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Last Seed

Die letzte Hoffnung der Menschheit
von

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Die Illusion der blauen Pille


 

“Nichts bewahrt uns so gründlich vor Illusionen wie ein Blick in den Spiegel.”

(Aldous Huxley)

 

Leonard Bernstein University

Liberty Bay, 14. April 2037

 

Langsam fanden sich die wissbegierigen Studenten im Hörsaal ein. Sie strömten von den Zugängen am oberen Ende der Zuschauerränge ein, welche in Stufen versetzt locker ein ganzes Stockwerk nach unten reichten, bevor die Bühne mit dem Podium des Dozenten begann. Die Sitzgelegenheiten auf den Abstufungen schmiegten sich halbkreisförmig aneinander. Links und rechts und in der Mitte führten jeweils Treppengänge bis auf die niedrigste Ebene. Noch waren viele der hölzernen Stühle hochgeklappt und warteten darauf, das Gesäß eines wissbegierigen jungen Menschen für die nächste Doppelstunde zu beherbergen. Abgesehen von den wenigen durch einige überpünktliche Studenten okkupierten Sitzen, hatten die Ankommenden freie Platzwahl und konnten aus den Vollen schöpfen.

Merrill Sturm befand sich ebenfalls innerhalb des Stroms der Wissbegierigen. Sie trug ein dünnes dunkelblaues Jäckchen und darunter eine weiße Bluse. Ihre kurze blaue Jeans wurde von dunkelroten Hosenträgern gehalten, die unter dem Jäckchen verschwanden. Sie trug außerdem Plateauschuhe und eine schwarze Leggins bedeckte ihre Beine.

Auf dem Plan stand eine Vorlesung zur Musikgeschichte, ein Modul welchem sie nicht im Geringsten irgend eine Freude abgewinnen konnte, das aber dennoch zu ihrem Studium dazu gehörte und bestanden sein musste, wenn sie sich weiter Hoffnungen auf den Bachelor machen wollte. Sie sehnte sich nach der Praxis. In die Saiten ihrer Gitarre zu hauen oder Kerlen mit ihrem Gesang den Kopf zu verdrehen, war eindeutig lustiger als trockene Theorie. Aber es half alles nichts! Und so kam es, dass sie eine Vorlesung über die Bedeutung und den Einfluss Ludwig van Beethovens auf die klassische Musik über sich ergehen lassen würde.

Gemächlich ließ sie sich mit der Masse die Stufen hinunter treiben und überlegte noch, in welcher Sitzreihe sie Platz nehmen wollte. Auf dem Boden neben ihr entdeckte sie ein zerknülltes Brotpapier. Irgendein Dreckschwein hatte seinen Müll nicht aufgeräumt! Sie blieb zum Ärgernis der Personen hinter ihr stehen, bückte sich und hob den Unrat auf. Anschließend richtete sie sich wieder auf und sah sich nach einem Papierkorb um. Ein paar Ebenen unter ihr erspähte sie einen, welcher an der Wand angebracht war. Aus ihm guckte eine hellblaue Mülltüte hervor. Merrill streckte sich, um wettzumachen was ihr an Körpergröße mangelte, und warf die Papierkugel über die Köpfe ihrer Mitstudenten. Einige neugierige Augenpaare folgten den Objekt bei seiner Reise durch den Raum. Im hohen Bogen traversierte die Papierkugel durch das Stickstoff-Sauerstoff-Gemisch, das den meisten als Luft geläufig war, und legte eine Punktlandung in den Abfallbehälter hin.

Respektbekundungen einiger Studenten folgten.

Offenbar hatten sie es der kleinen schmächtigen Rothaarigen nicht zugetraut, aus dieser Entfernung den Mülleimer zu treffen.

Merrill ignorierte es und schob sich an den hochgeklappten sitzen vorbei, soweit ihr möglich war, damit die anderen nachrücken konnten. Sie konnte überall sitzen, warum also nicht in dieser Reihe? Ein bereits anwesender Student hinderte sie daran, weiter zu rutschen. Er saß genau in der Mitte der Reihe. Seine etwas unförmige Körperform machte es ihr unmöglich, sich an ihm vorbei zu zwängen, ohne ihm dabei unkomfortabel Nahe zu sein. Vermutlich entstand sein gigantischer Wohlstandsbauch aufgrund des exzessiven Genuss von Kartoffelchips, welche er auch in diesem Moment aus einer Tüte fummelte, die auf dem vom Vordersitz aufgeklappten Tisch ihren Platz neben seinem alten Laptop gefunden hatte. Massenweise stopfte er sich sein Junk Food in den mit Krümeln verklebten Mund.

Merrill setzte sich neben ihn.

Ein flüchtiger Blick auf seinen Monitor enthüllte, dass er sich nicht etwa auf die bevorstehende Vorlesung vorbereitet hatte, sondern sich stattdessen mit dem Browsergame “Mech Girl Wars” beschäftigte. Merrill wusste nicht viel über dieses Spiel. Allerdings sagte der Bildschirmausschnitt alles aus, was es darüber zu wissen gab. Man kontrollierte in diesem Spiel leicht bekleidete Manga-Mädchen, welche nicht nur gewaltige Oberweiten vorzuweisen hatten, sondern auch riesige Kampfroboter steuerten und sich mit anderen Pilotinnen maßen. Der eigentliche Kampf wurde rundenbasiert ausgetragen und durch die Kampfwerte und das richtige Einsetzen von sogenannten Mods - Spezialfähigkeiten - entschieden. Dem Ausdruck im Gesicht des jungen Mannes zu urteilen, erfreute er sich an dem, was er sah. Immer wenn eines seiner 2D-Mädchen eine Gegnerin besiegte, löste es eine Cutscene aus, in der es sich in aufreizenden Siegerposen räkelte.

Jedem das seine, dachte Merrill.

Desinteressiert sah sie weg.

 

Die monotone Stimme des Dozenten beschallte aus den an den Seiten des Hörsaals angebrachten Lautsprechern die anwesenden Studenten. Als ob das Thema Beethoven nicht bereits einschläfernd genug war, ließ die langsame Sprechweise des Mannes hinter dem Mikrofon Merrills Bewusstsein in die Traumwelt abdriften. Der Professor sprach erst seit höchstens fünfzehn Minuten, doch bei einem Thema, dass sie überhaupt nicht interessierte, kam es Merrill wie eine Ewigkeit vor.

“Und anhand dieser Exempel können Sie erkennen, dass Geschichte und Geschichtsschreibung mitnichten gleichzusetzen sind”, konkludierte der Professor aus seinen zuvor dargelegten Beispielen aus der europäischen Politik vor dem Niedergang, welche Merrill bereits wieder entfallen waren. “Bei der Biographie über Ludwig van Beethoven ist dies nicht anders. Oft haben die Autoren Klischee und Realität miteinander vermischt und so die Figur erschaffen, welche wir heute als einen der einflussreichsten Komponisten der Musikgeschichte kennen.”

Merrill war klar, dass sie sich lieber Notizen anfertigen sollte, doch dazu war sie bereits zu weit vom wachen Zustand entfernt.

“Es folgen nun drei Beispiele aus biographischen Werken über Beethoven oder solche in denen er wenigstens erwähnt wird.”

Der rothaarigen Studentin wurden die Augen immer schwerer.

“1881 beschreibt Julius Benedikt, ein ehemaliger Schüler von Weber, in seiner Biographie über seinen alten Lehrer einen Besuch bei Beethoven. Dabei zeichnet er ein groteskes Bild des Musikgenies. Ich zitiere: ‘Alles war in höchst ansprechendem Chaos. Notenblätter, Geld und Kleidung lagen auf dem Boden, das Bett ungemacht, zerbrochene Kaffeetassen auf dem Tisch, Das Piano geöffnet mit kaum einer Saite intakt und eingehüllt in Staub. Ich fand ihn in einem schäbigen alten Nachtgewand liegend. Aber Weber schrie erregt ‘Da bist du, du Teufelskerl!’”

Der Dozent pausierte kurz, bevor er mit dem zweiten Beispiel fortfuhr.

“Im Jahre 1856 berichtet Karl August Fahrenhagen von einem Besuch der damals sechsundsiebzigjährigen Bettina von Arnim. Sie offenbarte ihm, dass sie und Beethoven keinesfalls nur eine platonische Liebe verband, sondern dass er sie sogar heiraten wollte. Diese These stützt sich dadurch, dass Bettina möglicherweise die berüchtigte ‘Unsterbliche Geliebte’ aus einem berühmten Brief Beethovens an unbekannten Empfänger sei. Mehr dazu in den Unterlagen zur Vorlesung.”

Eine Seite in den Notizen wurde umgeblättert.

“1827 erhielt der todkranke Beethoven Besuch vom damals sechzehnjährigen Ferdinand Hiller und dessen Lehrer Johann Nepomuk Hummels. Er berichtet, sein Lehrer habe damals gesagt, ‘Welch Glück ist es, den größten Künstler des Jahrhunderts zu treffen, selbst wenn er im sterben liegt.’ Daraus können Sie eine tiefe Bewunderung Hummels’ gegenüber dem Leben und Schaffen von Beethoven entnehmen.”

Plötzlich entdeckte der Dozent etwas im Publikum, das ihm gar nicht gefiel. “Vielleicht möchten Sie bis zu diesem Punkt zusammenfassen”, sprach er daraufhin. “Die junge Dame, welche es sich so bequem auf dem Klapptisch gemacht hat. Ich spreche mit Ihnen!”

Sofort schoss Merrill erschrocken auf. “Ja… Ähm…”, gab sie verwirrt von sich. Verdammt, fügte sie in Gedanken an. Was hat der Kerl alles erzählt? Verloren sah sie zu ihren Sitznachbarn, doch weder der dicke Otaku auf der einen, noch die blonde Bohnenstange mit Hornbrille auf der anderen Seite hatten anständige Mitschriften, welche ihr aus der Patsche hätten helfen könnten.

“Haben wir letzte Nacht wieder zu lange gefeiert?”, fragte der Dozent provokant.

“Also, nein. Ich habe… alles gehört!”

“Wirklich?!”

Merrills Blick sank ertappt nach unten.

“Habe ich mir gedacht! Wenn Ihnen meine Vorlesung zu langweilig ist, wählen Sie doch ein spannenderes Studienfach.”

Merrill verfiel in Schnappatmung. “Das… wird nicht nötig sein!”

“Gut! Aber schlafen Sie gefälligst nicht in einer meiner Vorlesungen ein!”

“Ich werde mir Mühe geben!” Ihr Atem beruhigte sich wieder. Peinlich berührt wurde die Rothaarige noch kleiner als sie es ohnehin schon war. Das Gelächter der anderen Studenten verstärke diesen Effekt nur noch. Merrill versuchte für den Rest der Vorlesung all ihre Willenskraft zusammen zu nehmen und den Worten des Dozenten zu folgen, egal wie wenig sie dieses Modul interessierte. Und sie schaffte es tatsächlich wach zu bleiben.

 

Erschöpft sank Merrill auf die Bank in der schmalen Umkleide. Gerade eben endete einer ihrer bisher schlechtesten Auftritte. Nachdem die Veranstaltungen des Tages abgearbeitet waren, traf sie sich zusammen mit ihren Freunden Jennifer, Benjamin und Jonathan in einem kleinen Club. Sie wollten noch einmal auftreten. Das war der letzte Gig, den ihr verstorbener Manager Peter für “Banshee” an Land ziehen konnte. Doch es lief nicht so, wie es geplant war. Das sie fälschlicherweise als “Bandana” angelündigt wurden, war der geringste einer Reihe von Fauxpas. Benjamin brach bei einem Solo einer seiner Drumsticks, Jennifer rutschte auf der Bühne aus und zu allem Übel versang sich auch noch Merrill. Kein Wunder, dass die Gäste nicht besonders beeindruckt von der Darbietung waren. Nicht einmal die traditionelle Tanzeinlage an der eigens angebrachten Stange vermochte es mehr, das Blatt noch zu wenden.

Trübsal blasend blickte Merrill zwischen ihren Beinen auf den Fußboden.

Ihr war kalt.

Noch immer trug sie ihr knappes Bühnenoutfit, doch das war nicht der Grund für ihr frösteln. Eigentlich war die Umkleide gut geheizt. Zitternd seufzte sie in die Stille hinein.

“Ohne ihn ist es nicht mehr dasselbe”, brach Jonathan das Schweigen.

“Wem sagst du das?”, entgegnete Benjamin. “Seine Schüchternheit.” Er wandte sich Merrill zu. “Wie lange es gedauert hat, bis er dich endlich gefragt hat.”

Die Rothaarige entgegnete nichts.

“Halt die Klappe, du unsensibler Vollidiot!”, ermahnte Jennifer ihren Freund.

Benjamin besann sich seiner rudimentären Erziehung. “Ach, Scheiße! Tut mir Leid!”

Noch immer keine Reaktion der Frontfrau.

Merrill versank tiefer in Gedanken. Sie erinnerte sich zurück an den Tag vor über einer Woche, als man sie entführte und Peter ermordete. Ein Flashback des Autounfalls schoss ihr in den Kopf. Die schmerzverzerrten Gesichter ihrer Entführer, welche qualvoll zu Grunde gingen. Sie wollte nicht glauben, dass sie dafür verantwortlich war, auch wenn die anderen es ihr sagten. Sie und Superkräfte… So ein Quatsch mit Soße! Schon seit sie denken konnte, war sie immer kleiner und schwächer als gleichaltrige und jetzt auf einmal sollte sie zu den X-Men gehören und gegen Agenten in Anzügen kämpfen, die wahllos Leute umbrachten? Das wollte sie nicht akzeptieren. Das war zuviel für sie!

Aus diesem Grund ergriff sie den letzten Strohhalm.

Last Seed hatte alle Hinweise auf ihren Aufenthalt im Krankenhaus beseitigt. Die Akte stahl Victor und das Hacken des Servers übernahm Jian. Merrill schluckte die metaphorische blaue Pille und versuchte dieser vermeintlichen Fantasiewelt zu entfliehen. Als sie endlich ihre Maschine wieder hatte und sie sich in den Sitz schwingen konnte, war es tatsächlich fast wieder so wie früher. Mit einem entscheidenden unterschied: Peter war nicht mehr da. Auch sie hatte seine tollpatschige Art lieb gewonnen. Irgendwie war er süß. Sie war seinen Avancen nicht abgeneigt. Vielleicht wäre sie noch einmal mit ihm ausgegangen.

Ein weiterer Schock schoss durch ihre Großhirnrinde und brachte das Bild von Peters geplatzten Schädel und dem überall hinter ihm an der Heckscheibe klebenden Blut mit sich. Merrills Atmung wurde unregelmäßig. Beim Gedanken an Peters Ermordung kehrte die Angst in ihre Glieder zurück und erneut stieg Panik in ihr auf. Sie bedeckte ihr Gesicht mit ihren Handflächen und begann zu weinen.

Die Bandmitglieder wollten sie trösten.

Jennifer nahm ihre Freundin in den Arm und spürte sie zittern. “Ist schon gut”, sagte sie. “Lass es einfach raus!”

Merrill legte ebenfalls die Arme um Jennifer und begann sich an ihrer Schulter auszuweinen. Sie tat oft unnahbar und hart, aber im tiefsten inneren war es nur ein Schauspiel. Ein Versuch sich selbst Mut zu machen. Dieses Mal verfehlte es seine Wirkung.

“Wir sind bei dir!”

Merrill musste zwingend an die Lüge denken, welche sie ihren Freunden aufgetischt hatte, um ihre tagelange Abwesenheit zu erklären. So leicht wie ihre Eltern, machten es ihr ihre Freunde nicht. Sie erklärte ihnen, dass sie von irgendwelchen Drogenopfern ausgeraubt worden sei. Danach hätten sie sie beide windelweich geprügelt und dann ihnen das Geld abgenommen. Weil es ihnen nicht genug war, erschossen sie Peter. Von diesem Anblick und den eigenen Verletzungen sei sie dann ohnmächtig geworden und erinnere sich nur noch dran, im Krankenhaus aufgewacht zu sein.

Selbstverständlich sorgten sich ihre Freunde, allen voran Jennifer, dass man ihr noch mehr angetan haben könnte, doch Merrill beruhigte sie damit, dass man im Krankenhaus keine Hinweise auf Vergewaltigung oder dergleichen feststellen konnte.

Die anderen schienen diese Geschichte zu schlucken.

Natürlich bereite es ihr keinerlei Vergnügen, ihre Freunde zu belügen.

Aber was sollte sie sonst machen?

Ihnen die Wahrheit sagen?

 

Last Seed Operationsbasis

 

Catherine sah sich im Raum um. Er war klein und von quadratischem Grundriss. Die Wände schienen wie aus einem Guß und fügten sich fugenlos zusammen. An einer Wand befand sich eine große getönte Scheibe. Das alles kam ihr so unangenehm vertraut vor. Vermutlich beobachtete man sie von dort aus. Sie saß auf einem Bett und ihr gegenüber hatte eine ihr unbekannte Frau Platz genommen, welche zwar erwachsen wirkte, aber dennoch in ihrem Alter zu seien schien. Die Haare der Die Haare der Fremden wiesen den gleichen Farbton auf, wie ihre eigenen und sie trug ein graues Kostüm. Catherine starrte sie missmutig an.

“Ich bin Melanie Cortez”, stellte sich die Frau vor.

Catherine reagierte nicht darauf.

“Ich möchte dir helfen.”

Auch das war der Brünetten egal.

“Gut, dann werde ich dir etwas über dich erzählen”, kündigte Melanie an. Dabei sprach sie weder einigermaßen schnell noch besonders laut. Es war ihre besondere Art, eine Konversation zu führen. “Dein Name ist Catherine Connery. Du bist sechzehn Jahre alt und warst bis vor kurzem hospitalisiert.”

Wieder keine Reaktion von dem Mädchen.

“Dort hast du Organe gespendet”, ging Melanie auf Konfrontationskurs.

Catherine erwiderte die Aussage mit einem panischen Starren. “Man hat sie mir genommen!”, stellte sie klar. “Ich gehe dorthin nicht wieder zurück!”

“Schon gut!”, beruhigte Melanie. “Ich möchte mehr darüber wissen. Sagst du mir noch mehr?” Sie versuchte Catherine dazu zu bringen, sich ihren Dämonen zu stellen.

Als Lamar und Victor im Haus ihrer Eltern auf sie stießen, fanden sie sie blutüberströmt zwischen zwei Leichen. Im Bauch der Mutter klaffte eine Einschusswunde, an der sie eindeutig verblutete. Dem Vater wurde hingegen der Schädel eingeschlagen. Überall im Eingangsbereich des Hauses fand man Flecken von Blut und Hirnmasse. An den Möbeln, an der Decke und natürlich auch an Catherine. Zwar gab es Theorien, was sich zugetragen haben könnte, doch keine davon konnte bisher bestätigt werden. Die Aussage des Mädchens könnte dabei helfen das Geschehene zu verstehen, doch seitdem man sie als wimmerndes Häufchen Elend auffand, hatte Catherine kein einziges Wort mehr gesprochen.

Melanie war hier, um dies zu ändern.

Plötzlich verkrampfte sich das Mädchen. “Nein! Nein! Nein!” Ihre Augen weiteten sich und sie starrte imaginäre Löcher in die Luft.

Melanie legte eine Hand auf ihre Schulter.

Catherine erkannte die Geste als etwas anderes, als es von Melanie gedacht war. Eine Bedrohung. Ein Übergriff! Ihre Augen fixierten die fremde Hand auf ihrer Schulter. Sie gab keinen Laut von sich, sondern starrte einfach nur auf Melanies Hand.

“Ich will dir helfen!”, beteuerte die junge Frau. Als das keine Wirkung zeigte, versuchte sie etwas anderes. “Atme ruhig und zähle von zehn an rückwärts.”

Eine weitere Episode erschien vor Catherines geistigen Auge. Ein zwielichtiger Mediziner, ein Teufel in Weiß, zog eine Spritze auf und schob die Nadel unter ihre Haut. Angst stieg erneut in ihr auf. Sie glaubte, jeden Moment in den Operationssaal geschoben zu werden. “Zähle von zehn an rückwärts”, sprach der Teufel schließlich.

Ohne aus ihrer Imagination aufzuwachen, stürzte sich Catherine auf Melanie.

Diese versuchte sich zu wehren, doch die Kräfte der Brünetten waren unglaublich stark. Melanie war nicht im Stande, sich zu wehren und wurde von Catherine vom Stuhl geworfen und auf dem Boden festgehalten. Mit all ihrer Kraft stemmte sich Melanie gegen den Angriff, aber sie hatte keine Chance. Catherines legte ihre Hände um Melanies Hals und schnürte ihr die Sauerstoffzufuhr ab.

“Verrecke, du Schwanzlutscher!”, schrie Catherine wie von Sinnen. “Verrecke!”

Ganz offensichtlich sah sie in Melanie jemand anderen.

Der Mangel an Luft in ihren Lungen war fürchterlich. Sie konnte fühlen, wie ihr die Kraft schwand und die Welt langsam aus ihrer Reichweite entschwand. Sie spürte, wie ihr respiratorisches System versuchte, die letzte Luft aus ihren Lungen zu saugen und in den Blutkreislauf zu bringen. Gasaustausch gestaltete sich mit verschlossenem Kehlkopf allerdings schwierig und so begann sich Melanies gesamter Körper zu schütteln. Sie versuchte Catherines Armen irgendwie zu entkommen und zerkratzte sie während ihrer Anstrengungen. Ihre Beine zitterten und die Absätze ihrer Schuhe schlugen abwechselnd in schneller Abfolge auf dem Boden auf. Außerstande etwas gegen die Kraft ihres Gegenüber zu unternehmen, verlor sie schlussendlich den Kampf.

Hektisch atmend erhob sich Catherine und ging schockiert über sich selbst rückwärts, bis sie die Wand an ihrem Rücken fühlen konnte.

 
 

~~~

 

Die Verbindung riss ab.

Melanie erwachte nach Luft japsend aus ihrer Trance. Es fiel ihr schwer, mir nichts dir nichts zwischen Gedanken und Realität zu wechseln. Vor ihr saß die vollig geistesabwesende Catherine. Sie befanden sich noch immer in dem kleinen Beobachtungszimmer. Melanie hatte erneut versagt. Ihre Auftrag sollte es ein, in den Geist des Mädchens einzudringen und auf diesem Weg ihr Bewusstsein zu therapieren. Melanies Kräfte erlaubten ihr, das Unterbewusstsein eines Menschen zu betreten. Leider dauerte der Prozess lange und war zudem sehr störanfällig. Die Abwehrmechanismen einer fremden Psyche konnten eine schwierige Hürde darstellen. Sie besaß keine Fähigkeit, aus der man einen direkten Vorteil im Kampf ziehen konnte. Doch für diese Arbeit war sie wie geschaffen.

Seit ihrem Amoklauf vor einer Woche hatte sich Catherine in sich selbst zurückgezogen und war nicht mehr ansprechbar. Sie verweigerte jegliche Nahrungsaufnahme und schlief nicht mehr. Auf Dauer würde dieses Verhalten selbst bei der Unsterblichen zu unschönen Problemen führen. Verweigerung der Nahrungsaufnahme und der daraus resultierende Mangel an Nährstoffen, würde selbst ihren Metabolismus versagen lassen.

Deshalb mussten sie alles unternehmen, um zu Catherine durchzudringen.

Aber Melanie hatte versagt.

Jeder ihrer Versuche endete darin, von Catherine auf die eine oder andere Art umgebracht zu werden. Sie ließ wahrlich niemanden an sich ran. Glücklicherweise passierte dies nur in ihrem Unterbewusstsein.

Für den Moment gab Melanie auf.

Diese Fähigkeit einzusetzen, belastete sie mental sehr und sie benötigte unbedingt eine Pause. Sie gab das Signal und die Tür zum Raum öffnete sich. Noch immer mit einem beklemmenden Gefühl in ihrem Rachenraum, zog Melanie von Dannen.

 

Leonard Bernstein University

15. April 2037

 

Eine Unverschämtheit war das! Nachdem sie der Professor Tags zuvor mit seiner Vorlesung über Beethoven zu Tode langweilte, zielten heute fast alle seine Fragen auf sie. Fast immer stellte er Fragen zu seiner letzten Vorlesung. Wahrscheinlich um sich zu rächen. Er hatte es offenkundig noch nicht verwunden, dass sie bei seinen Ausführungen einnickte. Glücklicherweise vermochte Merrill alle seine Fragen beantworten.

Alles was ihr jetzt noch gelingen musste war, es sich bis zur nächsten Arbeit zu merken.

Es entsprach nicht den Tatsachen, dass sie die Werke der berühmten Komponisten nicht würdigte. Immerhin verdankte sie es ihnen, dass sie heute die Musik machten konnte, die ihr am Herzen lag. Sie fand Geschichte nur schon immer langweilig. Was in der Vergangenheit lag, war vergangen. Und für die Geschichte der klassischen Musik galt das Gleiche.

Irgendwie hatte sie das Bombardement von Fragen heil überstanden und konnte, zusammen mit den anderen Studenten, lebendig, ohne zu Tode gelangweilt zu sein, aus dem Hörsaal entkommen.

Nun benötigte sie etwas, um wieder munter zu werden.

Es zog sie zu einem Kaffeeautomaten. Sie fummelte in ihren Taschen und fand tatsächlich einen Quarter, den sie im Austausch für das heiße Gebräu in den dafür vorgesehenen Schlitz einführte. Umgehend rutschte ein Becher in den Entnahmebereich und wurde von einer doppelstraligen Düse mit der dunkelbraunen Flüssigkeit befüllt. Zucker gab es gratis in Tütenform dazu. Nach einer Weile war der Prozess abgeschlossen und die Rothaarige konnte ihren Kaffee aus dem Automaten entnehmen. Sie riss die lange schmale Zuckertüte mit den Zähnen auf und kippte ihren Inhalt in den Becher. Anschließend nutzte sie sie, um ihr Getränk umzurühren. An einem nahen Mülleimer entledigte sie sich ihr letztendlich. Mit dem Becher in der einen Hand und einem Hefter mit ihren Notizen in der anderen suchte sie nach einer geeigneten Stelle, den Kaffee in sich hineinzuschütten.

Auf ihrer Suche nach einer Sitzgelegenheit, verließ Merrill das Gebäude und betrat den Innenhof. An einem quadratischen Blumenbeet, in dessen Mitte ein Baum stand, fand sie eine freie Bank, auf der sie sofort Platz nahm, bevor noch jemand anders auf die Idee kam. Sie legte ihre Tasche und ihren Hefter neben sich ab und begann am Kaffee zu schlürfen.

Unvermittelt spieh sie das Gebräu wieder aus.

Der Becher landete postwendend im Mülleimer neben ihr.

Einfach widerlich!

Dieser Kaffee kostete nicht nur fünfundzwanzig Cent, er schmeckte auch so!

Angewidert schüttelte sich Merrill.

Dann kam sie ins grübeln. Eigentlich sollte sie dankbar sein, das sie sich über diesen ekelhaften Kaffee aufregen durfte. Nachdem ein Großteil der Welt in Trümmern lag, musste es sehr aufwändig sein, an Kaffeebohnen und all die anderen Luxusgüter zu kommen, die den Bewohnern von Liberty Bay das Leben erleichterten. Fast schon märchenhaft. Es zeigte, welche finanzielle Macht der Stadtstaat noch immer besaß.

Plötzlich klingelte Merrills Telefon. Es war kein Smartphone und schon gar kein High Tech Kommunikationsgerät, welche sie nur aus Erzählungen ihrer Eltern aus der Zeit vor dem Krieg kannte. Es war ein stinknormales Handy. Eins zum aufklappen. Moderne Technik war selbst in Liberty Bay nur schwer erschwinglich. Ganz spurlos ging der dritte Weltkrieg doch nicht an der Stadt vorbei.

Merrill klappte ihr Telefon auf und nahm das Gespräch an.

Am anderen Ende der Leitung war Jonathan. “Hey Merrill, ich hab Neuigkeiten!”, kündigte er an.

“Was gibt’s denn?” fragte Merrill nach.

“Ich weiß nicht, wie ich es am besten sagen soll…”

“Na hau schon raus!”

“N-Nagut!” Aus für Merrill unerfindlichen Gründen machte ihr Gesprächspartner auf einmal einen nervösen Eindruck. “I-Ich… Wir haben einen neuen Manager.”

Vor Entsetzen wurde ihr der Arm schwach und die Hand mit dem Telefon fiel auf ihren Schoß. Wieso fühlte sie sich auf einmal so getroffen? Sie sammelte ihre Gedanken. Vielleicht weil es war falsch war, Peter einfach so zu ersetzen? Andererseits, irgendwer musste es ja tun.

“Merrill?! Hey, Hallo?!”

Erst reagierte sie nicht auf die Rufe ihres Gegenübers.

“Haaaahlooohh?!”

Noch immer keine Rückmeldung ihrerseits.

“Bist du noch dran? HEY!!!”

Endlich besann sie sich und führte das Handy wieder an ihr Ohr. “Ja, ja. Bin dran.”

“Man, was ist denn los? Ich wollte schon auflegen.”

“Sorry.”

“Kannst du morgen abend?”

“Wieso?”

“Der neue Manager hat uns einen Spontanauftritt klar gemacht.”

“Ich weiß nicht. Irgendwie fühlt sich das-”

“-falsch an? Du, ich denke nicht, das Peter nicht wollen würde, dass wir wegen ihm nicht spielen. Wir müssen es tun. Für ihn!”

“Vielleicht hast du Recht.”

Merrill ließ sich die Adresse der Bar durchgeben, in der ihr Auftritt stattfinden sollte.

 

Forty-Two’s

Am Abend des darauffolgenden Tages

 

Wie schön es doch war, auf einer schweren Maschine durch die Stadt zu rasen. Das Glück der Welt lag wahrlich auf dem Sitz eines Motorrad. Wie immer genoss es Merrill den Fahrtwind durch ihre langen roten Haare wehen zu lassen. In ihre Bikerkluft gehüllt, raste sie in atemberaubendem Tempo durch die Straßen. Über der Schulter trug sie ihren vertrauten Gitarrenkoffer. Nachdem sie beschlossen hatte, ihr altes Leben weiter leben zu wollen, sorgten die Mitglieder von Last Seed dafür, dass ihr Gitarrenkoffer und ihr geliebtes Motorrad wieder in ihren Besitz gelangten. Unfassbar, das beide noch immer bei dem Diner standen und nicht gestohlen wurden. Merrill war auf dem Weg zum Forty-Two’s, einer sehr bekannten Bar, in der öfters Newcomer Bands auftreten. Manche schafften es tatsächlich in Liberty Bay halbwegs an Bekanntheitsgrad zu erlangen. Gar nicht mal so schlecht, dieser neue Manager. Merrill war schon gespannt. Er wollte zum Konzert kommen. Sie wollte sich ihre eigene Meinung bilden und ihn mit ihrem Urteil keinesfalls schonen. Auf ihrem Weg zur Bar ritt sie auf einer signifikant außergewöhnlichen grünen Welle. Das ermöglichte ihr, etwas langsamer zu fahren.

Merrill bog um eine Ecke und ihre Maschine kam zum stehen.

Die Rothaarige sah an der Hauswand neben ihr auf und entdeckte das Schild mit seinen Neonrörenschrift. Die Lichtquellen formten die Umrisse einer Vier, einer Zwei, eines Apostroph und eines kleinen S. Die Zeichen wirkten auf diese Weise wie fettgedruckt. Vor dem Eingang begehrte eine lange Schlange um Einlass in das Lokal. Die Türsteher ließen allerdings nur hinein, wer ein gepflegtes Äußeres vorweisen konnte. Merrill vertrödelte keine Zeit mehr und fuhr noch einmal ein Stück um das Gebäude, bis sie im Hinterhof ankam. Hier hielt sie an, stieg ab, sicherte das Motorrad und steckte den Zündschlüssel ein. An der Hintertür wartete bereits ein Verantwortlicher und geleitete sie hinein.

Sie trat in den Vorbereitungsraum ein.

Die übrigen Bandmitglieder waren zwar anwesend, allerdings fehlte vom groß angekündigten neuen Manager noch immer jede Spur. “Wo ist der Kerl?”, fragte Merrill ungeduldig.

“Schönen abend!”, zischte Jennifer.

“Sorry.” Merrill begab sich zur nächstgelegenen Bank und legte ihren Girarrenkoffer ab. “Ich bin halt neugierig.”

“E-Er hat mir vorhin geschrieben, dass er noch zu tun hat”, meldete sich Jonathan zu Wort. “Er will später nach unserem Gig vorbeischneien.”

“Der hat Nerven…”

“Was für ein scharfes Outfit trägst du heute?”, fragte Benjamin provokant und erntete dafür einen Stoß mit dem Ellenbogen von seiner Freundin.

Merrill nahm eine verführerische Pose ein und zog den Reisverschluss ihres Biker Suit, welcher bis zum Unterbauch reichte, zur Hälfte hinunter. Der tiefe Ausschnitt verriet, dass sie darunter nichts trug. So aufzutreten würde das männliche Publikum gewiss sofort in den Bann ziehen.

“Heute mal einfach?”, kommentierte Jennifer.

“Aber effektiv!”, ergänzte Jonathan, dem der Anblick des Dekoltee wahrlich gefiel.

Quod Erat Demonstrandum!

“Ich wäre jetzt gern der Biker Suit”, brabbelte Benjamin.

Ein weiterer Ellenbogenhieb folgte.

“Also dann”, sprach Jonathan, “lasst uns die Hütte abreißen!”

Merrill rollte mit den Augen. Den Spruch musste er wirklich jedes Mal bringen. Anstelle sich darüber aufzuregen, schnallte Merrill die E-Gitarre um den Hals und die Mitglieder von Banshee betraten die Bühne.

 

Fröhlich strahlend kehrten Merrill und die anderen nach ihrem Auftritt zurück in den Backstage-Bereich. Das Publikum war großartig. Wie üblich, flippten die männlichen Gäste vollkommen aus. Bei dem Gedanken, wo an ihrem Körper sie sich während ihrer Performance alles berührt hatte, stieg ihr nachträglich die Schamesröte ins Gesicht. Als sie sich zum Beispiel auf dem Rücken liegend auf drei nebeneinander aufgestellten Stühlen räkelte und überrücks in das Publikum schaute, konnten neugierige Augen gewiss weit blicken. Sie spürte, in dieser Nacht wieder die schmutzigen Fantasien von so manchen Mann bedient zu haben. Einzig, dass die Band erneut unter dem falschen Namen - diesmal “Behemoth” - angekündigt wurde, ärgerte sie.

Das entwickelte sich zu einem Running Gag.

Es war beinahe wie früher… 

Unter ihrem Biker Suit spürte Merrill die Nässe ihres Schweiß. Die Scheinwerfer über der kleinen Bühne erzeugten viel Hitze. Hätte sie eigentlich wissen müssen. Aber sie musste ihre Ausdünstungen noch bis nach Hause aushalten, denn sie hatte keine Wechselsachen bei sich. Nichts drunter zu tragen war unangenehmer, als sie es erwartete.

Plötzlich klopfte es an der Tür.

Jonathan erbarmte sich, stand auf und öffnete.

Als ein ihr nur zu gut bekanntes Gesicht den Raum betrat, blieb Merrill die Spucke weg.

“Das ist unser neuer Manager”, stellte Jonathan vor. “Er heißt Victor.”

Es war tatsächlich dieser großgewachsene Freizeittransformator.

Merrill konnte es nicht fassen.

Victor erblickte die Rothaarige und grüßte sie sofort mit dem verhassten Kosenamen. “Hi, Ruby!”, sagte er und grinste sie keck an.

“Du!!!” Merrill konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie packte Victor und schleifte ihn mit sich. Kaum zu glauben, aber der großegewachsene Mann mit den schwarzen Haaren ließ sie ohne Widerstand gewehren. Sie zerrte ihn durch den Backstage-Bereich und die gegenüberliegende Tür hinaus in die kühle Nacht.

“Kennen die sich etwa schon?”, wunderte sich Jonathan.

“Sex is in the air!”, begann Jennifer zu singen. “They will do it everywhere.”

“Ich dachte eigentlich, Merrill wäre für schmutzige Texte zuständig”, kommentierte Benjamin.

“Halt die Klappe!”

 

Wütend drückte Merrill den sichtlich amüsierten Victor gegen die Hauswand.

“Nicht so stürmisch, Fräulein Sturm!”, witzelte der Scherzkeks.

“Was willst du hier?!”, stellte die Sängerin ihn zur Rede. “Ich will mit dir und der ganzen Sache nichts zu tun haben!”

“Ach komm schon, das meinst du nicht so.”

“Lasst mich gefälligst in Ruhe!”

Plötzlich packte Victor beide Arme von Merrill und befreite sich aus ihrem Griff. Er drückte sie nun selbst energisch rücklings gegen ihren Willen an die Hauswand. Sein Gesicht kam dem ihren unkomfortabel nahe.

“Was soll das?”, tobte Merrill.

“Überleg es dir doch nochmal, Ruby.”

Die Sängerin wehrte sich gegen seinen Griff. “Finger weg von mir, oder ich trete dir in die Eier und serviere sie dir dann zum Dinner!”

Aus Angst um seine Kronjuwelen ließ Victor Merrill endlich los.

Was für ein aufdringlicher Kerl!

“Ich bin aus eigenem Antrieb hier”, versicherte Victor. “Die anderen wissen davon nichts.” Vorsichtig kam er Merrill wieder näher. “Ich will auf dich aufpassen, Ruby.”

“Ich verzichte!” Eine weitere Zornesfalte entstand auf ihrer Stirn. “Und nenne mich gefälligst nicht Ruby! Ich heiße Merrill.”

“Aber Ruby kann ich mir besser merken!”

“Dann lasse mal deinen Kopf untersuchen!” Merrill wandte sich ab, um in das Gebäude zurückzukehren, doch wurde durch eine Hand auf ihrer Schulter abrupt gestoppt. “Lass mich!” Wütend und bereit, ihm eine zu zimmern, wandte sich Merrill zu Victor um.

Dieser reichte ihr allerdings nur eine Karte mit Magnetstreifen und QR-Code. “Hier!”, sagte er nur. “Das weist dich als Gast aus.”

Dieser Kerl war wahrlich über alle Maßen unverschämt! Aufdringlicher als ein provisionsgeiler Versicherungsvertreter schwatzte er ihr dieses Stück Plastik auf. Und das schlimmste daran war, dass sie sich dabei ertappte, wie sie den Ausweis annahm und in der Brusttasche ihres Biker Suit verstaute. Anscheinend war es wirklich wahr: Wenn man nur dreist genug war, konnte man alles erreichen.

Victor lächelte zufrieden und wandte sich ab. “Übrigens”, sagte er noch im gehen. “Das war eine scharfe Vorstellung!” Dann entschwand er endgültig.

Er hatte es gesehen?! Merrill lief rot an und sah beschämt zu boden.

Dann wurde ihr klar, dass ihr das schlimmste noch bevor stand. Sie musste zurück zu den anderen und ihnen eine plausible Erklärung für ihr Verhalten auftischen.

 
 

~~~

 

Leonard Bernstein University

17. April 2037

 

Unauffällig betrat ein junger Mann die heiligen Hallen der Universität. Über seiner Schulter der Gurt eines Instrumentenkoffers. Mit seiner subtilen Ausstrahlung fügte er sich perfekt in die Umgebung ein. Er war bereits einmal hier für eine Aufnahmeprüfung. Die wundervollsten Klänge, welche sich ein Mensch nur vorstellen konnte, entsprangen seiner seit Generationen weiter vererbten Stradivari. Ausschließlich ein wahrer Tor wäre nicht sofort Feuer und Flamme für den Wohlklang seines Streichinstrument. Und dennoch wurde er abgelehnt. Heute war er hier, um die verantwortlichen Professoren mit den richtigen Argumenten von seinem Talent zu überzeugen.

 

Das Rauschen des Spülkastens kündigte davon, dass ihr Geschäft erfolgreich abgeschlossen war.  Ein Klicken entsperrte das Schloss der Tür. Eine sichtlich erleichterte Merrill verließ die Kabine. Während der Vorlesung fühlte sie sich mehr und mehr wie ein Staudamm, der in Begriff war überzulaufen. Dabei war diese Vorlesung tatsächlich mal interessant. Sie handelte von Kurt Cobain, Chester Bennington und weiteren großen Künstlern, welche diese Welt viel zu früh verlassen hatten. So sehr sie sich auch wünschte, den Ausführungen des Dozenten unterbrechungsfrei zu lauschen, eine Flutkatastrophe im Hörsaal war keine Option! Verdammte Soft Drinks! Nun trat sie an das Waschbecken heran und reinigte ihre Hände. Danach beugte sie sich nach vorn und inspizierte die aufgelegte Kosmetik im Close-Up. Alles schien in Ordnung zu sein.

Merrill hielt ihre Hände unter den automatischen Trockner, welcher sofort begann warme Luft auszustoßen. Wortwörtlich im Handumdrehen wurde die Feuchtigkeit von ihren Extremitäten geblasen. Anschließend verließ Merril die Damentoilette.

Wieder im Gang vernahm sie einen Schrei.

Um diese Zeit waren die Korridore leer. Die meisten Studenten lauschten ihren Vorlesungen. Die Neugier hatte die Rothaarige gepackt. Sie musste der Quelle des Schreis auf den Grund gehen und folgte dem Gang. Sie erklomm leise eine Treppe in die nächste Etage und musste sich sofort verstecken. Vorsichtig schaute sie um die Ecke und war sich nun sicher, sich nicht alles nur eingebildet zu haben. Sie sah einen jungen Mann - vermutlich Student - mit einem Geigenkoffer über der Schulter und einer Waffe in der Hand, welcher gerade einen anderen Mann - vermutlich ein Professor bedrohte. “G-Geben Sie mir noch eine Chance!”, forderte er. “Ich will nur noch ein einziges Mal vorspielen!”

Der Professor hatte die Arme in die Höhe gerissen und bekam kein Wort raus.

Hat der Typ ein Rad ab?!, dachte Merrill entsetzt.

Plötzlich hörte sie das verräterische Brummen eines Telefons.

Sie brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es ihr eigenes war.

Der junge Mann schlug den Professor mit dem Pistolengriff nieder. “Wer ist da?!” rief er daraufhin aus.

Merrill sah zu, dass sie Land gewann. Sie rannte eiligst die Treppe hinunter, was mit ihren Plateauschuhen alles andere als leise von statten ging. Im langen Gang, in den sie eingebogen war, stellte sie der Verrückte mit der Waffe schlussendlich.

“Halt!”

Das Klicken der Sicherung veranlasste die Rothaarige die Hände hochzunehmen. Ihre Atmung war noch immer stark beschleunigt von ihrem Sprint. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Vorsichtig wandte sie sich dem Mann mit der Waffe zu. Ihre angsterfüllten Augen erreichten gefühlt die Größe von Untertassen, während sie sich dem Lauf des Tötungswerkzeugs gegenüber und der Gnade dieses Wahnsinnigen ausgeliefert sah.

“Wer bist du?”

“M-Merrill”, antwortete sie.

“Studierst du hier?”

“Ja.”

“Würdest du mir bitte zuhören?”

Fassungslos starrte die Rothaarige ihn an. Erst jetzt wurde ihr in all ihrer Panik wieder bewusst, dass er die ganze Zeit einen Geigenkoffer über der Schulter hängen hatte. Er wollte doch nicht wahrhaftig auf seinem Instrument spielen?! Das konnte nicht sein Ernst sein? Hatte er den Schuss nicht gehört?! “Ähm, klar! Warum nicht?!” Merrill zwang sich ein Lächeln auf. “Leg los!”

Tatsächlich nahm der Irre seine Waffe runter und steckte sie danach in die Hose, so wie man es in alten Actionfilmen stets vorgelebt bekam. Er setzte den Geigenkoffer ab, holte eine Stradivari samt Bogen heraus und begann zu musizieren.

Merrill wollte es nicht glauben.

Das Stück, welches er spielte, kam ihr bekannt vor. Beethoven. Nicht schon wieder Beethoven! Das konnte einfach nicht wahr sein. Als stalke sie dieser Komponist, obgleich er schon seit über zweihundert Jahren tot war.

Derweil vertiefte sich der offenkundig Geisteskranke in sein Spiel.

Merrill überlegte, ob sie versuchen sollte, ihn zu überwältigen oder wenigstens wegzulaufen. Sie entschied sich für letzteres. Vorsichtig ging sie Schritt für Schritt rückwärts, um nicht ungewollt seine Aufmerksamkeit zu erregen, und entfernte sich von dem jungen Mann.

Leider war er nicht so blöd, wie er durchgeknallt war. Er ließ den Bogen fallen und wollte nach seiner Waffe greifen.

Instinktiv begann Merrill zu schreien.

Es war der Todesschrei einer wahren Banshee!

Abscheuliche Laute, welche die Schaukästen an den Wänden zum bersten brachten. Unter Schmerzen ließ der verrückte Musiker nun auch die Stradivari fallen, welche auf dem harten Boden aufkam und auseinanderbrach. Er kauerte sich zusammen und versuchte seine Ohren zu bedecken. Der Schmerz in seinen Kopf, trieb ihn in den Wahnsinn. Als ihm dann schmerzlichst bewusst wurde, dass er seine Stradivari, das Erbstück seiner Familie, zerstört hatte, ergriff er nun doch seine Waffe. Die Schreie hatten inzwischen ihr Werk verrichtet und er konnte bereits nicht mehr klar sehen. Er richtete seine Pistole einfach dahin, wo er das kreischende Ungeheuer vermutete und drückte mehrmals ab.

Eine gewaltige Kraft riss Merrill zu Boden und unterbrach ihren Schrei.

Der unaussprechliche Schmerz in ihrer Schulter nagelte sie förmlich fest.

Es tat so schrecklich weh, dass sie nicht einmal mehr schreien konnte.

Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln.

Noch immer geplagt von einem schmerzenden Kopf, wankte der Verrückte mit der Knarre auf die am Boden liegende Merrill zu. Allmählich kehrte die Klarsicht zurück. Er baute sich vor ihr auf und richtete seine Waffe auf ihren Kopf. Sein Gesicht war von Hass und Pein gezeichnet. “Du verdammte Schlampe!”, brachte er unter Qualen hervor. “Ich mach dich kalt!”

Sein Finger verkrampfte sich um den Abzug.

 

FORTSETZUNG FOLGT..


Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Vorlesung in diesem Kapitel basiert auf einer echten Vorlesung.
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=wZ9Z81924DA Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Tasha88
2021-11-10T13:34:30+00:00 10.11.2021 14:34
Hallo :)

endlich mal wieder ;)

ich stand zu Beginn ein wenig auf dem Schlauch und dachte erst, es wäre vielleicht ein Rückblick, doch dann hast du es ja aufgeklärt ;)

Ich finde es gut, dass Peter nicht in Vergessenheit gerät und alle Mitglieder von Banshee an ihn denken. Ach ja (auch wenn mein Kommi chronologisch nicht passt) - bei dem neuen Manager habe ich mir schon gedacht, dass da Viktor auftauchen wird :D schön, recht zu haben ;)

und Melanie - da war ich einen Moment wirklich schockiert, aber zum Glück war es nur geistig und nicht wirklich, dass sie getötet wird. Catherine tut mir leid, auch wenn sie wirklich irre ist >.< aber was erwartet man auch?

UNd dann das Ende des Kapis ... oh Gott ..
aber auch hier bin ich davon ausgegangen, dass Merrill schreien wird - immerhin ist das ihre Kraft ...
sie ist eben doch auf die anderen angewiesen ... einfach um zu lernen, mit dem allen umzugehen ...

jetzt bin ich gespannt, wann es irgendwann einmal weiter gehen wird ;)

Liebe Grüße
Antwort von:  totalwarANGEL
10.11.2021 21:33
Vielen Dank, vielen Dank.
Tatsächlich schreibe ich gerade an der Geschichte weiter.
Ich werde versuchen mich etwas zu beeilen. ;)
Von:  Regina_Regenbogen
2021-09-17T21:27:05+00:00 17.09.2021 23:27
Hahaha, ich bin der einzige Weirdo, der das Zeug, das der Prof schwafelt, interessant findet. XD XD XD
XD Ich feiere es ja immer, wie viel Mühe du dir bei den Nebencharakteren gibst wie diesem Otaku neben Merrill! XD XD XD Geil.
Ich bin aber immer noch irritiert, warum sie auf einmal in der Uni ist. Darf sie denn einfach wieder in ihr normales Leben? Wird sie nicht gesucht? Vielleicht ist das ja auch eine Rückblende. Hab mir das Datum nicht gemerkt. Naja, ich werde es ja bald wissen.
Okay, scheinbar sind alle Spuren verwischt worden. :D

Yay! Catherine! :D
Äh, die wissen, dass das Mädel Leute gekillt hat und lassen jemanden allein zu ihr rein, ohne geeignete Schutzmaßnahmen??????
Alteeeeeeer!!!! Was ist denn das für eine schlecht organisierte Organisation!!!! Halloooo?! Das Mädel hatte schon mal Leute von euch KO geschlagen und dann eine Blutspur hinterlassen, da kann man doch zumindest eine Wache vor die Tür stellen, die nach dem Rechten schaut!
Oh!
Okay! XD XD XD Jetzt ergibt alles Sinn!
Respekt an Melanie!

Ah, ist interessant zu erfahren, inwiefern sich die Welt in Bezug auf weltweiten Handel und Technik verändert hat.
Wow, Jonathan ist wirklich extremst unsensibel. 😅
Wieso ist Jennifer mit Benjamin zusammen, der dauernd Merrill angafft? :'D Das wäre mir echt zu doof.
Nichts drunter tragen fühlt sich scheiße an, Mädel. XD Hätte ich dir sagen können. Wenigstens ein Slip wäre sinnvoll gewesen. Ernsthaft, Mädel, Intimhygiene ist wichtig. XD
Victor!!! XD XD XD XD
"grinste sie keks an" XD XD XD XD Dieser Tippfehler! XD
Alter, dieses an die Wand Gedrücke der beiden! XD XD XD Ich gebe Jennifer Recht: Sex is in the air! XD
XD XD XD Victors dumme Sprüche! Ich liebe sie! Und ich bin auch für Ruby! XD XD XD XD XD Passt doch viel besser! XD XD XD XD

Hey, ich mag Beethoven! Okay, Merrill und ich haben wirklich absolut überhaupt nichts gemeinsam. 😅
Gut, da sie die Hauptperson ist, wird sie wohl nicht sterben. 😂
Victor, dein Auftritt! Du wolltest sie doch beschützen! 🤣
Antwort von:  totalwarANGEL
17.09.2021 23:38
> Ich bin aber immer noch irritiert, warum sie auf einmal in der Uni ist.
Kapitel 1 wird sie als Musikstudentin vorgestellt.

> Alteeeeeeer!!!! [...]
> Okay! XD XD XD Jetzt ergibt alles Sinn!
Ich sehe, es hat genauso funktioniert, wie ich es mir vorgestellt habe. *freu*

> Wieso ist Jennifer mit Benjamin zusammen, der dauernd Merrill angafft?
Wo die Liebe hinfällt. Da kann man nix machen...
... Und ich würde sie auch angaffen. Na gut, ich habe sie auch so geschaffen,
dass sie mir optisch gefällt. XD

> Alter, dieses an die Wand Gedrücke der beiden! XD XD XD Ich gebe
> Jennifer Recht: Sex is in the air! XD
Ah. Also auch das funktioniert, wie beabsichtigt. :)

> Und ich bin auch für Ruby!
Ich auch. Aber Merrill gefällt das nicht. Sorry, da kann ich nichts machen.

> Victor, dein Auftritt! Du wolltest sie doch beschützen!
Ja, wo ist er denn?
Wenn er sich nicht beeilt, kann er sie nicht mehr aufreißen. :D
(Er wird es zumindest versuchen)


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