Vogelfrei von lunalinn ================================================================================ Kapitel 11: Das Laster ---------------------- Wenn Enji ehrlich war, war er froh darüber, mal eine Weile für sich zu sein, kaum dass er sich von ihrem Nachtlager entfernt hatte. Die Weiterreise hatten sie den ganzen Tag zu Fuß bewältigt, wobei sie den Dämon aufs Pferd gesetzt hatten – Morgenstern hatte es einigermaßen unbeschadet überstanden, trotz der scharfen Krallen. Die Stute besaß ein ähnliches Gemüt wie ihr Besitzer, was wohl ihr Glück war, denn irgendwie mussten sie den nutzlosen Vogel ja transportieren. Und das möglichst so, dass diesen niemand sah, weswegen sie seine Flügel unter der Decke versteckt hatten. Wenigstens waren ihnen kaum Leute begegnet, sodass es keine Komplikationen gegeben hatte. Mit dem Dämon konnten sie allerdings keine Bleibe im nächsten Dorf suchen, sodass sie ihr Lager erneut im Wald aufgeschlagen hatten. Enji kannte sich in der Umgebung aus, war einige Male zuvor schon mit Toshinori vorbeigekommen und anhand der ganzen Strapazen der letzten Tage kam ihm dieser Ort mehr als gelegen. Natürlich war sein Freund wie immer errötet, als er diesen gefragt hatte, ob er ihn begleiten wollte, bevor er höflich abgelehnt hatte. Nichts anderes hatte Enji erwartet, ebenso dass der Einsiedler kein Interesse an einem Abstecher in solch ein Milieu bekundet hatte. Dieser schien Frauen generell nicht sonderlich zugeneigt zu sein und Enji war versucht gewesen, Aizawa darauf hinzuweisen, dass dort vielerlei Vorlieben bedient wurden. Allerdings hatte er wenig Lust gehabt, unliebsame Gegenfragen gestellt zu bekommen, weswegen er es dabei belassen hatte. Der Dämon dagegen hatte sich unter der Decke zusammengerollt, kaum dass sie Halt gemacht hatten, und war kurz darauf eingeschlafen. Enji fragte sich, ob es diesem wirklich noch so schlecht ging oder ob er es ausnutzen wollte, dass sie sozusagen auf ihn aufpassten. Nun, da sein Flügel immer noch recht traurig herabhing und sein Bein nicht besser aussah, mussten sie ihm das wohl glauben. Zumindest war ihm auf diese Weise ein spitzzüngiger Kommentar erspart geblieben – Aizawas finsterer Blick hatte ihm schon gereicht. Vermutlich weil er aus seinem Ehebruch keinen Hehl gemacht hatte. Warum auch? Die Verbindung zu seiner Frau war nur noch eine Formalität, die sie aufrechterhielten, weil es sich so gehörte. Enji bezweifelte, dass Rei sonderlich betrübt darüber sein würde, dass er sich zuweilen in Freudenhäusern aufhielt. Nach ihrem letzten Gespräch war sie vielleicht ein bisschen positiver gestimmt, aber an ihrer Beziehung änderte das nicht das Geringste. Da machte er sich keine Illusionen. Es war ein gutes Gefühl, das Bordell zu betreten, denn man sah ihm seinen Rang anhand seiner Kleidung direkt an. Und dass er genügend Geld besaß, um sich eine Nacht hier leisten zu können, sodass ihn die beiden Männer am Eingang direkt hineinließen. Zumal ihn der Besitzer des Bordells schon beim Betreten des Vorraums direkt erkannte und überschwänglich begrüßte. „Todoroki-sama! Welche Freude, Euch wieder einmal in meinem Hause begrüßen zu dürfen! Wonach steht Euch heute Nacht der Sinn? Ich schicke Euch nur zu gern zwei unserer begabten Jünglinge, mittlerweile sehr erfahren und-“ „Heute nicht“, fuhr er dem Mann über den Mund. „Lass nach Yu schicken.“ Der Mann nickte eifrig und bedeutete einem seiner Lakaien, besagte Dame auf das beste Zimmer des Hauses zu schicken. Enji folgte dem Besitzer des Bordells hinein, wo dieser ihn zur Treppe geleitete, die zu den privaten Gemächern führte. Der Raum, den sie dabei durchquerten, wurde von Kissen und kleinen Tischen dominiert, an denen einige Gäste saßen und sich von verfügbaren Damen und Jünglingen bezirzen ließen. Aus reiner Neugierde hatte Enji das ein oder andere Mal nach einem von ihnen verlangt…und festgestellt, dass es zwar zunächst befremdlich, am Ende aber nicht viel anders war. Mund war Mund, Hand blieb Hand. Mehr hatte er nicht zugelassen oder gegeben, erschien es ihm irgendwie verwerflich – Ironie hin oder her. Es war jedenfalls nicht unangenehm gewesen, ganz im Gegenteil, was wohl daran lag, dass ein Mann selbst am besten wusste, was Männer mochten. Wenigstens war er dank Toshinoris Tugendhaftigkeit nie in Erklärungsnot gekommen. Der Verkehr mit demselben Geschlecht war nicht verboten, wohl aber etwas, das man im Geheimen ausübte, vor allem wenn man hohen Ranges war. Von Zeit zu Zeit reizte ihn dieses Verbotene, besonders da das Risiko, einen Bastard zu zeugen, nicht existent war. Dennoch war ihm heute mehr nach einer Frau…genau genommen, nach der, deren Dienste er schon des Öfteren in Anspruch genommen hatte. Das Zimmer kannte er ebenfalls, machte es sich schon mal auf einem der Kissen, welche auf dem mit Tatamimatten ausgelegten Boden lagen, bequem. Ein sauberer Futon war schon in der Ecke des Raumes ausgerollt worden, während auf dem kleinen runden Tisch bereits der Sake stand. Ein paar Kirschblütenzweige steckten in goldenen Vasen, dekorierten den Raum ebenso wie einige teuer aussehende Skulpturen. Die Schiebewände aus Papier waren ein Stück weit geöffnet und gaben den Blick auf den kleinen Balkon frei. Die kühle Nachtluft war angenehm, weswegen er sie nicht schloss. Von unten tönte leise Musik hinauf, draußen entfernt die Stimmen der Leute, welche sich in diesem Viertel herumtrieben. Lange musste er nicht warten, denn wenige Minuten später betrat die von ihm gewünschte Dame das Zimmer. Ihre langen hellblonden Haare fielen ihr in weichen Wellen den Rücken hinab, umrahmten ihr hübsches Gesicht, aus dem ihn die dunklen, im Licht violett schimmernden Augen amüsiert anfunkelten. Ihr lilafarbener Kimono mit den rosa Blüten entblößte ihre Schultern samt Dekolleté, deutete ihre Kurven an, die sie trotz ihrer schlanken Statur besaß. „Na, wenn das nicht mein Lieblingskunde ist…“, säuselte sie belustigt und nahm ihm gegenüber am Tisch Platz. „Hattet ihr etwa Sehnsucht nach mir, Todoroki-sama?“ Er gab lediglich ein Schnauben von sich, das ihrer Laune keinen Abbruch tat. Stattdessen griff sie nach der Flasche mit Sake, schenkte ihnen beiden ein Schälchen ein. Yu arbeitete schon seit einigen Jahren in diesem Freudenhaus und er wusste, dass die Ursache irgendeine Verschuldung gewesen war, die sie nicht in der Hand gehabt hatte. Trotz dieser Umstände hatte sie sich mit diesem Schicksal arrangiert, es sich zum Ziel gemacht, genügend zu verdienen, um besagte Schulden zu tilgen und sich somit die Freiheit zu erkaufen. Es würde schade sein, sie eines Tages nicht mehr hier treffen zu können. „Ich habe Euer sonniges Gemüt vermisst, wisst Ihr?“, sprach sie weiter, was ihn eine Braue heben ließ. „Da bist du die Einzige“, brummte er missmutig und kippte den Sake herunter. Sie verzog ihre rosa Lippen zu einem Lächeln, schenkte ihm direkt unaufgefordert nach. Die ersten Male hatte sie sich den Mund rot geschminkt – etwas, das Enji nicht leiden konnte. Generell war ihm übertriebene Schminke zuwider, was sie mittlerweile wusste und beherzigte. „Wollt Ihr mir sagen, was Euch betrübt? Oder bevorzugt Ihr es, wenn ich Euch…auf andere Gedanken bringe?“, erkundigte sie sich, was ihn kurz innehalten ließ. Es war nicht so, dass er ihr oder irgendjemandem sonst aus diesem Milieu sein Herz ausschüttete. Sie waren keine Freunde. Dennoch, sie war nicht bloß schön, sondern auch klug, sodass sie sich oftmals recht lange unterhielten, bis es zu dem kam, weswegen er eigentlich hier war. „Nachher ist noch genügend Zeit zum Reden“, erwiderte er, woraufhin sie nickte. „Verstehe.“ Sie griff nach ihrem Schälchen, nahm einen Schluck davon und seufzte leise. Es fühlte sich jedes Mal befremdlich an, wie frei sie sich in seiner Gegenwart benahm. Dass sie nie wegzuckte oder erschrak, wenn er sie anfasste, obwohl sie doch ihrer Lage wegen allen Grund dazu gehabt hätte. „Wie lange noch, bis du diesen Ort verlassen kannst?“, fragte er ruhig, ließ sie kurz stocken. Sie neigte den Kopf, während sie überlegte. „Nun, so spendabel wie Ihr stets seid, denke ich, dass es nur noch drei Monate sein werden“, meinte sie langsam. „Wie seltsam, nicht wahr? Der Gedanke, von hier fort zu können…ich weiß nicht einmal, was mich ohne diese Anstellung erwartet. Wer weiß, vielleicht verlasse ich das Bordell und kehre alsbald zurück, weil mich die Welt dort draußen erschreckt.“ Enji musterte sie ein paar lange Sekunden, ehe er abermals schnaubte und sein Schälchen wieder auf dem Tisch abstellte. „Das kann ich nur schwer glauben. Du hast eine halbe Ewigkeit darauf hingearbeitet – und du bist stur.“ Daraufhin musste sie lachen und Enji fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es echt war. Falls nicht, war sie eine unglaublich gute Schauspielerin. „Oh, das ist wahr, da habt Ihr wirklich Recht! Nichts gegen Eure angenehme Gesellschaft, aber Ihr seid nicht der einzige Freier und manche Männer sind richtige Schweine. Da bin ich nicht traurig drum, diese hoffentlich nie wieder sehen zu müssen. Aber wie war das? Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.“ Sie zwinkerte ihm zu, wobei in Enji die Frage aufkeimte, ob er tatsächlich so angenehm war. Wenn er mit ihr schlief, fühlte es sich zumindest für ihn unglaublich an. Es war kein Vergleich zu dem Verkehr, den er mit Rei gehabt hatte. Mit Yu war es leidenschaftlich, sie stöhnte seinen Namen, zerkratzte ihm vor Wonne den Rücken…und danach blieb sie bei ihm liegen. Strich ihm durchs Haar und redete leise mit ihm oder hielt ihn einfach nur. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie ihm eine Hure, die den Akt mit vielen Männern vollzog, so viel Befriedigung und Behaglichkeit geben konnte. Es war gut, sich gewollt zu fühlen. Wie ein ganzer Mann. Er sehnte sich danach. Yu riss ihn aus den Gedanken, indem sie um den Tisch herumkam und sich vor ihn kniete, ihn dabei mit diesem Funkeln in den violetten Augen ansah. Ihre schlanken Finger legten sich auf seine Oberschenkel, streichelten diese und allein diese sanften Berührungen ließen ihn angenehm schaudern. Sein Blick senkte sich auf ihr üppiges Dekolleté, während er sich mit den Armen nach hinten abstützte, zuließ, dass sie seine Hose öffnete… Wie immer nutzte er die Zeit, für die er bezahlte, aus, sodass es nach der dritten Runde vermutlich schon nach Mitternacht sein musste. Gut, er konnte theoretisch auch bis zum Morgengrauen bleiben, das Geld hatte er bereits gezahlt, doch sein Pflichtbewusstsein sagte ihm, dass er zu den anderen zurückkehren sollte. Weniger, weil er glaubte, dass der zu groß geratene Vogel Toshinori und Aizawa angreifen würde, sondern eher falls sich doch irgendwelches Gesindel im Wald herumtrieb. Oder gar jemand den Dämon bei ihnen entdeckte und Alarm schlug. Dennoch blieb er eine Weile mit dem Kopf auf Yus Oberschenkeln liegen, ließ sich durch die Haare streicheln. Er hielt die Augen geschlossen, während sie wohl beide ihren Gedanken nachhingen. Er fühlte sich seit Langem mal wieder innerlich völlig ruhig, nahezu ausgeglichen, was ihm wieder bewusst machte, wie gut ihm diese Art der Intimität tat. Seine Frau hätte er nie einfach grob von hinten…nein. Ein schlechtes Gewissen hatte er hierbei nur zu Anfang gehabt, mittlerweile war dies kein Thema mehr. „Erzählt Ihr mir noch eine Eurer Geschichten?“, hörte er sie fragen und öffnete die Augen wieder. Yu sah nicht zu ihm herunter, während sie sprach, sondern blickte zu einem Punkt in der Ferne. Der lilafarbene Kimono hing ungebunden über ihren schmalen Schultern, bedeckte ihre Brüste nur zur Hälfte. Enji schwieg einen Moment, machte sich bewusst, dass auch sie wahrscheinlich einfach nur vergessen wollte. „Es war finstere Nacht, als ich mich auf den Weg machte, um unser Abendessen zu erbeuten. Völlig unerwartet nahm mich der Gesang einer Frau ein. Nichts, mit dem man im Wald rechnen würde, also folgte ich der Stimme, die mich zu einem See führte…“ Er erzählte die Geschichte ein wenig anders, erwähnte nur die Sirene und dass ihm ein anderer Krieger im Kampf gegen diese geholfen hatte. Sie sollte nicht wissen, dass er in der Schuld eines Dämons stand, wobei er bezweifelte, dass es ihr überhaupt um die Wahrheit ging. Viel eher schien sie sich ihrer eigenen Situation entziehen zu wollen und das war in Ordnung. Es war spät, als sich Enji zurück zum Lager begab, wobei die kühle Nachtluft recht erfrischend war. Es sorgte dafür, dass er wieder etwas klarer wurde, hatte er bei dem Sake doch ordentlich zugelangt. Er war nicht betrunken – das war er ohnehin selten, denn es bedeutete, dass er sich eine Blöße gab. Dennoch spürte er das wohlige Gefühl des Alkohols, das seine Gedanken einlullte. Nun, in ein paar Stunden, wenn sie weiterzogen, würde dies vergangen sein. Das Feuer war bereits verloschen, als er das Lager erreichte, und seine beiden Weggefährten schienen zu schlafen. Wer noch nicht schlief, war der Dämon, der sich gleich in zwei ihrer Decken gewickelt hatte und ein Stück von ihnen entfernt an einem Baum lehnte. Hatten sie diesem etwa die Wache überlassen? Unfassbar. Die bernsteinfarbenen Augen glühten im schwachen Mondlicht regelrecht, fixierten ihn, kaum dass er sich ihm näherte. Enji meinte, ihn die Nase rümpfen zu sehen, was ihn unweigerlich verärgerte, auch wenn er es nicht ganz deuten konnte. „War wohl ein erfolgreicher Abend, so wie du riechst“, kam es spöttisch von dem Dämon, was Enji schnauben ließ. „Und wenn…was geht es dich an?“ Zuerst schien es so, als würde der Dämon sich beherrschen müssen, seine Gedanken dazu nicht auszusprechen, dann tat er es aber doch. „Oh, nichts. Eigentlich. Ich wundere mich nur darüber, ob das bei euch Menschen so üblich ist. Also, sich trotz einer Partnerin mit anderen Weibchen zu vergnügen. Wir Harpyien sind monogam, wenn wir den einen Partner fürs Leben gefunden haben. Es gibt niemanden daneben.“ Dieses Lodern in den Augen der Harpyie gefiel ihm nicht, ebenso wenig wie dessen unverschämten Worte. Den Partner fürs Leben, huh? Es war nicht so, dass er von Anfang an vorgehabt hatte, Ehebruch zu begehen, aber seine Situation ließ nichts anderes zu. Doch wieso sollte er das einem Dämon erklären? Es ging diesen nichts an. „Mich interessiert nicht, was deine…Rasse zu tun pflegt und meine Ehe ist meine Sache.“ Trotz seiner harschen Worte setzte er sich dem Dämon gegenüber, da er nun sowieso nicht würde schlafen können. Nicht, nachdem der andere die Beziehung zu seiner Frau angesprochen hatte. Musste der Vogel einem alles ruinieren? Leider reichte der Alkohol nicht aus, um alle Gefühle zu betäuben. „Ich bin doch bloß neugierig!“, beharrte der Dämon wie ein bockiges Kind. „Ich meine, vor einigen Tagen warst du noch daheim, bei Frau und Kindern – zu denen du anscheinend kein gutes Verhältnis hast – und nun kommst du wieder und stinkst nach Alkohol, süßem Parfüm und fremdem Schweiß. Da fragt man sich halt…warum? Warum hast du eine Partnerin, wenn du sie nicht ehrst? Wenn sie so einfach zu ersetzen ist?“ Die Fragen erzürnten ihn, nicht nur, weil der andere so dreist war, sondern auch, weil sie alte Wunden aufrissen. Dabei hatte er sein schlechtes Gewissen doch ein für alle Mal begraben. „Weil sie mich nicht will“, knurrte er und funkelte den Dämon wütend an. Dieser blinzelte ihn an, schien von seiner Ehrlichkeit überrumpelt – und Enji kam der Gedanke, dass der Alkohol wohl seine Zunge lockerte. Verdammt. Er hätte gar nichts antworten sollen. Die Kreatur konnte das doch sowieso nicht nachvollziehen. „Aber…ihr habt einander doch gefunden? Auserwählt. Oder nicht? Ich meine, irgendwas muss euch doch zusammengeführt haben, weswegen ihr eine Bindung eingegangen seid?“, kam es verwirrt von diesem. Enji rief sich die unverschämten Worte, die der Dämon ihm im Onsen entgegengeschleudert hatte, erneut ins Gedächtnis. Vielleicht hatte dieser ihn gar nicht provozieren wollen. Vielleicht war es tatsächlich dieses Unverständnis gewesen, mit dem er ihm gerade jetzt wieder begegnete. „Unser Stand. Wir sind beide aus gutem Hause gewesen und unsere Eltern haben diese Entscheidung für uns getroffen. Es ist meine Pflicht gewesen, zu heiraten und Nachkommen zu zeugen, damit unsere Linie nicht ausstirbt“, erwiderte er schroff, woraufhin der andere stutzte. Für einige Sekunden wurde Enji mit einem Blick bedacht, der ihm missfiel. Er konnte ihn nicht ganz deuten, aber dieser Ausdruck…konnte nichts Gutes bedeuten. „Aber das kann doch nicht klappen?“, kam es schließlich entsetzt zurück. „Wenn ihr das bloß nach…einem Titel entscheidet, dann fehlt doch das Wesentliche! Was ist, wenn dir ihr Geruch nicht gefällt? Oder ihr deiner nicht? Eure Seelen müssen doch im Gleichklang schlagen? Eure Kräfte harmonieren? Wie sollst du wissen, dass sie die Richtige ist, wenn du das alles nur davon abhängig machst, woher sie kommt? Oder ob sie ein Weibchen ist, das deine Jungen austragen kann? Für die meisten von uns Dämonen ist das Geschlecht gar nicht von Bedeutung. Ob Männchen oder Weibchen ist nicht relevant, wenn alles andere passt.“ Das Geschwafel des Dämons ergab für ihn ebenso wenig Sinn wie die Gepflogenheiten der Menschen offensichtlich für diesen. Kein Wunder, sie waren eben von Grund auf verschieden. Warum unterhielt er sich überhaupt mit diesem? Aber das so einfach auf sich sitzen zu lassen, konnte er auch nicht. „Du redest Unsinn!“, grollte er. „Was interessiert mich der Geruch?! Das ist einerlei! Man heiratet, zeugt Kinder und arrangiert sich.“ Der Dämon maß ihn mit einem Blick, der deutlich machte, was er davon hielt. „Deswegen bist du auch immer so gut gelaunt und ausgeglichen“, brummte dieser mit gewisser Ironie. „Und weil du so glücklich mit deiner arrangierten Ehe bist, musst du Freudenhäuser besuchen.“ „Schweig!“, zischte Enji diesen an. „Glück spielt keine Rolle! Meine Ehe ist meine Pflicht! Und das andere verstehst du nicht! Wie auch? Wer würde schon mit einer Bestie wie dir verkehren wollen?“ Das Letzte war vielleicht zu heftig gewesen. Er sah dem Dämon an, dass dieser für einen Moment getroffen war, schon allein, weil nicht direkt ein frecher Spruch folgte. Enji wollte sich nicht schuldig fühlen, aber dessen Ausdruck wog doch auf seinem Gewissen. „Ah, wenn du keine Argumente mehr hast, wirst du fies, eh?“, meinte der Dämon leise und zog die Decke bis zum Kinn hoch. „Und auch, wenn ich dir gar nichts beweisen muss, hab ich sehr wohl schon mal Verkehr gehabt. Sogar mit Menschen. Tse.“ Er schaute ihn dabei nicht mehr an, blickte missmutig auf seine krallenbesetzten Füße. Enji fragte sich, ob es wirklich eine positive Erinnerung sein konnte, denn es wirkte nicht so. Sein Stolz verbat ihm, danach zu fragen, aber sein Gewissen drängte ihn. Musste er sich für seine Worte entschuldigen? „Du etwa nicht?“, gab er stattdessen angefressen zurück. „Dir passt mein Verhalten nicht, also kritisierst und beleidigst du mich. Wer gibt dir das Recht dazu?“ Der Dämon blieb für einige Sekunden stumm, dann hob er langsam den Blick. Anscheinend hatte Enji Recht, denn er widersprach nicht sofort. Tief atmete sein Gegenüber durch, zuckte dann mit den Schultern. „Na schön“, gab er nach. „Das war vielleicht auch nicht ganz fair. Trotzdem musst du mich nicht dauernd wie ein dummes Monster ohne Empathie behandeln.“ Zweifellos tat Enji das, das konnte er nicht leugnen. Wie auch nicht? Er hatte Dämonen nie als etwas anderes betrachtet und jetzt damit anzufangen, fühlte sich falsch an. Andererseits hatte der andere ihn und sein Kind vor dem Tode bewahrt, also unterschied er sich wohl von den anderen Kreaturen. Er verfügte über Intelligenz und laut seiner eigenen Aussage ebenso über…Gefühle. Möglicherweise lag es am Alkohol, aber das Eingeständnis des Dämons drängte ihn dazu, seinem Beispiel zu folgen. Daher atmete er ebenfalls durch, straffte die Schultern. „Gut. Das war…in Anbetracht der Tatsachen…auch nicht fair von mir“, gestand er und zögerte bei seinen nächsten Worten. „Wenn du…willst, erzähl mir davon. Es scheint keine sonderlich gute Erfahrung gewesen zu sein.“ Verdutzt sah ihn die Harpyie an. „Eh, du…willst was über mich wissen? Wirklich? Du solltest öfter trinken, wenn du dadurch zu einem netteren Menschen wirst…“ „Entweder du erzählst oder ich gehe schlafen. Entscheide dich und hör auf, meine Geduld zu strapazieren!“, blaffte er ihn an, woraufhin sich der Vogel bis zur Nase unter der Decke versteckte. „Jaja…nicht so böse“, nuschelte er und seufzte leise. Dann schob er den Kopf wieder unter der Decke hervor, schien zu überlegen, wo er anfangen sollte. Enji fragte sich wirklich, was für ein Mensch sich mit einem Dämon einließ. Ja, die Harpyie war ansehnlich, wirkte auf den ersten Blick wie ein hübscher Jüngling, doch diese blutroten Flügel konnte doch niemand übersehen? Geschweige denn diese unnatürlichen Augen mit der Musterung oder dessen spitze Ohren? So gesehen war er schon gespannt auf die Geschichte, auch wenn er es nicht zugegeben hätte. „Das ist schon eine halbe Ewigkeit her“, begann der Dämon schließlich. „Ich war damals noch nicht ausgewachsen, aber da wir etwas langsamer altern…ich denke, ich war ungefähr 15 oder 16. Nach euren Maßstäben. Ja, ich denke, das kommt hin. Jedenfalls war ich auf der Jagd – ich glaube, ich habe damals so eine entlaufene Ziege durch den Wald gehetzt – und plötzlich habe ich gebratenes Fleisch gewittert. Das hat meine Neugierde geweckt, weshalb ich die Ziege habe laufen lassen und dem Geruch gefolgt bin.“ Enji hob skeptisch eine Braue, blieb aber still. Nur kurz sah er zu ihren Reisegefährten, die jedoch einige Meter von ihnen entfernt friedlich zu schlafen schienen. Gut so, er wollte nicht, dass sie dachten, er hätte Interesse am Leben des Dämons. Er wandte sich Besagtem wieder zu. „Es waren drei Jünglinge auf der Durchreise, ungefähr im selben Alter und volltrunken vom Wein. Als ich mich ihnen vorsichtig näherte, luden sie mich direkt zu sich ans Feuer ein. Damals waren meine Flügel noch kleiner und ich trug einen Umhang bei mir, um sie zu verstecken. Sie erkannten mich nicht als Dämon, sodass sie mich wie einen ihrer Art behandelten. Ich verstehe nicht viel davon, aber sie meinten, dass sie diese Reise machen würden, um zum Mann zu werden. Irgendwelche Aufgaben erledigen und sowas.“ Der Dämon wirkte immer noch nicht so, als sei es sonderlich angenehm, sich diese Erinnerung zurückzurufen. Im Gegenteil, sein Ausdruck zeigte Bitterkeit. „Es floss noch mehr Wein, da sie eine dieser Aufgaben erfüllt hatten. Ich weiß nicht mehr, um was genau es ging, aber…sie haben irgendwann angefangen, sich gegenseitig zu berühren. Es war faszinierend und für mich vermutlich weniger schockierend als für die meisten Menschen. Wie gesagt, wir Dämonen machen unsere Vorlieben nicht unbedingt am Geschlecht fest.“ Enji musste schlucken, als ihn der Dämon mit einem unerwartet intensiven Blick bedachte, der ihn schaudern ließ. Wahrscheinlich die unterdrückte Scham darüber, dass er Jünglingen nicht abgeneigt war, obwohl es verpönt war. Aber das konnte der andere unmöglich wissen…nicht wahr? „Ich wollte den Umhang nicht ablegen, aber das musste ich auch nicht, und sie waren so betrunken, dass sie es nicht gemerkt haben. Vielleicht wollten sie es in dem Moment auch nicht merken oder fanden den Nervenkitzel im berauschten Zustand toll. Ich bin mir da nicht sicher. Aber es war…schön. Ich glaube, ich habe mich…da das erste Mal gewollt gefühlt. Keine Menschen, die schreiend vor mir weglaufen oder mich umbringen wollen. Ich war…einfach nur ein Junge. Einer von ihnen. Die ganze Nacht. Und es war so verdammt schön, dass ich dachte, dass ich meinen Platz vielleicht endlich gefunden habe. Menschen, mit denen ich zusammenleben könnte, die tolerieren, dass ich nicht wie sie bin.“ Enji schnürte es unweigerlich die Kehle zu, denn es war genau das, was er fühlte, wenn er das Bordell besuchte. Wenn er mit Yu schlief, die ihm sagte, was für ein Mann er war. Wenn sie vorgab, sich nach ihm zu sehnen, und nach dem Akt mit ihm. Gewollt zu sein…diesen Wunsch kannte er. Zufall? Berechnung? Nein, der Dämon konnte bestimmt keine Gedanken lesen. Das wäre ihm dann doch früher aufgefallen? „Bis zum Morgengrauen“, fuhr die Harpyie mit monotoner Stimmlage fort. „Dann wurden sie wach, erkannten, was ich bin, und jagten mich in ihrer Furcht und Abscheu zum Teufel.“ Er sah ihn dabei nicht länger an, sondern fixierte einen Punkt in der Ferne, und Enji konnte nicht verhindern, dass es ihn traf. Dieser traurige Blick berührte etwas in ihm, das nicht sein sollte. Mitleid mit einem Dämon…unfassbar. Und trotzdem war der Schmerz des anderen beinahe greifbar, sodass ihm schier die Worte fehlten. Er wollte nicht nachtreten, aber er konnte ihn auch nicht aufmuntern, schließlich wäre das der blanke Hohn gewesen, so oft, wie er den anderen aufgrund seiner Rasse verurteilte. Unschlüssig blickte er diesen an, stutzte, als sich langsam ein aufgesetztes Lächeln auf den Lippen des Dämons bildete. „Nun, immerhin habt ihr mich diesmal nicht weggejagt. Das ist doch schon eine Verbesserung meiner Situation, was?“, scherzte er mit weniger Elan als sonst. „Schon klar, dass ich hier nicht mehr willkommen bin, wenn ich wieder auf den Beinen bin…aber das bisschen Gesellschaft ist mehr, als ich erwartet habe. Dachte eigentlich, du wartest nur drauf, dass ich schlafe, und hackst mir dann den Kopf ab oder so. Rammst mir einen Bolzen durchs Herz. Das Übliche halt.“ Enji schnaubte daraufhin, blickte ihn finster an. „Ich habe meine Gründe, schlecht von dir zu denken, Dämon“, brummte er. „Aber ich bin kein ehrloser Mann. Dein Leben für meines und das meines Kindes. Auch wenn es mir nicht gefällt, so begleiche ich meine Schulden. Meine Vorurteile kann ich jedoch nicht einfach ablegen.“ Sein Gegenüber lächelte schief. „Vielleicht ja irgendwann?“, fragte er hoffnungsvoll. „Du hast vorher auch nicht gedacht, dass dir ein Dämon den Hintern retten würde. Du wolltest kein Wort mit mir wechseln und jetzt kennst du sogar die Geschichte über meine Entjungferung. Wenn das mal kein Meilenstein in unserer Beziehung ist, Rotschopf.“ Enji funkelte die Harpyie an. „Scheinbar geht es dir gut genug für dumme Sprüche…“ „Aww, sag das nicht! Ich bin immer noch angeknackst und sage das doch nur, um die Stimmung ein bisschen aufzuheitern!“ Enji beobachtete, wie der Dämon mit der heilen Schwinge schlug, diese dabei aus der Decke befreite. Abrupt fragte er sich, wie lange sie hier eigentlich schon saßen und miteinander sprachen. Es war spät und die Müdigkeit zerrte allmählich an seinem Geist. „Wer hat dir überhaupt die Wache aufgetragen?“, überging er dessen Worte und rieb sich übers Gesicht. „Tja, scheint, als würden deine beiden Gefährten darauf vertrauen, dass ich sie nicht auffressen will. Ich meine, das ergibt ja auch wenig Sinn, so gut wie ihr euch um mich kümmert.“ „Ah ja.“ Enji warf ihm einen zweifelhaften Blick zu, war jedoch überrascht, als die Harpyie diesen so intensiv erwiderte. Er erinnerte ihn an einen Raubvogel, der seine Beute fixiert hielt – was jedoch nicht zu der Behauptung des Dämons passen wollte, dass er sie eben nicht als solche sah. Der Dämon schaute ihn nicht zum ersten Mal auf diese Weise an und ihm erschloss sich die Bedeutung nicht. „Ich werde es dir gern noch einmal versichern, auch wenn du meinen Worten nicht glaubst“, hörte er ihn sagen. „Ich reiße keine Menschen. Das habe ich nie. Nicht, um mich zu nähren. Aber gegen Angriffe setze ich mich zur Wehr, denn ich lasse mich nicht widerstandslos umbringen.“ Der Dämon bleckte kurz die spitzen Zähne, als wolle er seinen Standpunkt verdeutlichen, ehe er weitersprach. „Ich habe ebenso schlechte Erfahrungen mit deiner Art gemacht wie du mit meiner. Trotzdem versuche ich, mit euch auszukommen. Das ist für mich auch nicht immer einfach, aber was bringt es mir, euch wahllos zu töten? Das ändert nichts an meiner Situation, verschlimmert sie vielleicht sogar.“ Er schüttelte den Kopf, wobei die zerzausten, blonden Haare herumwirbelten. „Halte dir das vor Augen. Vielleicht schläfst du dann ruhiger in meiner Nähe.“ Bei den letzten Worten klang der Dämon erschöpft, so als sei er es leid, sich erklären zu müssen. Es war nicht so, als würden dessen Worte irgendwas ändern. Mögliche Lügen wurden dadurch nicht aus dem Weg geräumt, allerdings erwischte sich Enji dabei, wie er mit der Harpyie sympathisierte. Lächerlich, wenn er darüber nachdachte, denn sie beide verband nichts. Nur weil dieser sich danach sehnte, erwünscht zu sein, und Enji ebenfalls… Vielleicht war es genau diese Tatsache. Dass er dieses Gefühl kannte und es ihn daher mürbe machte. Er wollte das nicht, aber er konnte es auch nicht leugnen. Verdammt. Tief atmete Enji durch, versuchte, seine Gedanken zu ordnen, ehe er etwas darauf erwiderte. „Wir werden sehen“, gab er knapp zurück und erhob sich. „Wenn du sowieso schon die ganze Zeit Wache hältst und noch so viel plappern kannst, mach dich nützlich und tu es weiterhin.“ Obwohl er es ruppig wie immer äußerte, sah ihn der Dämon verdutzt an. Ein kleiner Vertrauensbeweis. Enji wusste nicht, ob er würde schlafen können, wenn er sich auf den gefiederten Jüngling verlassen musste. Er würde es versuchen, trotz seines inneren Widerwillens. „Ja…mach ich…“, kam es irritiert von dem Dämon. „Schlaf deinen Rausch aus.“ Ein schiefes Grinsen lag auf dessen Lippen, doch das Funkeln in dessen bernsteinfarbenen Augen – freute er sich? Einerlei, dachte sich Enji, während er sich wortlos abwandte und sich zu seinem Lager begab. Sich auf einen Dämon zu verlassen...das war einfach absurd. Auch, als er sich hingelegt hatte, die Decke über seinen Körper zog, fiel ihm das Einschlafen schwer. Zu viele Gedanken in seinem Kopf, die ihn nicht ruhen lassen wollten – und der Blick des Dämons, der ihn zu verfolgen schien. Das würde eine lange Nacht werden… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)