorbeigeht, ehe Jack womöglich auf die Idee kommt, nach ihr sehen zu wollen. Keuchend drängt sich Owen immer ungestümer in sie hinein, zerreißt sie innerlich, sodass sie spüren kann, wie ihr klebriges Blut wie warme Bratensoße die Schenkel hinabrinnt. Dann reißt sie plötzlich die Augen auf.
 

Nach unerträglichen Jahren gefangen in der ehelichen Hölle, in denen er sie auf jede nur erdenkliche Weise misshandelt hat, die ein Mann an einer Frau verrichten kann, kommt nun der Augenblick, in dem alles sein Ende nehmen könnte – und doch ist es auch der Tag, an dem alles erst seinen Anfang nehmen wird...
 

Ruckartig lässt sie ihre Hand in das Spülbecken sinken und umklammert den hoffentlich rettenden Gegenstand. Als sich ihr Mann etwas von ihr entfernt, um einen neuen Angriffspunkt zu finden, dreht sie sich blitzschnell herum und hält ihm das große Messer direkt vor die Nase. „Was zum...“, gibt Owen verwirrt von sich. „Komm mir nicht zu nahe, bitte! Ich will dir nicht wehtun! Doch du musst aufhören, bevor noch etwas Schlimmes passiert!“, teilt sie ihm unter Tränen mit. Sein Gesicht verzieht sich zu einer abgrundtief zornigen Fratze und plötzlich wirkt er gar nicht mehr betrunken. „Du dreckige Hure wagst es, mir zu drohen? Das werde ich dir gleich mal wieder austreiben!“
 

Als er nach ihr zu greifen versucht, trifft sie ihn mit der Messerschneide am Unterarm. Ein langer Schnitt platzt dort nun wie die Haut einer überreifen Frucht auf, und Blut tropft auf den Fliesenboden. Völlig perplex starrt er seinen Arm an und dann sie. „Es tut mir so leid, Owen! Bitte hör auf! Lass mich in Ruhe, bitte...“ „Das hast du nicht umsonst gemacht, du verfluchtes Miststück! Dafür wirst du büßen!“, platzt es nun lautstark aus ihm heraus. Als er diesmal nach ihr greift, verfehlt sie ihn mit der Schneide und er zerrt sie an den Haaren zu sich heran. Mit der anderen Hand versucht er ihr das Messer abzunehmen.
 

„Mama...?“, ertönt es dann auf einmal von der Küchentür aus und beide wenden sich in diese Richtung um. Mit verstört aufgerissenen Augen steht der kleine Jack unter der Zarge und versucht zu begreifen, was da gerade vor sich geht. „Es ist alles in Ordnung, Schätzchen! Geh zurück in dein Zimmer und mach deine Hausaufgaben, ja?“, versucht Mia ihr geliebtes Kind aus der Gefahrenzone zu lotzen. „Hör auf deine Schlampen-Mutter und geh mir aus den Augen, du elender Bastard!“, gebärt sich Owen und bekommt dann das Messer zu fassen. Vollkommen erstarrt bleibt der kleine Junge jedoch stehen, kann sich gar nicht rühren. „Jack, lauf!“, gibt seine Mutter panisch von sich.
 

Doch es ist bereits zu spät. Noch ehe der Blonde überhaupt Luft holen kann, rammt Owen seiner Frau das Messer bis zum Heft in den Magen! „Das wird dich lehren, so frech zu mir zu sein, Miststück!“, grinst er und stößt die Klinge immer wieder in ihren zuckenden Körper hinein. „NEIN!“, entkommt es Jack hilflos. Wie von Sinnen tritt er in die Küche hinein, um ihr irgendwie zu Hilfe zu kommen. Derweilen bricht Mia in einer rasch anwachsenden Lache ihres eigenen Blutes auf den Fliesen zusammen. „Lauf – Jack...“, bringt sie stockend hervor, ehe sie die letzte Kraft verlässt.
 

„Mama! – Was hast du getan?“, wendet sich der verstörte Junge nun in Tränen aufgelöst an seinen Vater. Owen gibt ein glucksendes Kichern von sich. „Was denn, was denn? Warum denn so ernst, Jackie-boy? Du lachst doch sonst immer über jeden Scheiß, da musst du das doch zum Todlachen finden!“ Statt Jack lacht aber nur sein Vater aus vollem Hals und zieht in einer erstaunlich eleganten Bewegung das Messer aus dem reglosen Leib seiner Frau. „Du Monster!“, wimmert der kleine Junge aufgelöst. Nun scheint ein Wandel durch das Gesicht seines Vaters zu gleiten. Die irre Ausgelassenheit verschwindet, dafür wirkt er nun zu tiefst betrübt.
 

„Du willst sie wiederhaben, nicht war, Jackie-boy? Ich fürchte nur, dass das nicht gehen wird. – Aber weißt du was? Ich kann dich stattdessen zu ihr schicken, du verfickter, kleiner Bastard!“ Verständnislos mustert der Junge seinen Vater und begreift zuerst nicht, was dieser ihm sagen will. Als Owen sich nun aber mit erhobenem Messer in Bewegung setzt, schlägt das Verstehen plötzlich auf Jack ein. Hastig wirft er sich herum und flüchtet Richtung Wohnzimmer. Doch sein Vater ist schneller und holt ihn ein. Grob packt er das wehrlose Kind am Hemd und wirft es vor dem Couchtisch rücklings zu Boden. Hart schlägt der Kopf des Jungen dabei auf das nackte Holz, sodass er einen Moment nur noch Sterne sehen kann.
 

Das nächste, was er sieht, ist sein Vater, der zwischen seinen gespritzten Beinen kniet, eine Hand fest auf seine zierliche Brust drückt, um ihn zu fixieren, und sich dann mit dem Messer über ihn beugt. „Warum denn so ernst, Jackie-boy? Nun lach doch mal wieder! Immerhin darfst du gleich zu deiner heißgeliebten Mami.“ Mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Trotz betrachtet ihn das Kind. Seufzend schüttelt Owen den Kopf. „So wird das nichts, Jackie-boy. Du musst lächeln!“ Nichts, nur der anklagende Blick eines Kindes. „Nein? Na schön. Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht doch ein Lächeln auf dieses Gesicht gezaubert bekommen!“, gibt er enthusiastisch von sich.
 

Eine Sekunde später schiebt sich das scharfgeschliffene Messer zwischen die fest zusammengepressten Lippen des kleinen Jungen, zerreißt sie, wie zuvor den wehrlosen Körper seiner Mutter, und beginnt dann sägend nach links zu schneiden. Unsagbare Schmerzen durchzucken den zierlichen Körper, während Haut, Muskeln und Sehnen so mühelos entzweigeschnitten werden, als wären sie nichts weiter als ein Grashalm im Wind. Die silberne Spitze sticht dabei unentwegt in die Zunge des Jungen, ein paar Mal sogar in dessen Gaumen, was ihn haltlos würgen lässt. Mit zitternden Händen versucht er sich irgendwie dagegen zu wehren. Doch es bringt nichts, Owen ist viel zu stark. Es franst die klaffende Wunde in seinem Gesicht nur noch mehr aus. Seine Augen schwappen über vor Tränen, während sich gleichzeitig sein Mund mit warmem, Übelkeit erregendem Blut füllt. Er droht regelrecht daran zu ersticken, gleichermaßen an seiner rasch anschwellenden Zunge, wobei er die ganze Zeit das irre Lachen seines Vaters hören muss.
 

Als sich das Messer endlich zurückzieht, wirft Jack ruckartig hustend den Kopf zur Seite und spuckt kraftlos einen riesigen Schwall Blut auf den Boden. „Na das sieht doch gleich besser aus! Aber perfekt ist es leider noch nicht. So sieht kein richtiges Lächeln aus, Junge!“, kommt es fast schon tadelnd von dem Mann über ihm. Langsam hebt Jack den von Tränen verschleierten Blick zum verhassten, gefürchteten und dennoch auf primitive Weise so missverständlich geliebten Gesicht seines Vaters. Dieser grinst weiterhin mit ungeahnter Zärtlichkeit und setzt das Messer ein weiteres Mal an, diesmal auf der rechten Seite.
 

Der Schmerz ist diesmal nicht so stark, ist doch sein ganzes Gesicht noch vom ersten Mal fast völlig taub. Abermals überkommt ihn jedoch wieder das Gefühl an seinem eigenen Blut und seiner dick geschwollenen Zunge ersticken zu müssen. Warum kann er nicht einfach ohnmächtig werden oder sterben, damit es ein Ende hat? Damit er vielleicht wirklich zu seiner Mutter zurückkehren kann. Warum? „Mama...“, wimmert er unverständlich, als das Messer wieder verschwindet und er erneut den Kopf zur Seite legen kann. „Sieh sich das einer an! Das ist ein fröhliches Lächeln!“, flötet sein Vater derweilen, dann stutzt er wieder und betrachtet das Kind genauer. „Weißt du eigentlich, wie ähnlich du deiner Mutter siehst? Die blonden Haare, die braunen Kulleraugen, das verfickt niedliche Gesicht. – Ja, wirklich verfickt niedlich...“
 

Sein Blick scheint sich zu umwölken. Nahezu begierig leckt er sich mit der Zunge über die Lippen und greift dann nach dem Hosenbund seines Sohnes. Aber es scheint doch einen Gott oder irgendetwas dergleichen zu geben, denn endlich, endlich wird Jack schwarz vor Augen und er stürzt in die tröstliche Dunkelheit hinab...
 

Als er wieder zu sich kommt, liegt er in einem Krankenhaus und der Arzt teilt ihm mit, dass sein Vater von der Polizei erschossen wurde, kurz bevor dieser ihn tatsächlich vergewaltigen konnte. Seine im Sterben liegende Mutter hatte es irgendwie geschafft, sich unbemerkt bis in den Hausflur zu schleppen, wo ein Nachbar sie fand und die Rettungskräfte verständigte. Noch während das Leben ihren Körper endgültig verließ, wimmerte sie immer wieder, jemand möge ihren Sohn, ihren süßen kleinen Jack, retten...
 


 

3
 

Während Joker den schlimmsten Tag seines Lebens an seinem inneren Auge vorbeiziehen sieht, ohne zu begreifen, dass er der kleine Jack ist, parkt Edward seinen Bel Air vor einem Kaufmannsladen im Herzen der Narrows. Das Geschäft ist das einzige, das all die Zerstörung und die Kriminalität der letzten zwölf Jahre überstanden hat und zur Zeit auch die einzige Möglichkeit der hier lebenden Leute, sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Die Kosten für die ganzen Waren übernimmt der Brünette gänzlich allein, sodass es für die Bewohner mehr einer Art Tafel oder Essensausgabe gleichkommt, als an einen richtigen Laden zu erinnern. Aber irgendwann wird sich das sicher ändern, wenn alles wieder in normalen Bahnen läuft und jeder einen festen Job hat, der es ihm ermöglicht, seine Familie zu ernähren. Doch das ist Zukunftsmusik...
 

Mit einer Liste in der Hand steigt Nigma aus seinem Wagen und betritt den kleinen Laden, wobei ein silbernes Glöckchen über der Tür sein Kommen ankündigt. Daraufhin tritt ein ältlicher Mann aus dem angrenzenden Lager heraus und stellt sich an den Tresen, um ihn in Empfang zu nehmen. „Ah, welche Ehre, unseren König an diesem herrlichen Abend in meinem bescheidenen Laden begrüßen zu dürfen!“ Augenblicklich steigt Ed die Röte in die Wangen. „Joseph, bitte! Wie oft habe ich Ihnen jetzt schon gesagt, dass Sie mich nicht so nennen sollen? Das ist mir unangenehm.“, seufzt der Brünette und nähert sich dem Tresen.
 

„Aber Mister Nigma, Sie sind doch unser König! Und bei dem, was Sie alles für uns tun, würde ich Sie noch viel höher heben, wenn mir ein noch besseres Wort einfallen würde!“ „Ich bin aber kein König! Ihr habt mich dazu ernannt, ohne mich zu fragen, und ich fühle mich damit nun einmal alles andere als wohl...“ „Ja, aber Sie tun so viel für uns!“ „Das mag sein, deswegen bin ich aber noch lange kein König. Ich habe weder Krone noch Schloss und schon gar keine Untertanen. Und ich bin auch nicht gewillt, mir auch nur eines davon zuzulegen. Also bitte einfach nur Nigma oder noch besser: Edward.“ „Ich könnte Sie niemals mit dem Vornamen ansprechen, Sir! Das wäre einfach nicht richtig.“, traurig betrachtet ihn der andere Mann und Ed gibt schließlich auf. Es ist doch immer das Gleiche. Zumindest nennt ihn hier niemand Riddler, das wäre wirklich schrecklich!
 

„Schön, wie Sie meinen.“, seufzt der Rätselmeister ein weiteres Mal. Ein Lächeln breitet sich auf dem Gesicht des Grauhaarigen aus. „Was kann ich heute für Sie tun, Mister Nigma? Sie sind reichlich früh für ihren Einkauf dran. Stimmt etwas nicht?“ „Doch, alles in Ordnung. Es ist nur so, dass ich heute unerwarteten Besuch bekommen habe und der hat mir die Vorräte weggefuttert. Daher muss ich ein bisschen aufstocken.“, erklärt Edward und reicht ihm die Liste. „Ah, ich verstehe. Sie haben Glück, ich habe alles da und werde es gleich holen.“ „Danke. Ich warte.“
 

Während Joseph nach hinten ins Lager geht, um die Bestellung zusammenzustellen, sieht sich der Brünette in dem kleinen Laden um. Viel gibt es jedoch nicht zu sehen, da alle Waren hinten unter Verschluss gelagert werden. An den Wänden hängen allerdings alte Werbeschilder aus den 50er Jahren, die ihn immer wieder faszinieren. Zudem gibt es eine alte schwarz-weiß Fotographie, die einen sehr jungen Joseph vor dem Laden zeigt, der gerade eröffnet hatte, wie ihm vom damaligen Bürgermeister Gothams die Hand geschüttelt wird. Das Bild ist fast so alt wie die Werbeschilder. Oh, wie viele Bürgermeister diese Stadt in all dieser Zeit schon erlebt – und überlebt – hat. Doch Joseph und sein Laden sind immer noch hier und werden es hoffentlich auch noch eine ganze Weile bleiben.
 

Langsam tritt der Grauhaarige wieder aus dem Lager heraus, nun mit einer gefüllten Pappkiste beladen. „So, da haben wir schon alles. Wenn Sie noch einmal drüber schauen wollen?“ Gewissenhaft blickt Ed in den Karton hinein und setzt gedanklich ein paar Häkchen. „Sehr schön. – Eine Sache wäre da noch. Sie haben nicht zufällig etwas Süßes?“ „Süßes? Das gehört nicht zu meinem allgemeinen Inventar, wie Sie doch eigentlich wissen...“, setzt der Grauhaarige an, wobei Nigma traurig die Schultern hängen lässt. „Stimmt ja, dennoch schade. Ich – wollte jemandem eine Freude machen, der es gerade nicht leicht hat...“
 

Verständnisvoll betrachtet ihn der ältere Mann, dann hellt sich sein Gesicht plötzlich auf. „Oh, warten Sie! Ich glaube, ich habe hinten noch ein paar Tafeln von der Schokolade, die Sie zum Vierten Juli bestellt hatten.“ Überrascht weiten sich Edwards Augen, dann fällt es ihm wieder ein. Am Unabhängigkeitstag vor zwei Wochen hatte der Rätselmeister ein großes Feuerwerk für alle Bewohner der Narrows auf die Beine gestellt. Dazu gab es auch ein prächtiges Grillfest, Musik und Tanz, und Ed hatte jedem Kind eine Tafel feinste Schokolade von Hershey’s geschenkt. Er hatte sich jedoch nicht die Mühe gemacht und genau die Anzahl Tafeln bestellt, die auch der Anzahl der Kinder entsprochen hat, sondern aufgerundet, damit kein angebrochener Karton geliefert wird. Somit sind noch eine Hand voll übrig.
 

Bei dieser Vorstellung geht dem Brünetten regelrecht das Herz auf. „Das wäre wirklich wundervoll, wenn davon noch etwas übrig ist.“ „Ich sehe sofort nach!“ Und schon verschwindet Joseph wieder im Lager. „So, hier ist der Karton. Sieht aus, als wären noch fünf Tafeln da.“ „Ausgezeichnet!“ Geschwind klaubt Ed sie aus der Schachtel und wirft sie zu seinen Einkäufen in die Pappkiste. Sichtlich zufrieden zieht er etwas Geld aus der Tasche und legt es auf den Tresen. „Vielen Dank! Sie haben mir damit wirklich sehr geholfen!“ „Oh, nicht der Rede wert, Mister Nigma. Wenn sich Ihr Besuch nur halb so sehr über die Schokolade freut, wie Sie jetzt, dann bin ich auch zufrieden!“, lächelt Joseph ehrlich. Edward erwidert das Ganze auf seine unbeholfen-schüchterne Art, was sein Gesicht dennoch unglaublich strahlen lässt, und kehrt dann mit den Sachen zu seinem Auto zurück.
 


 

4
 

Während Edward von großer Freude und auch etwas Erleichterung ergriffen den Weg nach Hause antritt, endet der Tagtraum des Clowns schließlich mit seiner waghalsigen und ziemlich ungesunden Flucht aus dem Krankenhaus, kaum eine Woche nach der Gräueltat seines Vaters. Die Angst davor, wieder verletzt zu werden – egal von wem und auf welche Weise – war so groß, dass er es vorzog, allein in diese grausame Welt hinauszuziehen und zu versuchen, dass alles irgendwie zu vergessen. Vollkommen ungeachtet, dass er in seinem schwerverletzten Zustand in der nächsten Gasse zusammenbrechen und elendig krepieren könnte.
 

Jokers Erinnerungen an die Zeit, als er noch Jack Napier war, sind beängstigend – oder gnädiger Weise – lückenhaft und treten nur in Situationen großer Nachdenklichkeit oder anhaltendem Stress zu Tage. Doch wenn sie es tun, reißen sie ihn jedes Mal in ein tiefes Loch des Schmerzes und der Einsamkeit hinab, und versuchen auch das letzte, gut verborgene bisschen seiner geistigen Gesundheit zu vernichten, und aus ihm den mordenden Irren zu machen, den die Menschen stets in ihm sehen, auch wenn der kleine Clown eigentlich nur allen Leuten ein Lächeln ins Gesicht zaubern will – ein völlig ehrliches Lächeln.
 

Gerade ist ihm aber selbst nach allem anderen als nach lächeln zumute. Als die schrecklichen Bilder vor seinen Augen verblassen, nehmen ihm sofort Unmengen Tränen die Sicht – sie flossen schon währenddessen, doch jetzt ist der Damm vollständig niedergerissen worden – und er zittert am ganzen Körper. Unbewusst hebt er die Hände und streicht damit über die dicken Narben auf seinen Wangen. Wäre er damals im Krankenhaus geblieben, hätte vielleicht die Möglichkeit bestanden, sie zu einem gewissen Grad zu retuschieren, was sicher zahlreiche und schmerzhafte Operationen bedeutet hätte, die ihm aber sicher ein normaleres Leben ermöglicht hätten. Doch die Angst – eine regelrechte Paranoia – war einfach zu überwältigend. Abgehakt holt er Luft und kann nicht mehr klar denken. Das Gnädige an der Situation ist allerdings, dass er gar nicht begreift, wer dieser bemitleidenswerte kleine Junge ist, den er gerade in seinem Kopf zu sehen geglaubt hat. Er versteht nicht, dass er selbst Jack ist – oder es einmal war –, dennoch macht ihn der Anblick von all diesem Leid so sehr fertig, als hätte er es statt des Jungen gerade am eigenen Leib erfahren müssen.
 

Langsam und kraftlos sinkt er auf die Knie und stützt sich auf dem Fensterbrett ab, das ähnlich wie ihm Schlafzimmer ziemlich tief liegt, auch wenn es hier keinen weiteren Balkon gibt. Durch seinen stetigen Tränenschleier blickt er unbewusst wieder nach draußen, sucht nach etwas, das ihm irgendwie Halt geben kann, hält den Blick aber dennoch zu einem gewissen Grad bewusst von dem Apartmentkomplex gesenkt. Seine unnatürlichen Seelen fixieren nun die Schlagloch geschädigte Straße davor.
 

Ein Mann weckt ungewollt seine Aufmerksamkeit. Er geht bedächtig die Straße entlang und schiebt dabei einen sichtlich verbeulten Einkaufswagen vor sich her. In Jokers Augen sieht der Mann eindeutig nach einem Obdachlosen aus. Der kleine Clown weiß ja auch nicht, dass es hier so etwas gar nicht gibt, denn das Erste, was Ed in den Narrows gemacht hat, war jedem Bewohner ein Dach über dem Kopf und einen sicheren Rückzugsort zu besorgen. Für Joker ist es aber unzweifelhaft ein Penner und genau das löst eine weitere Erinnerung in ihm aus, die er nicht begreifen kann...
 


 

5
 

Das Ganze ereignete sich zwei Jahre nach seiner Flucht aus dem Krankenhaus. Mittlerweile hat der kleine Jack die Narrows weit hinter sich gelassen und lebt nun auf den weit verzweigten Straßen von Gothams Innenstadt. Schlägt sich irgendwie so durch und versucht zu vermeiden, eingefangen und in ein Kinderheim gesteckt zu werden – von dort aus zu einer neuen Familie zu müssen, die ihn dann womöglich wieder nur wie Dreck behandelt. Allein die Vorstellung ängstigt ihn zu tiefst. Er braucht seine Freiheit und ganz sicher niemanden, der ihm sagt, was er zu tun und zu lassen hat. Das bringt nur Schmerz und Ärger mit sich und das will er nicht. Was er will, ist Spaß und Lachen. Alle Leute sollen glücklich sein und sich freuen ihn zu sehen, und ihn nicht mit offenem Mund und angewidert verzogenem Gesicht anstarren, als wäre er eine mit Pest vollgepumpte Kanalratte, die gerade ein Sonnenbad auf einem frischen Scheißhaufen nimmt. Ganz so, als könnten sie sich mit dem anstecken, was ihn so zugerichtet hat. Ihm fällt jedoch nicht ein, wie er das ändern kann, schließlich ist er nun ein zu kurzgeratener Zehnjähriger, der sich ohne Geld, Liebe und Zuhause irgendwie durchzuschlagen versucht. Und als wäre das nicht schon schwer genug, ist auch noch die ganze Welt gegen ihn...
 

Einen Menschen gibt es allerdings doch in seinem Leben, und dem ist es völlig egal, wie er aussieht und was andere denken, weil auch er sich vom Leben und der Stadt im Stich gelassen fühlt. Bei dieser Person handelt es sich um Frank, einen obdachlosen ehemaligen Seemann, der sich unter einer Brücke sein eigenes kleines Reich zusammengeklaubt und Jack in seiner Mitte aufgenommen hat, als ihm dieser völlig verzweifelt und fast verhungert praktisch in die Arme gelaufen ist.
 

Bei dem alten Mann fühlt sich das Kind auf eine Weise geborgen, wie es das zuvor nur bei seiner Mutter verspürt hat, und das gibt ihm die Zuversicht, dass es doch etwas Gutes auf der Welt gibt und er nicht völlig allein ist. Das solche Dinge wie Vertrauen und Fürsorge tatsächlich existieren. Doch die kindliche Naivität, die diese Empfindungen in ihm wachruft, wird ihm das Genick brechen, sodass er am Ende dieses Tages erneut vor den Scherben seiner Existenz stehen wird. Doch fangen wir schlicht von vorn an.
 

Jedem vernichtenden Unwetter geht immer eine trügerische Stille voraus, die einen in Sicherheit wiegen soll, damit einem das Folgende auch ja den Gnadenstoß versetzen kann. Und so ist es auch jetzt. Es ist ein herrlich lauer Frühlingsabend. Die Sonne steht als großer, rotorange glühender Ball über dem Horizont und der Verkehr auf der Brücke über ihnen ist ein monotones, einschläferndes Brummen. Zwischen ihnen knistert ein kleines Lagerfeuer und die spärlichen Reste ihrer letzten, bescheidenen Mahlzeit verteilen sich darum. Es könnte wohl kaum schöner sein – zumindest unter den gegebenen Umständen, versteht sich.
 

Jack ist gern mit Frank zusammen. Er ist wie ein Onkel oder Opa, der sich rührend um ihn kümmert, obwohl er selbst nie Kinder gehabt hat. Dafür kann er umso besser Geschichten erzählen. Seine schier endlosen Abenteuer auf hoher See faszinieren den kleinen Jungen immer wieder, auch wenn sie teilweise erschreckend und brutal sind. Wie auch Jack ist Frank durch die Hölle gegangen und schließlich hier gelandet. Ganz konnte der Blonde noch nicht herausfinden, was ihm alles widerfahren sein muss, da die Erzählungen des Alten oftmals ziemlich durcheinandergeraten, Lücken aufweisen oder sogar freierfunden scheinen. Doch ihm muss etwas ziemlich Traumatisches passiert sein, dass ihn ab und an in Wahnvorstellungen verfallen lässt, bei denen er Dinge und sogar Personen zu sehen glaubt, die gar nicht da sind.
 

In eine seiner Geschichten erzählte er Jack von Piraten, die das Schiff überfallen haben sollen, auf dem er arbeitete. Die Seeräuber haben wohl die Hälfte der Mannschaft vor den Augen ihrer hilflosen Kameraden niedergemetzelt und die andere Hälfte gefangen genommen. Frank war unter diesen Gefangenen und wurde anschließend wochenlang auf dem Schiff der Piraten gefoltert, bis man sie einfach zum Sterben ins Meer geworfen hat. Frank hatte Glück im Unglück und wurde kurz darauf von einem Handelsschiff aufgelesen und nach Gotham gebracht.
 

Die meisten seiner Wahnvorstellungen drehen sich um diese Piraten und manchmal ist es richtig beängstigend, wenn er mit einer Person, die gar nicht da ist, streitet oder sogar einen Kampf mit ihr auszufechten scheint. Jack weiß sich dann immer überhaupt nicht zu helfen, als still in einer Ecke zu sitzen und zu warten, dass es vorbeigeht. Bisher hat das immer gut funktioniert, auch wenn Frank ihn mehr als einmal ziemlich angebrüllt hat, weil er ihn für einen der Piraten gehalten hat.
 

Heute scheint wieder so ein Tag der Wahnvorstellungen zu sein. Gerade betrachten sie noch so friedlich den Sonnenuntergang und Jack fallen vom einschläfernden Brummen der Autos schon langsam die Augen zu, da springt Frank auf einmal auf, als wäre er von einer Tarantel in den Hintern gebissen worden. „Ihr verfluchten Schweine könnt mich nicht einsperren! Wenn ich hier rauskomme, bringe ich euch um, für das, was ihr getan habt! Hört ihr, ich bring euch alle um!“ Erschrocken zuckt der Blonde zusammen. Dummerweise kommt er dabei zu dicht ans Feuer und verbrennt sich fast die Hand. Überrascht schreit er auf und kommt reflexartig auf die Füße, um Abstand zu gewinnen. Aber das war ein schwerer Fehler!
 

Augenblicklich wendet sich Frank zu ihm um. Seine Augen sind völlig stumpfe Edelsteine, die das Kind so heftig fixieren, als würde er versuchen, es damit aufzuspießen. „Du elendes Schwein hast all meine Freunde umgebracht! Sie in ihrem eigenen Blut ersaufen lassen!“ „Nein!“, kommt es hilflos von dem Jungen, der langsam vor ihm zurückweicht. „Du verlogenes Piraten-Schwein!“, gebärt sich Frank, bückt sich dabei und ergreift eines der Messer, das vom Essen noch neben dem Lagerfeuer liegt. Schmutzig-verschmiert glänzt die schon ziemlich stumpfe, aber dafür noch recht spitze Klinge im Schein der Flammen.
 

Erschrocken holt Jack Luft. Auf unglaublich heftige Weise fühlt er sich an den Tag vor zwei Jahren erinnert, an dem sein Vater seine Mutter mit einem Messer tötete und anschließend auf ihn losging. Todesangst steigt in dem kleinen Körper auf. Sollte es möglich sein, dass er seinem herrischen Vater damals nur entkommen ist, um jetzt durch die Hand eines anderen Messer schwingenden Irren zu sterben? Das darf nicht sein! Das ganze Leid und die Schmerzen, die er durchmachen musste, dürfen nicht umsonst gewesen sein. Er muss kämpfen! Doch wie? Er ist nur ein zu klein geratener Zehnjähriger, dürr wie ein Blatt Papier und gerade einmal kräftig genug, um sich selbst auf den Beinen zu halten. Wie soll er sich also gegen einen ältlichen Seemann zur Wehr setzen, der fast doppelt so groß, gefühlt eine Tonne schwerer und für sein Alter immer noch erschreckend durchtrainiert ist?
 

Er könnte versuchen, wegzulaufen, doch das hat schon bei seinem Vater nicht funktioniert, auch wenn er hier viel mehr Platz zur Verfügung hat. Frank würde ihn sicher dennoch verfolgen, er ist im Moment so dermaßen unberechenbar. Vielleicht helfen ja auch Worte? Einen Versuch wäre es zumindest wert, bis ihm etwas Besseres einfällt, oder er unbemerkt seinen Abstand so sehr vergrößert hat, dass eine Flucht sinnvoll erscheint. „Frank, nun hör doch mal. Leg das Messer weg! Ich bin es doch, Jack. Erkennst du mich denn gar nicht mehr?“ „Und ob ich dich erkenne, Captain Jack Hammer, du elender Hurensohn!“ Scheiße! Da beißt einem der Zufall doch gewaltig in den Hintern. Wer hätte denn auch ahnen können, dass dieser verdammte Piraten-Captain ebenfalls Jack hieß? Oh, er muss sich dringend etwas anderes einfallen lassen...
 

Hilflos weicht er weiter vor dem Obdachlosen zurück, der ihm mit dem Messer immer näherkommt. „Frank, nun hör doch! Niemand wird dir etwas tun, also leg bitte das Messer weg...“ „Wenn mir wirklich keiner etwas tun will, warum hocke ich dann hier in diesem Scheiß-Verließ und muss meine eigene Pisse trinken?“ Darauf weiß der Blonde leider auch keine Antwort. Allerdings scheint Frank nicht klar zu sein, dass er gar nicht eingesperrt ist. Vielleicht hilft es ja, wenn Jack einfach mitspielt?
 

„Frank, du bist nicht eingesperrt! Ich hab dich rausgelassen. Siehst du das denn nicht?“, setzt er hoffnungsvoll an. Blinzelnd schaut sich der ältliche Seemann um, dann verfinstert sich seine Miene jedoch wieder und er tritt mit dem Messer näher auf das wehrlose Kind zu. „Du elende Ratte hast mich nur rausgelassen, um mich über die Planke jagen zu können! Gib es doch endlich zu!“ „Nein!“, verloren rinnen dem Jungen nun Tränen über die Wangen, doch es hilft alles nichts.
 

Als er einen weiteren Schritt rückwärts macht, stolpert er schließlich über die zerschlissene Matratze, auf der er schläft, und landet rücklings in den zerwühlten Laken. Darauf hat Frank nur gewartet. Blitzschnell tritt er vor, presst den Jungen fester auf den Grund und reißt das Messer hoch. Das Déjà-vu könnte wohl kaum größer sein. „Du jämmerlicher Feigling! Du bist gar kein richtiger Pirat! Dir fehlt das Holzbein und die Augenklappe, um wirklich ernstzunehmend zu wirken, doch das können wir ganz schnell ändern!“
 

Nun fixiert er den Kopf des Blonden und richtet die Spitze des Messers auf dessen rechtes Auge aus. Verzweifelt tasten Jacks Finger den Raum neben der Matratze ab, in der Hoffnung, dort etwas zu finden, dass ihn davor bewahren kann, sein Auge einzubüßen. Alles scheint wie in Zeitlupe abzulaufen. Doch dann ergreifen seine Finger endlich etwas. Es ist so scharfkantig, dass er sich daran sofort die zitternde Hand aufschneidet, doch er umklammert es mit aller Kraft. Verzweifelt schließt er die Augen, weil er nicht sehen will, was jetzt passieren könnte. Dann reißt er die Hand hoch und rammt die große Glasscherbe in das Erste, was er so blindlings erwischen kann.
 

Praktisch im selben Moment jagt ein brennender Schmerz über sein rechtes Auge hinweg, als ihn das Messer streift. Dann folgt ein ersticktes Röcheln und etwas Warmes tropft auf seine schmale Brust. Vorsichtig öffnet Jack das unverletzte linke Augen und kann doch kaum glauben, was er sieht. Seine Hand umklammert noch immer krampfhaft die riesige Scherbe, doch diese steckt jetzt tief in der Seite von Franks Hals! Klappernd lässt der ältliche Seemann daraufhin das Messer fallen und greift sich stattdessen an den durchstoßenen Hals. Bei jedem röchelnden Luftholen zuckt die Scherbe darin grotesk auf und ab. Ein heißer Schwall Blut klatscht erneut auf Jacks Brust, dann kippt Frank einfach zur Seite und rührt sich nicht mehr.
 

Zitternd richtet sich der Blonde auf, drückt sich eine Hand fest auf sein verletztes Auge, während er die andere nach dem Mann am Boden ausstreckt. Ehe er ihn allerdings berühren kann, ertönen ganz in der Nähe Polizeisirenen. Erschrocken fährt der Jungen zusammen. Er muss hier weg, andernfalls werden sie ihn erwischen und womöglich ins Gefängnis stecken! Sein Denken setzt vollkommen aus. Nur eine Sekunde später erhebt er sich und rennt...
 


 

6
 

Während Joker darum kämpft, aus diesem Albtraum erwachen zu können, erreicht der Bel Air die Garage, wo Edward schon sehnsüchtig von seinen Männern erwartet wird. Sie überfallen ihn mit so vielen Dingen gleichzeitig, dass er sich erst einmal die Zeit nehmen muss, um dort durchzublicken. Das hilft dem Grünhaarigen jedoch kein bisschen. Dennoch gelingt es ihm, sich aus diesem erneuten Schrecken zu befreien. Aber er begreift einfach nicht, warum er das ertragen muss. Warum muss er mitansehen, wie dieser arme Junge leidet? Bitterlich weinend lässt er sich zu Boden fallen und rollt sich wie ein Embryo zusammen. Unbewusst gleiten seine Finger dabei zu seinem rechten Auge. Die feine Narbe, die dort von der Stirn gerade herunter bis zur Wange reicht, ist unter der dicken Schicht aus Schminke kaum zu spüren. Das sie da ist, sieht man seinem bemalten Gesicht einzig und allein daran an, dass seine Augenbraue an dieser Stelle unterbrochen ist.
 

Er hatte damals wahnsinniges Glück. Hätte Frank auch nur ein winziges bisschen mehr Druck in das Messer gelegt oder hätte Jack auch nur eine Sekunde gezögert, mit der Scherbe zuzustoßen, wäre er jetzt auf diesem Auge blind. Diese Tatsache kümmert Joker nun jedoch kein Stück, versteht er doch nicht, was das alles mit ihm zu tun hat. Warum ausgerechnet er diesen bemitleidenswerten Jungen dabei beobachten soll, wie er immer weiter zu Grunde gerichtet wird. Hilflos fängt er an, sich die grünen Haare zu raufen. Das scheint leider Gottes aber auch der Startschuss für eine weitere Erinnerung zu sein...
 


 

7
 

Inzwischen ist Jack dreizehn und sein Leben auf der Flucht hat ein jähes Ende gefunden. Eines Tages haben sie ihn schließlich doch erwischt und jetzt fristet er sein Dasein in einem Heim für geistig benachteiligte und gewalttätige Jungen und wartet darauf, entweder adoptiert zu werden und weitere Misshandlungen durch eine neue Familie zu erfahren, oder durch die Brutalität der Pfleger vorher ins Gras beißen zu dürfen. Etwas Glück hat er zumindest, denn sein Zimmergenosse ist ein sehr nettes Kerlchen.
 

Er heißt Sam, ist geistig auf der Höhe eines Dreijährigen, was ihn nur umso liebenswerter macht, und hat einen schweren Sprachfehler, der sich dadurch ausdrückt, dass er den Buchstaben A nicht aussprechen kann. Stattdessen ersetzt er ihn immer durch ein O. Jack heißt bei ihm also Jock, was irgendwie nach Joke – Scherz – klingt und das gefällt dem Blonden ziemlich gut, erst recht, weil er so gern andere zum Lachen bringt. Und Sam lachen zu sehen, ist eines der wundervollsten Dinge, die man sich vorstellen kann. Es lässt den einfältigen Jungen von innen heraus leuchten wie die Sonne an einem wolkenlosen Himmel und macht ihn so auf einmalige Weise wunderschön und liebenswert, dass Jack auf nie dagewesene Art das Herz aufgeht und er sich unglaublich zu ihm hingezogen fühlt. Die beiden erzählen sich oft stundenlang Witze oder spielen sich gegenseitig Streiche. Wäre der Rest des Heims nicht so brutal und fies, könnte das Leben kaum schöner sein. Allerdings ist es ausgerechnet Sam, der Jacks Dasein ein für alle Mal auslöschen und dafür etwas ganz Neues erschaffen wird...
 

Das Ganze ereignet sich an einem furchtbar heißen Sommertag. Einmal im Monat sind die Jungs dazu verpflichtet, jeden Winkel ihrer unfreiwilligen Behausung blitzblank sauber zu putzen, und das ist bei solchen Temperaturen nun wirklich kein Spaß mehr. Jack und Sam sind dazu verdonnert, die Waschräume zu putzen. Dafür müssen sie einen besonders starken Industrie-Chlorreiniger benutzen, was der Blonde für überaus verantwortungslos hält. Die anderen Kinder haben nicht weniger gefährliche Putzmittel zur Verfügung, und das, obwohl die meisten von ihnen kaum in der geistigen Verfassung sind, ihren eigenen Namen fehlerfrei zu schreiben oder rechtzeitig eine Toilette aufzusuchen, wenn sie es müssten, und die restlichen ständig zu unkontrollierten Wutausbrüchen neigen und nichts Besseres zu tun haben, als ihre geistig benachteiligten Mitbewohner zu schikanieren. Daher ein echtes Spiel mit dem Feuer.
 

Die Arbeit an sich stört Jack kein bisschen und er ist froh, dass er selbst geistig auf der Höhe ist, um zu begreifen, wie gefährlich das Reinigungsmittel wirklich ist. Nicht zuletzt, weil sich Sam beim ersten Mal aus Versehen etwas davon auf den Handrücken gespritzt hatte. Die Haut an dieser Stelle fing augenblicklich an zu qualmen, als wäre Sam Teil eines billigen Zeichentrickfilms, und es so wirkte, als würde der Junge von innen heraus anfangen zu brennen. Geistesgegenwärtig hat ihm der Blonde Wasser darüber gegossen und so das Schlimmste verhindert. Geblieben ist allerdings ein hässlicher, roter Fleck, wo das Mittel die Haut verätzt hat. Dadurch hat aber selbst Sam begriffen, dass das Zeug wirklich mies ist und er damit unbedingt vorsichtig sein sollte – oder besser gesagt, er es Jack überlassen sollte, damit zu hantieren.
 

Nun hocken die beiden wieder in dem überhitzten Waschraum. Den Großteil der Arbeit haben sie bereits hinter sich. Nun müssen sie nur noch den Boden mit dem Reiniger aufwischen und anschließend noch einmal mit Wasser nachputzen. Dafür kippt Jack einen Schluck von dem ziemlich fies stinkenden Zeug in einen der Eimer. Sorgfältig verschließt er die Flasch wieder. „Oh man, ist das heiß...“, seufzt er dabei erschöpft und wischt sich über die schweißnasse Stirn. Der scharfe Geruch der Säure brennt ihm im Hals, liegt schwer wie eine Decke in dem sommerheißen Raum, und es hilft kaum, dass das Fenster die ganze Zeit offensteht. Derweilen breitet sich ein Grinsen auf Sams Gesicht aus. „Wosserschlocht!“, flötet er fröhlich und greift sich einen der Eimer.
 

Bevor Jack reagieren kann, ergießt es sich auch schon kalt von hinten über seinen Kopf. Zu seinem Entsetzen wird die Flüssigkeit aber augenblicklich brennendheiß, als sie mit seiner Haut in Berührung kommt, und ihm wird ganz hinten in seinem Geist klar, dass das definitiv kein Wasser war. Sam hat in seiner kindlichen Begeisterung den falschen Einer erwischt und ihm den noch unverdünnten Chlorreiniger über den Kopf geschüttet!
 

Hilflos krümmt sich Jack unter dem sich rasch ausbreitenden Schmerz auf dem Boden zusammen und schreit sein Leid in den gekachelten Raum hinein. In völligem Nichtbegreifen gefangen starrt Sam ihn an. Polternd schlägt der nun leere Eimer auf die Fliesen und rollt ungeachtet zur Seite. Eine gewaltige Rauchwolke hüllt bereits den gesamten Kopf des blonden Jungen ein, nur seine gepeinigten Schreie dringen daraus hervor. Es wirkt noch weit unwirklicher als damals bei Sam. Ein grausiger Zeichentrickfilm, der brutale Realität geworden ist, obwohl alles doch nur ein harmloser Spaß sein sollte.
 

Zitternd tasten Jacks Hände nach dem anderen Eimer, in dem sich das klare Wasser zum Nachwischen befindet, doch er kann ihn nicht finden. Angestrengt öffnet er die Augen, um ihn ausfindig zu machen. Doch das war ein schwerer Fehler, denn nun läuft ihm das Zeug direkt hinein und neuer Schmerz verwandelt sein ganzes Gesicht in ein entsetzliches Flammenmeer. Er krümmt sich immer noch weiter zusammen und trägt sein Leid mit bereits brüchiger Stimme in die Welt hinaus. Die Tränen, die er nun auch vergießt, scheinen die Säure auf unerklärliche Weise nicht einmal ansatzweise aus seinen Augen zu spülen. Stattdessen kommt es Jack so vor, als würden sie die Schmerzen nur noch schlimmer machen.
 

Nun endlich scheint Sam doch noch zu begreifen, was seinem Freund fehlt. Vielleicht erinnert er sich aber auch daran, was ihm selbst vor zwei Monaten passiert war und wie Jack ihm geholfen hat? Doch das ist auch völlig egal. Wichtig ist nur, dass Sam jetzt den vollen Wassereimer ergreift und ihm dem anderen Jungen über den Kopf gießt. Wie von einem Faustschlag getroffen bricht Jack endgültig auf dem überfluteten Fliesenboden zusammen, während die rauchende Mischung aus Wasser und Chlorreiniger sich gluckernd den Abfluss in der Mitte des Raumes hinab verabschiedet.
 

Der Qualm verzieht sich allmählich, dafür wird nun das ganze Ausmaß des Schadens sichtbar. Die Haare des eigentlich blonden Jungen sind nun knallgrün gebleicht! Allerdings wirkt es nicht wie eine fehlgeschlagene Behandlung mit einem billigen Haarbleichmittel, dafür ist es einfach zu gleichmäßig und zu extrem im Farbton. Es wirkt eher so, als hätte man Jacks Kopf in einen Farbeimer getaucht und das Ganze trocknen lassen, obwohl ihm die Suppe noch vom Schädel perlt, als käme er gerade aus der Dusch.
 

Ganz langsam geht Sam neben ihm auf die Knie und versucht ihn unbeholfen wachzurütteln. Dabei bemerkt er, dass auch die Augenbrauen und die Wimpern seines Freundes diese grellgrüne Farbe angenommen haben. „Jock? Jock, sog doch etwos! Jock, bitte...“, fleht der andere Junge und bricht in Tränen aus. Jack gibt ein schweres Stöhnen von sich und dreht sich dann gepeinigt auf den Rücken. „Jock? Geht’s dir gut?“, fragt Sam hoffnungsvoll. Flatternd öffnen sich daraufhin die Augen des nun Grünhaarigen. Zuerst kann er überhaupt nichts sehen und denkt schon, dass er jetzt tatsächlich blind ist. Dass er Franks Angriff nur mit knapper Not entgangen ist, um jetzt völlig zu erblinden. Dann fangen seine Augen langsam wieder an, die Welt um sich herum zu fixieren und das Bild wird allmählich klarer.
 

Jack hat also noch einmal Glück gehabt, wie es scheint. Als er nun langsam den Kopf zu seinem Freund wendet, schreckt dieser allerdings heftig zusammen und fängt erneut an zu weinen. „Was ist los, Sam? Was stimmt nicht?“, bringt er fast flüstern hervor und glaubt schon, dass ihn der aufgelöste Junge gar nicht gehört hat. Doch das stimmt nicht, Sam kann einfach nur nicht antworten. Er stammelt etwas völlig Unverständliches vor sich hin und weicht sogar vor ihm zurück. ‚Es ist mein Gesicht. Es ist völlig verätzt und macht ihm Angst...‘, geht es dem Grünhaarigen durch den Kopf.
 

Schwerlich dreht er sich auf den Bauch und stemmt sich dann auf die Knie. Wacklig kommt er schließlich auf die Beine und stolpert zu einem der Waschbecken hinüber. Darauf gefasst, was ihn erwarten wird, klammert er sich am Porzellan fast und hebt dann den Blick, um in den zerkratzten Spiegel über dem Becken blicken zu können. Zu seiner vollkommenen Überraschung ist sein Gesicht jedoch völlig in Ordnung! Nicht einmal ein kleiner Fleck ist zu sehen, der darauf hindeuten könnte, was ihm gerade widerfahren ist. Es ist schier unbegreiflich...
 

Dafür springt ihm allerdings etwas anderes sofort ins Auge. Seine Haare sind völlig grün! Es sieht aus, als hätte er sich einen Haufen Laub oder Gras auf den Kopf gesetzt, um es als primitive Perücke zu benutzen. Seine Brauen und Wimpern sehen nicht anders aus. Noch mehr schockieren ihn jedoch seine Augen. Noch heute Morgen, beim Waschen an genau demselben Becken, hatten sie die Farbe von Milchschokolade – kräftig braun. Jetzt sind sie blutrot und der weiße Grund ist gelb wie eine Sonnenblume. In dieser Kombination sehen sie aus wie die Augen einer Bestie aus einem billigen Horrorfilm, vielleicht ein Werwolf oder Vampir. Auf die Spitze getrieben – welch ein Wortwitz! – wird das Ganze erst recht durch seine unnatürlich scharfen Zähne. Er sieht aus wie ein fleischfressender Busch!
 

Heftig beginnt Jack zu zittern, während Tränen seine Wangen benetzen. Das ist nicht normal, ganz und gar nicht normal. Sein Gesicht hätte bis zum Knochen verätzt sein müssen! Seine Augen hätten als nutzlose Soße aus ihren Höhlen tropfen müssen! Herr Gott, eigentlich hätte er tot sein müssen, wenn man es sich mal richtig bedenkt! Was stimmt nur nicht mit ihm? Seine Gedanken überschlagen sich und doch scheint kein einziger überhaupt in seinem mitgenommenen Kopf existieren zu wollen...
 

Er kommt auch nicht dazu, eine Antwort für all das zu finden, da wird auf einmal ruckartig die Tür zum Waschraum aufgerissen und einer der Betreuer erscheint stocksauer unter der Zarge. „Was soll dieser Scheiß hier? Ihr sollt, verflucht noch mal, arbeiten und hier keine Partys veranstalten!“ Sein Blick wandert durch den Raum. Der beißende Gestank des Chlors hängt noch immer in der Luft, obwohl das Fenster offensteht und das Zeug längst im Abfluss verschwunden ist. Schnell sieht er auch, was mit Jack passiert ist, kann sich aber nicht herleiten, wie es dazu kam und denkt daher, dass die beiden hier nur wieder einen ihrer Späße abgezogen haben, statt zu putzen.
 

„Euch werde ich helfen, hier faul rumzulungern und Unsinn zu machen!“, gebärt er sich mit geballten Fäusten. Dann tritt er auf Sam zu, der ihm am Nächsten ist, und packt ihn grob am Kragen seines zerschlissenen T-Shirts. „So, jetzt zeige ich dir kleinen Missgeburt mal, wie man den verdammten Boden wischt, damit du es nie wieder vergisst!“, knurrt er aufgebracht und wirft den wehrlosen Jungen dann einfach auf die Fliesen. Kaum, dass Sam zum Liegen kommt, holt der Betreuer auch schon mit dem Fuß aus, um ihm kräftig in die Rippen zu treten. Ehe es allerdings dazu kommt, trifft ihn etwas hart am Hinterkopf. „Fass ihn nicht an, du Dreckschwein!“, gebärt sich der Grünhaarige und holt ein weiteres Mal mit dem Stiel des Schrubbers aus.
 

Überrumpelt versucht der Betreuer dem zu entgehen. Lange schafft er es aber nicht. Wie von Sinnen schlägt Jack immer wieder zu, sieht nur noch rot. Daher dauert es auch nicht lange, bis der Mann zu Boden geht. Halbherzig versucht er sich weiterhin zur Wehr zu setzen, begreift einfach nicht, wie es einem so kleinen, schwächlichen Bengel gelingen kann, ihn in die Knie zu zwingen, und dass auch noch mit einem beschissenen Schrubberstiel! Doch er kann dem nichts entgegensetzen. Es ist fast so, als würde ihn eine höhere Macht davon abhalten. Dieselbe Macht scheint Jack regelrecht zu beflügeln und ihm ungeahnte Kraft zu verleihen. Vielleicht ist es aber auch schlichtweg nur die Panik, einen weiteren geliebten Menschen in seinem Leben verlieren zu können, wenn er nicht immer weiter zuschlägt...
 

Ganz egal, was es auch sein mag, Jack hört nicht auf. Daher dauert es auch nicht lange, ehe Blut die alten, stumpfen Fliesen besprenkelt und sich der Betreuer nicht mehr rührt. Allerdings reicht das dem Grünhaarigen noch längst nicht aus. All der Schmerz, den er sein Leben lang ertragen musste, als das Leid, die vergossenen Tränen, die erdrückende Einsamkeit, entladen sich in ungeahnter Wut, die dafür sorgt, dass er nie wieder der kleine, schwache Bengel sein wird, der er bis vor ein paar Minuten noch gewesen sein mag. Der Wahnsinn ereilt ihn endgültig und macht ihn damit blind für einfach alles um sich herum, verleiht ihm ungeahnte Kräfte.
 

Vom Kopf des Betreuers ist nur noch ein blutiger Klumpen zu erkennen und der nächste Schlag knackt ihn schließlich auf wie eine Kokosnuss. Beim erneuten Auftreffen des Stiels verspritzt rötlich-graue Hirnmasse nach allen Seiten. Nichts scheint diesen Ausbruch stoppen zu können. Dann allerdings dringt ein Geräusch an die Ohren des Grünhaarigen und lässt ihn in seiner Bewegung erstarren. Als er den Blick zur Seite wendet, entdeckt er Sam, der weinend auf dem Boden neben ihm hockt. Der andere Junge umklammert nun krampfhaft sein Bein und versucht ihn sichtlich aufgelöst davon abzuhalten, sich weiterhin an der grausig verstümmelten Leiche des Betreuers zu vergreifen.
 

Zwei Drähte, die sich in Jacks Kopf bis eben noch vorschriftsmäßig berührt haben, verlieren ganz plötzlich die Verbindung zueinander. Ehe er selbst begreift, was er als nächstes tun wird, holt er auch schon erneut mit dem Stiel des Schrubbers aus. Sein Ziel ist diesmal allerdings ein anderes. Heftig wird Sam durch den Treffer nach hinten geschleudert. Dumpf knallt er mit dem Hinterkopf gegen die Unterseite des Waschbeckens. Dieser Treffer allein schickt ihn in eine tröstliche Ohnmacht, sodass er nicht mehr mitbekommt, wie er aus dieser Welt herausgerissen wird. Der Aufprall war nämlich so kraftvoll und unglücklich platziert, dass ihm das Genick mit einem widerlichen Laut bricht und er mit grotesk zur Seite geknicktem Hals zu Boden geht.
 

Abermals hebt Jack seine zweckentfremdete Waffe an, als sich die beiden Drähte doch wieder berühren und für einen kurzen Moment die Wirklichkeit zurückholen. Geschockt reißt er die Augen auf, lässt kraftlos den Schrubber fallen und geht neben seinem Freund auf die Knie. „Sam? Sag doch was!“ Doch es ist bereits zu spät. „Nein! Was – was hab ich nur getan? Bitte lass mich nicht allein!“ Er begreift es nicht, kann es nicht glauben und doch ist es wahr. Er hat den einzigen Menschen auf der Welt getötet, der immer auf seiner Seite war, der stets sein Freund gewesen ist und der selbst keiner Fliege etwas zu Leide hätte tun können, den er sogar geliebt hat, ohne es ihm je sagen zu können!
 

Verzweifelte Tränen rinnen seine Wangen hinab. Lange bleiben sie jedoch nicht. Auf dem Flur ertönen Stimmen. Weitere Betreuer, die scheinbar nach ihrem Kollegen suchen und den Ursprung des Lärms ergründen wollen. Hecktisch wendet Jack den Blick zur Tür. Wenn sie ihn hier so sehen, getränkt in Blut und mit zwei Leichen zu seinen Füßen, werden sie ihn vermutlich auch umbringen oder so lange foltern, dass er sich wünscht, er wäre tot. Das darf nicht sein. Er wollte Sam nicht töten! Es war ein grauenvoller Unfall! Doch das wird ihm niemand glauben. Plötzlich weiten sich seine unnatürlich roten Augen. Er muss hier weg, und zwar schnell!
 

Ruckartig lässt er den Blick durch den Waschraum fliegen und sucht nach einem Ausweg. Durch die Tür kann er nicht, es ist nur noch eine Frage von Minuten, vielleicht sogar nur Sekunden, bis die anderen Betreuer hier sein werden. Was also tun? Seine Augen fixieren das offene Fenster keine drei Meter von sich entfernt. Ein letztes Mal wendet er sich Sam zu. Ganz sanft nimmt er sein Gesicht zwischen die Hände. Dabei muss er zwanghaft die aufkommende Übelkeit unterdrücken, weil sich der Kopf des Jungen viel zu leicht auf dessen Hals bewegt. Heiße Tränen trüben seinen Blick, doch er versucht sie zu verdrängen. Überaus zärtlich drückt er seine Lippen auf die von Sam, stielt von ihm den ersten Kuss, den sie niemals teilen konnten. „Ich liebe dich! Werd glücklich, da wo du jetzt bist. Du wirst zumindest nie mehr Schmerzen haben müssen. – Es tut mir so unendlich leid...“ Einen letzten Kuss raubt er dem toten Jungen noch, dann legt er ihn ganz sanft zurück auf die kalten Fliesen.
 

Wacklig kommt er wieder auf die Füße und tritt näher ans Fenster heran. Als er nach draußen sieht, stellt er fest, dass es kaum vier Meter bis nach unten sind. Er schluckt hart. In diesem Moment öffnet sich die Tür und Stimmen werden laut. Verzweifelt wirft er einen Blick über die Schulter, die Schuld steht ihm praktisch im Gesicht geschrieben, anders kann er die Reaktionen der Männer gar nicht interpretieren.
 

„Packt den kleinen Bastard!“, brüllt einer von ihnen und die zwei anderen setzen sich augenblicklich in Bewegung. Das verleiht Jack den Mut, den er noch gebraucht hat. Ehe ihn die Männer zu fassen bekommen, erklimmt er das Fensterbrett und springt! Fassungslos sehen ihm die Betreuer hinterher, wie er anschließend über den Hof rennt, den Zaun emporklettert und endgültig verschwindet...
 

Erst Jahre später wird er erneut auftauchen. Dann nennt er sich allerdings Joker – eine unbewusste Huldigung an seinen geliebten Sam, der ihm immer Jock nannte –, schwirrt als knallbunter Paradiesvogel durch die Nacht und drückt der Stadt ungewollt sein Zeichen auf. Magisch angezogen durch die imposante Gestalt des Dunklen Ritters Gothams und völlig seinem Wahnsinn erlegen, denn Jack Napier ist letztendlich damals zusammen mit Sam auf den Fliesen des Waschraums gestorben...
 


 

8
 

Mit einem kraftlosen Aufheulen gelingt es Joker, sich auch aus diesem Albtraum zu befreien. Sein Kopf schmerzt, er begreift gar nichts mehr, kann nur noch weinen. Dennoch kann er noch immer keine Verbindung zwischen sich und Jack herstellen. Dieser Gedanke ist ihm nach der Flucht aus dem Heim endgültig verloren gegangen. Als er versucht hat, sich irgendwann wieder an seinen Namen zu erinnern, fiel ihm stets nur ein, was Sam zu ihm gesagt hatte: Jock. Und daraus entwickelte sich schlussendlich Joker.
 

Nun allerdings existiert der Junge, den er einst geliebt hat, überhaupt nicht mehr in seinen bewussten Erinnerungen – nichts dergleichen existiert mehr in seinen bewussten Erinnerungen. Es gibt nur noch den vom Wahnsinn zerfressenen Clown, den niemand lieben kann und der sich doch nichts sehnlicher wünscht, als eine warme Schulter zum Anlehnen...
 

Hilflos ergibt er sich weiterhin seinen Tränen und will nur noch vergessen, was er eh nicht begreifen kann...
 


 

9
 

Endlich gelingt es Edward, sich von seinen Männern loszureißen. Seit er losgefahren war, sind zwei Stunden vergangen und inzwischen ist es draußen dunkel geworden. Joker fragt sich sicher schon, wie lange er noch auf ihn warten soll. Seine Jungs haben Ed immerhin gesagt, dass der Bengel in der Zwischenzeit nicht nach unten gekommen ist, was auch die Anwesenheit des Lamborghini beweist. Irgendwie hatte Nigma aber auch gehofft, dass der Grünhaarige noch da sein würde, wenn er zurückkommt. Schließlich hat er die Schokolade ja extra für ihn gekauft.
 

„Hoffentlich hat er nichts angestellt...“, entkommt es dem Brünetten als sorgenvolles Flüstern, als er die letzten Stufen zu seiner Behausung hinaufsteigt. Zumindest scheint alles ruhig zu sein, und auch seine Männer haben von oben keinen Lärm gehört. Langsam und doch etwas nervös legt Edward seine flache Hand auf die Schaltfläche neben der Wohnungstür. Ein zartes, grünes Licht scannt sie ab und daraufhin ertönt ein kaum hörbares Piepsen, mit dem sich die Tür entriegelt. Mit einem stummen Seufzen tritt er ein.
 

Im kleinen Flur hinter der Tür ist es stockdunkel, und im Rest der Wohnung sieht es nicht anders aus. Verwundert runzelt der Rätselmeister die Stirn. Alles wirkt irgendwie verlassen. Gewohnheitsgemäß tritt er drei Schritte von der Tür weg und greift nach unten. Schnell finden seine Finger dabei die kleine Campinglaterne und schalten sie ein. Ihr grellweißes Licht blendet ihn einen Moment, dann hebt er sie an ihrem geschwungenen Bügel auf und leuchtet ins Schlafzimmer hinein. Hier ist alles unverändert. Jokers Schlafplatz noch immer das zerwühlte Chaos, das er beim Aufstehen hinterlassen hat. Das Bad sieht nicht viel anders aus. Alles durcheinander, wie es der Clown nach seiner Dusche zurückgelassen hat. Seufzend schüttelt er den Kopf und will dann in die Wohnküche gehen.
 

Er hat allerdings noch nicht einmal die Schwelle übertreten, da dringt ein erstickter Laut an seine Ohren, den er im ersten Moment überhaupt nicht einordnen kann. Der Raum ist ebenfalls stockdunkel, weil noch alle Vorhänge zugezogen sind und sich Joker scheinbar nicht die Mühe gemacht hat, sie zu öffnen oder auch nur Licht zu machen. Einen Vorhang hat er aber doch etwas zur Seite gezogen, da es draußen aber schon dunkel ist, bringt das jetzt auch nichts. Direkt vor dem Fenster sieht Ed aber etwas liegen. Er ist sich nicht sicher, was es sein könnte, bis er erneut das erstickte Geräusch hört. Plötzlich wird ihm klar, um was es sich dabei handelt: Da weint jemand – Joker weint!
 

Schlagartig bricht es ihm das Herz und er nähert sich vorsichtig dem Jungen. Betroffen geht er neben ihm auf die Knie und stellt die Laterne zur Seite. Ihr Licht fällt nun direkt auf das Gesicht des kleinen Clowns, das so aufgelöst und in Tränen ertränkt zu sein scheint, dass Edward es kaum in Worte fassen kann. „Joker? Was – was ist denn passiert?“, setzt er an. Der Angesprochene scheint ihn zuerst gar nicht wahrzunehmen, dann blickt er ihn einen Moment stumm an, ehe er erneut in heftige Tränen ausbricht. Stammelnd beginnt er zu erzählen, was er alles gezwungen war zu sehen. Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus und dennoch hat Nigma Schwierigkeiten alles zu verstehen. Er will die Grünhaarigen aber keinesfalls unterbrechen, um noch mal etwas wiederholen zu lassen. Dass würde ihn nur noch mehr fertigmachen.
 

Von daher hört er einfach nur aufmerksam zu und versucht sich einen Reim auf das alles zu machen. Im Gegensatz zu dem kleinen Clown wird Ed allerdings praktisch sofort klar, was er dort zu hören bekommt: Die Entstehungsgeschichte des Jokers! Nach dieser Erkenntnis kämpft er förmlich selbst mit den Tränen, so schrecklich ist das alles, was er da zu hören bekommt. Er zweifelt keine Sekunde daran, dass jedes Wort der Wahrheit entspricht. So etwas kann man sich einfach nicht ausdenken und so überzeugend vortragen, obwohl Joker in seinen Augen ein ziemlich gutes schauspielerisches Talent hat, wenn man ihm freie Hand lässt. Und er kann sehr gut nachvollziehen, warum sich der kleine Clown nicht mehr daran erinnern kann, dass er dieser bedauernswerte Junge war.
 

Manche Erinnerungen sind in Ordnung, aber andere sind gefährlich. Es ist am besten, in der Gegenwart zu leben. Denn wenn man die falsche Erinnerung erwischt, könnte man schlichtweg wahnsinnig werden. Dummerweise kann man sich nicht immer den Luxus gönnen und alle schlechten Erinnerungen zurückdrängen, denn sie haben die unschöne Eigenschaft zurückzubeißen, bis man ihnen schließlich doch Beachtung schenken muss. Und genau das muss dem Grünhaarigen in seiner Abwesenheit passiert sein.
 

Die unnatürlich roten Augen in dem schmalen Gesicht sind riesig und schwimmen in Tränen, die einen ganzen Ozean zu füllen scheinen. Es ist ein Gesicht, das mehr über Schmerz weiß, als das Gesicht eines so jungen Mannes wissen sollte – eines Mannes, der fast noch ein Kind ist und genau wie ein solches weint. Die Trauer scheint dem kleinen Clown jede Kraft zu rauben und dafür hilflos zittern zu lassen. Irgendjemand hat Ed einmal gesagt: Menschen weinen mit den Augen, zu mehr sind sie einfach nicht fähig. Als sich Nigma jedoch den aufgelösten Jungen vor sich betrachtet, kommt es ihm ganz anders vor. Joker weint nicht nur mit den Augen, sondern mit dem ganzen Körper. Mit jedem zitternden Muskel, jedem erstickten Luftholen, mit jeder Narbe, die schon lange nicht mehr blutet, aber dennoch bis ans Ende seiner Tage tief drinnen schmerzen wird. Eine Art Schmerz, die sich Edward nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen vorzustellen vermag, obwohl auch er in seinem bisherigen Leben so einiges ertragen musste.
 

Das Vergessen der Umstände traumatischer Erlebnisse ist nicht unüblich und Patienten, die sich von solchen Traumata erholen, stellen oft fest, dass sich im Film ihrer Erinnerungen ein Loch eingebrannt hat. Diese Lücke kann fünf Minuten, fünf Stunden oder sogar fünf Tage umfassen. Selten auch ganze Jahre. Manchmal tauchen zusammenhanglose Bilder, Fragmente, Stimmen oder auch Gerüche erst Jahre später wieder auf. So etwas nennt man Abwehrmechanismus des Gehirns, um den Körper am Leben zu erhalten, auch wenn der geschundene Geist dadurch wahnsinnig wird. Joker ist ein Bilderbuchbeispiel dafür, wie Ed in diesem Moment schmerzlich klar wird.
 

Die paar Mal, die er Joker bisher in Gotham gesehen hatte, schien er ein fröhlicher und überaus ausgelassener junger Mann zu sein. Doch jetzt wird ihm klar, dass er heute hinter diese bunte Maske sehen kann – teilweise sogar im wahrsten Sinne des Wortes, hat er den kleinen Clown doch ohne seine Schminke erlebt –, und dass macht ihn auf seltsame Weise überaus unglücklich und hilflos. Noch nie hat Edward einen Mann gesehen, der so einsam wirkt, der so weit vom menschlichen Alltag mit all seiner belanglosen Kameradschaft und seiner flüchtigen Wärme entfernt ist. Ed ist ziemlich überfordert vom Anblick des bitterlich weinenden Clowns. Er weiß nicht, was er sagen soll, und das passiert ihm nur sehr selten. Gefühlsausbrüche, erst recht von anderen Leuten, sind ihm immer ziemlich unangenehm. Er will ihnen helfen, ihnen beistehen, weiß allerdings nie so richtig, wie er das anstellen soll. Besonders wenn der Riddler seine Gedanken dominiert und ihn daran hindert. Aber seine schlechtere Hälfte ist noch immer in den dunklen Käfig seiner verborgensten Gedanken verband, wo Joker ihn eingesperrt hatte. Somit hat er sein Denken für sich allein, was aber nicht heißt, dass er daher besserweiß, was er tun soll. Doch wie so oft ist es ein Rätsel, das ihm nun durch den Kopf geht und seinen Gedanken damit einen Moment Zeit zum Neuordnen verschafft.
 

Joker,

Im selben Moment, als ich dich traf,

Ich schwöre es,

Fühlte es sich an, als sei irgendwo Irgendetwas mit mir geschehen,

Das ich nicht verstand
 

„Joker, hör mir zu, okay? Ein Schlüssel ist’s zu jedem Herzen. Oft erscheint es bei einem Scherz. Niemals sollst du es verlieren. Dein Gesicht soll es stets verzieren! Was ist das?“ Einen Moment blickt ihn der Clown nur vollkommen verständnislos an. Dann hellt sich sein Antlitz ganz langsam ein bisschen auf. Das Lächeln, das das tränenfeuchte Gesicht des grünhaarigen Jungen nun zaghaft ziert, ist das Süßeste, Ehrlichste, das Edward jemals bei jemandem gesehen hat. Es bewirkt, dass auch er unweigerlich lächeln muss, und es ist wie ein Schlag ins Gesicht, dass sein verquerer Verstand ihn dennoch dazu nötigt, eine Antwort auf sein Rätsel von dem traurigen Clown zu erzwingen.
 

Und dann, als ich dich wieder traf,

Wusste ich im Herzen, dass wir Freunde waren

Es musste so sein. Es konnte nicht anders sein
 

„Ja, richtig! Doch kannst du es auch aussprechen? Kannst du mir die Lösung sagen? – Ich will dich damit nicht bedrängen, aber ich – muss die Lösung hören, verstehst du? Das ist ein ganz penetranter Tick von mir...“, beschämt senkt Nigma den Kopf. Joker bedenkt ihn abermals mit einem verständnislosen Ausdruck in seinen feuchten Augen, dann wird sein Blick nachsichtiger. „Es – ist ein Lächeln...“, gibt er schließlich zurück. „Danke...“, haucht Ed erleichtert. Langsam setzt sich der kleine Clown aufrecht hin und wischt sich kindlich mit den geballten Fäusten über die feuchten Wangen. Abgehakt holt er Luft und versucht sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Der Brünette lässt ihm die Zeit, auch um sich selbst wieder allem bewusst zu werden. Als das Gröbste vorbei ist, zieht er langsam eine Tafel Schokolade aus seinem Jackett. „Ich – hab dir etwas mitgebracht...“, entkommt es ihm schüchtern.
 

So sehr ich mich auch bemühe,

Weiß ich nicht, warum du diese Wirkung auf mich hast,

Auf eine Art und Weise, wie ich es gar nicht beschreiben kann

Worte bedeuten so wenig
 

Als Ed ihm die Schokolade reicht, erhellt nun ein wahres Lächeln Jokers Gesicht, so plötzlich, überglücklich und mit grenzenlos dankbarer Ehrlichkeit, dass Nigma eine Weile richtig gerührt ist und all das schreckliche Chaos vergisst, das der Clown vor sechs Monaten bei seinem ersten Auftauchen in Gotham und zudem vor gerade einmal vier Wochen in der Iceberg Lounge angerichtet hatte. Alles, was allein heute schon passiert ist. Es ist die Art Lächeln, bei dem man sich leicht in ihn verlieben könnte, sogar wenn man ebenfalls männlich und zudem hetero ist...
 

Wenn du aufschaust und lächelst,

Ist es mir gleich, was die Leute sagen könnten

Für mich bist du viel mehr als nur ein verrückter Clown, oh Joker!
 

Dieses Gefühl verstärkt sich sogar noch, als ihm der Grünhaarige nun auch noch freudig um den Hals fällt. Edward erstarrt augenblicklich – ist ihm ungewollter Körperkontakt, erst recht mit einem anderen Mann, doch für gewöhnlich zuwider –, aber nur für einen kurzen Moment. Dann vernimmt er die Stimme des Jungen dicht an seinem Ohr. „Vielen, vielen Dank, mein Hübscher...“, raunt er leicht brüchig, als würde er gleich wieder in Tränen ausbrechen. Das vertreibt den kleinen Schock aus den Knochen des Älteren und er entspannt sich merklich.
 

Die Aufrichtigkeit, die Edward aus diesen schlichten Worten heraushört, lässt ein Kribbeln über seinen Körper laufen. Das ist nicht unbedingt die Art Kribbeln, die Joker – oder irgendein anderer Mann, was das betrifft – in ihm auslösen sollte, aber irgendwie lässt es sich auch nicht unterdrücken. Peinlich berührt läuft der Rätselmeister rot an, hebt aber ganz langsam die Arme und legt sie um den zierlichen Körper seines Gegenübers, drückt ihn leicht an sich. „Keine Ursache.“, flüstert er zurück und wird im selben Moment einmal mehr von nahezu unbekanntem Mitleid für den Verrückten ergriffen.
 

Eine Weile verharren sie so, dann trennen sie sich langsam wieder. Erstaunlich scheu sucht der Grünhaarige anschließend seinen Blick. „Ed? Darf – ich vielleicht heute wieder hier schlafen?“, fragt er vorsichtig. Überrascht weiten sich die grünen Augen des Älteren. Damit hat er nun wirklich nicht gerechnet. Lange irritiert ihn das Ganze allerdings nicht. „Du kannst bleiben, solange du willst! Ich werde dich keineswegs vor die Tür setzen. Erst recht nicht, weil du den Riddler in die Schranken gewiesen hast und ich dir unendlich dankbar dafür bin! – Was hälst du davon, mit mir nach unten zu kommen und ich stelle dir die Jungs vor? Wir können ein bisschen reden und vielleicht finden wir auch etwas, bei dem du mir helfen kannst. – Wenn du das möchtest, selbstverständlich nur.“ Wieder dieses süße Lächeln, das Eds Herz höherschlagen lässt. „Gern.“ „Sehr gut!“, Begeisterung schlägt sich auf Nigmas Zügen nieder.
 

„Kannst du aufstehen?“ „Geht schon.“ Etwas wackelig erhebt sich der Junge und Ed greift erneut nach der Laterne, um ihnen zu leuchten. Als sie schon fast im Flur angekommen sind, bleibt der Kleinere plötzlich stehen. „Der Abwasch...“, entkommt es ihm sichtlich beschämt. Edward wird klar, dass Joker sich seit seiner Abfahrt mit all dem gequält haben muss. Oh, wie schrecklich allein der Vorstellung davon ist! „Das können wir auch noch später erledigen. Jetzt gehen wir erst einmal runter, um dich von all dem etwas abzulenken!“, legt er daher fest. Kurz darauf verlassen sie gemeinsam die Wohnung.
 


 

10
 

Die Nacht scheint gar kein Ende nehmen zu wollen, doch irgendwann erstrahlt der Horizont in prächtig bunten Farben, und Ed und Joker verabschieden sich von den Jungs und betreten wieder die kleine Behausung des Rätselmeisters. Beide sind völlig erschöpft und wollen nur noch ins Bett, was wohl ziemlich verständlich ist. Edwards Männer haben den Clown nach anfänglicher Scheu recht schnell in ihrer Mitte aufgenommen, und der Brünette hofft darauf, dass sie es auch wirklich ernst damit meinen und nicht nur völlig eingeschüchtert etwas vorgespielt haben, weil sie womöglich um ihr Leben fürchten. Was irgendwo auch verständlich wäre, schließlich hat der aufgemotzte Wagen des durchgeknallten Clowns einen aus ihrer Mitte direkt vor ihren Augen ermordet! Sollten sie Joker aber wirklich nicht über den Weg trauen wollen und dadurch sogar die Arbeit leiden, wird er ihnen vielleicht erzählen müssen, was Joker in seinem früheren Leben so durchgemacht hat und was er bisher alles über ihn in Erfahrung bringen konnte. Dann dürften sie hoffentlich verstehen, dass der Bengel es doch wirklich nicht böse meint, sondern nur irgendwie versucht, mit sich und seiner unbarmherzigen Umwelt klarzukommen...
 

Doch darüber will er jetzt nun wirklich nicht nachdenken, sonst kommt er ja nie zum Schlafen. Schnell streift er sich also seine Sachen ab, putzt seine Zähne und schlüpft dann unter das dünne Laken, der er während des Sommers als Decke benutzt. Nicht lange später huscht Joker nur mit Shorts bekleidet an ihm vorbei und kuschelt sich ebenfalls ein. Es ist lange, lange her, dass er zuletzt den Frieden eines Daches über dem Kopf, die Bequemlichkeit einer Federmatratze unter dem Leib und die erlesene Vertrautheit genießen konnte, die ihm eine Tür zwischen seinem geheimsten Selbst und dem Rest der Welt gewährt hat. In abgeschwächter Form hatte er dergleichen zwar auch in seinem Lamborghini, aber es ist dennoch etwas ganz anderes, in einem richtigen Haus schlafen zu dürfen, und sei es nur eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung über einer alten Garage.
 

Als Ed schließlich das kleine Licht auf seinem Nachttisch ausknipst, hört er den Clown selig seufzen. Es ist Jahre her, dass sich Nigma ein Schlafzimmer mit jemandem geteilt hat. Ein komisches Gefühl, erst recht, wenn er bedenkt, dass sein vorübergehender Wohnpartner ebenfalls ein Kerl ist und zudem auch noch schwul. Ob das gutgehen wird? Egal, lieber auch da nicht weiter drüber nachdenken. Jetzt wird erst einmal geschlafen! Morgen wird eine anstrengende Nacht, erst recht, wenn er sich jetzt um ein Mäulchen mehr kümmern darf, das auch noch sinnvoll beschäftigt werden sollte, damit nichts Unschönes passiert. Doch er ist da ziemlich zuversichtlich, solange Joker gute Laune hat und der Riddler die Klappe hält.
 

Unterdrückt hört er den Grünhaarigen gähnen, was auf ihn sichtlich ansteckend wirkt. „Nacht, Ed...“, murmelt er schlaftrunken und presst sich fast schon schnurrend sein Batman-Plüschtier gegen die schmale Brust. Der Angesprochene schmunzelt leicht. „Naja, es ist zwar Tag, aber anders lässt es sich wohl nicht recht ausdrücken, schätze ich. Also, gute Nacht, Joker.“ Der kleine Clown erwidert nichts mehr und schon ein paar Minuten später sind sie beide tief ins Traumland entschwunden.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Lied: Gilbert O´Sullivan – Clair – erste Strophe – Übersetzung – leicht geändert Komplett anzeigen

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