Vogelfrei von lunalinn ================================================================================ Kapitel 23: Der Ehevollzug -------------------------- Es fiel Aizawa schwer, ruhig zu bleiben, während er in den Spiegel sah. Scheinbar war er nicht vorzeigbar gewesen, weswegen man darauf bestanden hatte, ihn neu einzukleiden und ihn nebenbei noch zu rasieren. Er kam sich vor, als hätte man ihn verkleidet. Wenigstens war das Gewand, in das man ihn gesteckt hatte, ebenfalls schwarz. Nur mit deutlich weniger Flicken und mit silbernen Verzierungen. Die Haare hatte man ihm zum Teil zurückgebunden, sodass man mehr von seinem Gesicht sah – ohne den Bart sah er viel jünger aus. Es störte ihn. Alles an seiner Aufmachung störte ihn. Das war nicht er. Hoffentlich wuchs der Bart schnell wieder und diese dämliche Frisur würde er auch keine Sekunde länger als nötig tragen. Warum nicht wenigstens ein einfacher Zopf? Aber gut, er musste ruhig bleiben und sich besinnen. Er wollte Hawks helfen und dem König entgegenzukommen und sich zu benehmen, auch wenn es nicht seine Art war, war der erste Schritt dazu. Was waren da schon ein paar Äußerlichkeiten? Aizawa folgte den Dienstmädchen schweigend, ließ sich von diesen in einen großen, von Kerzenlicht beleuchteten Raum führen. Die lange Tafel, an der bereits vor Kopf der alte Mann saß, rechts neben ihm Yagi, links Todoroki, war bereits reichlich gedeckt. Es erinnerte ihn an die Male, an denen sich Shirakumo durchgesetzt und ihn mit zu Tisch genommen hatte. Eines der Mädchen wies ihn an, neben Yagi Platz zu nehmen, welcher ihn entgeistert ansah, ebenso wie Todoroki. Er ignorierte es, während ihm Wein in einem Kelch eingeschenkt wurde – den würde er brauchen. „Wie schön, dass Ihr Euch nicht weiter quergestellt habt“, kommentierte Torino sein Erscheinen. „Wie man an dem Ergebnis sieht, könnt Ihr doch recht manierlich aussehen.“ Aizawa lag eine garstige Bemerkung auf der Zunge, jedoch dachte er an Hawks, weswegen er ihn lediglich finster anblickte und sich setzte. Der König lächelte grimmig, funkelte ihn beinahe schon herausfordernd an. „Habt Ihr Eure scharfe Zunge verschluckt, junger Mann?“, stellte er die Frage, nachdem er die Bediensteten aus dem Raum geschickt hatte. Der Greis wollte wohl Krieg mit ihm – den konnte er haben. Es war nicht so, dass Aizawas Geduld unendlich war. „Ebenso wenig wie Ihr die Eure…alter Mann.“ Gut, das Letzte hätte er sich verkneifen sollen. Jedenfalls sagten ihm das die Blicke der beiden Krieger. Man sah Torino nicht an, ob es ihn erzürnte – jedenfalls bis sein Mundwinkel kaum merklich nach oben zuckte. „Ich bin vielleicht alt, jedoch in der Position, Euch hängen lassen zu können. Vergesst das nicht, bevor Ihr Euch mit anderen, weniger nachsichtigen Personen höheren Ranges anlegt.“ „Wenn sich diese Personen mir gegenüber ebenfalls verhalten, als seien sie etwas Besseres, und mich verspotten, kann ich dafür nicht garantieren.“ Yagi blickte ihn fassungslos an, während Todoroki nach seinem Weinglas griff und dieses in einem Zug leer trank. Die Stille, die auf seine Worte gefolgt war, hielt einige Sekunden lang an. Aizawa musste unweigerlich daran denken, was er sich vorgenommen hatte. Verdammt. Er hatte sich provozieren lassen. Torino rieb sich über den Bart, während er ihn aus verengten Augen fixierte und schließlich zu Yagi sah. „Nun, zumindest hast du dir jemanden ausgesucht, der Rückgrat besitzt und sich durchsetzen kann. Jemanden an seiner Seite zu haben, der loyal ist und zu sich selbst steht, kann in deiner Position nur von Vorteil sein. Auch wenn er lernen sollte, in den richtigen Momenten zu schweigen.“ Todoroki gab ein Schnauben von sich, das wohl bedeuten sollte, dass Hopfen und Malz bei ihm verloren waren. Nicht, dass ihn das interessierte. „Ihr könnt auch direkt mit mir sprechen“, meinte er und griff zu seinem Wein. „Das könnte ich. Wie dem auch sei, das gute Essen wird kalt. Bedient euch“, erwiderte Torino und hob seinen Kelch ebenfalls an. „Danach möchte ich erfahren, wie Ihr Euch kennengelernt habt.“ „Uhm…sicher“, kam es langsam von Yagi. „Die Geschichte ist schnell zusammengefasst“, griff Aizawa ihm vor. „Die beiden haben mich aufgesucht, um einen Dämon aufzuspüren und zur Strecke zu bringen. Besagter Dämon hat uns mehrere Male das Leben gerettet, schloss sich uns an und sitzt nun in Eurem Kerker.“ Abermals herrschte für einen Moment Stille und Todoroki sah aus, als würde er ihm liebend gern den Hals umdrehen. Vermutlich war dies auch der Fall. Allerdings sah er keinen Grund mehr dafür, höflich drum herumzureden, wenn Torino offensichtlich nicht für falsche Freundlichkeit empfänglich war. Das machte ihn beinahe sympathisch. „Ihr seid wütend wegen des Dämons“, stellte der alte Mann fest und griff nach einer der Hühnerkeulen. „Und das kann ich durchaus verstehen, nachdem die beiden anderen hier mir schon erzählt haben, dass es sich um euren Kameraden handelt. Dennoch, meine Meinung wird sich diesbezüglich nicht ändern. Ich würde es daher bevorzugen, wenn wir das Thema für heute ruhen lassen.“ Und das war keine Bitte. Aizawa atmete durch, schwieg diesmal aber, da er erkannte, dass es keinen Sinn machen würde. Missmutig ließ er sich von Yagi von dem Fleisch und Gemüse auftun – auch wenn ihm direkt der Gedanke kam, wie gern Hawks Geflügel aß. Vielleicht konnten sie ihm wenigstens etwas bringen. Todoroki hatte dies ja übernehmen wollen. Sein Blick glitt wieder zu Yagi, welcher ihn zwischendurch verstohlen ansah, einen Rotschimmer auf den Wangen. Was zum…gefiel er diesem etwa so rausgeputzt? Anscheinend. Aizawa wusste nicht, ob er darüber verärgert sein sollte. Was sollte es… Wahrscheinlich konnte er froh sein, dass Torino anwesend war, sonst hätte Todoroki ihm wohl schon mehr als einen Spruch um die Ohren gehauen. „Ihr seid also ein Fährtenleser? Oder ein Jäger?“, nahm Torino das Thema wieder auf. Aizawa zuckte mit den Schultern. „Was Euch besser gefällt“, meinte er lapidar. „Ich lebe für mich allein und sorge für mich allein – sieht man von dem Rudel Wildkatzen ab, das bei mir Unterschlupf gefunden hat.“ Ihm fehlten die Katzen, jetzt, als er über sie sprach. Ob sie noch da waren, wenn er zurückkehrte? Würde er überhaupt zurückkehren? Zwischen ihnen war bisher so gut wie nichts geklärt, abgesehen davon, dass sie Gefühle füreinander hegten. Yagi brachte sein einfaches Leben durcheinander. „Das hört sich einsam an.“ „Nun, diese Einsamkeit habe ich selbst gewählt. Von daher…“ Außerdem waren Tiere oftmals die angenehmere Gesellschaft. Er verbiss sich den Spruch, während er von Torino gemustert wurde. „Soso“, kam es dann von diesem. „Wie habt Ihr Euch Euer weiteres Zusammenleben also vorgestellt? Ihr habt hoffentlich nicht vor, in einem Wald mit einem Rudel Katzen zu hausen…“ Yagi verschluckte sich bei der Frage am Wein, klopfte sich auf die Brust, während sich Todoroki still nachschenkte. Da alle Diener hinausgeschickt worden waren, mussten sie das nun selbst tun – nun, besser als wenn sie dem Verlauf der Gespräche weiterhin beiwohnten. „Darüber…haben wir…noch nicht gesprochen“, röchelte Yagi, dem die Frage sichtlich unangenehm war. Aizawa schnaubte; genau genommen hatten sie seit dem Antrag noch gar nicht allein miteinander gesprochen. Vielleicht wäre das hilfreich gewesen, bevor sie sich hier in einem Verhör wiederfanden. „Seid versichert, dass wir dies zu gegebener Zeit klären werden“, sagte er daher knapp, woraufhin Torino schnaubte. „Und ich erhoffte mir, dass du durch eine…Bindung wenigstens sesshafter werden würdest. Auch wenn du keinen Erben zeugen wirst.“ „Ihr wisst, dass es meine Bestimmung ist, den Menschen dort draußen zu helfen“, widersprach Yagi ihm direkt und umging das Thema mit dem Erben dabei geflissentlich. „Ja, das hast du deutlich gemacht. Dennoch. Irgendwann wirst du deinen Nachfolger ausbilden müssen – und da reicht es nicht, einmal im Jahr hier zu sein. Hast du das verstanden?“ Anscheinend war das eine recht heikle Angelegenheit. „Das ist mir bewusst, Sorahiko-san, jedoch…sollten wir erst diese Überfälle klären. Außerdem haben Aizawa-san und ich uns noch keine eingehenderen Gedanken um die…nun ja, Zukunft gemacht. Wir werden Euch über unsere Pläne in Kenntnis setzen, sobald es diese gibt.“ Und damit war das dann auch erst einmal vom Tisch, wofür Aizawa mehr als dankbar war. Als nächstes wurde Todoroki ins Kreuzverhör genommen, was wohl genauso unangenehm für diesen war, ging es doch um Frau und Kinder. Aizawa goss sich schweigend Wein nach… „Das war furchtbar.“ Aizawa ließ sich rücklings auf das große, breite Bett fallen und schloss für einen Moment die Augen. Vielleicht hatte er doch ein bisschen zu viel Wein gehabt, denn vor seinen geschlossenen Augen drehte sich alles. Wenigstens hatte er die Gewissheit, dass Todoroki nach Hawks sehen würde. Er hörte, wie Yagi die Tür hinter ihnen schloss und zu ihm kam. Die Matratze senkte sich unter dem Gewicht für einen Moment, als sich der Blonde neben ihn setzte, und Aizawa spürte seinen Blick auf sich. „Ehrlich gesagt, hatte ich es mir schlimmer vorgestellt“, hörte er ihn murmeln und blickte auf, direkt in die blauen Augen des anderen. „Ihr hättet uns solche Gespräche ersparen können…“ „Habt Ihr nicht gesagt, dass es zu meinen Tugenden gehört, offen zu Euch zu stehen?“, fragte Yagi mit einem warmen Lächeln. Aizawa wusste nicht, ob die Hitze in seinen Wangen vom Alkohol oder von diesem Ausdruck herrührte. Verdammter Blondschopf… „Ich wollte nicht, dass er mich jedes Mal aufs Neue nach einer Frau fragt und…ich denke, er kann Euch recht gut leiden. Für seine Verhältnisse war er wirklich freundlich zu Euch.“ Aizawa schnaubte. „Dann will ich nicht wissen, wie unfreundlich er werden kann…“ „Das wollt Ihr wirklich nicht wissen. Aber er ist ein guter Kerl. Ich schätze ihn sehr, immerhin ist er der einzige Vater, den ich je hatte.“ Yagi neigte den Kopf, sah weiterhin zu ihm herunter. Es löste so ganz und gar nicht tugendhafte Gefühle in Aizawa aus. „Dennoch hat er Recht“, brummte er. „Ihr seid naiv, wenn Ihr glaubt, irgendein Priester würde uns seinen Segen geben, und selbst wenn dies geschehen würde, würdet Ihr in Ungnade fallen. Ich ziehe ein Versteckspiel dem Versuch, einem von uns den Schädel zu spalten, vor.“ Für ein paar Sekunden schwieg Yagi und das Lächeln war von seinen Lippen gewichen, stattdessen wirkte er sehr ernst. „Aizawa-san…die Menschen werden immer einen Grund finden, einen Makel an uns zu finden. Ich weiß, dass es hart wird, und wir sollten damit warten, bis ich einen Nachfolger ernannt habe, jedoch…widerstrebt es mir, Euch zu verleugnen. Meine Gefühle für Euch sind aufrichtig und rein, auch wenn Ihr keine Frau seid. Was könnte also verwerflich an meiner Liebe zu Euch sein?“ Spätestens jetzt wusste Aizawa, dass es nicht am Alkohol lag. Er hatte eine Gänsehaut bekommen. Dieser…machte ihm ein Liebesbekenntnis nach dem anderen und eigentlich hasste Aizawa so etwas. Weil es meistens dumme Heuchelei war…und unglaublich peinlich . Dennoch zweifelte er nicht an den Worten des anderen…auch wenn er sich fragte, warum er so darauf ansprang, wenn dieser so etwas von sich gab. Irgendwie traf er einen Nerv bei ihm. Er griff nach einer der blonden Strähnen und zog den anderen ruckartig daran zu sich herunter, woraufhin dieser das Gesicht verzog. „Uhm…“ „Ihr redet zu viel“, murmelte Aizawa dicht vor seinen Lippen, ehe er die seinen darauf presste. Yagi keuchte überrascht gegen seinen Mund – auch wenn er das nicht ganz nachvollziehen konnte. Wie sollte er bitte sonst auf solche Worte reagieren? Das Kribbeln fuhr ihm durch den ganzen Körper, als Yagi den Kuss erwiderte und dabei seine große, warme Hand an seine Wange legte. Gott, wie sehr konnte man Prinzipien hassen… Er zog den anderen näher an sich, bis dieser auf ihm lag, und schlang ein Bein um ihn, damit er sich ja nicht löste. „Uhm…Aizawa-san…ich…denke nicht, dass-“ „Schweigt und küsst mich weiter.“ „So gern ich dies auch tue…wollten wir nicht reden?“, wandte der Hüne ein und lächelte schief mit seinen geschwollenen Lippen. Aizawa ließ frustriert den Kopf nach hinten fallen, sah ihn missmutig an. „Und ich dachte, es fiele leichter, Euch zu verführen…wo Ihr doch beim Essen die Augen nicht von mir abwenden konntet.“ Nun war es an Yagi feuerrot zu werden, ebenso wie er hart schluckte. „Das…ich konnte nicht anders. Ich begehre Euch immer, aber…es betont Euer schönes Gesicht noch mehr. Nicht, dass ich Euch nur aufgrund Eures Aussehens lie-“ Aizawa hatte ihm die Hand auf den Mund gedrückt, blickte ihn genervt. „Hört auf damit, wenn Ihr nicht wollt, dass ich Euch gleich hier und jetzt zum Vollzug unserer Ehe nötige.“ Die Hautfarbe des anderen verdunkelte sich noch mehr, doch er räusperte sich nur und ließ sich dann neben ihn fallen. Aizawa blieb neben ihm liegen und sah an die Decke. Ein paar Sekunden herrschte Schweigen zwischen ihnen, ehe Aizawa seufzte. „Wie habt Ihr Euch das überhaupt vorgestellt?“ „…Ihr meint, unser Zusammenleben? Ich weiß es nicht.“ „Ah.“ „Wie Ihr wisst, habe ich nicht vor, hier zu bleiben und irgendeinen Titel anzunehmen. Ich werde weiterreisen und…ich hatte gehofft, dass Ihr mich begleiten werdet, wie Ihr es auch jetzt tut. Falls Ihr zurückkehren wollt, werde ich dies akzeptieren und…nun, Enji besucht seine Frau auch zwischendurch…“ Aizawa warf ihm einen kurzen Blick zu, dachte darüber nach. „Vielleicht finden wir da einen Kompromiss“, meinte er ruhig. „Die Menschen im Dorf sind mir gleichgültig – aber die Katzen fehlen mir. Sie sind jedoch eigenständige Jäger. Nicht auf mich angewiesen.“ „Dennoch sind sie Eure Familie, nicht wahr?“ „…ja.“ Immerhin hatte er mit ihnen zusammengelebt. Er war froh, dass Yagi dies verstand und sie nicht nur als irgendwelche Viecher abtat. „Das respektiere ich“, sprach dieser weiter. „Und auch ich denke, dass wir da eine Lösung finden werden, die uns beide zufriedenstellt.“ Aizawa ließ zu, dass der andere den Arm um ihn legte und an seine breite Brust zog. Die Nähe war gut, auch wenn sie nicht weitergehen würden – was schade, aber nicht zu ändern war. Irgendwann. Er lehnte den Kopf an die Schulter des Blonden und senkte die Lider. Die Finger, die sein Haar durchstreiften, sorgten dafür, dass er sich noch müder fühlte, als es durch den Wein ohnehin schon der Fall war. „Ich bin froh, Euch gefunden zu haben, Aizawa-san.“ Nun, was sollte er sagen? Anstelle einer Antwort griff er nach der freien Hand des anderen und verschränkte ihre Finger miteinander, woraufhin Yagi diese sanft drückte. Warum mussten sie sich überhaupt bei allem festlegen? Das Wesentliche schien ihm gerade geklärt zu sein – auch wenn er immer noch interessiert daran war, wie Yagi ihn zu ehelichen gedachte. Sie würden sehen… „…Herr, seid Ihr sicher, dass…?“ „Ich wiederhole mich nicht! Ich sagte bereits, dass ich den Dämon unter Kontrolle habe, oder wirfst du mir Versagen vor?! Verschwinde aus meinen Augen!“ Zufrieden sah Enji, wie die Wache hastig den Kopf neigte und Entschuldigungen murmelte, ehe sie den Kerker verließ. Den Schlüssel hatte er ihm bereits im Vorfeld überreicht und Enji glaubte trotz allem eine gewisse Erleichterung erkannt zu haben. Vermutlich hatten die meisten eine Heidenangst vor dem geflügelten Dämon, der in seiner Zelle saß und ihn durch die Gitterstäbe fixierte. Enji schnaubte, während er die Zelle aufschloss und das schwere Eisengitter zur Seite schob, in der anderen Hand eine Platte mit den Resten vom Abendmahl hielt. „Sieh mich nicht so an. Das ist deine eigene Schuld“, brummte er und stellte die Platte vor Hawks ab, der gegen den Knebel murrte. Dennoch war irgendetwas anders als sonst. Ihm entging die Anspannung des Dämons nicht. Dessen Federn waren gesträubt, was nicht gerade für ein ruhiges Gemüt sprach. Die Pupillen waren schlitzförmiger als sonst, was eigentlich nur der Fall war, wenn Hawks angriff. Sein erster Gedanke war, dass die Wachen ihn vielleicht gequält hatten, doch er konnte keine neuen Wunden entdecken. Stirnrunzelnd löste er den Lederriemen, erwiderte den Blick des anderen, während er diesem den Stoff aus dem Mund zog. Das aggressive Knurren ihm gegenüber war neu, erinnerte ihn daran, als dieser ihn vor der Sirene gerettet hatte und danach schwer verwundet gewesen war. Erkannte Hawks ihn überhaupt? So wie dieser die Zähne fletschte und ihn anfunkelte. „Beiß mich und ich nehme das Essen wieder mit. Überleg es dir“, warnte er sein Gegenüber, welcher daraufhin erneut knurrte. Jedoch schien er sich zusammenzureißen, denn er verstummte gleich darauf. Stattdessen atmete er merklich gestresst aus, schloss kurz die Augen. Was war los mit dem Vogel? Sicher war es nicht sonderlich angenehm mit dem bisschen Stroh in dem feuchten Kerker zu sitzen, aber er selbst konnte nichts dafür. „Du hast dich selbst hier hineinmanövriert“, murrte er. „Also feinde mich nicht an. Ohne mich wärst du längst hingerichtet worden.“ „…ich feinde dich nicht an“, zischte Hawks ihn gleich darauf an. „Ich verabscheue bloß die Situation – und du brauchst mir nicht sagen, dass ich selbst daran schuld bin! Das weiß ich!“ Die bernsteinfarbenen Augen funkelten ihn so finster an, dass sich Enji diesbezüglich nicht sicher war. „Dann sieh mich nicht an, als würdest du deine Klauen in mich rammen wollen.“ „Dazu bin ich ja wohl kaum in der Lage…“ Die Ketten klirrten bei der Bewegung geräuschvoll, doch Enji zuckte nicht mal. Warum auch? Er hatte sich entschieden, der Harpyie zu vertrauen. Hawks würde ihn nicht angreifen, selbst wenn er gekonnt hätte. Sie waren Kameraden. „Hör auf mit dem Mist und iss was.“ „…wie du siehst, kann ich mich nicht bewegen.“ „Ich habe gesehen, wie du einem Hirsch faustgroße Stücke aus dem Fleisch gerissen hast. Du brauchst deine Klauen dazu nicht.“ Er hielt ihm die Platte vor das Gesicht, woraufhin Hawks einige Sekunden erst ihn und dann das gebratene Huhn anschaute. Es war immer wieder grotesk, mitanzusehen, wie der Mund breiter und die Zähne sichtbarer wurden. Wie ein klaffender Riss in dem hübschen Gesicht, aus welchem die schlitzförmigen Pupillen nun wieder hervorstachen. Es waren nur drei Bissen, ehe Hawks das komplette Huhn heruntergeschlungen hatte. Fleischsaft lief an seinem Kinn herunter und Enji spürte das Zucken in seiner Hand. Bei dem wilden Blick schauderte es ihn merklich und er verstand immer noch nicht, warum Hawks nicht einfach ruhig bleiben und ihm vertrauen konnte. Etwas stimmte zwischen ihnen nicht…und das ärgerte ihn. Er schnaubte verächtlich, ehe er die Platte wegstellte und mit dem Daumen Hawks‘ Gesicht berührte. Die scharfen Zähne wirkten weiterhin bedrohlich, doch sie schnappten nicht zu. Er wischte ihm den Saft vom Kinn, blickte ihn dabei fest an. Sollten die Wachen doch denken, was sie wollten – wenn Hawks sein Haustier war, konnte er mit ihm verfahren, wie er wollte. Dieser blieb ganz ruhig, bewegte sich nicht. Dann entspannten sich seine verzerrten Züge langsam wieder, bis er in das gewohnt jugendliche Gesicht schaute. „…ich hab’s dir schon mal gesagt“, murmelte Hawks, während er mit dem Kopf gegen seine Hand sank. „Ich will nicht sterben.“ Enji wusste nicht, was er sagen sollte. Er ließ seine große Hand an der Wange des anderen ruhen, welcher die Berührung genoss, dabei erschöpft wirkte. „Und ich habe nicht vor, dich sterben zu lassen. Also beruhig dich und überlass das uns.“ Hawks schnaubte leise. „Du weißt ja nicht, wie sie mich ansehen…“, nuschelte er. „Sie haben Todesangst. Und diese Angst…ist gefährlich für mich.“ Enji erinnerte sich an die Erzählungen des anderen, wie Menschen versucht hatten, ihn zu töten. Da Hawks die Gefühle der Leute wittern konnte, ließ dies vermutlich seine eigenen Ängste hochkommen. Es war schwer, auf ihn wütend zu sein, wenn er so drauf war. „Wir lassen dich nicht hängen, Hawks“, erwiderte er leise. „Du kennst doch Toshinori und Aizawa ist auch schon drauf und dran, dich hier herauszuholen. Wir haben bald einen neuen Auftrag. Da nehmen wir dich mit. Du musst uns vertrauen. Verstanden?“ Hawks atmete ein weiteres Mal tief aus, doch er schien sich zu fangen. Er wirkte nicht mehr wie ein wildes Tier, das in die Enge getrieben worden war. „Ja…verstanden.“ Enji nickte nur, blieb so bei ihm sitzen, nahm dabei jedoch die Hand herunter, woraufhin sich Hawks an seine Seite lehnte, den Kopf gegen seine Schulter sinken ließ. Scheinbar hatte er einmal im Leben die richtigen Worte gewählt. Warum war der Umgang mit einem Dämon so viel einfacher als der mit seiner eigenen Frau? Wobei da vermutlich nicht mehr viel zu retten war. Dafür hatte Rei zu viel Angst vor ihm und das Verschwinden seines Ältesten hatte nicht dazu beigetragen, dass es besser zwischen ihnen geworden war. „Was für ein Auftrag?“, hörte er Hawks fragen und war dankbar für die Zerstreuung seiner deprimierenden Gedanken. „Die umliegenden Dörfer wurden angegriffen. Es ist nicht zu definieren, was die Menschen dort getötet hat, doch es ist anzunehmen, dass die Mörder nicht menschlich sind. Die Bewohner wurden teilweise gerissen wie Vieh oder verbrannt. Wir werden dem bald auf den Grund gehen.“ Hawks schloss die Augen, während er bei ihm angelehnt blieb. „Gut“, gab er zurück. „Mir egal, was die Leute getötet hat. Ob Mensch oder Dämon…wenn sie eine Bedrohung für die meinen sind, werde ich sie finden und ihnen die Eingeweide herausreißen.“ „Die deinen, huh?“ „Seid ihr das nicht?“ Enji blickte an die gegenüberliegende Steinwand, ließ sich einen Moment Zeit mit der Antwort, obwohl sie klar auf der Hand lag. Hawks gehörte zu ihnen. Daran gab es nichts zu rütteln. „Das sind wir wohl“, brummte er, ehe ihm etwas einfiel und er daraufhin den Kopf näher zu Hawks neigte. „Übrigens…hat Toshinori Aizawa einen Heiratsantrag vor dem König gemacht. Er ist sein Ziehvater.“ Ein Ruck ging durch Hawks‘ Körper und er gab ihm beinahe eine Kopfnuss, starrte ihn aus geweiteten Augen an. „Was?!“ Er hatte ja gewusst, dass das den geschwätzigen Vogel ablenken würde. „Senke deine Stimme. Niemand darf davon erfahren. Der König war zwar geschockt, ist aber gewillt, Toshinoris Wahl zu akzeptieren. Auch wenn ich mich immer noch frage, was er an dem Einsiedler findet…“ „Wusste Aizawa davon?“, überging Hawks seine Spitze. „Nein.“ „Und er hat „Ja“ gesagt?“ „Nun, er hatte keine große Wahl in dem Moment, aber ich denke, es ist auch sein Wille. Es war…eine unangenehme Situation, auch wenn du wohl deinen Spaß daran gehabt hättest.“ „Und wie…dass er das in meiner Abwesenheit abzieht“, brummte Hawks und klang dabei angefressen. „Verdammt…aber na ja, überraschen tut’s mich nicht. Toshi ist einfach so übertrieben ehrlich mit allem, dass es fast wehtut. Ich hätte zu gern Aizawas Gesicht gesehen…“ Enji schnaubte. „Ja. Er sah aus, als wünschte er sich, der Erdboden möge ihn verschlingen, aber er ist geblieben und hat es mit ihm durchgezogen.“ „Also echt. Da ist man einmal nicht dabei und dann passiert gleich sowas…“ Hawks schüttelte den Kopf, musste dabei aber grinsen. Es war beruhigend, ihn wieder so zu erleben. Mehr wie er selbst. Nicht dieses panische Tier in Abwehrhaltung. Vielleicht war es besser, wenn er noch eine Weile bei ihm hier unten blieb. Man würde ihn schon nicht vermissen und bisher war die Wache nicht zurückgekehrt. „Hätte echt nicht gedacht, dass das so laufen wird. Also am Anfang. Ich meine, wenn man bedenkt, dass…“ Außerdem plapperte Hawks gerade wieder erneut los, schien ihn auch nicht gehen lassen zu wollen. Enji ließ sich gegen die Wand sinken, die Harpyie an sich lehnend und zuhörend. Es stimmte schon, er hatte den ollen Vogel inzwischen gern – und er sorgte sich nicht weniger als die anderen um ihn. Bald schon würden sie ihn hier herausholen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)