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Last Seed

Die letzte Hoffnung der Menschheit
von

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Entführt


 

“Wer den Feind umarmt, macht ihn bewegungsunfähig.”

(Nepalesisches Sprichwort)

 

Verlassenes Industriegelände

Liberty Bay, 17. April 2037

 

Staubpartikel glänzten in dem spärlich durch die eingeschlagenen Fenster der alten Fabrikhalle eindringendem Tageslicht. Es war die einzige Helligkeit in dem Gebäude, welches vollkommen verlassen seit Jahren den ausgegrabenen Pflastersteinen von einem nahen schmalen Fußweg und anderen Wurfgeschossen des üblichen randalierenden Klientel ausgesetzt war. Das Licht stach durch die Dunkelheit und wurde von den metallisch glänzenden Schusswaffen der Männer im Gebäudeinneren reflektiert.

Lamar richtete seine Waffe auf Darius, welcher Minuten zuvor auf dem Telefon der Sozialarbeiterin Alicia angerufen und die Behauptung aufgestellt hatte, seine Schwester in seiner Gewalt zu haben. Lamar wollte nun sein durchschlagendes Argument in Form einer Handfeuerwaffe einsetzen und ihn überzeugen, seine Schwester doch bitte gehen zu lassen.

Hinter dem selbst unbewaffneten Darius standen seine Gang. Seine Jungs versuchten ihrerseits mit ihren Waffen überzeugend auf Lamar einzuwirken. Da waren zum einen Levin und Noah. Brüder. Jeweils 19 und 17 Jahre alt. Ebenso wie Lamar und ihr Boss handelte es sich bei ihnen um Afroamerikaner. Eindeutig aus der Klischeestraßengang herausstechen tat Finn. Er war der einzige Weiße und ließ sich von den anderen meist herumkommandieren.

“Sei nicht so unentspannt, Nigger!”, beschwichtigte Darius.

“Du hast meine Schwester!”, klagte Lamar an. “Und Ich bin nicht dein Nigger!”

“Ich bin ein Nigger. Du bist ein Nigger.” Erneut breitete Darius für einen Moment seine Arme aus. “Wir sind alle Nigger!”

“Ähm, Boss!”, mischte sich Finn sein. “Ich bin kein-”

“Halt die Fresse, Toast!” Der Bandenchef wandte sich seinem Untergebenen mit scharfem Tonfall zu. “Wenn ich sage, du bist ein Nigger, dann bist du ein Nigger! Kapiert?!”

“O-Okay, Boss!”

Darius setzte seinen Weg zu Lamar fort. “Bruder!”, versuchte er es noch einmal.

“Ich bin auch nicht dein Bruder”, widersprach Lamar.

“Du bist eine harte Nuss… Erinnerst du dich nicht mehr an früher? Als wir noch gemeinsam für den alten Boss Pakete zugestellt haben.”

Dinge von A nach B bringen - darin war Lamar schon immer gut. Darius spielte auf etwas an, das er verdrängt und am liebsten vergessen hätte. “Höre auf zu labern! Rück meine Schwester raus!”

Unbeirrt kam Darius seinem Freund aus Kindertagen näher.

“Bleib stehen, sonst-”

“Sonst was? Du erschießt mich nicht! So dumm bist du nicht. Dann knallen dich meine Jungs ab. Und wer rettet dann Kayla?”

Das dreckige Grinsen auf Darius’ Visage lud Lamar förmlich dazu ein, das Magazin seiner Waffe in dessen hässlichen Grinsen zu entleeren. So gern er dieses verlockende Angebot auch wahrgenommen hätte, so musste er sich eingestehen, dass Darius Recht hatte. Er konnte es sich nicht erlauben, hier und jetzt sein Leben wegzuwerfen. Er spürte die Schweißperlen über seinen kahlen Schädel laufen.

“Nein, du drückst nicht ab.” Darius setzte seinen Monolog fort, als bezweckte er damit Lamar in eine Trance zu quatschen. Zwar besaß er keine derartige Fähigkeit, dennoch verfehlten die Worte nicht ihre Wirkung. “Wenn ich mich nicht in ein paar Minuten melde, verpasst Kai deiner Schwester eine Kugel.”

Kai. Ausgerechnet der! Lamar kannte ihn noch von früher. Er war absolut loyal gegenüber Darius und befolgte jeden seiner Befehle, ohne sie zu hinterfragen. Er war ein skrupelloser Bastard, welcher bestimmt keine Probleme damit hatte, sich an Behinderten zu vergehen. Sei es auf die eine oder auf die andere Art. Allmählich lockerte sich der angespannte Griff um Lamars Waffe und sein Arm begann abzusinken.

Sofort wurde die aufkommenden Zweifel von Darius bemerkt. Er griff nach der Waffe und die beiden jungen Männer rangelten um die Kontrolle des Tötungsinstruments. Währenddessen zielten die drei Handlanger nervös auf den eng umschlungenen Haufen Mensch. Wie sollte man da den richtigen anvisieren? Ein gezielter Stoß mit dem Ellebogen generierte genug Momentum zu Darius’ Gunsten, dass er Lamar die Waffe endgültig abnehmen und sich triumphierend über ihn erheben konnte.

Auf der anderen Seite des Laufs hatte es Lamar zuvor eindeutig besser gefallen. Im Angesicht der eigenen Waffe hob er die Hände und signalisierte so, dass er aufgab.

“Guter Junge”, lachte Darius und versetzte seinem Gegenüber einen Schlag mit der Unterseite des Pistolengriffs. Der Angriff setzte Lamar sofort außer Gefecht, sodass er sich bewusstlos auf dem verfallenen Betonboden der Halle wiederfand.

 
 

~~~

 

Operationsbasis von Last Seed

20. April 2037

 

Die letzten Tage hatte man Merrill nicht aus diesem Zimmer gelassen. Es war das gleiche, indem sie zuvor schon einmal gewesen war. Das gleiche Schiffsambiente wie zuvor, inklusive des Bullauges, das nicht weiter zeigte, als Schwärze. Sie hatte es sich vollständig bekleidet auf dem Bett bequem gemacht. Von ihm aus sah sie den Kleiderschrank und daneben die Tür zu einem winzigen Badezimmer, in dem sie sich fühlte, wie in einen Hamsterkäfig eingesperrt. Glücklicherweise gab es statt Einstreu und eines Hamsterrad ein Spülklosett, ein Waschbecken und eine Duschkabine. Unglaublich, wie viel man auf so wenigen Quadratmetern unterbringen konnte. Zuhause bei ihren Eltern war die Toilette allein größer als beide Räume zusammen. An der spartanischer Einrichtung hier hatte sie sich in den letzten Tagen endgültig sattgesehen. Langsam fragte sie sich, ob sie nicht doch eine Gefangene war, auch wenn Victor nicht müde wurde das Gegenteil zu behaupten, wenn er ihr zweimal täglich auf die Ketten ging. Er brachte stets etwas zu Essen mit, was die Sache wenigstens ein bisschen erträglicher machte.

Wenigstens hatte sie noch ihr Handy. Zwar gab es hier kein Netz - was für eine Überraschung - aber immerhin konnte sie die Uhrzeit sehen und sich mit Spielen die Langeweile vertreiben.

Eigentlich musste es gleich wieder soweit sein.

Ein weiterer Besuch von Victor stand bevor.

Als ob der Gedanke an seinem Namen ihn heraufbeschwor, wie eine mystische Zauberformel einen unheilvollen Geist, öffnete sich schon im nächsten Moment die Tür und er trat in das kleine Zimmer ein. Dieses Mal führte er kein Tablet mit sich, sondern zwei kleine Boxen mit einem großen grünen Drachen darauf. Verwundert sah ihn die Rothaarige an, als wolle sie ihn fragen, was er da mitgebracht hatte.

“Ich dachte Chinesisch wäre cooler als das Zeug, dass die hier kochen”, beantwortete Victor ihre Frage, ohne dass Merrill sie aussprechen musste. Er stellte die Nudelboxen auf dem kleinen Tisch ab und setzte sich erwartungsvoll auf einen der Stühle.

Merrill blieb auf dem Bett liegen und wirkte desinteressiert.

“Chinesisch ist nicht so dein Fall?” Ein Grummeln so laut, dass er es bis zu sich hören konnte, fungierte als ihre Antwort.

Endlich zeigte Merrill eine Reaktion und verließ die Schlafgelegenheit. “Ach gib her das Zeug! Ich hab Knast!”, tönte sie und setzte sich ihm gegenüber auf den anderen Stuhl.

Victor schob ihr eine der Nudelboxen zu. Danach machte er sich an der eigenen zu schaffen und entfernte die Packung mit den Holzstäbchen. Er öffnete das Behältnis und der Geruch von scharf gewürzter Soße erfüllte den Raum. Intelligent! Hier konnte man nicht lüften! Victor riss die Tüte auf, holte die Stäbchen heraus und trennte sie. Sogleich benutzte er das Essbesteck, stocherte in der Box herum und schob sich Nudeln in den Mund. Er sah, das Merrill noch nicht mit Essen angefangen hatte, saugte die weit aus seinem Mund heraus hängenden Nudeln ein und fragte mit hörbar vollem Mund: “Warum isst du nicht?”

“Bin ich eine Gefangene?”, fragte sie aus heiterem Himmel.

Victor starrte sie an, als ob sie ihn fragte, ob es den Weihnachtsmann wirklich gab.

“Ich darf seit drei Tagen nicht raus. Das klingt schon sehr nach Gefangenem.”

“Deine Schulter sollte erst mal abheilen”, erklärte Victor. “Die Polizei sucht überall nach jemanden mit einer Schussverletzung. Wir wollen vermeiden, dass man dich aufgreift und ein paar unangenehme Fragen stellt.”

“Ach so.” So richtig schlüssig klang das für sie nicht. Sie musste allerdings eingestehen, dass das Zeug, dass ihr von diesem Doktor Mitchell am ersten Tag gespritzt wurde, tatsächlich seine Wirkung nicht verfehlte und ihre Schulter inzwischen soweit abgeheilt war, dass sie die Armschlinge gar nicht mehr brauchte. Sie lag stattdessen im Kleiderschrank bei den Büstenhaltern - sie wusste einfach nicht wohin mit dem Ding.

“Sieht aber gut aus. Du kannst bestimmt bald wieder zurück. Es gibt da nur ein kleines Problemchen, was die Sache etwas verkompliziert. Wir haben dir das bisher nur nicht gesagt, um dich nicht zu beunruhigen.”

Während Victor redete und redete, öffnete Merrill Box und Stäbchenpackung und begann nun selbst die fernöstliche Kost mit ihr Eins werden zu lassen.

“Dir sind bestimmt schon die Kameras in deiner Universität aufgefallen. Während des… Vorfalls zeigen sie aber nichts als leere Gänge. Jian meint, da hat jemand das echte Material verschwinden lassen und stattdessen einen Loop eingespielt. Wir versuchen herauszufinden, wer das war. Mehr wissen wir leider nicht.”

“Aha.” Immer mehr Nudeln verschwanden in dem schlanken Mädchen.

Victor sah ihr beim Essen zu und lächelte dabei.

“Was grinst du so dumm?”, stellte Merrill ihn zur Rede.

“Ach nichts”, meinte er. “Schön wenn es dir schmeckt. Der Asiate um die Ecke hat Wucherpreise dafür verlangt. Kleines geldgeiles Backpfeifengesicht! Trotzdem, schön. Ich finde du solltest meins auch noch nehmen.”

“Hast du ein Rad ab?”

“Ein bisschen mehr auf die Rippen bekommen…”

Das war ihr auch noch nicht untergekommen. Ein Kerl, dreist genug ihr zu sagen, dass sie zu dünn sei. “Ich nehm’ gleich eins der Stäbchen und schieb es dir dahin, wo keine Sonne scheint!” Frechheit! Was konnte sie denn dafür, einen aktiven Stoffwechsel zu haben?

Schützend erhob Victor die Hände. “Ich mache doch nur Spaß!”

“Schon für dich. Ich nicht!” Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie wirkte auf einmal bedrückt, als ob ihr etwas unangenehm wäre.

Victor fiel das natürlich sofort auf. “Was guckst du so bedeppert? Musst du aufs Klo?”

“Nein, verdammt!” Merrill schlug auf die lächerliche Aussage des Schwarzhaarigen mit beiden Fäusten auf den Tisch und ließ so die Nudelboxen hüpfen. “Ich würde nur gern meine Mutter anrufen. Die Textnachricht vorgestern ist ein bisschen wenig.” Wortlos tagelang zu verschwinden wäre mindestens genauso verdächtig gewesen. Darum schlug Merrill vor, ihrer Mutter eine Nachricht zukommen zu lassen. Über ein virtuelles Netzwerk hatte Merrill auf ihren Account in den sozialen Netzwerken zugegriffen und ein paar Freunde erfunden, bei denen sie ein paar Tage bleiben wollte. Aber wirklich daran glauben, dass ihre Mutter diese Kröte geschluckt hatte, konnte sie auch nicht.

 

Verlassenes Industriegelände

 

Das schwere Stück Metall in ihrer Hand war Mandy fremd. Für gewöhnlich nutze sie entweder ihre Fäuste, ihre Fähigkeiten oder auch “alternative” Techniken, wie Mr. Rivera es gern bezeichnete, wenn sie ihr Äußeres für die Mission in die Waagschale warf. Da das letzte Lebenszeichen ihres Kameraden Lamar inzwischen schon drei Tage zurück lag und er seit zwei Tagen überfällig war, entschied ihr Vorgesetzter nach ihm zu suchen. Ohne einen Backup-Plan loszuziehen war jedoch viel zu gefährlich. Aus diesem Grund nahm sie nicht nur eine dicke Knarre mit, sondern auch zusätzlich zwei Komparsen vom Sicherheitspersonal mit noch dickeren Muskeln.

Das Signal von Lamars In-Ear konnte zu einem alten verkommenen Fabrikgebäude irgendwo tief in der Pampa zurückverfolgt werden. Allein schon beim Anblick dieser halben Ruine lief es der Blondine kalt den Rücken runter. Ein verfallenes Gemäuer kaum angestrahlt vom schummrigen Tageslicht des bewölkten Himmels und halb versunken in den Überresten des trüb tückischen Nebels eines Aprilmorgen, war der Stoff aus dem üble Albträume und blutrünstige Horrorfilme gewebt wurden.

Es verleitete Mandy sich einmal kräftig zu schütteln.

Das unwohle Gefühl verflog anschließend schnell. Möglicherweise half auch das Wissen, im Fall der Fälle zwei weitere Pistolen zur Verfügung zu haben. Ob Superkräfte oder nicht, sie war immer noch ein sechzehnjähriges Mädchen.

Besonnen schritt das Dreiergespann voran. Sie nutzten alle Objekte aus, welche ihnen Sichtschutz gewährten, bis sie die gewaltsam aufgebrochene eiserne Eingangstür erreichten. Während ihre Begleitung in das Innere eindrang, nahm Mandy die Beschädigungen an dem Schloss kritisch in Augenschein. Der Schließmechanismus des Schlosses war von einem sauberen Bruch zerstört worden. Anzeichen dafür, dass extreme Kälte am Werk gewesen sein musste. Das war Lamar, dachte sie.

Als die beiden Männer ihr zuriefen, dass es sicher war, betrat auch sie das Innere der Halle. Man konnte nur schwerlich etwas ausmachen.

Mandy nahm eine Taschenlampe zur Hilfe und suchte den Boden ab.

Von irgendwo hier kam das Signal des Kommunikationsgerätes.

Suchend bewegte sich der Lichtkegel der Taschenlampe über den Boden, bis etwas kleines schwarzes in ihm zum Vorschein kam. Sofort begab sich die Blondine zu dem Gegenstand und hob ihn an. Es handelte sich tatsächlich um einen In-Ear, wie er von Last Seed verwendet wurde. Mutmaßlich war er entweder aus Lamars Ohr gefallen, als er gekämpft hat, oder die Verantwortlichen für sein Verschwinden hatten das Gerät entdeckt und entfernt. Dass es augenscheinlich keine Schäden aufweist, war ein Indiz für das erste der beiden Szenarien. Mandy hob den In-Ear auf und steckte ihn ein. Danach griff sie nach dem in ihrem Ohr und erstattete Bericht an Mission Control.

 

Apartmentkomplex nahe Median Park

 

Viel mehr als die Wand anzustarren war Lamar in den letzten drei Tagen nicht übrig geblieben. Wenn vier Männer ausreichend lange in einer Zweizimmerwohnung zusammengepfercht werden, muss man irgendwann Geräusche und Gerüche wahrnehmen, von denen man zuvor nicht wusste, das Menschen überhaupt dazu in der Lage waren, diese zu erzeugen oder abzusondern. Seitdem er sich von Darius und dessen Stiefelleckern hatte überwältigen lassen, ließen sie ihren designierten kahlköpfigen Komplizen nicht mehr aus den Augen. Er brauchte seinen Jugendfreund nur lang genug nerven und Darius ließ Lamar kurz mit dessen Schwester Kayla sprechen, welche von Kai, dem einzigen nicht anwesenden Bandenmitglied, an einem ihm unbekannten Ort gefangen gehalten wurde.

Als er bewusstlos geschlagen wurde, musste er unbedingt auf die Seite fallen, in welcher sein In-Ear im Ohr steckte. Natürlich war das verdammte Ding herausgefallen und so Kommunikation mit Last Seed nicht möglich. Sein Handy hatte man ihm natürlich auch abgenommen. Er musste wohl schon dankbar sein, das keiner seiner Entführer das kleine schwarze Gerät auf dem Asphaltboden bemerkte. Wenn es zudem von niemanden unbewusst zertrampelt worden war, würden seine Freunde bald die alte Fabrik finden und zu dem Schluss kommen, dass ihm etwas zugestoßen sein musste.

Nur wie sollte ihm das in dieser Situation helfen?

Er benötigte dringend eine Möglichkeit, seine Verbündeten zu kontaktieren.

Zwar hatte er bereits versucht, heimlich das Handy eines unaufmerksamen Gangmitglieds zu benutzen, allerdings wurde dies bemerkt und er bezahlte seinen Vorstoß mit einem Schlag in die Magengrube. Darius mochte ihm früher nahe gestanden haben, doch inzwischen konnte er nichts mehr auf diese alte Freundschaft geben.

Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm die Grünanlagen des Median Park, eines großen rechteckigen Gartens, welcher auch als grüne Lunge von Liberty Bay angesehen wurde.

Etwas Ablenkung von der Situation wäre schon nicht schlecht.

Lamar entschied, sich direkt an das Fenster zu stellen und hinaus auf die sprießenden Blätter der erwachenden Bäume zu schauen. Dabei erinnerte er sich an den See mit der steinernen Brücke, auf der er als Kind immer Stand und die Wasservögel fütterte. War da nicht auch eine… Das könnte die Rettung sein! Lamar musste unbedingt herausfinden, ob sie sich immer noch an Ort und Stelle befand. In Gedanken verharrte er eine unbekannte Zeitspanne, bis es Darius sichtlich auf den Nerv zu gehen schien.

“Hast du nichts besseres zu tun, Diggah?!”, fragte der Bandenchef provokant.

“Tatsächlich nicht”, erwiderte Lamar. “Ich bin eingesperrt mit drei Kerlen und stinke mit ihnen um die Wette.”

Finn schreckte ertappt von seinem Laptop auf und schnüffelte unter den Achseln.

“Dein Gegaffe geht mir sowas von auf den Sack! Willst du in den Park?”

Das war leichter als erhofft. “Einfach mal den Kopf frei bekommen. Ich will etwas anderes als deine Ausdünstungen inhalieren.”

“Dann rauch mal was!”

“Ich ziehe frische Luft vor.”

“Alter, der Boss ist nicht dumm!”, zischte Levin giftig aus seiner Ecke. “Du willst doch nur abhauen und den Bullen stecken, was wir vorhaben?”

“Glaubst du echt, ich mache das?!”

“Nein, so dumm bist du nicht”, stellte Darius fest.

“Genau!”, schrie Levin in völlig überzogener Lautstärke und ohne die geringste vorangegangene Provokation. “Wenn du uns anscheißt, dann probiert Kai an deiner bekloppte Schwester aus, wie viele Kugeln in ihren hohlen Schädel passen!”

“Fick dich, du Penner!”

“Ruhig, Nigger! Ruhig!”, beschwichtigte Darius.

“Ich bin nicht dein Nigger!”

“Ja, man. Chill mal!” Darius setzte ein unbeschreibliches Grinsen auf. “Du willst also in den Park? Kannst du haben.” Er wandte sich Noah zu, welcher wie immer völlig ruhig sein eigenes Ding drehte. Ihm wahrsten Sinne des Wortes, denn er war drauf und dran, in einem handelsüblichen Stopfer gewöhnlichen Tabak und Marioanah zu einem Joint zu verarbeiten. “Noah, du passt auf ihn auf.” Darius näherte sich Lamar an und zeigte mit dem nackten Zeigefinger auf ihn. “Wenn du irgendeine dämliche Aktion machst, sag ich Kai, das er sich nicht mehr zurückhalten braucht. Klar?!”

“Klar!”

In Begleitung des Schweigsamen Noah verließ Lamar die überfüllte Wohnung. “Und wenn du ihn schon mal Gassi führst, Noah”, hörte er Darius seiner Begleitung noch nachrufen, “dann bring Gras mit! Hast ja schon fast alles weggeraucht!” Das täte ihm so passen, dass er sich daran beteiligte, Drogen zu beschaffen. Nein, Lamar hatte andere Pläne.

 

Nahe Nightyearn Street

 

Völlig blind ließ sich Merrill von Victor an einen ihr unbekannten Ort bringen. Obwohl ihre Augen verbunden waren und sie nicht sehen konnte, wie die Umgebung an ihr vorbei sauste, spürte sie doch jede Kurve, jedes Bremsmanöver und jede Beschleunigung, während Victor sich hinter dem Steuer des weißen Sportwagens austobte. Gewissermaßen war es glückselige Unwissenheit das nicht mit ansehen zu müssen.

“Wie lange willst du das Spiel noch treiben?”, fragte die Rothaarige den Fahrer. Sie bezog sich dabei auf ihre verbundenen Augen.

“Solange du nicht bei uns mitmachst, darfst du nicht wissen, wo das Versteck ist”, erklärte Victor. “Reine Vorsichtsmaßnahme!”

“Und wo bringst du mich hin?”

“Zu einer Telefonzelle?”

“Sowas gibt es noch?”

“Hast du in Geschichte nicht aufgepasst? Während des Krieges ist die Versorgung mit Mikrochips eingebrochen. Verständlich! Ich würde auch nicht mehr in das Land liefern, das mich mit Bomben bewirft. Das war damals das Ende der Smartphones. Die Dinger wurden einfach unbezahlbar. Darum hat man wieder angefangen, die alten Telefonzellen in Betrieb zu nehmen. Inzwischen gibt es wieder Handys, aber einige sind heute noch aktiv.”

“Aha”, sagte Merrill unbeeindruckt.

Victor kam nicht drumrum ihr Desinteresse zu bemerken. “Also eigentlich kommt das bei jeder gut an, wenn ich mein Wissen auspacke.”

“Solange das das einzige ist, was du auspackst!”

Ein breites Grinsen schlich sich auf der Visage des Schwarzhaarigen ein. “Du kleines versautes Singvögelchen.”

Merrill ignorierte seinen Kommentar.

Victor hielt die Konversation am laufen. “Also eigentlich schuldest du mir für deine Rettung noch ein Date.”

Jetzt glaubte sie sich verhört zu haben. “W-Was?!” Sie spürte, wie sie errötete und versuchte es zu überspielen. “V-Vielleicht in irgend so einem billigen B-Movie!”

“Weißt du, das Leben könnte genauso gut eine Geschichte sein, geschrieben von einem drittklassigen Hobbyautor, der sich für einen begnadeten Schriftsteller hält.”

“Das würde zumindest deine schlechten Sprüche erklären!”

“Ich will nur darauf hinaus, dass man niemals nie sagen sollte.”

“Mmph!” Merrill wandte ihre verbundenen Augen von Victor ab.

“Vor allem nicht bei dem, was dir entgehen würde.”

Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt?! Dieser eingebildete Fatzke! Wie groß konnte ein Ego sein? Bevor sie mit so einem Typen wie ihm ausginge, würde zuerst die Hölle zufrieren! “Sind wir endlich da?”, fragte sie anschließend. Wie weit konnte diese verdammte Telefonzelle bitteschön entfernt sein? “Du fährst mich doch nicht etwa stattdessen in irgendein Hotel, um über mich herzufallen?”

“Ach, das ist es also, was du wirklich willst!”, ärgerte Victor seine Beifahrerin. “Immerhin hätten sie da auch Telefone.”

Merrill war heilfroh, als ihr ihre übrigen Sinne verriten, dass Victor den frisch reparierten Sportflitzer endlich unfallfrei zum stehen brachte.

“Wir sind da!”

“Kann ich dann endlich die Augenbinde abnehmen?” Merrill wartete gar nicht erst auf eine Antwort und riss sich ungefragt das Stück Stoff vom Gesicht. Das erste, auf das ihr Blick fiel, war das versprochene öffentliche Telefon, welches an einem Laternenpfahl angebracht war. Allerdings gab es keine Kabine, wie man vielleicht bei der Bezeichnung ‘Telefonzelle’ vermutet hätte, sondern nur links und rechts je eine Plexiglasscheibe, in die kleine Löcher in der Form eines Telefonhörers gestanzt waren. Dann sah sie sich weiter um und erkannte nichts wieder. Sie war noch nie zuvor in diesem Teil der Stadt gewesen. Die Häuser waren zwar nicht heruntergekommen, wirkten aber als ob die letzte Renovierung lange vor dem Krieg gewesen wäre. “Hast du mich doch in die Pampa verschleppt?”

“Nein, nur ans andere Ende der Stadt”, verkündete Victor großspurig.

Die Laune des Rotschopfs wurde nicht besser. “Ich hab ein Handy. Anstatt es mir wegzunehmen, hättest du dir den Sprit für die Fahrt sparen können.”

“Dein Handy bleibt vorläufig abgeschaltet im Versteck. Befehl vom Rivera. Nicht das noch einer auf die Idee kommt, deine Koordinaten zu triangulieren, sobald wir ausgeflogen sind.”

Unbeirrt kramte Merrill in einer Hosentasche nach ein paar Geldstücken, welche sie extra für diesen Anruf mitgenommen hatte, und nahm den Hörer ab. Sie versenkte die erste Münze in dem öffentlichen Telefon. Das Geldstück fiel direkt durch die Maschine hindurch in die Wechselgeldschale. Mit einem genervten Murren auf den Lippen versuchte es Merrill erneut, kam jedoch nicht zu einem anderen Ergebnis.

“Du solltest kein Falschgeld da reinschieben”, kommentierte Victor geistreich.

“Ach, halt die Klappe!”, fauchte Merrill zurück.

Eine Chance gab sie dem verdammten Ding noch. Der Quarter verschwand im Schlitz des antik anmutenden Gerätes und endlich drangen die Geräusche der in den Geldbehälter fallenden Münze aus dem Gehäuse nach außen und verhießen Merrill, dass sie endlich mit der Eingabe der Nummer beginnen konnte. Sie gab die Zahlen der Rufnummer ihres Elternhauses ein und wartete.

Das übliche Klingelzeichen drang an ihr Ohr.

Während sie wartete, sah sie Victor fordernd an. “Hau ab, das wird ein Privatgespräch!”, gab sie ihm zu verstehen, als er nicht Folge leistete.

“Die Privatsphäre wurde schon lange vor unserer Geburt abgeschafft”, konterte der Schwarzhaarige. “Wir können nicht riskieren, dass du uns hinterrücks in die Pfanne haust.”

“Ihr seid wirklich vertrauensselig.”

 “Müssen wir als Untergrundvereinigung, die sich mit Staat, Privatorganisationen und der Mafia gleichermaßen anlegt, auch sein. Außerdem machst du es uns nicht leicht.”

“Sorry, dass ich nicht einfach so mein altes Leben aufgeben und euphorisch bei den X-Men für Arme mitmachen will.”

Endlich nahm ihr Gegenüber das Telefon ab.

“O, Hallo Virgil”, grüßte Merrill den Mann am anderen Ende der Leitung. “Können Sie mir bitte meine Mutter geben?” Bei Virgil handelte es sich um den hauseigenen Butler. Merrills Eltern waren nicht einfach nur wohlhabend, sondern stinkreich. Der Bedienstete erfüllte ihren Wunsch und schon bald hörte Merrill die vertraute Stimme von Candice Sturm, ihrer Mutter. “Hallo, Mum!”, grüßte Merrill zurück.

“Schatz, wo treibst du dich nur rum?”, fragte die ehemalige Influencerin. Lange vor Merrills Geburt war sie eine Größe auf Videoplattformen und gab Schminktipps. Es war derart lukrativ, dass sie schon bevor sie ihren späteren Ehemann Harald kennenlernte, ein ansehnliches Auskommen durch Sponsoring einfuhr. “Wir haben uns solche Sorgen gemacht!” Die Stimme der Frau wurde mit jedem Wort aufgelöster. Man konnte die Angst um ihr Fleisch und Blut fast greifen. “An deiner Uni gab es einen Amoklauf! Und du bist seit Tagen nicht rangegangen.”

“Aber ich hab dir doch geschrieben.”

“Glaubst du die paar Worte reichen mir? Sag mir, wo bist du?”

Gestresst sah sie zu Victor, der einfach nur seinen Kopf schüttelte. “Ich bin bei Freunden”, log sie anschließend “Ich bin bei dem Amoklauf… g-gerade so davon gekommen. Ich musste mich erst von dem Schock erholen.”

“Wo wohnen deine Freunde? Ich schicke unseren Chauffeur, dass er dich abholt.”

“Mum, ich kann alleine Fahren!”

“Etwa auf diesem schrecklichen Motorrad, dass dir dein Vater unbedingt kaufen musste, obwohl ich gesagt habe, er soll das lassen?”

“Ja, genau das Ding!” Eigentlich stand ‘das Ding’ noch immer vor der Universität, aber das musste sie ihrer Mutter nicht unbedingt auf die Nase binden.

“Wann kommst du endlich wieder nach Hause?”

“Weiß nicht, ist gerade so spannend hier. Sie wollen mich am Liebsten gar nicht gehen lassen.” Merrill warf Victor einen vielsagenden Blick zu. “Die haben so ein Projekt am Laufen und wollen unbedingt, dass ich ihnen was singe.”

“Och, das ist ja toll. Hoffentlich darf deine liebe Mutter das auch mal hören.”

“Aber klar.” Merrill legte eine Kunstpause ein. “Sag mal, was macht Dad eigentlich?”

“Hat sich vergraben im Online Banking. Will sich wohl ablenken…”

“Also alles beim alten.”

“Willst du ihn auch sprechen?”

“Ne, lass ihn mal machen.”

“Okay.”

“Ich muss dann mal. Ciao, Mum!”

“Mach’s gut, mein Engel. Ich hab dich lieb!” Merrill beendete das Gespräch und hing den Hörer zurück in seine Halterung. Sie nahm sich einen Moment und atmete durch.

 

In schummrigen Licht saß eine Gestalt vor einem Monitor. Sie trug ein Headset. Die Finsternis verhüllte ihre Züge, sodass man nicht erkennen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Der Unidentifizierbare fegte mit den Fingern über die Tastatur vor ihm. Ein Fenster erschien und wenig später startete eine Audioausgabe.

“Schatz, wo treibst du dich nur rum?” Die Stimme einer besorgten Mutter drang aus den Kopfhörern, drauf und dran dem eigenen Kind eine Standpauke zu halten. “Wir haben uns solche Sorgen gemacht!” Langsam aber sicher steigerte sie sich in einen schrillen Tonfall hinein. ”An deiner Uni gab es einen Amoklauf! Und du bist seit Tagen nicht rangegangen.”

Uneinsichtig antwortete die Tochter: “Aber ich hab dir doch geschrieben.” Sie hegte offenbar die Hoffnung, die halb hysterische Frau auf diese Weise zu beruhigen.

Keineswegs vermochte es eine einfache Textnachricht eine besorgte Mutter zu beruhigen. “Glaubst du die paar Worte reichen mir? Sag mir, wo bist du?”

Die Gestalt lauschte weiter interessiert dem Gespräch der beiden Frauen.

 
 

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Operationsbasis von Last Seed

23. April 2037

 

Seitdem Lamar sich nicht mehr zum Dienst gemeldet hatte, waren schon fünf Tage ins Land gezogen. Die einzige Spur zu ihrem Kameraden, die Last Seed zur Verfügung stand, war der verlorene In-Ear Stecker, welcher Mandy und das Suchteam zu einer alten verlassenen Fabrikhalle in einem Industriegelände geführt hatte. Leider konnten aus dem Ort keine weiteren Schlüsse gezogen werden. Er stand in keiner Verbindung zu Lamar. Zumindest keiner, die der Organisation bekannt war.

Mr. Rivera gab den Befehl, die städtischen Überwachungskameras anzuzapfen.

Diese Systeme waren vieles, aber ganz sicher kein Beispiel für IT-Security. Ein offenes Einfallstor für jeden drittklassigen Hacker. Gegen eine ganze Horde von Computerspezialisten hatten sie erst recht keine Chance. Obwohl sie eine Gesichtserkennungssoftware über die Aufnahmen laufen ließen, bedeutete es trotzdem rund um die Uhr zu warten, bis die unterschiedlichsten Surveillance Feeds von der Software abgearbeitet waren. Mögliche Fehlidentifikationen der Sofware kosteten zusätzlich Zeit.

Zeit, die sie vielleicht nicht mehr hatten!

Jian war entschlossen den Prozess zu beschleunigen und öffnete ein Fach an der innenseite seines synthetischen Arms. Aus ihm entfernte er einen schmalen USB-Stick, welcher an einen PC angeschlossen eine Bluetooth-Schnittstelle bereitstellte, über die sich Jians Geist in die Welt des Cyberspace bewegen konnte. Bei dieser Prothese handelte es sich um eine Spezialanfertigung, angepasst an seine Hirnströme. Er nutzte seine Fähigkeiten und drang in den Computer und danach das Netzwerk ein. Vor seinem inneren Augen erschienen alle Videos gleichzeitig und er hatte es zuerst schwer, damit umzugehen. Er fühlte sich schier überwältigt vom Fluss der Informationen. Aber dann gelang es ihm doch noch, die Situation zu beherrschen, und er fand wonach er suchte. Augenblicklich schickte er einen Link an seinen Rechner und führte den Dismount seines Bewusstseins vom Computersystem aus. Dann begann er konventionell in die Tasten zu hauen.

“H-Hey, Leute!”, machte er auf sich aufmerksam. “Ich habe ihn gefunden.” Ein paar Befehle später war das Fenster mit dem Video auf den interaktiven Tisch in der Mitte des Raumes umgeleitet. Es zeigte Lamar, wie er an drei Tagen immer wieder an der gleichen Stelle auf einer steinernen Brücke stand. Die Hände hatte er über die Balustrade gelegt und er starrte wie besessen in die Kamera, welche wohl gegenüber an einem Baum angebracht war, so wie am Rand einige Zweige in den Bildausschnitt rutschten. Auf dem Video war auch jedes mal der gleiche Mann zu sehen, welcher nicht weit von Lamar stand und ihn nicht aus den Augen ließ. Er machte sich sehr verdächtig.

“Wer zum Teufel ist der andere Kerl?!”, dachte Mandy laut.

“Die Gesichtserkennung erkennt ihn nicht.”

“Und?”

“Da wir uns die Software der Polizei ‘ausgeborgt’ haben, ist er nicht vorbestraft.”

“Aber Lamar ist vorgestraft?”

“Scheinbar… Ist ja auch egal. Gucke mal genauer hin.”

“Hä?”

“S-Siehst du Lamars Hände?”, fragte Jian zurückhaltend.

Mandy befolgte den Rat und fixierte ihre Augen auf dem Bild. Sie bemerkte das die Zeigefinger von Lamars Hand unter den Rand der Balustrade zeigten. Diese Stelle war für den Mann hinter Lamar nicht einzusehen. “Ach so”, verstand die Blondine. “Das will er also sagen.”

 

Median Park

 

Inmitten des beschaulichen Median Park führte die steinerne Brücke über einen künstlich angelegten See. Ihre Baluster erhoben sich aus dem Fußlauf in eine bauchige Form und stützten den massiven Handlauf ab, welcher doppelt so dick war, wie sein Gegenstück am Boden. Eine ältere Frau lehnte auf einer Seite und fütterte einige der Gänse, welche im See unter der Brücke schwammen. Die gefiederten Gesellen hatten hier überwintert, da sie wussten, dass ihnen das Essen förmlich in den Schnabel geschwommen kam. Weitere Passanten nutzten die Brücke zum Überqueren des Gewässers. Eine Frau mit Kinderwagen in der einen und den bereits eigenständig stehenden Nachwuchs in der anderen Hand schaute dem gierigen schnappen der Vögel nach dem altem Brot zu.

Zuverlässig filmte die Überwachungskamera die Szenerie von einem Baum auf einer Insel aus, genau gegenüber der Brückenseite.

Mandy erreichte den Übergang über das Gewässer. Sie trug weiße Bluetooth-Ohrstecker. Einer von ihnen war in Wirklichkeit ein Kommunikationsgerät. Sie tat so, als wolle sie sich am Ohr kratzen, um auffällig die Übertragung einzuleiten. “Ich bin jetzt da”, gab sie ihren Verbündeten durch. “Ich versuche jetzt den In-Ear zu platzieren.”

“Habe verstanden!”, antwortete das selbstsichere Alter Ego Jians. “Deponiere das Gerät wie besprochen direkt gegenüber der Kamera.”

“Alles klar.”

Den ganzen Weg vom Eingang des Parks bis hin zur Brücke kaute Mandy schon auf einem

Kaugummi herum. Inzwischen war auch der letzte Rest Pfefferminzgeschmack aus ihm herausgepresst. Der Speichel in Mandys Mundflora hatte den Kaugummi in eine klebrige Masse verwandelt. Ein wichtiger Teil des Plans!

“Stehe ich richtig?”, fragte die Blondine.

“Nein, noch ein Stück weiter… weiter… weiter… halt. Perfekt!”

Um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, beugte sich Mandy über den Handlauf und stützte dabei ihre Ellenbogen auf ihm ab. Mit gesenktem Kopf wartete sie auf den richtigen Moment. Als dieser gekommen schien und sie niemand beobachtete, griff sie beherzt in ihren Mund und entfernte den Kaugummi. Danach klebte sie ihn unter der Kante des Handlaufes fest. Als nächstes griff sie in ihre Hosentasche und nahm einen der gewöhnlichen In-Ear heraus. Diesen mogelte sie nun ebenfalls unter den Handlauf und presste ihn hinein in die klebrige Masse. Sie verweilte noch einen Moment, um sicher zu gehen, und verließ anschließend die Brücke.

 

Etwa eine halbe Stunde später war es wieder an der Zeit für Lamars tägliche “Gassi-Runde”, wie Darius es abfällig bezeichnete. Wie auch schon die Tage zuvor, kam Lamar in Begleitung von Noah in den Park und bewegte sich sofort in Richtung der Brücke. Es war ihm egal, was die anderen über seine Angewohnheit dachten. Ganz besonders kalt ließen ihn die Sprüche von Darius, welche nur dazu gut seien konnten, ihn zu provozieren. Insgeheim hoffte er, dass seine Freunde bei Last Seed endlich verstanden hatten, was er von ihnen wollte. Vielleicht waren sie aber noch nicht einmal auf die Bilder der Überwachungskamera gestoßen, obwohl er so biometrisch korrekt wie auch nur möglich von der immer gleichen Stelle aus in das Aufnahmegerät hinein gaffte. Hoffentlich erwies sich wenigstens dieses mal eine kriminelle Vergangenheit als hilfreich…

Lamar stellte sich an die Balustrade und begann sein tägliches Ritual in die gut versteckte Kamera zu starren. Gleichzeitig tastete er unter der Kante des Handlaufes und bekam etwas klebriges zu fassen. Das widerliche Gefühl an seinen Fingerkuppen ließ ihm die Mundwinkel verrutschen. In dem Gemisch aus Kaumasse und Speichel klebte ein Gegenstand aus Plastik. An seiner Form erkannte Lamar sofort, worum es sich dabei handelte. Ging es eigentlich noch ekliger, schimpfte er im Geiste. Er machte sich bereit das Gerät aus dem Kaugummi zu pflücken und in seine Tasche zu stecken.

“Hey!”, sprach ihn Noah plötzlich von der Seite an. Er umklammerte den Handlauf der Balustrade mit beiden Händen und sah Lamar dabei in die Augen.

Äußerlich völlig ruhig aber innerlich leicht erschrocken, ließ der Kahlköpfige den in der Kaumasse klebenden In-Ear an Ort und Stelle verweilen, brach den Augenkontakt zu der Überwachungskamera allerdings nicht ab.

“Wieso starrst du eigentlich immer in den Baum?”

“Ich denke nach”, erwiderte Lamar. Unfassbar! Musste er ihn unbedingt jetzt anquatschen?! “Ich kann auch gern woanders hin schauen.” Er gab sich alle Mühe so genervt wie möglich zu klingen. Demonstrativ sah er über seine linke Schulter, wo am anderen Ende der Brücke noch immer die alte Frau stand und die Wildgänse mit ihrem alten trockenen Brot mästete.

“Ist ja schon gut!”, meinte Noah. “Nicht so frostig.” Er entfernte sich wieder von der Balustrade. Endlich konnte Lamar das Gerät ansich nehmen. Kurz wandte Noah sich von ihm ab, um zur gegenüberliegenden Seite zurückzukehren. Von dort aus konnte er seiner Meinung nach am bequemsten über Lamar wachen.

Den kurzen Moment, den sein Aufpasser nicht zu ihm sah, nutzte Lamar aus und pflückte den In-Ear aus seiner Kaugummihalterung. Umgehend ließ er ihn in seinem Ohr verschwinden - so eklig das ganze auch war.

Den Rest seines Ausflugs über hüllte er sich in Schweigen.

Nicht das es für ihn out of Character gewesen wäre.

 

Operationsbasis von Last Seed

 

Zurück im Versteck gab Victor Merrill ihr Augenlicht zurück, indem er ihr das zur Augenbinde umfunktionierte schwarze Halstuch abnahm. Zuvor hatte er sie durch etwas geführt, was Merrill für eine Tiefgarage hielt. Vermutlich der Ort, an dem die ganzen fetten Schlitten und heißen Öfen aufbewahrt wurden.

“Wieso hast du mich wieder hier her geschleppt?!”, wurde Victor von der Rothaarigen sofort konfrontiert.

“Du hast deiner Mutter doch gesagt, dass du noch etwas bei deinen ‘Freunden’ bleibst”, antwortete Victor unverständig.

“Das hab ich doch nur gemacht, damit sich meine Mum raushält!”

“Ach so?” Victor tat, als ob er sich das nicht schon gedacht hatte. “Egal. Jedenfalls gehst du jetzt erstmal wieder auf dein Zimmer.”

“Ich bin doch kein kleines Kind mehr!”

“Wir lassen dich bestimmt nicht frei rumlaufen, solange du nur zu Besuch bist. Und ich habe auch keine Lust, die ganze Zeit auf dich aufzupassen!”

 

Gebannt verfolgte das Team die Live-Übertragung.

Mandy war bereits wieder von ihrem Auftrag zurück und wurde darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Übergabe ein voller Erfolg gewesen ist.

Inzwischen hatten sich sie, Mr. Rivera und Melanie bereits um den Smart Table im Zentrum des Raumes versammelt, als sich die Tür zur Kommandozentrale öffnete und Victor in Begleitung eines augenscheinlich mies gelaunten Rotschopf eintrat.

“Wieso hast du sie mitgebracht?”, fragte Melanie in ihrem üblichen, teilnahmslosen Tonfall. “Wir befinden uns in einer Operation.”

“Das geht schon in Ordnung”, meinte Mr. Rivera. “Wenn wir Seniora Sturm als unsere Verbündete wollen, sollten wir sie auch teilhaben lassen.” Er wandte sich Victor zu. “Das war bestimmt auch Ihr Gedanke, Senior Krueger.”

“Na aber klar”, behauptete Victor.

“Ist doch gar nicht wahr!”, grätsche Merrill dazwischen.

“Stimmt! Du hast rumgejammert, dass du nicht allein sein willst.”

“Was?!” Merrill ballte die Faust. “Frechheit!”

Der Schwarzhaarige beantwortete es mit einem frechen Grinsen.

Mandy beugte sich über den Tisch zu Melanie. “Empfängst du auch diese Schwingungen?”, scherzte sie.

Melanie sah sie ein wenig perplex an. “Als Psionikerin kann ich dir versichern, dass hier keine ‘Schwingungen’ oder dergleichen sind.”

“Spürst du nicht, wie es zwischen denen knistert?”

Jetzt verstand Melanie, was Mandy ihr sagen wollte. “Da es sich bei Schallwellen und Elektrizität in beiden Fällen um Formen der Energie handelt und Menschen instinktiv genetisch kompatible Partner suchen, wäre das bei ihnen nicht überraschend.”

“Man bist du verklemmt! Stehst du nachts eigentlich in einer Ladestation?”

Die Brünette mit der strengen Brille ließ das unkommentiert stehen. Sie war äußerst empfindlich für Emotionen und Gedanken anderer Menschen. Um sich selbst zu schützen, musste sie früh lernen, ihre eigenen Gefühle abzuschalten und sich hinter einer imaginären Mauer zu verstecken, um nicht aufgrund der Reizüberflutung wahnsinnig zu werden. Wenn nur noch rational an Sachverhalte heranzugehen bedeutete, dass sie verklemmt war, dann stand es nicht in ihrer Macht, diesen Umstand zu ändern.

“S-Seid mal still”, legte Jian den beiden Nahe. “Ich glaube die besprechen da gleich irgendwas.”

Victor legte seine Hand auf Merrills Rücken und schob sie gegen ihren Willen in Richtung des interaktiven Tisches. Das ging natürlich nicht ohne Protest ihrerseits von statten. “Hey!” Bereits auf dem Rückweg hatte sich Victor die Eckdaten durchgeben lassen. Er war auf dem laufenden und wusste, das Lamar offenbar von mindestens einem Mann gefangen gehalten wurde. Dank der Übertragung wurde diese Zahl inzwischen auf drei raufkorrigiert. Mit welchen Mitteln er zur Kooperation gezwungen wurde, sodass er sich das gefallen ließ, wusste Victor allerdings nicht.

Vielleicht würde dies gleich ans Tageslicht kommen.

 

FORTSETZUNG FOLGT...



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Regina_Regenbogen
2021-12-12T14:20:33+00:00 12.12.2021 15:20
😍😍😍 Ooooh! Ich liebe das Zitat!!!
Und du glaubst nicht, wie sehr ich mich jetzt darauf freue, das Kapitel ganz entspannt zu lesen, bevor ich wieder andere Aufgaben zu erledigen habe. 😂

Die Beschreibung mit dem Licht ist schon mal sehr atmosphärisch. :D
XD XD XD XD XD Finn!!!! "Ähm, Boss! Ich bin kein..." XD XD XD Wie geil.

Na danke, jetzt hab ich Hunger auf Chinesisch. XD
XD XD XD Victor! Du Trottel, sag einer Frau doch nicht, dass sie keine für dich perfekte Figur hat. XD XD XD
Oh Mann, Victor, dein Charme ist unübertreffelich. "Musst du aufs Klo?"

Ich finde es cool, jetzt nicht nur Lamar mal einzeln zu erleben, sondern nun auch Mandy. :D

Coole Info mit dem Krieg und den Telefonzellen. :D
XD Merrills Kommentar zu Victors Ding.
Wie süß, dass sie schüchtern wird, weil Victor ein Date will. Im Übrigen, Victor, du Depp, eine Rettung gibt dir nicht Recht auf ein Date! XD
Der Spruch mit dem Leben und dem Schriftsteller! Ich liiiiiiieeeeeebee es!!!!!! 😍😂
XD XD XD Oh mein Gott, das Wortgefecht ist wunderbar!!!! XD XD XD XD
Ich feiere Victors Selbstbewusstsein.
XD XD XD Victors dumme Sprüche! Ich liebe das!
X-Men für Arm!!! Yes! XD

Okay, unheimlicher Typ, der Telefonate belauscht. Klingt nach einem Verdächtigen für die Überwachungskamera-Sache.

:O :O :O Jian ist so cool!

XD Wunderbar, wie eklig Lamar das Ganze findet.

Melanies "genetisch kompatible Partner"! Herrlich! XD XD XD XD XD XD
Ach cool in einem kurzen Abschnitt mehr über Melanie zu erfahren.

Ein sehr unterhaltsames Kapitel! :D
Ach, langsam wachsen mir die Charaktere echt ans Herz. Ich bin schon sehr gespannt, wie es weitergeht.
Und die Sticheleien zwischen Merrill und Victor sind einfach herrlich. XD Und ich kann nicht oft genug erwähnen, wie sehr ich deinen Humor liebe! Außerdem schreibst du immer auf eine Weise, dass man sich das Ganze wundervar vorstellen kann. ^^
Antwort von:  totalwarANGEL
12.12.2021 16:02
> Na danke, jetzt hab ich Hunger auf Chinesisch. XD
Ist nie verkehrt und sehr gesund.

> Oh Mann, Victor, dein Charme ist unübertreffelich.
Ja, er ist ein bisschen wie Vitali. Nur cooler.

> Wie süß, dass sie schüchtern wird, weil Victor ein Date will.
Du weißt doch, ich hab einen Fabel für solche Charaktere.
> Im Übrigen, Victor, du Depp, eine Rettung gibt dir nicht Recht auf ein Date! XD
Was, echt? Das wird jetzt aber sein Weltbild zerstören!

> Der Spruch mit dem Leben und dem Schriftsteller! Ich liiiiiiieeeeeebee es!!!!!!
Na ja, es IST eine Geschichte von einem drittklassigen Hobbyautor. Also von daher...

> XD XD XD Oh mein Gott, das Wortgefecht ist wunderbar!!!!
Echt? Ich hab beim schreiben gedacht "Also Erik und Ariane können das besser".

> :O :O :O Jian ist so cool!
Psssss! Verrate ihm das nicht.

> XD Wunderbar, wie eklig Lamar das Ganze findet.
Also ich würde das auch eklig finden, mir etwas ins Ohr zu stecken, wo Speichel von jemand anderem dran ist.
Du nicht?

> Ein sehr unterhaltsames Kapitel! :D
Danke.
> Und ich kann nicht oft genug erwähnen, wie sehr ich deinen Humor liebe! [...]
Danke, danke!

Ich selbst fand das Kapitel so mediocre.
Aber wenn es dir Spaß gemacht hat, hat es sich gelohnt. ;)
Antwort von:  Regina_Regenbogen
12.12.2021 17:44
>> Oh Mann, Victor, dein Charme ist unübertreffelich.
>Ja, er ist ein bisschen wie Vitali. Nur cooler.
Er ist einfach nur deutlich selbstsicherer und von sich überzeugter als Vitali. In der ersten Version von BD, in der Serena und Vitali sehr viel weniger sensibel und schüchtern waren, war Vitali tatsächlich Victor sehr ähnlich und hat dauernd Serena angeflirtet. XD Heute würde er sich das nicht mehr trauen.

>> Im Übrigen, Victor, du Depp, eine Rettung gibt dir nicht Recht auf ein Date! XD
>Was, echt? Das wird jetzt aber sein Weltbild zerstören!
Ich als Weltenzerstörer? Gefällt mir.

>> Der Spruch mit dem Leben und dem Schriftsteller! Ich liiiiiiieeeeeebee es!!!!!!
>Na ja, es IST eine Geschichte von einem drittklassigen Hobbyautor. Also von daher...
Wer hat die Klassen eingeteilt?

>> XD XD XD Oh mein Gott, das Wortgefecht ist wunderbar!!!!
>Echt? Ich hab beim schreiben gedacht "Also Erik und Ariane können das besser".
Victor hat mit seinen lockeren Sprüchen ja auch mehr Ähnlichkeit zu Vitali als zu Erik. 😂 Und Merrill ist auch mehr Zicke und will Victor nur eins reinwürgen. Ariane und Erik haben eine ganz andere Dynamik, weil Ariane wegen ihrem Stolz beweisen will, dass sie intelligent ist, während Merrill gar nicht erst auf die Idee käme, sich vor dem Blödmann Victor zu beweisen. 😂😂😂

>> :O :O :O Jian ist so cool!
>Psssss! Verrate ihm das nicht.
Ich finde die Idee, dass er eine eigene Yandere kriegt, immer besser. XD

>> XD Wunderbar, wie eklig Lamar das Ganze findet.
>Also ich würde das auch eklig finden, mir etwas ins Ohr zu stecken, wo Speichel von jemand
>anderem dran ist.
Das ist doch der Speichel von Mandy. Ich dachte, bei ihr würden sich Männer freuen, wenn es zum Flüssigkeitsaustausch kommt. XD XD XD

>Aber wenn es dir Spaß gemacht hat, hat es sich gelohnt. ;)
Hat es! 😘


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