Last Seed von totalwarANGEL (Die letzte Hoffnung der Menschheit) ================================================================================ Kapitel 6: Seifenblasen neigen zum platzen ------------------------------------------ “Wer vor seiner Vergangenheit flieht, verliert immer das Rennen.” (Thomas Stearns Eliot)   Leonard Bernstein University, Liberty Bay 17. April 2037   Merrill starte dem Verrückten mit weit aufgerissenen Augen an. Der Schmerz der Schusswunde in ihrer Schulter fuhr in Wellen durch ihren gesamten Körper und lähmte sie. Aus dem pechschwarzen Loch am Ende des Laufes der Waffe würde schon bald das todbringende Projektil austreten, getrieben von den sich rapide ausdehnenden Gasen des entzündeten Schießpulvers, und begleitet von einem ohrenbetäubenden Knall. Es würde in Sekundenbruchteilen die kurze Distanz zu ihrem Schädel überbrücken. Sie wäre nicht einmal mehr imstande den Knall zu hören. Je nach Kaliber trieb es das Projektil entweder glatt durch ihren Kopf und in einer gewaltigen Sauerei auf der anderen Seite wieder heraus oder es würde auf seinem Weg durch ihre grauen Zellen an den Schädelinnenwänden abprallen und ihr Hirn in einen grotesken Flipperautomaten verwandeln. Der Zeigefinger des Wahnsinnigen drückte allmählich gegen den Abzug. Sie war völlig machtlos. In der Regel hatte eine Handfeuerwaffe ein Abzugsgewicht von einem oder zwei Kilo. Wollte man schießen, musste man es auch wollen. Das leichte Zittern ihres Gegenübers verriet ihr, dass ihn wahrscheinlich noch Skrupel plagten, ein Leben zu beenden. “Bitte”, presste sie unter ihren Schmerzen hervor. “Nicht!” “Halt deine Schnauze!”, schrie der Verrückte. Der Griff um seine Waffe verfestigte und das Zittern intensivierte sich. Derweil breitete sich Merrills Blut auf dem Boden unter ihr aus. Allmählich forderte der Verlust seinen Tribut und die Rothaarige spürte ihre Sinne davon driften. Mit etwas Glück verlor sie das Bewusstsein, bevor er sie erschoss. “Waffe runter!” Dumpf nahm Merrill eine ihr vertraute Stimme war. Ihr Gegenüber riss die Waffe herum und gab einen Schuss in die Richtung ab, aus der die Aufforderung gekommen war. Bevor sie endgültig das Bewusstsein verlor, hörte sie ein seltsames knisterndes Geräusch, gefolgt von einem Aufschrei und einem dumpfen Schlag.   Während er sie verfolgte, kam er sich vor, wie ein schäbiger Stalker, welcher nicht akzeptieren wollte, dass seine Angebetete ihn zurückgewiesen hatte. Merrill griff die Gelegenheit ihr normales Leben weiter zu führen beim Schopfe. Es stand ihm nicht zu, ihre Entscheidung in Frage zu stellen und ihr weiter nachzustellen. Dennoch musste er seinem Instinkt vertrauen. Dieser befahl ihm ein Auge auf das Mädchen zu werfen. Also folgte er ihr. Momentan hielt er sich im gleichen Gebäude auf, hatte jedoch eine ausreichend große Distanz zu ihr eingenommen, dass sie ihn nicht bemerkte. Plötzlich wurde es hektisch. Ein Schrei! Er kam aus dem Stockwerk über ihm. Victor begab sich zur Treppe, hielt jedoch inne, als ihm bewusst wurde, dass er Merrill viel zu nah gekommen war. Sie könnte ihn bemerken! Hastig suchte er nach einem geeigneten Versteck und fand es hinter einer großen runden Säule. “Wer ist da?!”, rief jemand. Bevor er befürchten konnte, aufgeflogen zu sein, kam das Objekt seines Interesses aufgelöst die Treppe hinunter gerannt, was ihr in ihrem Schuhwerk bestimmt nicht leicht fiel. Sie rannte an der Säule vorbei, hinter der sich Victor verbarg. Glücklicherweise ohne ihn zu bemerken. Ein junger Mann mit einer Waffe und einem Instrumentenkoffer auf dem Rücken verfolgte sie. Auch er nahm den Zuschauer hinter der Säule nicht war. Die Jagd kam schnell zu einem Ende, als Merrill von dem Bewaffneten eingeholt wurde. Victor wollte erst eingreifen, doch dann geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte: Der Mann steckte seine Waffe weg und nahm den Koffer von seinem Rücken. Aus ihm holte er eine Violine und einen Bogen hervor. Hat der Typ ein Rad ab?!, dachte Victor entsetzt. Er wollte es nicht glauben. Musik ertönte. Das Stück kam ihm bekannt vor. Natürlich! Beethoven. Als der Irre sich in sein Spiel vertiefte, wollte Merrill augenscheinlich die Gelegenheit zur Flucht nutzen, wurde jedoch auf frischer Tat gestellt und erneut mit der Waffe konfrontiert. Er war wohl doch nicht so blöd, wie er durchgeknallt war. Bedroht begann Merrill zu schreien. Abscheulicher Krach erfüllte das ehrwürdige Gemäuer der Leonard Bernstein University und ließ die Schaukästen an den Wänden bersten, in denen wahrscheinlich die besten Studentenarbeiten ausgestellt wurden. Victor wurde augenblicklich von Schmerzen geplagt und versuchte sie durch verschließen seiner Ohren abzumildern. Er kauerte sich hin und kniff die Augen zusammen. Dann fiel ein Schuss. Merrills Kreischen verstummte. Erschrocken sah Victor auf, nur um Merrill auf dem Boden liegend und den durchgeknallten bewaffneten Musikanten auf sie zukommen zu sehen. Zu seinem Glück war Victor weit genug entfernt, das ihn die Auswirkungen des Schreis nicht so stark beeinflussten, wie diesen Campusschützen, welcher sichtlich benommen taumelte. Wenig später zeigte ein Pistolenlauf auf die Musikstudentin. Sofort besann sich der Schwarzhaarige auf das Wichtige und eilte Merrill zur Hilfe. “Waffe runter!”, forderte er den Mann auf. Dieser wandte sich ihm zu und feuerte seine Pistole ab. Erneut hallte ein lauter Knall über den Campus. Victor gelang es, sich rechtzeitig hinter einer Ecke in Sicherheit zu bringen, sodass das Projektil ihn knapp verfehlte und neben ihm in die Wand einschlug. Dabei sprengte es den Putz ab. Der Schwarzhaarige wollte seinem Gegner nicht die Gelegenheit geben, auf dumme Gedanken zu kommen und sich wieder Merrill zuzuwenden, also konzentrierte er die ihm zur Verfügung stehende elektrische Energie in seinen Händen. Blitzschnell sprang er aus der Deckung und entlud seine Ladung auf seinen Gegner. Dabei ertönte ein lautes Knistern, welches von der Umwandlung von Sauerstoff zu Ozon durch die elektrische Energie zeugte. Begleitet wurde es von einem Schrei und dem direkt danach folgendem Aufprall eines Körpers auf dem Boden. Victor bereitete eine weitere Salve in der rechten Hand vor und näherte sich vorsichtig den beiden am Boden liegenden Individuen. Mit einem beherzten Tritt kickte er die Handfeuerwaffe des Verrückten zur Seite als er sie erreichte. Der Mann schien bewusstlos zu sein. Der steht so schnell nicht mehr auf, honorierte Victor seine eigene Leistung und baute die Spannung zwischen seinen Fingern wieder ab. Ihm fiel eine Überwachungskamera in einer Ecke auf. Er sah sich um und entdeckte weitere. Na klasse! Danach beugte er sich hinunter, um Merrills Puls zu fühlen. Schwach, aber vorhanden. Die Ausmaße der Blutlache unter ihrem Körper war bedrohlich. Das Mädchen brauchte dringend Hilfe! Aber ein Krankenhaus war keine Option! Was wäre, wenn bei einem Routinetest festgestellt würde, dass ihre Gene verändert sind? Das riefe erneut die Agenten auf den Plan. Diese bissigen, Sonnenbrillen tragenden Kampfhunde der Organisation, welche jedem Befehl wie seelenlose Roboter gehorchten, egal wie abscheulich oder absurd dieser auch sein möge und ihren fantasielosen schwarzen Anzügen aus Massenproduktion. Auf noch eine Begegnung mit ihnen konnte Victor getrost verzichten. Und Merrill mit Sicherheit auch! Ihm blieb keine Wahl, er musste sie in die Basis bringen, auch wenn seine ungenehmigte Verfolgungsaktion dann auffliegen würde und er mit den Konsequenzen leben musste. Er ergriff das Mädchen und hob sie an. Die ist wirklich viel zu dünn, kommentierte er ihr Gewicht in Gedanken. Eiligst trug er sie durch die totenstille Universität. Nachdem Schüsse gefallen waren, sind die Protokolle für einen Amoklauf in Kraft getreten, mutmaßte er. Diese verlangten es, dass sich die Studenten zusammen mit anwesenden Dozenten in den Hörsälen und Praxisräumen einschlossen und die Polizei verständigten. Es bestand also nicht die Gefahr, dass sie hier in der Gegend herum springen und ihm jemand in die Quere kommen würde. Und die Polizei kam sowieso immer zu spät. Victor verließ die Universität und legte Merrill auf dem Beifahrersitz seines Sportwagens ab. Diesmal war es ein dunkelgraues Auto. Victor startete den Motor. Danach schnallte er Merrill und anschließend sich selbst an. “Das du mir ja nicht stirbst!”, forderte er sie auf. Derweil ergoss sich Blut auf den Beifahrersitz. “Oh Gott, das geht nie wieder raus!” Mit durchdrehenden Reifen fuhr der Sportflitzer an und schoss über den Parkplatz hinaus auf die Straße. Einzig schwarzer Gummiabrieb blieb auf dem Asphalt zurück. Wenig später traf die Polizei ein. Doch da war Victor schon über alle Berge.   Burges Bridge, Liberty Bay   Endlich konnte Lamar wieder einen freien Tag genießen. Der letzte lag schon viel zu lange zurück! Andauernd erfüllte Lamar irgendwelche Aufträge, bei denen es darum ging, als Mutanten aufgeflogene Letztgeborene in ein Safe House zu bringen oder selbige unauffällig zu beliefern. Eine wichtige Aufgabe, keine Frage! Aber er konnte das Lenkrad einfach nicht mehr sehen. Er brauchte eine Pause. Einen Tapetenwechsel. Als ihm ein Urlaubstag in Aussicht gestellt wurde, ergriff er die ‘Aus dem Gefängnis-Karte’. Das Ticket hinaus aus der Monotonie. Der freien Tag war bereits verplant. Er wollte seine Schwester Kayla besuchen. Leider musste er dazu auch Auto fahren... verdammt! Kayla war die ältere. Zweiundzwanzig Jahre alt, kam aber nicht allein klar. Darum lebte sie im betreuten Wohnen. Mit sechs Jahren erkrankte sie während der weltweiten Pandemie an RAID, noch bevor es einen Impfstoff gab. Über die genauen medizinischen Details könnte Lamar keine Auskunft geben, würde man ihn danach fragen. Er war schließlich kein Mediziner. Aber er wusste, dass der Virus die Blutgefäße in Kaylas Gehirn angegriffen und so im Verlauf der Infektion mehrere Schlaganfälle verursacht hatte. Es grenzte an ein Wunder, dass sie das überhaupt überlebte. Danken musste man dafür höchstwahrscheinlich dem experimentellen Heilmittel, dessen Wirkstoff auf einer modifizierten Variante eines bereits existierenden Medikaments gegen Ebola basierte. Leider vermochte es nicht den bereits angerichteten Schaden in Kaylas Gehirn ungeschehen zu machen. Ihre linke Gesichtshälfte war komplett taub, was für eine deutliche Sprache sicherlich nicht förderlich war. Zudem zog sie beim Gehen ein Bein nach und litt an Gleichgewichtsstörungen, weshalb sie meistens im Rollstuhl saß. Geistig war sie auf dem Stand eines Kindes stehen geblieben. Der polierte Sportwagen drang in ihm unbekannte Gefilde ein. Gewiss zog er unzählige neugierige Blicke auf sich. Die Schlaglöcher im Asphalt waren so gigantisch, dass man befürchten musste, mit Haut und Haaren von ihnen verschlungen zu werden. Man kam keine fünf Meter voran, ohne nicht ein Stück Müll oder gar schlimmeres auf der desolaten Fahrbahn zu entdecken. Links und rechts säumten halb herunter gekommene Einfamilienhäuser die Straße. Viele von ihnen wiesen verblasste Farben, mit Holz verkleidete kaputte Fenster oder andere Makel auf. Wohlhabende Leute suchte man in dieser Gegend vergebens. Der Wind streichelte durch das Geäst eines Baumes, welcher sich offenbar keine Blätter mehr leisten konnte, und bließ gleichzeitig eine Zeitungsseite über den Grund. Immer wieder hob das alte Käseblatt ab und landete. Ein buckliger alter Mann mit langem weißen Bart wühlte in einem Mülleimer nach brauchbaren Gegenständen, welche er in den mutmaßlich aus einem nahen Supermarkt entwendeten Einkaufswagen zu verstauen gedachte, in dem er üblicherweise seine Schätze vor sich her schob. Tatsächlich entdeckte er eine Pfandflasche. Sein Transportbehältnis quoll schon über vor Plunder aber dafür fände er sicher noch einen Platz. Langsam bewegte Lamar das Lenkrad seines Gefährts, wie es die Abzweigungen der Straße von ihm forderten. Bald erreichte er sein Ziel. Burges Bridge, W 135st Street. Das Haus in dem er aufgewachsen war und Kayla noch heute lebte, beaufsichtigt von einer Sozialarbeiterin. Sie sollte sicherstellen, dass Kayla keinen Unsinn anstellte und jeden Tag eine warme Mahlzeit zubereitet bekam. Heute würde die Frau keinen Finger krumm machen müssen. Wenn er schon einmal da war, dann konnte er das auch genauso gut selbst machen. Für das letzte lebende Mitglied seiner Familie schwang er gern den Kochlöffel. Die Leberzirrhose hatte die Mutter schon lange dahingerafft - den ganzen Tag Pizza und Bier gefiel dem Organ nicht besonders. Der Vater lebte zwar noch, für Lamar war er jedoch trotzdem gestorben. Der junge Mann hatte sich von seinem Erzeuger entfremdet - als bester Kunde der örtlichen Justizvollzugsanstalt konnte sein Vater schwerlichst an Geburtstagen mit Anwesenheit glänzen. Somit war es nur natürlich, dass Lamar versuchte zu bewahren, was an Familie noch übrig war. Er fuhr den Sportwagen in die Einfahrt seines ehemaligen Elternhauses. Mit einem leisen Klicken löste er den Gurt und entfernte den Zündschlüssel. Dann entstieg er seinem Gefährt und benutzte die Fernbedienung, um zuerst das Dach zu schließen. Begleitet vom Summen des Getriebes, schloss sich das Autodach. Ein weiteres mal presste Lamars Daumen einem Knopf auf dem handlichen Gerät. Der Wagen bestätigte das Signal durch zweimaliges Aufleuchten der Blinker und einem sofort darauf folgendem Klicken. Lamar konnte den Wagen in dieser Gegend nicht offen stehen lassen - traurig aber wahr. Nachdem er die Schlüssel in der Hosentasche verstaut hatte, begab er sich zur Haustür. Er klingelte. Keine Reaktion. Seltsam, dachte er. Ist Alicia einkaufen? Alicia war der Name der Sozialbetreuerin. Lamar verstand sich gut mit der Frau. Vielleicht, weil sie ebenfalls Afroamerikanerin und in der Gegend aufgewachsen war. Jedenfalls hatte Alicia einen guten Charakter. Lamar hätte nicht jedem Dahergelaufenen seine Schwester anvertraut. Eigentlich konnte man sich immer blind auf sie verlassen. Da er sich vorher angekündigt hatte, war es ungewöhnlich, dass niemand anwesend zu sein schien. Lamar kramte sein Schlüsselbund hervor und suchte den Wohnungsschlüssel. Zwar lebte er vorwiegend im Versteck, dennoch hatte er ihn noch nicht abgegeben. Einmal drehte sich der Schließapparat, bevor er den Zutritt zum Haus frei gab. Alicia pflegte stets doppelt abzuschließen, wenn sie das Haus verließ. Böses ahnend schlich Lamar durch das Erdgeschoss. Er durchquerte den Flur, kam in die Küche und drehte sich um neunzig Grad. Der kalte Sog der offenstehenden Hintertür hatte ihn sofort in seinen Bann gezogen. Er trat an die Tür heran und musste feststellen, dass das Schloss aufgebrochen worden war. Kayla! Seine Gedanken kreisten nur noch bei seiner Schwester. Eiligst stürmte der die Treppe hinauf in das erste Obergeschoss, wo sich das Zimmer seiner Schwester befand. Lamar warf sich durch die Tür hinein in die Finsternis. Rollos und Gardinen waren hinuntergezogen. Er zückte sein Handy und aktivierte die eingebaute Taschenlampe. Der Lichtkegel half ihm, seinen Weg durch den Raum zu bahnen, ohne zu stürzen. Endlich konnte er Licht hinein lassen. Als es das Innere erhellte, entdeckte Lamar Alicia geknebelt auf einem Stuhl sitzend. Sie wirkte bewusstlos. Vorsichtig entfernte Lamar den Knebel und löste die Fesseln. Danach rüttelte er vorsichtig an ihr. “Hey, Alicia!”, sprach er sie an. “Alles in Ordnung?” Benommen öffnete die Frau die Augen. “Was ist hier passiert?” Er schaute sich noch einmal um. Keine Spur von seiner Schwester oder ihrem Rollstuhl. “Wo ist Kayla?” “Sie haben sie mitgenommen!”, brachte die Sozialarbeiterin hervor. “Wer?” “Ich weiß es nicht.” Verzweifelt blickte Lamar ziellos umher, während die Angst um seine große Schwester sich allmählich in sein Innerstes hinein fraß. Er wollte sich nicht vorstellen, durch welche Hölle Kayla in diesem Moment vielleicht gehen musste. Ein Klingeln verhinderte, dass er dazu Zeit fand. Das Geräusch kam aus der Richtung von Alicia, welche noch immer auf dem Stuhl saß und augenscheinlich zu verängstigt war, darauf zu reagieren. Lamar trat an die Sozialarbeiterin heran. Vorsichtig holte er das Mobiltelefon aus ihrer Jackentasche hervor. Ein Anruf von einer unbekannten Nummer. Er nahm das Gespräch an und führte das Handy an sein Ohr.   ~~~   Operationsbasis von Last Seed   Doktor Mitchell hatte es sich zu Tisch mit einer Tasse Kaffee, der Tageszeitung und etwas Gebäck bequem gemacht. Als er die Schlagzeilen durch blätterte war er froh, endlich etwas Abwechslung vom tristen Alltagsgeschäft zu bekommen. Bis gerade eben erstickte er noch in Berichten über Routineuntersuchungen der jüngst Geretteten. Bevor man sie in Safehouses unterbrachte, musste herausgefunden werden, ob sie mit ihren Fähigkeiten eventuell eine Bedrohung für sich oder andere darstellen. Das gab es leider auch. Jeder Mediziner der Organisation wusste von dem traurigen Fall eines Jungen an der Westküste, welche sich vor einigen Jahren ereignete. Seine Mutation vermochte biologische Strukturen zu zersetzen. Blumen, die er berührte, verwelkten und Tiere mieden ihn instinktiv. Die dortige Niederlassung von Last Seed wurde auf ihn aufmerksam und brachte ihn sofort in ein Safehouse. Doch er konnte diese Fähigkeit nicht kontrollieren. Eines Tages intensivierten sich die Absonderungen seines Körpers derart, dass ein giftiges Gas entstand und außer ihm alle anderen Mutanten im Safehouse tötete. Diese Tragödie wurde in der Organisation bekannt als der San Franco Inzident. Seither wurde jeder zukünftige Bewohner eines Safehouse gründlichst durchgecheckt. Der Mensch wird nur durch Desaster klug. Inzwischen soll der Junge eine unfreiwillige neue Heimat in einer Isolationszelle irgendwo an der Westküste gefunden haben. Die Angestellten dieser Einrichtung können die Zelle nur noch in Schutzanzüge und Gasmaske gefahrlos betreten. Ein Umstand, der die Versorgung und Therapierung dieser traurigen Seele spürbar erschwert. Es war nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen in dieser Welt. Um das zu wissen, musste Mitchell nicht von Mord unt Todschlag im Stadtstaat oder von der Politik der Nachbarn lesen. Er legte die Zeitung beiseite. Im Hintergrund desinfizierte eine Krankenschwester eines der Betten. Das übrige medizinische Personal genoss genau wie der Doktor die Pause. Erwartungsvoll führte Mitchell einen Keks zum Mund und wollte eben abbeißen, als sich die Türen zur Krankenstation öffneten. Erschrocken ließ Mitchell den Keks in die Kaffeetasse fallen. Das Heißgetränk schwappte über den Rand hinaus und veranstaltete eine Sauerei auf dem Tisch. “Was zum Teufel-”, schrie er erschrocken auf. Victor stürmte die Krankenstation. In seinen Armen hielt er ein bewusstloses Mädchen. Ihre Schulter blutete und ihr Gesicht war blass und farblos. “Schnell!”, forderte Victor noch bevor Mitchell fragen konnte, was eigentlich los ist. “Sie wurde angeschossen und hat viel Blut verloren!” Ohne unnötige Fragen zu stellen, ließen Arzt und Personal alles stehen und liegen. Victor legte das Mädchen auf eine der Liegen und überließ den Spezialisten das Feld.   “Sie haben was getan, Senior Krueger?”, echauffierte sich Miguel Rivera, als der Schwarzhaarige ihm beichtete, dass er Merrill heimlich verfolgt hatte. Zu diesem Zeitpunkt waren neben ihnen noch Mandy und Jian in der Kommandozentrale anwesend. Während Mandy ihrem Bruder einen Blick zuwarf, welcher ihn anklagend fragen wollte, wie dumm man sein kann, schaute ihn der Asiate verständnisvoll an, als sich Victor versuchte vor seinem Teamleiter zu rechtfertigen. “Ich hatte das irgendwie im Urin, dass ihr was passiert”, meinte er. “Ja, urinieren ist deine Spezialität”, giftete die Schwester. Offenbar spielte sie auf den Vorfall an, bei dem sie wegen seiner walnussgroßen Blase anhalten mussten und so der mental instabilen Catherine die Flucht gelang. Victor ließ sich nicht von Mandy irritieren. “Deshalb bin ich ihr gefolgt. Ein Teil von mir wollte sie beschützen.” “Ich weiß auch schon genau welcher!”, kommentierte Mandy. “Bitte unterlassen Sie diesen Zynismus, Senorita Krueger”, tadelte Rivera. “Ich würde es begrüßen, dem Herrn hier selbst den Hosenboden stramm ziehen zu können!” “Ja ja, von mir aus!” “In der Universität gab es einen Amoklauf”, fuhr Victor fort. “Das wissen wir bereits.” “Auch dass sie ihre Fähigkeit eingesetzt hat? Vielleicht haben die Überwachungskameras etwas aufgenommen. Wer weiß, wie lange es gedauert hätte, bis ihr das mitbekommen hätten, wenn ich nicht da gewesen wäre!” “Herr Gott!”, rief Rivera aus. Er sah kurz zur Seite. “Senior Cheng! Bitte kümmern Sie sich um diese Unannehmlichkeit!” “A-Alles klar!”, bestätigte der Asiate. Nun wandte sich Rivera wieder Victor zu. “Das spricht Sie allerdings nicht davon frei, Seniora Sturms Wünsche und meine Befehle ignoriert zu haben!” Als Victor versuchte, die Vorwürfe seines Vorgesetzten totzuschweigen, brach lautes Klimpern auf einer Tastatur die Stille. “Na warte, du Hurensohn!”, stieß Jian aus. Fast könnte man meinen, er kommentiere das Gespräch, anstatt seine Hacking-Tätigkeit. Weiteres Gehaue auf der Benutzer-Maschine-Schnittstelle folgte. “Orch... so eine süße Firewall! Ha, nimm das! Sieh, wie ich in dich eindringe!” Das Jian völlig aus seinem Charakter viel, wenn er sich auf etwas konzentrierte, war Victor nicht neu, also ignorierte er es. Die anderen taten es ihm gleich. “Entschuldigen Sie”, beschwichtigte der Schwarzhaarige. “Aber ich musste tun, was ich für richtig hielt.” “In your Face, Bitch!” Die grenzdebile Interaktion mit dem Eingabegerät verriet, dass Jian noch immer konzentriert bei der Arbeit war. “Das wird Konsequenzen haben, Senior Krueger! Sie sind bis auf weiteres freigestellt!” Victor ließ sich nicht davon beeindrucken und verließ die Kommandozentrale. Ein energischer Druck auf die Eingabetaste rundete das Gewitter aus aufschlagenden Fingerspitzen ab. “Hacked into your gate!” Jubelnd sprang der Asiate kurz von seinem Stuhl auf und überkreuzte diabolisch lachend die Arme vor dem Gesicht. “Muhahahaha!” Sein seltsames Verhalten musste so ein Anime-Ding sein, denn niemand der Anwesenden begriff, was er damit bezweckte. “Und jetzt drehen wir die Zeit zurück!” “Ich glaube er hat es geschafft”, interpretierte die Blondine. Ein paar Klicks und aufploppende Fenster später und Jian kannte den Server der Universität wie seine Westentasche. “Komm schon, zeig mir deine schmutzige Unterwäsche!” Was er dort sah - oder vielmehr nicht sah - war sehr besorgniserregend. “Ähm! M-Mr. Raviera”, stotterte er zurück in seinem üblichen Selbst. “W-Wir könnten ein k-kleines Problem haben.” “Was haben Sie gefunden”, hakte der mittelalte Mann nach. “D-Die Bilder der Überwachungskamera in diesem Gang zeigen zur Zeit des Vorfalls... K-Keinen Vorfall...” Schockiert starrten sowohl Mandy als auch Rivera zu Jian.   Leonard Bernstein University   Der Platz vor dem Eingang der Universität war genauso belebt, wie sonst auch. Nur das nun unzählige Männer in blauen Uniformen umher wuselten. Diese Szene glich einem Ameisenhaufen, auf dem irgend so ein dahergelaufener Rotzlöffel seine Blase entleert hatte. Das Blaulicht der geparkten Streifenwagen strahlte umher, während Detective Miller gelangweilt auf seinem Handy herum spielte, und bei einem relativ bekannten Tower Defence Game seinen grünen Daumen im Kampf gegen die verwesende Bedrohung unter Beweis stellte. Ein weiterer Wagen kam vorgefahren. Es handelte sich um einen blauen SUV. Aus dem Auto stieg Detective Kent aus. Doch von all dem bekam Miller nichts mit. Viel zu vertieft war er darin, die Effizienz der Photosynthese zu verbessern, damit er weitere Geschütztürme pflanzen konnte. Das Schicksal seines digitalen Vorstadtgarten lag immerhin in seinen Händen. Und er musste sich selbst beweisen, dass diese Hände fähig waren. Ihm fehlten nur noch wenige Punkte bis er seine eigene Highscore von vor ein paar Monaten endlich geknackt hätte. Immer wieder versuchte er es, war aber stets gescheitert. Ein fester Druck auf seiner Schulter ließ ihn aufschrecken. “Was geht, Alda!” Im neckischen Versuch jünger zu wirken als er war, lastete Kent die Hand auf seinem Kollegen. Geschockt fuhr Miller auf. Er hatte noch nicht mit ihm gerechnet! Dabei entglitt ihm sein Handy. Einem Zirkuskünstler beim Jonglieren gleich, warf der jüngere Beamte das Mobiltelefon bei seinen hektischen Auffangversuchen immer wieder in die Luft. Unentwegt entwischte es seinem Zugriff wie ein findiger Verbrecher und er rannte nervöse Töne ausstoßend voran, nur auf das Gerät achtend, um es doch noch zu erwischen. Unglücklicherweise stolperte er über einen nicht vorhandenen Lufthuckel. Sein Handy entglitt ihm ein letztes mal und während Miller zu Boden ging, verabschiedete sich das Mobiltelefon im nächsten Wasserablauf unter einem Bordstein. “Upps!”, kommentierte der ältere Detective. “Mein Highscore!”, wehklagte Miller. Kent wunderte sich, dass ihn der Verlust des Gerätes nicht so sehr zu schmerzen schien, wie die Tatsache, dass er seinen Spielstand eingebüßt hatte. “Du Arschloch!”, tobte Miller nachdem er wieder aufgestanden war. “Sorry!”, entschuldigte sich Kent. In diesem Moment führten zwei andere Beamte den noch immer benommenen Schützen aus der Universität hinaus. Zuvor wurde er von Rettungssanitätern untersucht. Außer einer leichten Benommenheit aufgrund eines elektrischen Schlages schien er keinen Schaden davongetragen zu haben. Darum gaben die Ärzte grünes Licht den Tatverdächtigen abzuführen. Noch wussten Kent und Miller nich, welche haarsträubende Geschichte ihnen der abgelehnte Student in ein paar Stunden auftischen würde. Mutmaßlich hatte ihn jemand mit einem Taser betäubt, nachdem er um sich schoss und die Schaukästen zerschlug. Er stellte später jedoch die Behauptung auf, von einem Mann außer Gefecht gesetzt worden zu sein, welcher die Fähigkeit besaß, Blitze aus seinen Händen abzufeuern. Und die Schaukästen seien vom Kreischen eines Mädchens zerstört worden. Der hatte doch eindeutig zu viele Comics gelesen. Zweifelsfrei ein Fall für die Klapsmühle! Doch momentan befanden sie sich in der Gegenwart. Die fantasielose Traumgeschichte dieses Spinners blieb ihnen vorerst erspart. Inzwischen hatten Kent und Miller die Universität betreten. Der ältere musste sich unentwegt die Vorwürfe des jüngeren anhören. Ein Streifenpolizist führte sie zu der Stelle, an dem man den Amokschützen aufgefunden hatte. Die mysteriöse Blutlache, für die niemand eine Erklärung hatte, war nur schwer zu übersehen. Aber von wem stammte sie? Der Täter war unverletzt. “Was ist das für Blut?”, fragte Miller den Polizisten. “Keine Ahnung”, antwortete dieser. “Wir warten noch auf die Spurensicherung.” “Das ist nicht gerade wenig”, stellte Kent fest. “Wer auch immer da geblutet hat, ist mindestens Bewusstlos bei der Menge.” “Gibt es doch einen Verletzten?” “Außer dem Professor mit der gebrochenen Nase haben wir niemanden gefunden”, versicherte der Polizist. “Und so viel geblutet hat der bestimmt nicht.” “Wenn hier jemand durch die Gegend stolziert und dabei alles vollblutet, sollte das früher oder später jemandem auffallen”, meinte Detective Kent. “Miller!”, rief er seinem Kollegen zu. “Versuche den Verletzten zu finden.” “Klar. Finde du mal mein Handy!” “Hey, sorry. Woher soll ich wissen, dass du so schreckhaft bist?” “Ach lass mich doch in Ruhe!” Beleidigt machte Detective Miller auf der Ferse seines Männerschuhes kertmarsch und begab sich in Richtung des Ausgangs. Detective Kent nahm abermals die Blutlache in Augenschein, nur um sich dann abzuwenden und seinen zurückkehrenden Kollegen anzusehen. “Sag mal, was sind das denn für Typen?”, fragte Miller, während er sich wieder auf den Fundort der Blutspur zubewegte. Er deutete mit seinem Daumen über die Schulter auf die Männer hinter ihm. “Wie die Spusi sehen die nicht aus.” Mehrere Gestalten in schwarzen Maßanzügen und mit dicken Sonnenbrillen bogen soeben in den Gang ein. Einer von ihnen trug einen Aluminiumkoffer bei sich. Unter den verdutzten Blicken der Detectives, welche sich fragten, zu welchem Geheimdienst diese Typen wohl gehörten, kamen sie näher und bauten sich alsbald um die Blutlache auf. Kent, Miller und der Streifenpolizist wurden unsanft abgedrängt. Der Kofferträger öffnete seinen Behälter und gab das merkwürdige Gerät im inneren Preis. Auf der Deckelseite befanden sich einige Röhrchen, gefüllt mit durchsichtiger Flüssigkeit und Wattestäbchen für die Probenentnahme. Als sich der Mann darum kümmerte das Gerät hochzufahren, nahm ein Zweiter eines der Wattestäbchen und begann damit in der Blutlache herumzustochern. “Hey, was machen Sie da!”,  beschwerte sich Detective Miller hitzköpfig. “Wer gibt Ihnen das Recht die Beweise zu-” Der dritte Mann hielt ihm einen Ausweis unter die Nase, woraufhin der Kriminalbeamte ganz kleinlaut wurde. Kent hingegen blieb gechillt, wie immer. Er hatte den Ausweis des Mannes schon erkannt, ohne genau hinzusehen. Es war nicht das erste Mal in seiner Karriere, dass Sonderbeauftragte der Regierung kamen und ihm einen Fall wegnahmen. Inzwischen befand sich die entnommene Probe in einem Röhrchen und wurde von dem Gerät analysiert. Es dauerte nicht lange, bis das Ergebnis feststand. Der Hintergrund der Anzeige wechselte die Farbe zu einem Grünton. Die Männer in Schwarz sahen sich kurz an und packten danach ihre Sachen wieder zusammen. Der Mann mit dem Koffer fasste sich mit der linken Hand an sein Ohr. “Der Ketchup ist sauer”, sagte er. Offenbar ein Code dafür, dass ihr Gerät Spuren von Mutationen im Blut festgestellt hatte. Doch das war den Polizisten unbekannt. Anschließend verließen die Männer den Ort des Geschehens, ohne auf die Fragen der Ermittler einzugehen. “Was war das denn?” Fragend sah Miller seine Kollegen an. “Wollte der Pommes bestellen oder was?” Dieses Gerät und der merkwürdige Test auf... Dinge. Irgendetwas klingelte da bei ihm. Na klar! Das Mädchen mit der seltsamen Geschichte! Konnte es sein, dass diese Fälle zusammenhingen? “Komm, lass uns Kaffee holen”, antwortete Kent trocken.   Operationsbasis von Last Seed   Ein unaufhaltsamer Prozess nahm seinen Lauf. Das Zwischenhirn setzte eine Kettenreaktion in Gang. Es veranlasste die Nervenzellen des Oberstübchen eine Flut an Hormonen zu erzeugen, welche das Bewusstsein aus seinem tiefen Schlaf erweckten. Die Empfindungen einer warmen Decke und einer harten Matratze breiteten sich über die Rezeptoren des Nervensystems aus. Ein stechender Schmerz strafte unbarmherzig eine übereilt hastige Bewegung. “Aua!” Instinktiv führte Merrill ihre Hand an die linke Schulter. Die Erinnerung an die qualvolle Pain des derben Einschlags in ihren Körper plagte sie erneut. Wie das heiße Stück Metall rücksichtslos in ihren Körper eindrang und sie zu Boden riss. Das letzte was sie noch wusste war, wie sie hilflos am Boden lag und blutete, während sie die Augen nicht vom Lauf der Waffe eine Armlänge entfernt von ihr lassen konnte. War sie tot? War das das Jenseits? Quatsch, tadelte sie sich selbst. Dann täte mir nichts weh. Zögernd öffnete sie ihre Augen. Das kalte weißblaue Licht der Deckenleuchten tat ihr in den Augen weh. Sie musste Blinzeln, bis sich ihre Sehorgane an die Helligkeit gewöhnt hatten. Vorsichtig setzte sich die Rothaarige auf. Sofort begann sie sich umzusehen. Die metallischen Wände und Türen - generell das gesamte sterile Ambiente - kamen ihr so unangenehm vertraut vor. “Ruby?”, sprach sie jemand von der Seite an. “Du bist aufgewacht!” Dieser ungeliebte Spitzname. Das konnte nur einer sein. Mit einem Blick der töten wollte, wandte sie sich in diese Richtung. Neben dem Bett befand sich ein Stuhl. Auf ihm hatte dieser dreiste Kerl Platz genommen. Victor! “Ich heiße Merrill, verdammt!”, schrie sie ihn an. Der Schwarzhaarige sprach zu jemand anderem außerhalb Merrills Sichtfeld. “Es geht ihr eindeutig gut, Doc”, verkündete er. Danach schenkte er ihr wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit. “Du hast Glück gehabt. Das war ne knappe Kiste.” “Ich verstehe, warum Sie sie hierher gebracht haben”, sprach der andere. Merrill sah sich zu ihm um. Ein mittelalter Mann mit dreckig-blonden Haaren in einem weißen Arztkittel saß am anderen Ende des Zimmers semi-entspannt mit Kaffee und Gebäck. “Sie hatte viel Blut verloren. Man hätte ihr im Krankenhaus bestimmt auch eine Transfusion gegeben. Bei einer Kompatibilitätsuntersuchung wären ihre abnormalen Werte mit Sicherheit aufgefallen.” Im Jahr 2037 wurde in Krankenhäusern nicht einfach nur die Blutgruppe bestimmt, sondern mittels Gen-Schnelltest der geeignete Spender aus der Krankenhausdatenbank ermittelt. Dabei werden verschiedene Marker verglichen und Antikörper untersucht. Über ein statistisches Verfahren errechnet ein Computer dann die beste Option. Zwar war das keinesfalls mit einem vollwertigen DNA-Test zu vergleichen, doch die veränderten Abschnitte des genetischen Code würden der Maschine nicht verborgen bleiben. “Aus medizinischer Sicht war es jedoch grob fahrlässig!” “Haben Sie ihn mal Autofahren sehen?”, spottete Merrill. Victor steckte ihr die Zunge raus. “Bäh!” Merrill erwiderte mit dem ausgestreckten Mittelfinger. Danach zog sie die Beine unter der Decke hervor und stellte sie auf dem Boden ab. Sie trug einen blauen Pyjama. Das man sie ohne ihre Zustimmung auszog, wurde offenbar zur Gewohnheit. “Nicht so hastig, junge Dame!”, stoppte der Arzt. Er stellte Kaffee und Gebäck ab, stand auf und versuchte sie am Gehen zu hindern. “Ich muss Sie weiter beobachten!” Merrills Blick fiel auf das prominent platzierte Namensschild an seiner Brust. Darauf stand “A. Mitchell”. Unbeeindruckt erhob sie sich vom Krankenbett. “Aus dem Weg!” Am liebsten hätte sie ihn zur Seite geschoben. Allerdings wäre sie nicht einmal ohne Schusswunde in der Schulter im Stande, einen ausgewachsenen Mann gegen dessen Willen zu bewegen. Darum entschloss sie sich, ihn und Victor zu umlaufen. “Sie können doch nicht einfach so abhauen!” Kurz wandte sie sich dem Mediziner um. “Sagt wer?” Danach setzte sie ihre wackelige Flucht fort. Das konnte einfach nicht wahr sein! Erst der Verrückte an ihrer Uni und jetzt war sie schon wieder hier. Das alleine wäre nur halb so wild, aber er war ja auch noch da. Wie sollte sie so ihr normales Leben zurück bekommen? Sie musste hier raus! Umgehend! Plötzlich fuhr ihr erneut der unsagbare Schmerz ihrer Schusswunde durch die Glieder. Victor hatte zu ihr aufgeschlossen und lastete nun seine Hand auf ihrer Schulter. Es war nur leichter Druck, tat aber trotzdem höllisch weh. Mit einer schwungvollen Drehung und der rechten Faust in seinem Gesicht, beantwortete sie seinen unverschämten Übergriff. “Nimm deine Pfoten weg, du Penner!” Victor befühlte seine Lippe und musste feststellen, dass der Schlag der kleinen Frau gesessen hatte. “Aua!” Fassungslos sah er sie einen Moment an, bis er den Schock verdaut hatte, von einem schmächtigen Mädchen verhauen worden zu sein. “Du solltest ihn dir wenigstens eine Armschlinge anlegen lassen.” “Ich brauche keine-” Abermals zuckte sie zusammen. “Aua!” “Klar...” Widerwillig ließ sich Merrill von Dr. Mitchell behandeln. Victor befühlte unterdessen weiter die dicke Lippe, die er so oft so gern riskierte, und warf der Rothaarigen dabei zaghafte eindeutige Blicke zu.   ~~~   Verlassenes Industriegelände   Die verfallene Ruine einer alten Fabrikhalle trotzte noch immer tapfer der Witterung, obwohl sie seit über zehn Jahren leer stand. Viele ihrer Fenster waren schon lange von irgendwelchen Vandalen eingeschlagen worden und ließen das Tageslicht in den Innenraum einfallen. Verkrusteter Schmutz an den Wänden offenbarte die Wege, über die der Niederschlag von der Schwerkraft getrieben vom Dach auf den Boden gelangte. Moos wuchs in der Richtung, aus welcher der Regen kam. Am letzten Rest des Gestells eines ehemaligen Beladungskran war ein Basketballkorb angebracht worden. Auch er hatte schon bessere Tage gesehen. Con nur noch einem der drei Bolzen gehalten, ließ ihn sein Eigengewicht in Schlagseite herabhängen. In einer gewaltigen Vertiefung auf dem einstigen Parkplatz entstanden nach Regenfällen oft knöcheltiefe Pfützen. Doch momentan handelte es sich nur um eine Ansammlung von staubigem vertrocknetem Schlamm. Im Inneren der Halle sah es nicht viel besser aus. Das spärliche Licht offenbarte die gähnende Leere des Gemäuers. Früher produzierten hier schwere Maschinen, nun konnte man nur noch anhand der Schadstellen im Beton erahnen wo sie einmal standen. Diesen Ort erwählte Darius Simmons für das Treffen. Damals, als sie noch Kinder waren, spielten sie oft hier. Er verband viele schöne Erinnerungen mit diesem Ort - nicht nur seinen opulenten Afro von einst. Leider musste er viel zu schnell Erwachsen werden und mit seiner alten Schaumfrisur täte ihn niemand ernst nehmen. Später mauserte sich die alte Fabrik zur idealen Location für seine ominöse Deals. Darum erschien sie auch für das bevorstehende Geschäft mehr als geeignet. Der junge afroamerikanische Mann und seine drei Begleiter warteten jetzt schon seit einer halben Stunde. Einer der Anderen ergriff das Wort. “Ähm, Boss?”, fragte er. Es war der einzige, dessen Haut keine übermäßig starke Pigmentierung aufwieß. “Glaubst du, dass der noch kommt?” “Bist du blöd, Toast?!”, ging Darius ihn an. Um sich Gehör zu verschaffen, versetzte er ihm einen Schlag auf den Hinterkopf. Das förderte bekanntlich das Denkvermögen! “Wir haben immerhin etwas was er will.” Ein seltsames Geräusch erregte plötzlich die Aufmerksamkeit der Männer. Einer von ihnen leuchtete mit einer Taschenlampe in die Richtung aus der es zu kommen schien. Es war die von innen verriegelte Tür. Luftfeuchtigkeit kondensierte zu einem eisigen Beschlag und begann sich auf der Oberfläche auszubreiten. Die Temperatur im inneren der Halle sank spürbar um mindestens drei Grad ab. “Da ist er ja schon!” Auf dem plötzlichen Kälteeinbruch erfolgte das Donnern eines Männerschuh mit schweren Sohlen, welcher immer wieder kinetische Energie auf das Schloss ausübte, bis es endlich nachgab. Die Tür sprang auf und gab einem von zuvor ungekannter Rage erfüllten Lamar den Weg frei. Wutschnaubend drang er in das Innere der Halle ein. “Wo ist Kayla?!”, stellte er die Anwesenden zur Rede. Darius breitete einladend die Arme aus, wie zur Begrüßung eines alten Freundes, und setzte sein schönstes falsches Lächeln auf, während er immer näher kam. “Willkommen, Bruder!”, tönte er zynisch. Lamar griff an seinen Hosenbund und offenbarte sein schlagkräftiges Argument: Seine Cigar F225, eine Kaliber .36 Pistole. Eine kleine Waffe, welche sich allerdings gut verbergen ließ. Er richtete sie auf den sichtlich überraschten Darius, welcher nicht damit rechnete. “Wo ist meine Schwester?!”, forderte Lamar erneut zu wissen. Hastig zogen die übrigen Anwesenden ebenfalls ihre Waffen und richteten sie auf den Eindringling. “Chill mal, Digga!”, versuchte Darius zu beschwichtigen. Aber der Kahlrasierte dachte nicht im Traum daran sich zu beruhigen. “Halt’ deine dämliche Fresse!” Es ging hier um seine Familie. Da kannte Lamar weder gute Umgangsformen noch irgendeine Form von Zurückhaltung. “Wo ist Kayla?! Gib sie her oder ich verpasse dir feigen Schwanzlutscher ne Kugel!”   FORTSETZUNG FOLGT... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)