Vogelfrei von lunalinn ================================================================================ Kapitel 6: Der Abgrund ---------------------- Toshinori wurde mitten in der Nacht durch ein undefinierbares Geräusch geweckt. Er öffnete die Augen, hatte ohnehin einen leichten Schlaf, was wohl hauptsächlich an seiner Tätigkeit als Krieger lag. Es konnte durchaus tödlich enden, Verdächtiges zu ignorieren…und so setzte er sich langsam auf. Er griff neben sich und zog sich den blauen Yukata über, ehe er sich von seinem Futon erhob und in Richtung Schiebetür schlich. Der Gästekomplex des Anwesens lag am anderen Ende, somit sollte sich nachts keiner außer Aizawa und ihm dort aufhalten. Dennoch sah er einen Schatten, öffnete so leise wie möglich die dünne Tür, schob den blonden Kopf heraus und…erstarrte. „…Aizawa-san?“ Der Angesprochene kniete mit dem Rücken zu ihm auf dem hölzernen Boden und sah über seine Schulter zu ihm. Seine wilde Mähne fiel ihm nun wieder ungebändigt über den Rücken. Auch er trug den blauen Yukata, der ihnen aufs Zimmer gebracht worden war, und erhob sich nun langsam. Ein leises Maunzen ertönte und da entdeckte Toshinori die kleine schwarze Katze, die in den Armen des Mannes lag und sich kraulen ließ. Ihre gelben Lampenaugen schlossen sich, während sie wohlig schnurrend die Streicheleinheiten genoss. Toshinori musste schmunzeln, da er unweigerlich daran erinnert wurde, wie sie ihn kennengelernt hatten. Mit den vielen Katzen um ihn herum, eine auf ihm liegend. Er kam näher, neigte mit amüsiertem Blick den Kopf. „Konntet Ihr nicht schlafen?“, erkundigte er sich, woraufhin Aizawa zu der Katze heruntersah. „So in etwa.“ Toshinori lächelte schief, deutete dann auf den Steg der Veranda, welche den kompletten Innenhof umrahmte. In der Mitte stand ein Brunnen, drum herum auch hier einige Grünflächen mit kleineren Bäumen und Blumen. „Ich könnte Euch und Eurer neuen Freundin etwas Gesellschaft leisten?“ Aizawa blickte ihn einen Moment still an, ehe er nickte und sich auf den hölzernen Steg setzte, dabei in den dunklen Nachthimmel schaute. Der Vollmond tauchte das Anwesen samt Umgebung in blasses Licht, das es irgendwie unwirklich erscheinen ließ. Toshinori nahm neben seinem Begleiter Platz, ließ den Blick einige Sekunden lang schweifen, wobei er über seine nächsten Worte nachdachte. „…das alles hier muss auf Euch einen miserablen Eindruck machen“, mutmaßte er, woraufhin Aizawa schnaubte. „Wollt Ihr Euren Freund nun wieder in Schutz nehmen? Welche Gründe schiebt Ihr diesmal vor?“ Toshinori warf ihm einen Seitenblick zu, hob eine Braue. „Ich weiß nicht, wie Ihr aufgewachsen seid, Aizawa-san…aber zweifellos hat dies Spuren bei Euch hinterlassen oder irre ich?“ Da der andere merklich stockte, war die Frage damit wohl schon beantwortet. Das musste auch Aizawa selbst erkennen, denn er wirkte zerknirscht. „Ihr seid misstrauisch, verurteilt zuweilen vorschnell Menschen, die Ihr kaum kennt…und Ihr schert Euch wenig darum, was die Leute von Eurer Ehrlichkeit halten“, sprach er langsam weiter. „Und Ihr seid harmoniebedürftig, viel zu verständnisvoll, viel zu höflich – es sei denn, es geht darum, mir meine Fehler vorzuhalten – und überraschend emotional“, konterte der Jüngere, während er die Finger im Fell der Katze vergrub. Toshinori blinzelte ihn an, ehe er lachen musste – leise, um nicht doch noch jemanden zu wecken. „Ich dachte, das Emotionale sei positiv? Ihr habt allerdings Recht. Es mag daran liegen, dass ich von Menschen großgezogen wurde, die sehr viel Wert auf Tugendhaftigkeit gelegt haben. Sie waren sowohl streng mit mir als auch gerecht. Es wird wohl auch daran liegen, dass ich eine Waise war, bis sie mich von der Straße aufgelesen und einen Mann aus mir gemacht haben. Wobei…meine Adoptivmutter stets meinte, ich sei als Weltverbesserer geboren worden…“, erwiderte er heiter. „Und im Übrigen sehe ich Eure Eigenschaften nicht als Fehler an…Ihr habt sicher Eure Gründe. Wenn Ihr mögt, erzählt mir gern mehr über Euch.“ Aizawa maß ihn mit einem undefinierbaren Blick aus seinen dunklen Augen, zuckte dann mit den Schultern. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin eine Waise wie Ihr…und weiß nichts über meine Eltern. Sobald ich konnte, habe ich das Waisenhaus, in dem ich lebte, verlassen und bin von einem Ort zum anderen gereist.“ „Allein? Das stelle ich mir recht einsam vor…“, bemerkte Toshinori. „…manchmal ist man allein besser dran“, gab Aizawa zurück, doch dessen anfängliches Zögern machte Toshinori stutzig. Vielleicht gab es da noch etwas, das der andere ihm lieber nicht mitteilen wollte. Er würde ihn nicht dazu drängen, denn vielleicht handelte es sich dabei um eine schmerzhafte Erinnerung. „Nun, ich bin froh, dass ich von meinen Adoptiveltern recht früh aufgenommen wurde. Sie haben mich ausgebildet und durch sie habe ich Enji kennengelernt. Wir waren zuerst Rivalen, dann Freunde. Ich kenne ihn wahrlich lange und ich weiß, dass er auf Euch wie ein schlechter Mensch wirken muss, aber das ist er nicht.“ Aizawa schnaubte leise. „So? Dann ist das hier keine arrangierte Ehe, die ohne Einverständnis des damals vermutlich sehr jungen Mädchens zustande kam?“ Toshinori blickte ihn ein paar Sekunden still an, atmete dann hörbar aus. „Doch. Genau das ist es, was passiert ist“, brummte er. „Vergesst dabei nur nicht, dass Enji ebenfalls sehr jung war…und dass der Druck, der auf beiden lag…hoch war. Enjis Familie entspringt einer Generation von angesehenen Kriegern und…so schnell wie möglich viele Erben zu zeugen, ist sozusagen seine Pflicht. Die Hochzeitsnacht…muss wohl ein ziemliches Desaster gewesen sein.“ Er schüttelte den Kopf, als er daran zurückdachte. Bis heute wusste Toshinori nicht, was genau passiert war; damals hatte Enji kein Wort darüber verloren, doch sein Ausdruck und sein Verhalten nach jener Nacht hatten genug ausgesagt. „…manche Dinge muss man nicht aussprechen, um sie zu erkennen. Seitdem…ging es wohl drunter und drüber. Sie wurde schwanger, wir wurden auf Missionen geschickt. Die Distanz…hat ihre Beziehung nicht verbessert. Er hat sich nach Touyas Geburt bemüht und es ging wohl einige Zeit gut…aber so ein Trauma ist nicht leicht zu überwinden, denke ich. Es hat Spuren hinterlassen. Bei ihnen beiden. Rei hat sich immer mehr zurückgezogen…Enji ist ein temperamentvoller Mensch.“ Er rieb sich den Nacken, fühlte sich schuldig, über dieses Thema mit Aizawa zu sprechen. Andererseits hatte er noch nie zu irgendwem ein Wort darüber verloren…und er hatte das Bedürfnis, die Dinge richtig zu stellen. „Und Ihr denkt, das rechtfertigt es?“, erwiderte Aizawa ungläubig. „Sicherlich nicht. Ich…denke nur…dass ich wohl auch eine Menge falsch machen könnte…bei einer Frau…uhm…“ Er wurde rot, kratzte sich verlegen an der Wange. Er spürte Aizawas Blick auf sich brennen, was es nicht gerade angenehmer machte. Es dauerte einen Moment, dann fiel der Groschen wohl und Aizawa entgleisten die Gesichtszüge. „…Ihr wollt mir ernsthaft weismachen, dass Ihr bis heute noch nie einer Frau…beigelegen habt? Noch nie? Niemandem?“, fragte er ungläubig. „Eh…nein. Ich…halte nicht viel von belanglosen Affären oder Etablissements. Uhm…das erscheint mir…unmoralisch. Ich…möchte mich für jemanden…aufsparen, den ich wirklich liebe. Jemanden, den ich auch ehelichen möchte. Da…bin ich wohl recht altmodisch…und gerade nach dieser Geschichte…aber…so ist es eben.“ Toshinori lächelte schief, erwiderte Aizawas Blick, der deutlich machte, wie schwer er das fassen konnte. Die wenigen, die davon erfuhren, reagierten so – ausgenommen Enji, der sich diesbezüglich gar nicht äußerte. Bei seinen gelegentlichen Abstechern in die Bordelle fragte er zwar immer, ob er mitkommen wollte, doch er drängte nicht darauf. „…Ihr schafft mich“, murrte Aizawa und schüttelte den Kopf. „Jemand wie Ihr ist mir wirklich noch nie begegnet…“ Toshinori wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Vielleicht besser weiter im Text, bevor es noch seltsamer wurde. Kurz betrachtete er die zusammengerollte Katze auf Aizawas Schoß, welche gähnte und dabei ihre spitzen Zähne zeigte. „Jedenfalls…ist er um einiges strenger und mit höheren Erwartungen großgezogen worden, als es bei mir der Fall war. Ich denke…das hat er auf seine Kinder projiziert. Bei Touya hat er den Bogen…überspannt. Er ist vor etwa drei Jahren weggelaufen und seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Enji hat ihn lange gesucht…aber vergeblich. Das…hat die Situation nicht verbessert. Rei hatte einen Zusammenbruch…“ Betrübt blickte er vor sich hin, während er daran zurückdachte, suchte schließlich wieder Aizawas Blick. „Mittlerweile ist er der Meinung, es sei besser, Abstand zu seiner Familie zu halten. Er spürt ihre Ablehnung und weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Er will Rei nicht wieder verletzen…und auch wenn ich nicht denke, dass das unbedingt der richtige Weg ist…verstehe ich ihn. Ihr nicht auch?“ Aizawa haderte merklich mit seiner Antwort, strich der Katze durch das weiche Fell. „…ich heiße es nicht gut“, antwortete er nach einer Weile. „Vieles davon nicht…aber ich bin nie in solch einer Situation gewesen. Ich denke…Ihr habt nicht ganz Unrecht, wenn Ihr sagt, dass er kein schlechter Mensch sei. Er ist bloß ein Idiot mit schlechten Entscheidungen.“ Toshinori lächelte gezwungen. „Nun, da lasst Ihr Euch wohl nicht vom Gegenteil überzeugen…aber das ist in Ordnung. Tut mir nur den Gefallen und sagt ihm nicht, dass wir darüber geredet haben, ja? Ich möchte nicht, dass er sich von mir hintergangen fühlt. Ihr wisst ja, wie er ist…“ Aizawa seufzte tief. „Ja…das weiß ich wohl. Keine Sorge. Ich habe nicht vor, ihm etwas davon unter die Nase zu reiben. Ihr habt mir dies unter vier Augen anvertraut – das weiß ich zu schätzen.“ Toshinori nickte, lächelte den anderen warm an, ehe er ein Gähnen unterdrücken musste. Nun, es war immer noch mitten in der Nacht und sie saßen hier schon eine ganze Weile. „Wir sollten vielleicht schlafen…so, wie ich Enji kenne, wird er morgen früh los wollen, um im Dorf die Besorgungen zu machen.“ Aizawa stimmte ihm brummend zu, erhob sich dann ebenso wie er selbst. Die Katze schien er mit aufs Zimmer nehmen zu wollen, was Toshinori nicht wunderte, lebte dieser doch mit einem Rudel von ihnen zusammen. „Nun denn…ich wünsche Euch eine gute Nacht, Aizawa-san.“ „…gleichfalls.“ Mit diesen Worten kehrte ihm der andere den Rücken und ging in Richtung seines Zimmers, das nicht weit von seinem entfernt lag. Toshinori hatte das Gefühl, dem sonderbaren Mann ein wenig näher gekommen zu sein. Es freute ihn und er hoffte, dass dieser ihm irgendwann vielleicht auch etwas mehr über sich anvertraute. Er sah ihm einen Moment nach, ehe auch er sich daran machte, sich wieder schlafen zu legen. Der nächste Tag verlief wie erwartet, denn Enji wollte früh ins Dorf reiten, um eine bessere Ausrüstung im Kampf gegen Dämonen zu besorgen. Vor allem eine neue Schusswaffe, die Netze katapultieren konnte, war in Bezug auf die Harpyie interessant. Vielleicht konnten sie diese damit vom Himmel holen…auch wenn an dem Gedanken ein bitterer Beigeschmack haftete. Toshinori konnte nicht vergessen, wie er den Dämon von ihrem Lager weggescheucht hatte, trotzdem dieser Enjis Leben gerettet hatte. Und nun waren sie hier, um effektivere Waffen zu besorgen, damit sie ihn niederstrecken konnten. Insgeheim hoffte er, dass…Hawks so klug war, sich einfach ein neues Gebiet zu suchen und dort Wild zu jagen, sodass er niemanden stören würde. Er hätte es lieber vermieden, den Dämon zu töten – wenngleich es entgegen seinen eigentlichen Überzeugungen war. Obwohl Aizawa nichts dazu sagte, sondern sich mit ihnen bei dem Waffenhändler umsah, wusste Toshinori, dass er dasselbe dachte. Dass auch er nicht gegen den Dämon kämpfen wollte – und es wohl auch nicht tun würde. Nun, sie konnten nicht ehrlich zu Enji sein – dieser würde ausrasten, wenn er erfuhr, dass sie ihm Dämonenblut zu trinken gegeben hatten. Vermutlich wäre sein Freund eher gestorben, als dem nachzugeben. In was für eine komplizierte Situation sie sich da gebracht hatten… „…hörst du mir überhaupt zu? Hey!“ Er blickte auf, als er so plötzlich aus seinen Gedanken gerissen wurde, und hob den Kopf, um in Enjis verärgerte Miene zu sehen. Dieser hielt ihm eines der Netze entgegen, breitete es vor seinem Gesicht aus. „Stahlverstärkt. Das wird er nicht so einfach zerreißen können!“, klärte er ihn auf, woraufhin Toshinori nickte. „Ja…eine gute Wahl“, murmelte er und hörte Aizawa, der sich ein paar Pfeile aus Eisen besah, schnauben. Enji schien vorzuziehen, den anderen Mann zu ignorieren, und wandte sich stattdessen an den Händler. „Ich nehme alle davon. Der Preis spielt keine Rolle – ich rate Euch jedoch davon ab, mich über den Tisch zu ziehen.“ „Natürlich nicht, Herr! Das würde ich nie wagen…“ Toshinori dachte bei sich, dass sich wohl niemand bei Verstand trauen würde, Todoroki Enji das Geld aus den Taschen zu ziehen. Schon gar nicht, wenn dieser solch ein finsteres Gesicht zeigte und so bedrohlich grollte. Er schüttelte innerlich den Kopf und besah sich die ausgestellten Schwerter. Nun, er war zufrieden mit dem seinen, aber einen Schleifstein sollte er vielleicht besser mitnehmen. „Aizawa, wenn Ihr Euch dazu entschließt, mit uns gegen die Harpyie zu kämpfen, zahle ich Euch die Pfeile – ich verschwende allerdings ungern Geld.“ „Und ich lasse mich nicht für Geld zu Entscheidungen drängen, die ich nicht vertrete. Behaltet Euer Geld daher gern.“ „Ich denke nicht, dass jemand wie Ihr Geld ausschlagen solltet…“ „…von jemandem, der reich und verzogen geboren ist, nehme ich aus Prinzip keine Ratschläge an.“ „Ihr wagt es…?!“ Toshinori seufzte stumm, drehte einen verzierten Dolch in seiner Hand und heftete den Blick darauf. Er sah in sein eigenes Gesicht, das sich in der Klinge spiegelte, und versuchte, ernst dreinzuschauen. Nein, denselben Mörderblick wie Enji hatte er wirklich nicht drauf. Er verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, das seine Zähne entblößte – ja, das war besser. Bei der immer schärfer werdenden Diskussion hinter ihm drehte er sich schließlich doch um; er konnte sowas nicht ignorieren. „Ich denke, wir sollten dem guten Mann nicht weiter seine Zeit stehlen, wenn wir hier fertig sind, hm?“, meinte er ruhig und warf einen kurzen Blick zu dem Händler, der etwas blass um die Nase war. „Geben wir die restlichen Waffen in Auftrag und reiten dann zurück. Fuyumi-chan hat gemeint, sie würden an einem kleinen Bach in der Nähe picknicken…vielleicht sollten wir zu ihnen stoßen?“ Man sah Enji an, dass dieser alles andere als begeistert von seiner Unterbrechung war. Andererseits konnte er wohl nichts dagegen sagen…oder ihm gefiel die Idee, etwas Zeit mit seinen Kindern zu verbringen, besser, als er zugeben wollte. „Von mir aus“, knurrte er daher nur und wandte sich dem Händler zu, um das Geschäft abzuschließen. Man würde ihnen die restliche Ausrüstung liefern, während sie einen Teil davon bereits jetzt mitnahmen. Zukünftig wäre ein drittes Pferd wohl von Vorteil – er würde Aizawa das Reiten schon noch beibringen. Immerhin hielt dieser sich schon ganz gut auf Morgenstern, wenn auch mit ihm zusammen. Nach ihrem Abstecher ins Dorf ritten sie zurück zum Anwesen, nur um festzustellen, dass Rei bereits mit den Kindern zu besagtem Bach gegangen war. Kido und Onima hatten sie begleitet, um sicherzugehen, dass ihnen nichts passierte. Ein besseres Wetter hätten sie sich jedenfalls nicht aussuchen können, denn die Sonne schien an diesem Tag am wolkenlosen Himmel, ließ die Temperaturen steigen. Vielleicht wirkte sich dies auch positiv auf seinen Freund aus, denn dieser sträubte sich nicht weiter dagegen, seiner Familie einen Besuch abzustatten. Die Pferde nahmen sie nicht mit, immerhin war der Bach nicht weit vom Todoroki Anwesen entfernt. Es dauerte auch nicht lange, bis sie diese gefunden hatten – Reis weißes Haar leuchtete in der Sonne geradezu, während sie mit Fuyumi auf einer großen Decke saß und dieser beim Erzählen zuhörte. Das Licht brach sich im klaren Wasser des Baches, welcher ein paar Meter weiter durch den Wald verlief und von hohen Bäumen umgeben war. Onima lehnte an einem dieser Bäume, ließ den Blick über die Umgebung schweifen, während von Kido und Enjis Söhnen nichts zu sehen war. Als er sie erkannte, straffte er sofort etwas mehr die Schultern, neigte den Kopf vor ihm. „Todoroki-sama…“ Auch Rei blickte auf und ihr Lächeln wankte für einen Moment, ehe sie sich aber wieder fasste, während Fuyumi ihnen offenherzig zuwinkte. „Meine Söhne?“, erkundigte sich Enji bloß, wobei er angespannt wirkte. „Sie wollten Wildblumen für ihre Mutter pflücken…Kido ist bei ihnen.“ „Hn. Von mir aus“, brummte er nur und verschränkte die Arme. „Otou-san, Toshi, Aizawa! Wir haben leckere Kuchen!“, rief Fuyumi ihnen zu und strahlte sie an, woraufhin Toshinori schmunzeln musste. Er stieß Enji an, welcher sichtlich zögerte, sich dann aber seufzend mit ihnen dazu gesellte. Immerhin war die Decke ziemlich groß, sodass sie alle mit genügend Platz auf diese passten. „Wart ihr erfolgreich?“, fragte Rei leise, während sie ihnen Wein einschenkte. „Keine Sorge“, erwiderte Enji schroff. „Wenn alles nach Plan verläuft, reisen wir in zwei Tagen ab.“ „Ich…wollte nicht-“ „Was Enji sagen möchte, ist, dass wir sehr erfolgreich waren“, unterbrach Toshinori sie freundlich. „Wir haben einige neue Waffen gefunden, die hilfreich gegen geflügelte Dämonen sein können. Wenn alles fertig ist, werden wir unsere Jagd fortführen.“ Enji brummte etwas Unverständliches, doch wenigstens legte sich Reis betroffene Miene etwas, auch wenn sie den Blick gesenkt hielt. Fuyumi dagegen sah aufmerksam von einem zum anderen. „Ihr jagt einen Dämon mit Flügeln?“, wollte sie neugierig wissen. „Wie sieht er aus?“ Sie sah zu ihrem Vater, welcher merklich stockte, dann aber versuchte, die Harpyie zu beschreiben. „…wie ein blonder Jüngling. Bloß mit den Beinen eines Vogels…und scharfen Klauen, anstelle von Händen. Er hat große, rote Flügel…mit denen er uns bisher immer entkommen konnte.“ „Oh…“, murmelte sie langsam. „Das klingt ja eigentlich…gar nicht so fürchterlich.“ Enji nahm einen Schluck vom Wein, ehe er schnaubte. „Fürchterlich ist er trotzdem. Aber ja. Die meisten Dämonen sehen nicht so…menschlich aus“, meinte er knapp, woraufhin Aizawa brummte. „Geschweige denn, dass sie sonst so intelligent sind, hm?“ Toshinori lächelte schief, mischte sich ein, bevor Enji einen bösen Kommentar dazu abgeben konnte, der erneut zum Streit führen würde. „Jedenfalls werden wir ihn sicher finden und ihn erlegen. Also keine Sorge“, meinte er beschwichtigend und blendete Aizawas Seitenblick dabei bewusst aus. In dem Moment wurde ihr Aufmerksamkeit jedoch ohnehin von etwas anderem gestört… „Herr, ihr seid…uhm…hier…“, kam es von einem atemlosen Kido, welcher viel zu nervös wirkte, als dass dies etwas Positives bedeuten konnte. Enji verengte die türkisfarbenen Augen, während er den Mann musterte, der darunter noch etwas zusammenzuschrumpfen schien. „Wo sind die Kinder?“, knurrte er, woraufhin Kido schluckte. „Ich nahm an…sie wären hier.“ „Was?!“ „Ich schwöre Euch, Herr, ich habe sie kaum aus den Augen gelassen, aber…plötzlich waren sie einfach weg! Ich habe nach ihnen gerufen, aber sie…haben nicht geantwortet“, stammelte Kido und biss sich auf die Lippen. „Das darf doch nicht wahr sein!“, donnerte Enji los und erhob sich, während Rei immer blasser wurde. „Da habt ihr eine verdammte Aufgabe und-“ „Enji“, meinte Toshinori eindringlich. „Beruhige dich. Es sind Kinder…sicherlich wollten sie nur ein wenig die Umgebung erkunden. Wir werden sie jetzt gemeinsam suchen und finden.“ Der Blonde ahnte, dass Enji gerade an Touya dachte, den niemand je wiedergefunden hatte. Zumindest Shouto war aber viel zu klein, als dass er absichtlich weggelaufen wäre – und beide Kinder würden ihre Mutter wohl nicht einfach verlassen, so sehr, wie sie an ihr hingen. Nein, bestimmt hatten sie sich von etwas ablenken lassen oder ein Spiel gespielt. Der arme Kido blickte schuldbewusst drein, nickte dann ernst. „Ja, Herr…Yagi-sama hat Recht. Sie…wir werden sie finden. Sie können nicht allzu weit sein und zu viert…“ „Aizawa-san ist ein guter Fährtenleser“, stimmte Toshinori zu und sah auch Rei aufmunternd an. „Wir werden gleich mit ihnen zurückkehren. Wartet Ihr hier.“ Rei schluckte hart, grub eine Hand in ihren Kimono, während sie mit besorgter Miene nickte. Enji dagegen schien es schwer zu fallen, keinen Tobsuchtsanfall zu bekommen – was ja auch irgendwie verständlich war. „Schön…“, knirschte er mit unterdrücktem Zorn. „Suchen wir sie…“ „An dieser Stelle habe ich sie verloren“, meinte Kido zerknirscht, als sie eine Weile gelaufen waren. Toshinori blickte sich um, während sich Aizawa bereits hinkniete und mit der Handfläche den Boden berührte. Durch die Unebenheit der Hügel und das dichte Unterholz war der Wald an diesem Platz alles andere als übersichtlich. Er konnte sich gut vorstellen, wie leicht man sich hier verlieren konnte, wenn man nicht aufpasste. Enji, der zunehmend gereizter wirkte, folgte seinem Blick, ehe er tief Luft holte und nach den Kindern rief. „Natsuoooo, Shoutoooo!!“ Donnernd hallte seine Stimme durch den Wald, doch eine Antwort kam nicht. Toshinori presste die Lippen zusammen, als lediglich ein paar Vögel aufgescheucht wurden…ansonsten blieb es still um sie herum. Sein Blick schweifte zu Aizawa, welcher sich gerade erhob und konzentriert wirkte, dabei ein paar Schritte weiterging. Hatte er etwas gefunden? „Könnt Ihr Euch verdammt noch mal nützlich machen?!“, grollte Enji, als hätte er denselben Gedanken gehabt. Aizawa ignorierte ihn, den Blick gen Erde gerichtet, und lief einfach weiter, sodass sie keine andere Wahl hatten, als ihm zu folgen. Nach ein paar Minuten hielt der Dunkelhaarige inne, ließ seinen Blick schweifen, ehe er sich abermals hinkniete. „…hier ist die Erde aufgewühlt. Diese große Wurzel…es kann sein, dass einer der beiden darüber gestolpert ist. Mh…“, murmelte er in sich hinein, hob dann etwas vom Boden auf. „Und die Blumen…hat jemand gepflückt und liegen gelassen.“ Toshinori nickte langsam, warf einen aufmunternden Blick zu Enji. „Da siehst du…er ist nützlich, hm? Wir werden die zwei schon finden“, meinte er, was der andere mit einem Schnauben hinnahm. „Gehen wir weiter…sie sind dort entlang“, brummte Aizawa, als hätte er die Worte nicht gehört. Kido atmete pfeifend aus, während er neben ihnen ging. „Es tut mir wirklich, wirklich überaus leid, Herr…“ Enji kommentierte dies nicht, sondern ging mit finsterer Miene weiter, woraufhin Kido niedergeschlagen den Kopf hängen ließ. Nun, wenn sie die Kinder fanden, würde Enji ihm schon vergeben, doch bis dahin…hätte sich Toshinori wohl auch Sorgen gemacht. Nun gut, sie waren noch nicht allzu lange verschwunden und wilde Tiere näherten sich den Menschen eher selten. Banditen wussten es besser, als hier in den Wäldern nahe der Todoroki Residenz herumzulungern…nein, sie würden schon in Ordnung sein. Sie wanderten weiter durch den Wald, wobei sie hin und wieder nach den Jungen riefen. Enji schien zunehmend nervöser zu werden – und Toshinori ahnte, dass dies nicht nur an ihrem Verschwinden lag. Sie kannten diesen Wald beide von früher…und Aizawa führte sie viel zu nah an den Rand. Selbst Toshinori wurde bei dem Gedanken daran, was da passieren konnte, flau im Magen…und genau in diesem Moment hob Aizawa die Hand, sodass sie alle stehen blieben. Still lauschten sie auf Geräusche, vernahmen schließlich leises Schluchzen und Gemurmel. Enji stockte, doch dann gab es kein Halten mehr für ihn und er stürmte an ihnen vorbei, in die Richtung, aus der das Weinen kam. Sie folgten ihm aus dem Wald heraus, zum Abhang, den Toshinori soeben noch gefürchtet hatte…und da saß er. Natsuo. Mit aufgeschürften Knien, dreckiger Kleidung und verheultem Gesicht kniete er viel zu nahe am Abhang und rieb sich mit den erdigen Fingern die Augen. Der Anblick schockierte nicht nur ihn, auch Enji war leichenblass geworden und ging wankend auf seinen Sohn zu, der sie gar nicht zu bemerken schien. „Natsuo.“ Der Angesprochene zuckte heftig zusammen, sah mit geröteten Augen zu seinem Vater auf, der sich vor ihn kniete und seine Schultern umfasste. Seine Unterlippe begann heftig zu beben und sofort rannen neue Tränen seine Wangen hinab. „…Natsuo…wo ist dein Bruder?“, würgte Enji hervor, die blanke Panik im Blick. „Wo ist Shouto?!“ Natsuo schluchzte anstelle einer Antwort herzzerreißend und drehte den Kopf weg. „Natsuo!“, zischte Enji ihn an und schüttelte ihn. „Wo ist er?!“ „Enji…“ Toshinori legte ihm die Hand auf die Schulter, während sich Aizawa und Kido dem Abhang näherten, der viel zu tief herunterging. Sollte passiert sein, was er vermutete… „Natsuo…wo ist dein Bruder? Was ist passiert?“, wiederholte Enji und sah seinen Sohn weiterhin an. Dieser zitterte am ganzen Körper, schien unter Schock zu stehen. Als er endlich antwortete, brach seine Stimme immer wieder weg. „…nicht…ich wollte das…nicht…er ist…einfach gerannt und ich…hab…hab versucht…aber da…war…ein…ein Reh und er hat noch nie…er ist hinterher und ich…h-hab…ihn aus den Augen verloren und…er…er…stand…da…am…am Rand…und ich wollte…ich wollte ihn…festhalten, aber…aber…er…ist einfach…einfach…“ Enji starrte seinen Sohn bloß fassungslos an, war anscheinend viel zu geschockt, um irgendwie darauf zu reagieren. Bei Aizawa schien Kido kurz davor zu sein, hinterherzuspringen, denn er fiel viel zu nahe am Abhang auf die Knie, blickte mit leerem Blick hinab. Toshinori wusste, wie lange Kido und Onima schon für Enji arbeiteten – dass sie ihm und der Familie loyal waren. Das hier…war furchtbar. Für alle Beteiligten…und er wusste nicht, was er sagen sollte. „…er…ist gefallen“, wisperte Natsuo so leise, dass man es kaum verstand. „…und…ich konnte…ihn nicht retten. Ihm nicht helfen…er…Shouto…er…er ist…da runter…gestürzt…einfach…abgerutscht und…“ Stille legte sich über den Abhang. Eine schreckliche Totenstille. Er drückte fest Enjis Schulter, welcher keine Regung zeigte, durch Natsuo hindurch zu starren schien. Tief atmete der Blonde durch, ehe er Natsuo in seine Arme zog, ihn so zu beruhigen versuchte, wie es Enji gerade nicht konnte. Erneut ein Kind zu verlieren, musste schlimmer als alles sein, was sie sich vorstellen konnten. Er spürte, wie Natsuos Tränen sein Gewand durchnässten, doch er ließ ihn, streichelte ihm sanft durchs Haar und murmelte ihm zu, dass es nicht seine Schuld war. Das hier…war ein furchtbarer Unfall…und als er sah, wie sich Enji übers Gesicht wischte, ebenfalls zu zittern begann, begannen auch seine eigenen Augen zu brennen. „Oi! Was ist das denn für eine Trauerstimmung hier?“ Toshinori zuckte nicht als Einziger erschrocken zusammen, als er die viel zu bekannte Stimme hörte. Das…konnte nicht sein, oder? Doch als er sich zum Abhang umdrehte, sah er die gewaltigen roten Schwingen, die ihn in der Luft hielten. Das breite Grinsen, das spitze Fangzähne entblößte, und die funkelnden Bernsteinaugen, die an einen Raubvogel erinnerten. Hawks. Und…was noch viel wichtiger war…war der regungslose kleine Körper, den er in den Armen hielt. Shouto. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)