Unlimited von Farbenmaedchen ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Ich schlage die Türen beiseite. Keuchend stütze ich mich auf den Knien ab und versuche zu Atem zu kommen. Von meinen Haaren tropft der Regen zu einer Pfütze am Boden, weil es draußen aus Eimern schüttet. Mit einem Seufzen richte ich mich auf und laufe weiter in den Supermarkt, der von weitem den Nachthimmel wie eine Lichterkette erleuchtet hat. Den Einkaufswagen schenke ich keine weitere Beachtung, weil ich weiß, dass ich sowieso niemals das Geld besitzen würde, ihn zu füllen. Stattdessen hole ich aus der Hosentasche einen wiederverwendbaren Beutel und streife durch die leeren Gänge.  Kaum jemand ist zu der späten Stunde noch unterwegs, weshalb ich nicht lange brauche, um bei den reduzierten Fertignudeln anzukommen. Großzügig schaufle ich ein paar der Becher hinein. Auch vom Studentenfutter kommen einige Tüten mit. Damit wäre mein Einkauf schon erledigt, doch ich kann mich nicht abhalten, an der Schokoladentheke stehenzubleiben und meinen Blick über die gute Auswahl wandern zu lassen. Schon die verblüffenden Namen der Sorten zeigen mir, dass ich keine von denen jemals probieren könnte. Mit Likör, in einer künstlerischen Form oder im Mund zerlaufend... gute Schokolade können sich eben nur gutbetuchte Menschen leisten. Mein Blick bleibt an einer Frau mittleren Alters hängen. Sie biegt gerade mit ihrem prall gefüllten Einkaufswagen an der Ecke ab und stellt sich dann neben mich. Im praktischen Sitz des Wagens späht ein kleines Mädchen mit zwei Zöpfen zu mir auf und blinzelt mich neugierig an. Der Mann von der Theke kommt aus dem Hinterzimmer und ich schenke dem Mädchen ein Lächeln zum Abschied bevor ich gehe. Ich komme am Getränkestand vorbei, an dem auch die Frau mit ihrem Kind gestanden hat. Softgetränke oder Bier kosten mehr als der gute alte Wasserhahn, deshalb will ich auch hier nicht anhalten. Trotzdem bleibe ich überrascht stehen und hocke mich hin. Denn unter dem Regal blitzt etwas hervor und als meine Finger darunter gleiten, muss ich mit großen Augen feststellen, dass es ein Geldschein ist.  Ganze Einhunter Dollar. Hastig sehe ich mich um und drücke das Geld an meine Brust, bevor ich aufstehe und gleich nochmal meinen Kopf in alle Richtungen wende. Wenn ich sicher bin, dass mich niemand gesehen hat, schaue ich schluckend auf das Stück Papier, das mir einen genauso vollen Einkaufswagen bescheren könnte, wie der Frau zuvor. Der ist ihr wahrscheinlich rausgefallen, denke ich angestrengt nach und beiße mir auf die Lippe. Aber ich kann nicht sicher sein. Wenn ich ihn zurückgebe, könnte sie mich auch einfach anlügen. Dann bin ich der Gelackmeierte. Ich öffne meine kleine Tüte und sehe mir das wenige Essen an, das für die nächste Woche reichen müsste und es doch nicht würde. Selbst wenn ich jeden Tag nur drei Portionen Fertignudeln esse, käme ich lediglich die nächsten vier Tage damit durch.  Das ist zu wenig, rasen meine Gedanken und zeitgleich grummelt mein Bauch, der mich dafür bestraft, dass ich ihn vernachlässige. Ich habe Hunger. Für diesen Monat ist das Geld schon aufgebraucht. Miete, Strom, Wasser, das musste alles irgendwie gezahlt werden. Dennoch... das geht nicht. Ich beiße mir erneut auf die Lippe, dann laufe ich zur Kasse und lege meinen Einkauf auf das Fließband. Hinter mir taucht auch die Frau auf und tut es mir gleich. Das wäre meine Möglichkeit, ihr das Geld zu geben, aber ich halte den Einhundert-Dollar-Schein lieber dem Kassierer hin, als ich fertig bin. »Den habe ich unter den Regalen gefunden.« »Unter den Regalen? So viel Geld?«, fragt der Mann misstrauisch, nimmt den Schein aber entgegen, damit er ihn begutachten kann. Plötzlich ertönt ein heller Schrei und unsere Köpfe wandern zu der Frau hinter mir, die jetzt mit ihrem Finger auf mich zeigt. »Den suche ich schon die ganze Zeit unter Tränen, du Dieb! Sowas muss man sich also bieten lassen? Erst beklaust du mich und dann kommt das schlechte Gewissen durch?« Mein Mund steht offen und meine Augen weiten sich, bevor ich realisiere, was mir vorgeworfen wird. »Was? Nein! Ich habe ihn doch nicht geklaut, der lag wirklich bei den Getränken!« »Natürlich!«, keift sie sarkastisch. Inzwischen springt der Kassierer auf, was mich einige Schritte zurückweichen lässt. Die Frau stemmt ihre Hände in die Hüfte, um noch lauter zu schreien: »Weil ich auch zu dumm bin, um auf eine solche Menge Geld aufzupassen. Die verliert man nicht einfach so!« Mit einem Mal wird die Tür am Ende des Eingangsbereichs aufgezogen und zwei bullige Männer kommen auf uns zu. Schweiß bricht mir auf der Stirn aus und ich wünsche mir, ich hätte das verdammte Geld einfach behalten. »Gibt es ein Problem?«, fragt der große, als Wachmann uniformierte Typ neben seinem Kollegen und wirft mir einen bösen Blick zu. »Dieser Bengel hat mir Geld geklaut!«, schreit die Frau. »Das stimmt doch gar nicht!«, schreie ich zurück, weil es mir reicht. »Wie kommen Sie darauf? Ich habe gar nichts getan!« »Sehen Sie ihn doch mal an! Abgenutzte Schuhe, fusselige Kleidung, tiefe Augenränder, wahrscheinlich Drogen in der Tasche... man merkt doch sofort, dass der Dreck am Stecken hat!«, keift die Frau ohne Unterbrechung, wobei sie mich nicht zu Wort kommen lässt. Doch das brauche ich auch gar nicht. Anscheinend reichen diese haltlosen Anschuldigungen, damit  die Wachmänner mich packen, gewaltsam aus dem Supermarkt zerren und vor der Tür in den Dreck werfen. Hustend richte ich meinen nassen Oberköper auf, wische mir den Matsch aus dem Gesicht und sehe zurück zum Supermarkt, in dem mein Einkauf liegt. An den komme ich allem Anschein nach nicht mehr, weil diese Hünen von Männer lässig die Arme verschränken und nicht wirken, als würden sie mich nochmal reinlassen. Ich springe zähneknirschend auf, schüttele mich wie ein nasser Pudel und stampfe dann ziellos weg. Nur weil sie sehen, dass ich arm bin, behandeln sie mich, wie einen Schwerverbrecher. Dabei bin ich so ehrlich gewesen und wollte das Geld zurückgeben...! Irgendwann laufe ich über die kleine Verbindungsstraße, welche ins Zentrum führt, bis ich vor dem Fluss stehe, auf dem in dieser Nacht viele beleuchtete Bote fahren, weil Karneval beginnt. Ich lehne mich auf das Geländer und lasse den Kopf hängen. Nur beiläufig nehme ich das nahe Sirenengeheul, das Hupen der Autos oder die blasse Musik von den Schiffen wahr. Es hört zwar auf zu regnen, aber der einzigartige Geruch danach liegt weiterhin in der Luft. Wieso haben sie mir nicht mal zugehört?, lasse ich meine Gedanken treiben, während meine Augen auf den tanzenden Gästen eines Partyschiffs liegen. Und mich so grob anzupacken ist auch nicht nötig gewesen. Ich werde niemals aus diesem elendigen Kreis ausbrechen können... Erst langsame Schritte rütteln mich vom regungslosen Starren wach. Sie werden hinter mir lauter, bis eine Gestalt auftaucht und sich ebenfalls ans Geländer stellt. Seufzend versuche ich die Person zu ignorieren, doch als Rauch an meine Nase dringt, wende ich den Kopf. Abermals wandert hartes Schlucken meine Kehle hinab. Ein kantiges Gesicht, das den kräftigen Zug von der Zigarre in den kalten Himmel pustet. Schwarze Haare, die streng nach hinten gekämmt wurden. Eine große, raue Hand, die auf dem Eisengeländer liegt. Und ein schwarzer Anzug, so dunkel wie die Nacht selbst. Sofort übermannt mich die Frage, was ein eindeutig wohlhabender Mann in dieser Gegend zu suchen hat. Für gewöhnlich irren hier nur Leute wie ich herum - Ungebildet, kriminell und bettelarm. »Sie haben anscheinend auch einen schwierigen Tag gehabt«, sagt plötzlich der fremde Mann mit so tiefer Stimme, dass sich meine Nackenhaare aufstellen. Sofort taste ich mein Gesicht nach Dreck ab, der vielleicht noch an meinen Wangen klebt. Wenn seine grünen Augen zu mir blitzen, wende ich eilig den Blick ab und lieber dem Schauspiel des Flusses zu. »Wer hat das nicht?«, meine ich, obwohl mir die Lust auf freundliche Interaktionen wirklich vergangen ist. »Was macht ein junger Mann zu später Stunde in Winkeln der Stadt wie diesem?« Der Fremde sieht mich nicht weiter an, sondern zieht genussvoll von seiner Zigarre. Aber ich linse zu ihm. Sowas sah ich bisher noch nie in Echt, sondern nur in alten Krimi-Filmen. »Haben Sie keine Angst vor der Mafia, die hier ihr Unwesen treiben soll?« Ein Schauer läuft mir den Rücken hinab. Seine klangvolle Stimme hört sich an, wie das Piano eines alten Komponisten. Die Aura des Fremden fühlt sich für mich wie ein teures Parfüm an, das sich in die Nerven seines Gegenübers schleicht und ihn erdrückt. Mir wird bewusst, dass es besser wäre, nach Hause zu gehen, bevor ich mich wieder in irgendwas verwickle. Der ist nicht ganz sauber, ich sollte mich nicht einmischen, schießt es mir durch den Kopf. Trotzdem sehe ich entgegen meines mulmigen Gefühls zur Skyline der Stadt und sage: »Ich fürchte die Mafia nicht.« »Und was fürchten Sie dann?«, fragt er dunkel.  Ich bleibe still, hole tief Luft. Dann bemerke ich, wie er die qualmende Zigarre hinunter in den Fluss wirft. Platschend kommt sie auf der Wasseroberfläche auf und vermischt sich mit den Wellen der Schiffe. Plötzlich spüre ich einen kräftigen Zug, der mich herumdreht, sodass ich mit dem Rücken gegen das kalte Geländer stoße. Erschrocken reiße ich die Augen auf. Ich sehe zum fremden Mann, der sich über mich lehnt und neben meinen Körper auf das Eisen stützt. Mein Herz beginnt zu rasen, wenn er sich noch weiter nähert, erst anhält, sobald kaum mehr ein Blatt Papier zwischen unsere Lippen passt. Dann raunt er: »Fürchten Sie den Tod?« Zittrig atmend traue ich mich kaum, die Luft auszustoßen, weil sie den fremden Mann streifen würde. Mir steht der Mund offen, kein Wort entweicht. Sein Knie findet zwischen meine Beine und der Puls erhöht sich weiter. Der große Körper drängt mich nach hinten. Obgleich meine Gedanken hilflos kreisen, schleichen sich meine Finger zur Krawatte des Fremden und ziehen sie vorsichtig fest, streifen das weiße Hemd über der warmen Brust. Meine Lippen zittern, dennoch sage ich mich fester Stimme: »Sie sitzt schief. Das wirkt unseriös.« Einen letzten Blick riskiere ich in die misstrauischen grünen Augen, dann winde ich mich mühelos aus seinen Armen, bevor ich gehe und er mich lässt. Das war so knapp, schießt es mir durch den Kopf, als ich im belebteren Gebiet der Stadt ankomme und das erste Mal anhalte, weil ich befürchtet habe, der Mann würde mir folgen. Ich habe echt gedacht, der legt mich um. Es ist so kalt, dass es bald mit schneien beginnen könnte, aber mich erfüllt eine beständige Hitze, die nicht abebben will. Der kalte Blick auf dem makaberen Gesicht - das Bild von dem Fremden über mir hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Ich ziehe die Schultern ein, weil ich mich mit einem Schlag kleiner und hilfloser als jemals zuvor fühle. Aber gleichzeitig kribbelt meine Haut wie bei einem Spiel mit Feuer, das gerade zu lodern beginnt… Kapitel 1 --------- Vom Rauswurf gestern sind meine Ellenbogen wund. Weil mir die Zeit ausgeht, Blutflecke sich aber auf einem weißen Hemd nicht gut machen, schnappe ich mir beiläufig zwei Pflaster aus der Flurkommode. Diese springt bei meinem Glück sofort aus den Scharnieren und fliegt krachend zu Boden. »Scheiße!«, brülle ich und trete wutentbrannt gegen das kaputte Teil, dessen Inhalt sich jetzt auf meinem süffigen Linoleum breitmacht. Das zersprungene Holz zeigt mir, dass hier einfaches Reinschieben nicht mehr helfen würde. Eine Reparatur, für die ich nicht das Geld besitze, muss also irgendwie her. »Klappe da unten, du Miststück!«, brüllt es eine Etage über mir zurück. Mein liebevoller Nachtbar nimmt wohl den Besen und klopft auf dem Boden herum, sodass der alte Putz von meiner Decke bröckelt und auf meine Haare regnet. Zähneknirschend wuschele ich durch meine berieselten Strähnen, bis ich es einfach aufgebe, mir den Schlüssel schnappe und nach draußen stürme.  Vor dem Haus reiße ich meinen alten Gefährten namens Fahrrad, bestehend aus Rost und Sekundenkleber, vom Ständer und springe auf, damit ich nach Leibeskräften in die Pedale treten kann. Das ist mein alltäglicher Morgen. Nix mit Frühstück oder einem Kaffe zum Wachwerden. Wenn ich um fünf Uhr eine SMS bekomme, dass meine Kollegin ausgefallen ist, rase ich aus der Wohnung und springe sofort ein, damit ich die extra Stunden bezahlt bekomme. Selbst wenn ich nur drei Stunden geschlafen habe, bin ich froh darüber, weil ich jeden Penny so lange umdrehen muss, bis mir ganz schwindelig davon wird. Den frühen Stau umgehe ich geschickt mit dem Fahrrad und bewege mich zielstrebig auf das Winstor-Acher-Hotel zu, derweilen mein Arbeitsplatz. Ich könnte es jetzt schön ausschmücken oder versuchen von der Realität abzulenken, aber ich bin eine Putze ohne Abschluss, ohne Ahnung, ohne Geld... Wie wunderbar das Leben doch sein konnte. »Jesse«, höre ich eine Frauenstimme, nachdem ich vor der prunkvollen Anfahrt mit den Flaggen und roten Teppich abgebogen bin und nun beim Personaleingang halte. »Bin... Bin schon da!«, keuche ich außer Puste, während ich vom Fahrrad stolpere und dieses achtlos in die Ecke werfe. Sofort prüfe ich das Hemd in meiner schlichten schwarzen Hose und das Namensschild an der Brust, dann trete ich zu Courtney, die mich ungeduldig heranwinkt. Als ich bei ihr ankomme, schnappt sie sich das Erstbeste, in diesem Fall mein Arm, und zieht mich hastig hinein. »Diese doofe Tussi hat krank gemacht. Gut, dass auf dich Verlass ist. Heute kommt immerhin die Gruppe von dem großen IT Unternehmen. Das hätten wir nicht ohne dich geschafft«, erzählt Courtney ohne Punkt und Komma. Sie führt mich gleichzeitig in den Vorbereitungsraum, wo ich mir den Putzwagen schnappe und mit ihr auf die oberen Etagen fahre, damit die Arbeit beginnen kann. »Mr Johnson war schon ganz aufgebracht. Er hat sogar eine der Vasen nach mir geworfen«, erzählt meine Kollegin von unserem Chef. Seufzend denke ich daran, dass er wirklich der letzte ist, den ich jetzt sehen will. Aber weiter kann ich meine Gedanken nicht spinnen. Wir kommen in unserem Aufgabengebiet an und teilen uns mit einem Kopfnicken, damit wir einen größeren Bereich abdecken können. Die Arbeit einer Reinigungskraft ist denkbar simpel. Betten machen, Zimmer wischen, den Boden saugen, die Fenster putzen und das Bad reinigen. Simpel heißt aber nicht einfach, zumindest nicht, wenn ein Zimmer in weniger als zwanzig Minuten fertig werden muss und das nach festgelegten Standards. Ich rase in meinen gewohnten Schrittfolgen durch den Raum, eine Hand voll mit Lappen, Schwämmen und Putzmittel, während ich mit der anderen den Staubsauger hineinschleppe. Und dann geht der große Spaß los. Die Sonne wirft ihre ersten Strahlen über den Horizont. Allmählich hüllt der Himmel sich in sanftes Orange. Beim Putzen vergeht die Zeit wie im Flug - Viel zu schnell möchte ich sagen. Denn wenn ich nicht genau nach Stoppuhr fertig werde, gerät der gesamte Ablauf durcheinander und verzögert sich, sodass die Gäste nicht ins Zimmer können. Eine Knochenarbeit, die ich jederzeit mit einem ruhigeren Job tauschen würde, hätte ich eine Berufsausbildung oder einen Schulabschluss. Aber nein, mein junges, unerfahrenes Ich hat alles besser wissen müssen und sowas spießiges nicht benötigt. Erst wenn zweiundzwanzig Zimmer gesäubert wurden, kann ich erschöpft ins klebrige Sofa des Mitarbeiterraums fallen. Für wenige Sekunden erlaube ich mir sogar die Augen zu schließen und die kurze Stille zu genießen. Plötzlich spüre ich eisige Kälte auf meiner Stirn. Ich schrecke hoch. Courtney grinst schelmisch und wackelt mit der Dosencola vor mir herum, mit der sie mich überrascht hat. Ich fange sie ungeschickt auf, als sie diese zu mir wirft, doch ich zögere nicht, sie zu öffnen und gierig einen Schluck zu kosten. Stöhnend falle ich zurück. »Du bist meine Rettung.« »Und du meine«, erwidert Courtney. Dann setzt sie sich neben mich, um selbst von ihrem Getränk zu probieren. »Der Chef hätte mich einen Kopf kürzer gemacht, wenn du nicht eingesprungen wärst. Ich hätte niemals die ganze Etage allein geschafft.« Wenn sie Cole Johnson nur erwähnt, wird mir schlecht. Zum Glück ist dieser Kerl nicht hier, sondern schleimt die Gäste mit seinem falschen Lächeln voll. Abermals seufzend trinke ich einen weiteren Schluck. »Du bist zwar schon eingesprungen und so... aber ich dachte, ich sollte es erwähnen«, beginnt Courtney und wendet mir ihren Blick zu. »Sie suchen jemanden, der beim Bankett heute Mittag hilft. Ich weiß ja, dass du gerne etwas mehr arbeitest, deshalb wollte ich es nur ansprechen.« Ich fasse Courtney bei den Schultern, die mich überrascht anblinzelt. »Das ist super! Das ist perfekt!«, rufe ich und füge innerlich noch an, dass mir das vielleicht doch noch Essen für diesen Monat bescheren könnte. Ich lasse alles liegen und verabschiede mich bei Courtney, damit ich diesen Job ergattern kann.  Eilig laufe ich durch die Gänge des Personals, doch dann werde ich mit jedem Schritt langsamer, bis ich gänzlich stehenbleibe. Auf einmal bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich diesen Auftrag wirklich annehmen will. Das würde bedeuten, dass ich unweigerlich mit Cole in Kontakt treten muss und der ist... schwierig. Ich lasse die Schultern hängen und laufe weiter, weil es alles nichts bringt. Dieses Geld brauche ich dringender als Würde. Deshalb stehe ich kurze Zeit später vor Coles Büro und werde nach meinem Klopfen hereingebeten. Zögernd trete ich ein und schließe die Tür hinter mir. »Hi«, sage ich kurz, wodurch sich Coles Kopf mit der geeligen Schmalzlocke hebt. Ein Lächeln erscheint auf seinen Lippen. Er legt den Kugelschreiber nieder, dann steht er hinter seinem Schreibtisch auf, um zu mir zu kommen. »Guten Morgen, was kann ich für dich tun, Jesse?«, flötet er lieblich, doch von mir kommt ein tödlicher Blick, der ihn vorwarnt, auch ja genug Abstand zu halten. »Das Bankett, ihr sucht noch Leute, richtig?«, ringe ich mich durch und drücke meinen Rücken gegen die geschlossene Tür, weil Cole sich weiter nährt. »Du gehörst zu einer völlig anderen Abteilung. Eigentlich endet so ein Durcheinander schlecht«, meint Cole, der sich neben mich an die Wand lehnt. »Ich habe das schon mal gemacht. Erinnerst du dich an letztes Jahr Weihnachten? Es hat wunderbar funktioniert. Bitte, ich kann das Geld echt gut gebrauchen«, versuche ich meinen Chef zu überzeugen, der mir, seinem abwesenden Blick zufolge, nicht zuhört. »Mal schauen. Für dich lässt sich sicherlich was einrichten« Auf einmal spüre ich eine Hand zu meinem Hintern schleichen. Mein innerer Alarm kreischt los und ich reiße meine eigene Hand hoch, um Cole eine deftige Backpfeife zu verpassen, die seinen Kopf zur Seite reißt. Während ich drei Meter Abstand nehme und angewidert das Gesicht verziehe, fasst er an die anlaufende Wange.  »Was ist nun?«, fahre ich ihn an und schüttle mich, weil eine kalte Gänsehaut meinen Körper erfasst. Im Moment will ich einfach so schnell wie möglich hier raus. »Na schön. Mach was du willst«, gibt er mir zu verstehen, dass ich den Job bekommen habe. Ich bin bereits dabei aus dem Raum zu stürmen, da werde ich am Handgelenk gepackt und zurückgezogen. Cole lächelt weiterhin. Seine glühenden Augen zeigen mir hingegen, wie gerne er mir selbst eine verpassen würde. Leise raunt er: »Denke an deinen Platz. Mich kostet es nur ein kurzes Gespräch mit dem Geschäftsführer und jemand ist weg vom Fenster. Du bist brav und hältst schön die Klappe, klar?« Meine Augen verengen sich zu Schlitzen. »Glasklar.« Ich reiße meinen Arm von diesem dreckigen Kerl los, damit ich endlich raus kann. In der gesamten Abteilung ist bekannt, was für ein ekelhafter Schürzenjäger Cole Johnson ist. Gleich welches Geschlecht oder Alter - Seit ich hier arbeite, kann er seine Finger nicht bei sich behalten. Einige Mitarbeiter kündigen, wenn sie es mitbekommen, aber die meisten haben wie ich keine andere Möglichkeit, als das durchzustehen und hin und wieder ein paar Ohrfeigen auszuteilen. Bevor ich zur Restaurantküche laufe, übermannt mich die Entscheidung einen Abstecher zur Toilette zu machen. Und wenn ich vor dem Waschbecken stehe, überprüft habe, dass auch niemand in den Kabinen ist, schalte ich schnell das Wasser an, damit ich mein jämmerliches Schluchzen nicht hören muss, das mir entweicht. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, wische langsam über die pochende Stirn, meine Augen entlang. Aus ihnen lösen sich vereinzelte Tränen , die herunterfallen und auf dem Keramik aufschlagen. Bleib stark, irgendwann kommen bessere Zeiten - Wie oft habe ich das schon zu mir selbst gesagt, aber geändert hat sich doch nichts? Ich gebe mich der Vorstellung hin, selbst Gast im fünf Sterne Winstor-Acher Hotel zu sein und nicht die Klos schrubben zu müssen. Dann würde Cole zu mir bestellt werden. Er müsste sich in den Dreck werfen und meine teuren Schuhe küssen. Mein Blick legt sich auf den Spiegel, auf das arme Bild darin. Die Realität sieht anders aus als mein Wunschdenken. Dort steht ein dummer Junge, der nicht für sich sorgen kann. Kein reicher Mann, der genug Macht besitzt, damit sich die Welt vor ihm verbeugt. Ich fasse an meine Haare und lasse eine Strähne zwischen meinen Fingern gleiten. Der Staub von der Wohnungsdecke klebt noch an ihr. Bestimmt würde mir nach der Arbeit heute wieder nicht die Zeit bleiben, die Haare gründlich zu waschen. »Märchenwunder... wo bleibst du...?«, flüstere ich, bevor meine Beine nachgeben. Ich sinke auf die Knie, lausche dem laufenden Wasser und wünsche mit, nicht mehr stark sein zu müssen.   Der Tag ging wie erwartet erneut bis neunzehn Uhr, weil das Bankett sich nach hinten verschoben hat. Vollkommen durch mit dem Leben, trete ich aus dem Hinterausgang und begebe mich zum Fahrrad. Doch das scheiß Teil will sich allen Ernstes nicht lösen. Ich stoße verschiedene Todesflüche aus und trete gegen das Rad. Ironischerweise lässt sich das Schloss daraufhin lösen. Das gute, alte Draufhauen, was? »Wenn ich es mir leisten könnte, wärst du nur noch Schrott, der zusammengepresst und zerquetscht wird, so sieht's aus«, beginne ich das Gespräch mit meinem Fahrrad. Langsam machen mich die Überstunden wirklich verrückt. »Irgendwann ist es soweit, dann werde ich dich genussvoll entsorgen, da kannst du drauf wetten.« Aus den Augenwinkeln bemerkte ich zwei Männer in schwarzen Anzügen. Sie stehen auf der anderen Straßenseite hinter einem verdunkelten Van und starren zu mir. Wenn sie erkennen, dass meine Aufmerksamkeit auf ihnen liegt, nicken sie sich zu, um dann ins Auto zu steigen und loszufahren. Anscheinend haben schon die Leute mitbekommen, wie ich durchdrehe. Wen wundert's, bei diesen Arbeitsbedingungen? Seufzend besteige ich mein wackeliges Gefährt und fahre zu einem Discounter, da ich gestern beim Einkaufen gestört wurde. Wenn ich wie tags zuvor durch die Gänge streife, ist es, als würde sich alles drehen. Der Boden steht Kopf, bevor er zu verschwimmen beginnt. Ich muss mich sogar am Regal festkrallen, um nicht umzukippen. Mir fehlt eindeutig Schlaf. Und Nahrung. Diesmal kann ich netterweise sogar bezahlen, ohne rausgeschmissen zu werden. Mit meinem kleinen Beutel verlasse ich den Laden und schmeiße ihn in das Körbchen auf dem Fahrrad. Doch wenn ich aufsteigen will, lässt mich ein merkwürdiges Kribbeln im Nacken, wie das Gefühl beobachtet zu werden, nochmal herumfahren.  Ich stutze. Auf dem Parkplatz steht der gleich Van, der auch vor dem Winstor-Acher Hotel gehalten hat. Zwar kann man nicht durch die Scheiben blicken, aber wie groß ich die Wahrscheinlichkeit, zwei solcher verschleierten Wagen an einem einzigen Tag zu treffen? Erst habe ich angenommen, sie wären Gäste im Hotel, doch warum sollten diese beim Discounter einkaufen? Ein mulmiges Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Um nicht weiter darüber nachzudenken, fahre ich los. Zu Hause würde lauter schmutzige Wäsche und staubige Regale auf mich warten. Im Gegensatz zu meinem Beruf, ist meine Wohnung ein einziges Chaos, was größtenteils dem enormen Zeitmangel geschuldet ist. Wie schaffen es andere nur, den Haushalt und Job unter einen Hut zu bringen? Allerdings muss ich hart schluckend feststellen, dass auch der Van sich zeitgleich in Bewegung setzt, wenn ich antrete. Sicherlich nur Zufall, rede ich mir ein, solange, bis der Wagen auch an der Kreuzung rechts abbiegst, auch die Einbahnstraße benutzt und auch an der Ampel zum Stadtinneren hält. Mein Blick wandert über die Schulter nach hinten, während ich weiterfahre und verbissen wiederhole: Kein Grund sich Sorgen zu machen. Das ist die Müdigkeit, die lässt dich schon Geister sehen.  Die Sonne geht ebenso schnell unter, wie sie sich morgens am Himmel erstreckt. Und zu beiden Zeiten leuchtet die Stadt durch die Fenster der Hochhäuser, die Kinos, Casinos, durch das wilde Leben der Metropole. Leute kommen von der Arbeit, oder treffen sich mit Freunden. Doch ich bin gerade völlig auf das Fahrzeug konzentriert, das einfach nicht von mir ablassen will. Niemand wird auf offener Straße verfolgt, oder?, rasen meine Gedanken. Aber langsam bin ich mir sicher, dass es kein Zufall mehr sein kann. Der Van folgt ununterbrochen. Mir bricht der Schweiß auf der Stirn aus. Zurzeit schulde ich niemanden Geld. Aber Cole kann doch nicht so weit gehen, um seinen Willen zu bekommen... Plötzlich kommt die Erinnerung an gestern Abend wieder. An den eleganten Mann, der mich gegen das Geländer gedrückt und mit tiefer Stimme gesprochen hat. Mir war sofort klar gewesen, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Diese schwarz gekleideten Männer vorhin haben die gleiche Ausstrahlung wie der Fremde gehabt. Doch gerade, als ich völlig in Panik ausbrechen will, weil ich mich anscheinend doch in Scheiße geritten habe, biegt der Van an einer Kreuzung ab. Tief hole ich Luft und stoße sie langsam wieder aus. Puh... Also doch nur Einbildung. Dabei habe ich gerade angenommen, dass ich jetzt ein Tuch auf den Mund gedrückt bekomme, um in einem Roman-gleichen Szenario erschossen zu werden. Ah... Damit sollte ich keine Scherze machen. Nach einer aufregenden Fahrt komme ich zu Hause an. Ich befreie mich direkt von all den lästigen Sachen, verfrachte das steife Hemd in den Wäschekorb und ziehe mir ein paar lockere Sachen über. Dann mache ich mich erstmal daran, die schmutzige Kleidung im Becken einzuweichen, während ich gleichzeitig das Wasser für meine Fertignudeln ansetze. Und nachdem ich mir eilig die ungesunde Nahrung reingestopft habe, bleibt mein Augenmerk an der kaputten Schublade hängen, die sich nach ausgiebiger Begutachtung als unbrauchbar herausstellt. Zu sehr ist das Holz auseinander gebrochen und die Scharniere verbogen, als dass sie weiterverwendet werden kann. Also krame ich das Zeug in einen anderen Schrank und werfe das zertrümmerte Teil in den Müll. Danach mache ich mich daran, den abgebröckelten Putz aus dem Flur zu wischen, bis ich mir schließlich für wenige Sekunden erlaube, in meinem Sessel niederzulassen und die Augen zu schließen...  Aber natürlich nur für ein paar...   »Scheiße! Ich hab verschlafen!«, kreische ich aus vollem Hals, wenn ich am nächsten Tag im Wohnzimmer aufwache und schon eine Stunde über der gewöhnlichen Zeit liege. Meine Erkenntnis wird durch ein liebevolles: »Halt die Schnauze, du Wichser!«, eine Etage über mir unterstrichen. Zu allem Überfluss ist meine Wäsche, die ich gestern beim Einweichen im Wasser habe liegen lassen, nicht trocken. Mir bleibt also nur übrig, meine alten Klamotten überzuziehen und damit zur Arbeit zu hasten, auf der sich das ganze Schauspiel meines kümmerlichen Lebens in Endlosschleife wiederholt.  Abrackern bis zum Umfallen. Sexuelle Belästigung meines Chefs. Überstunden, die unter dem Strich auch keine schwarzen Zahlen schreiben und dieser... dieser verdammte Van ist wieder da, wenn ich mit der Schicht fertig bin! Die schwarz gekleideten Männer mustern mich aufmerksam vom Straßenrand, wobei sie es heute nicht mal für nötig halten, sich zurückzuziehen, habe ich sie erst dabei erwischt. Das darf nicht wahr sein! Habe ich jetzt Stalker, oder was?, rasen meine Gedanken auf der Fahrt nach Hause. Wieder verfolgt mich das Auto. Selbst als ich zur Bank muss, parkt es vor der Filiale und fährt zeitgleich mit mir los. Das geht solange, bis ich bei meinem heruntergekommen Häuserblock bin, wo mir der Gestank von Rauch und Müll von weitem entgegenschlägt. Auch heute biegen sie ab und lassen mich mit einem mulmigen Grummeln im Bauch zurück. Der Tag neigt sich dem Ende zu, der nächste bricht an. Erneut vollziehe ich dieselbe Routine wie seit zwei Jahren, mit Ausnahme des gruseligen schwarzen Vans, der allem Anschein nach einen Narren an mir gefressen hat.  Ist das alles nur Einbildung? Mir pocht der Schädel, wenn ich daran denke. Es kommt mir vor, als würden sie mir folgen, aber dann biegen sie doch ab, drehen sich meine Gedanken seitdem im Kreis. Selbst nach zwei weiteren Tagen ändert sich am Ablauf nichts. Erst, als es Samstagabend ist und ich meine Schicht beende, muss ich teils überrascht, teils dankbar feststellen, dass der schwarze Van nicht mehr vor dem Hotel steht. Ich seufze tief. Danach begebe ich mich das erste Mal erleichtert nach Hause. Also doch nur Gäste, die abgereist sind. Vielleicht waren es Ausländer, die mal in den Alltag von Ansässigen schnuppern wollten? Was weiß ich, Hauptsache, sie lassen mich in Ruhe! Mir liegt ein leises Lied auf den Lippen, das ich gedankenverloren vor mir her summe. Ich schließe mein Fahrrad ab und gehe an der Gruppe Jugendlicher vorbei, die sich vor dem Haus versammelt haben, um irgendwelche Dinge austauschen. Vor meiner Wohnung krame ich den Schlüssel aus der Tasche, trete ein, stelle meine Schuhe an die Seite... und bemerke auf einmal, dass das Licht brennt. Dabei bin ich mir sicher, dass es ausgeschaltet war, als ich aufgebrochen bin. Darauf achte ich genauestens, weil es viel Geld kostet. Scheiße, schießt es mir durch den Kopf. Und während mein grummelnder Bauch bereits verstanden hat, was vor sich geht, kommt mein Gehirn nicht nach. Ich schleiche zum Wohnzimmer, spähe vorsichtig um die Ecke. Meine Augen weiten sich. Mein Herz setzte einen Schlag auf. Ich lasse meinen Rucksack fallen. Dort stehen zwei Männer am Sofa. Sie sehen zu mir, als sie mich bemerken. Zwei schwarz gekleidete Männer in strengem Anzug und mit kaltem Blick. Sie richten ihren muskulösen Köper auf und kommen langsam zu mir. Auf der Stelle wirbele ich herum und will aus der Wohnung stürmen, doch da ist es zu spät. Eine Hand packt meine Schulter und hält mich mit eisernem Griff fest. Ich versuche sie von mir loszureißen, doch der große Mann ist zu stark. Seine Hand bewegt sich keinen Millimeter. »W-Was...«, keuche ich ängstlich. Meine Lippe zittert. »Was suchen Sie in meiner Wohnung?« Der zweite Mann kommt zu uns in den Flur und verschränkt die Arme vor der Brust. Seine blauen Augen wirken wie pures Eis, das einen Schauer durch meinen Körper jagt. »Jesse Carter, 21 Jahre alt, ledig. Geschäftstätig als Haushaltskraft beim Winstor-Acher Hotel. Variable Schichten. Monatliches Einkommen 900 Dollar. Trifft das auf Sie zu?«, rattert der Mann, mit seiner festen Hand auf meiner Schulter, herunter wie ein Lexikon. »W-Woher wissen Sie...« Meine Stimme überschlägt sich. Heißt das, sie haben mich wirklich verfolgt und beschattet, um an diese Informationen zu gelangen? Ich versuche den harten Kloß im Hals herunterzuschlucken. »Wir müssen Sie jetzt bitten, mit uns zu kommen.«   Kapitel 2 --------- »Mitkommen? Wohin mitkommen? Ich will nicht!«, keuche ich verzweifelt. Die Versuche, mich vom klammernden Griff zu befreien scheitern kläglich. Ich habe nicht den Hauch einer Chance. »Adrian, das ist mir zu anstrengend«, sagt der blauäugige Mann, verdreht die Augen und nimmt eine Faust in die andere, um sie knacken zu lassen. »Warum überzeugen wir ihn nicht einfach?« Ich ziehe instinktiv den Kopf ein und stolpere einen Schritt zurück, der mir kaum Abstand verschafft. Kurz löst sich der Blick dieses Adrians von mir, damit er sich auf seinen Begleiter legt. Dann antwortet er monoton: »Der Boss hat Gewalt ausdrücklich verboten. Wir sollen ihn unversehrt und bei Bewusstsein bringen.« Bei Bewusstsein? Es gibt auch eine andere Variante?, schießt es mir durch den Kopf, wobei ich versuche, meine Gedanken zu ordnen und mich auf die wichtige Frage zu konzentrieren, wie ich hier wieder herauskomme. Soll ich nach Hilfe schreien? Nein, wer wird schon kommen? Meine Nachbarn sicherlich nicht. Damit würde ich die beiden höchsten provozieren. Und dann? Ich weiß es nicht. Warum sind sie hier? Was wollen die von mir?  »Würden Sie uns bitte folgen?«, sagt der Mann namens Adrian, als sich seine Aufmerksamkeit wieder auf mich legt. »N-Nein! Natürlich nicht! Lassen Sie mich los! Verschwinden Sie aus meiner Wohnung!«, wüte ich und versuche mich krampfhaft gegen den festen Griff zu stemmen. Aber auch jetzt scheint es ihm keine Mühen zu kosten, mich festzuhalten. »Das ist so nervig. Warum mussten wir jetzt eine Woche hinter diesem Balg herschleichen?«, jammert der andere Mann. Er will zum weiteren Protest ansetzen, aber als Adrian ihm einen kalten Blick zuwirft, verdreht er nur erneut die Augen und bleibt still. »Warum soll ich mitkommen? Was für ein Boss? Was wollen Sie von mir?«, frage ich zittrig. Adrians Blick gleitet zur Wanduhr, danach legt er sich wieder auf mich. Es bleibt wohl keine Zeit mehr, mich zu retten. »Mr Carter, es gibt genau zwei Möglichkeiten, wie diese Situation gelöst wird. Entweder Sie kooperieren, oder wir werden Sie dazu bringen, mit uns zu kommen«, erklärt der völlig in schwarz gekleidete Adrian mit dem breiten Kreuz und den starken Händen. »A-Aber...«, entweicht mir, doch ich rufe mein rasendes Herz zur Ruhe. Das Wichtigste ist jetzt einen kühlen Kopf zu behalten. Deshalb schaue ich schnell im Raum umher, wo ich meinen Rucksack in der Ecke neben meinem kaputten Regal erfasse. »Okay, aber meine Sachen kann ich zumindest mitnehmen, oder?« »...Natürlich.« Das erste Mal lässt Adrian los. Ich gebe dem Bedürfnis nach, über meine kribbelnde Schulter zu reiben. Er geht um mich herum zur Tür, dann sieht er mich auffordernd an. Keine Ahnung, was für ein Mist hier abläuft, aber das Wichtigste ist, dass ich mein Smartphone dabei habe. Dann kann ich um Hilfe bitten, denke ich angestrengt nach, während ich mich unter den wachsamen Blicken der beiden Männer zu meinem Rucksack begebe und ihn auf meinen Rücken werfe. Gerade als der Plan aufzugehen scheint, packt mich Adrian erneut bei der Schulter, während sein Kollege hinter mich tritt und mit einem groben Ruck den Reißverschluss öffnet. Er wühlt lieblos darin herum, bis er findet was er sucht. Dann landet das Handy krachend auf den Boden und bekommt einen gewaltsamen Tritt, sodass der Bildschirm zerspringt und das Aluminium absplittert. Hart schluckend sehe ich zu meinem kaputten Telefon, für das ich ein halbes Jahr hatte sparen müssen. Scheiße, die meinen es echt ernst. Ich will nicht mitkommen. Was soll ich nur tun?  »Mr Carter«, werde ich daran erinnert, dass mir wohl keine Wahl bleibt als zu folgen, wenn ich nicht wie mein Handy enden will. Deshalb ziehe ich schnell meine Schuhe an und trete brav an Adrian vorbei, der mir die Tür aufhält. Dann läuft er vor, sodass ich von den beiden angsteinflößenden Männern eingekesselt bin. Jeder Schritt die Treppe herunter ist wie auf Stacheln. Keiner im Haus würde mir helfen, wenn sie nicht längst wussten, was hier vor sich geht. Das einzige was mir bleibt, ist zu hoffen, dass der Boss, wer auch immer das sein mag, nur gerne mit neuen Bekannten Kaffee trinken möchte. Das ist Wahnsinn, denke ich. Die Jugendlichen stehen immer noch vor der Haustür, weshalb mir kurz die Idee kommt, sie auf meine Situation aufmerksam zu machen. »Ich bitte Sie, keine Dummheiten anzustellen«, kommt es von Adrian, wenn wir nach draußen treten, als kann er meine Gedanken lesen. Meine letzte Hoffnung erstirbt im Keim. Die kleine Gruppe interessiert sich nicht mal für uns, wenn ich zum verdunkelten Van gebracht werde.  Doch kurz bevor wir ankommen, reicht es mir. Wer dort einsteigt, kommt wahrscheinlich nie wieder zurück. Deshalb passe ich den Moment ab, in dem sich Adrian zur Fahrzeugtür beugt, um meine Beine in die Hand zu nehmen und planlos loszulaufen.  »Scheiße«, höre ich es hinter mir rufen, doch ich renne nach Leibeskräften weiter. Inzwischen liegt auch die Aufmerksamkeit der Jugendlichen auf uns, aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Es zählt nur, so schnell wie möglich abzuhauen.  Meine eigenen Schritte vermischen sich mit den lauten meiner Verfolger, wenn sie hinter mir herjagen. Ich biege an der Ecke rechts ab, schaue nicht wohin mich meine Beine führen. Der Weg schlängelt sich wie ein endloser Spiegel, den man unmöglich durchbrechen kann. Ich rase an Fußgänger vorbei, die aufschrecken und gleich ein weiteres Mal, wenn die Männer hinzukommen. Mir geht die Puste bereits nach wenigen Metern aus, das bin ich nicht gewöhnt. Doch der Rausch des Adrenalin ist zu stark, um die Kraft zu verlieren. Die Schritte werden lauter. Das Keuchen wird lauter. Sie müssen näherkommen, sie sind schneller als ich. Plötzlich reißt mich etwas am Shirt zurück, sodass ich nach hinten kippe und auf dem Hintern lande. Bevor ich überhaupt begreife, dass ich eingeholt wurde, werde ich wie ein kleines Kind gepackt und über die Schulter geworfen. Wildgeworden trete ich aus, schlage mit den Fäusten gegen den festen Rücken meines Entführers. Allerdings scheint es ihm nicht mehr auszumachen, als der Stich einer Mücke. »Ich knall ihn ab, das verspreche ich dir«, raunt die Stimme des Mannes, als er mich ohne Mühe den ganzen Weg, der meine Freiheit bedeuten sollte, zurück zum Auto trägt. Adrian taucht in meinem Sichtfeld auf. Obwohl ich ihm einen tödlichen Blick zuwerfen, verzieht er nicht mal das Gesicht. Ich höre nicht auf um mich zu treten und zu wüten, sodass ich meinen Entführer im Gesicht treffe, der Todesflüche ausstößt und mich zur Strafe weiter über seine Schulter nach hinten schiebt, sodass ich mir jetzt eher wie ein Sack Kartoffeln vorkomme. »Ich bring ihn um. Oh ja, ich bring ihn um«, murmelt es, während ich lieblos in den Van geschmissen werde. Die Türen schlagen zu und verriegeln sofort. Nicht mal mein panisches Reißen daran ändert etwas. Die beiden Männer in Schwarz steigen vorne ein und kaum sitzen sie, fährt das Auto auch schon an. »Ich würde Ihnen raten, sich anzuschnallen, Mr Carter«, sagt Adrian von vorne, doch ich will noch nicht aufgeben, weshalb mein Zerren an den Türklinken zunimmt. »Das wird Ihnen nichts bringen. Lassen Sie es einfach bleiben.« Erschöpft falle ich im Sitz zurück. Ist es jetzt aus, soll ich so also sterben, entführt und erschossen?, rasen meine Gedanken. Draußen zieht die Straße vorbei, die Häuser der Metropole und so viele unterschiedliche Menschen, die alle keinen Schimmer haben, dass gerade eine Entführung stattfindet. »Was haben Sie mit mir vor? Wo bringen Sie mich hin?«, frage ich, wenn ich einsehe, dass mir das Kämpfen nichts bringt. Adrians braune Augen blitzen durch den Rückspiegel. Eine Gänsehaut erfasst mich. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen«, meint er. »Ich hätte da ein paar Vorschläge«, mischt sich Adrian unbekannter Kollege ein. »Von grausam bis unvorstellbar schmerzhaft ist alles dabei.« »Halt doch einfach den Mund, Elliot.« Nie zuvor kam mir eine Autofahrt dermaßen lange vor, wie am heutigen Tag. Adrian fährt in Richtungen, die mir nicht bekannt sind. Eigentlich habe ich angenommen, in zwielichtige Gassen mit Ratten und blutbeschmierten Ziegelsteinen gebracht zu werden. Stattdessen weiten sich meine Augen, wenn wir nicht aus der Stadt, sondern immer tiefer hineinfahren - direkt ins Nobelviertel. Unbedeutende Individuen, wie meine Person, haben hier in der Regel nichts verloren, werden bestenfalls noch weggejagt.  Doch kaum fahren wir in dieses Gebiet, klingelt plötzlich ein Handy. Elliot kramte es aus seiner Jackentasche hervor, dann nimmt er ab. »Ja? ...Hm... Was? Warum das denn? ...Nein, das geht nicht!« »Was ist?«, fragt Adrian neben ihm, bekommt aber nur ein wütendes Winken ab. »Jetzt gerade?«, fragt - oder brüllt allmählich - Elliot ins Telefon. »Fuck, du bekommst nichts hin, oder!? ...Scheiße, die auch noch? ...Zehn Minuten.« Er legt auf und schmeißt das Handy aggressiv zurück in die Tasche. Dann sagt er an seinen Kumpanen gewandt: »Wir müssen zur 19ten.« »Wie?«, rutscht es Adrian heraus. Er sieht nicht sehr erfreut aus, den zusammengezogenen Augenbrauen und den kräuselnden Lippen zufolge. »Der Boss ist auch da.« »Warum gehen nicht die Anderen hin?« »Scheiße Mann, die sind nicht in der Nähe!« »Also zur 19ten«, seufzt Adrian, sieht durch den Rückspiegel und wendet einfach an einer roten Ampel. Daraufhin erhält er tosendes Gehupe der umstehenden Autos und ich kralle mich in das Polster des Sitzes. Aber das scheint ihn nicht zu stören. »Und was machen wir mit dem beschissenen Balg hinten?«, zischt Elliot, wirft mir einen mörderischen Blick zu, den ich mich traue zu erwidern. »Wenn keiner in der Nähe ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als ihn mitzunehmen«, erklärt Adrian vollkommen ruhig, während sein Kumpane gleichzeitig das komplette Gegenteil darstellt. »Fuck, das ist doch echt Scheiße!«, brüllt Elliot und tritt, dem lauten Krachen zufolge, gegen das Handschuhfach. Dann ballt er die Faust und schlägt gegen das Fenster. »Könntest du bitte das Auto nicht zerstören?« »Fick dich.« Ich sacke auf meinem Sitz zusammen. Also machen wir gerade auch noch einen großen Umweg, bevor ich in meinen Tod geführt werde? Meine Lippe muss herhalten, wenn ich nervös auf ihr kaue.  »Wo fahren wir jetzt hin?«, hake ich nach, bekomme aber keine Antwort. Deshalb mache ich weiter. »Was meinen Sie mit der 19ten? Wo ist das? Was ist passiert?« »Halt dein Maul, oder ich stopfe es dir!«, droht Elliot. Bei seiner miesen Stimmung gebe ich lieber nach und warte ab, wohin ich diesmal gebracht werde. Wie fahren ein gutes Stück zurück, kommen sogar an meiner Wohnung vorbei, der ich einen sehnsüchtigen Blick zuwerfe. Aber ich muss hilflos mitansehen, wie ich mich wieder von ihr entferne, diesmal in die entgegengesetzte Richtung. An einer großen Kreuzung biegen wir rechts ab und fahren allmählich aus der Stadt heraus. Jetzt dämmert es mir auch, wo wir genau sind - Am Anfang des Industriegebiets, neben dem Fluss und dem Supermarkt, aus dem ich vor einer Woche wegflogen bin. Nervös rutsche ich auf meinem Platz herum und klammere mich an die Klinke der Tür. Die Straßen sind hier nur noch spärlich durch abgenutzte Lampen beleuchtet, doch vom Fluss leuchten weiterhin die Partyschiffe. So langsam begreife ich auch, dass ich wohl gar nicht so daneben gelegen habe, mit der Vermutung, wer der Boss meiner Entführer ist. Denn hier habe ich ihn wohlmöglich das erste Mal getroffen. Was wollen wir hier nur? Ist das hier sowas wie ihr Revier? Um alles in der Welt, ich will da nicht mit hineingerissen werden!, schießt es mir durch den Kopf. Meine Augen liegen auf dem Supermarkt, an dem wir nun vorbeifahren. Werden sie gleich mit Drogen handeln oder jemanden exekutieren, wie in den alten Mafia-Streifen? Schmeißt mich doch einfach hier raus! Ich will nicht mit! Wir fahren nur noch ein kleines Stückchen, dann halten wir in einer Seitengasse. Kaum ist das Auto zum Stehen gekommen, springt Elliot wutentbrannt noch draußen. Doch Adrian dreht sich zu mir und meint: »Bitte warten Sie hier, Mr Carter. Es wird nicht lange dauern.« Dann lässt auch er mich sitzen und biegt mit seinem Kumpanen um die Ecke ab. Das Erste was ich mache, wenn sie außer Reichweite sind, ist, an den Türen zu zerren und zu reißen. Doch die regen sich weiterhin kein Stück. Hastig sehe ich mich im Wagen um. Wie haben sie die Türen verriegelt? Eine Art Kindersicherung? Wenn es nicht klappt, muss ich das Fenster einschlagen. Aber wie macht man das? Ich brauche was Hartes. Ich krabbele nach vorne, was kein großes Problem darstellt, weil ich schlank genug bin, um durch die Lehnen zu passen. Dann sitze ich auf der Fahrerseite. Der Schlüssel steckt natürlich nicht mehr und die Technik ist ausgeschaltet. Meine Hände finden an jeden Ort, der für sie zugänglich ist. An den Rückspiegel, in das kleine Schubfach am Dach, in das Handschuhfach, unter dem Sitz und sogar in den Zigarettenanzünder. Erschöpft falle ich zurück, weil ich nichts finde, das die Türen entriegeln könnte. Also doch einschlagen. Was soll ich da nehmen? Mit meinem Ellenbogen schaffe ich das nicht. Aber hier liegt auch nichts rum. Haben Kriminelle nicht immer ein Brecheisen irgendwo rumzuliegen? Klischee, wo bleibst du, wenn man dich braucht? Mein Blick liegt auf vielen Knöpfen bei der Flaschenhalterung. Weil ich nicht weiterweiß, drücke ich einfach auf den Knopf mit der Schneeflocke. Es tut sich nichts. Doch als ich den mit einem Schloss drücke, ratscht plötzlich etwas, als wäre eine Verriegelung aufgehoben wurden. Sofort überprüfe ich die Türen und muss mit Tränen in den Augen feststellen, dass sie sich öffnen lassen! Ich flüchte heraus, nehme Abstand und sehe dann mit Herzrasen zum verdunkelten Van. Vielleicht solltet ihr euren Schließmechanismus nicht dort platzieren, wo eure Opfer herankommen. Naja, es war wohl auch nie geplant, sie alleine zu lassen... Plötzlich lässt ein markerschütternder Schrei die Erde beben. Mein Blick rast automatisch zu der Hausecke, an der meine Entführer eingebogen sind. Es hat sich nach einer Frau angehört, die große Schmerzen haben muss. Was machen die da?, denke ich ängstlich. Meine Hände werden ganz feucht. Es hilft nicht, wenn ich sie an meiner Hose abwische - Sie werden gleich wieder nass vom kalten Schweiß. Die quälen doch nicht eine unschuldige Frau oder ein vielleicht sogar ein junges Mädchen...? Was, wenn die sie... Mein Kopf dreht sich von einer Seite zur anderen - Von meiner Freiheit hin zu meinem Verderben. Ich müsste nur die Beine in die Hand nehmen und schon hätte ich nichts mehr zu befürchten. Aber wenn sie jemanden überfallen, kann ich doch nicht einfach wegsehen... Ich atme zittrig aus, dann nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und schleiche zu der Ecke, von der dieser Schrei gekommen war. Dann weiten sich meine Augen. »Irgendwelche letzten Worte?« Das ist er. Ihr Boss. Der Mann von Montag. Ich bin mir absolut sicher, niemand hätte mir diese Meinung ausreden können. Wie er dasteht, die Brust gereckt und trotzdem lässig mit den Händen in den Hosentaschen... Obwohl Hände nicht stimmt. Eine von ihnen hielt eine Pistole, die auf eine verletzte Frau am Boden gerichtet ist. Sie drückt angestrengt auf eine Wunde an ihrem Bauch, aus der das Blut läuft und unter ihr eine Lache bildet. Mir wird schlecht, denke ich und halte mich gezwungenermaßen von einem Würgen ab. Aber mein Bauch dreht sich mehr als zweimal um. Haben sie ihr das angetan? Wie kann man so herzlos sein? »Du wîrst niemals bekômmen, wonach du dich sêhnst«, quält die Frau mit einem französischen Akzent über ihre aufgeplatzten Lippen. Sie trug ein nachtblaues Kleid, die dunklen Haare offen und wirr. Neben ihr stehen auch Adrian und Elliot, beide genauso unbeeindruckt wie ihr Boss. Obwohl... Elliot eine kleine Verletzung am Bein zu haben scheint, dem Riss an der Wade zufolge. »Kleines, ich habe längst, was ich will«, raunt der Boss. Es ist die gleiche Stimme, die auch eine Woche zuvor mit mir gesprochen hat. Dunkel, rau... und eiskalt. Auf einem Kopf liegt ein schwarzer Hut, der sein Gesicht verdeckt. Trotzdem bin ich mir absolut sicher, dass er nicht eine Mine verzieht. »Nach mîr wêrden weitere kômmen. Mein Ôpfer ist für meinen Clân«, zischt die Frau giftig, dann schließt sie Augen und ein kleines Lächeln erscheint auf ihren Lippen. »Ich wêrde mit Würde gêhen. Schîeß nur.« Er hebt den Arm weiter an. Fast wie in Zeitlupe sehe ich die Regung seines Fingers am Abzug. Und bevor ich nachdenken kann, stürze ich zu der verletzten Frau. Der Schuss brüllt durch die Luft. Ich fahre zusammen, klammere mich an die schmutzigen Klamotten der Frau, weil meine Muskeln verkrampfen. Eine Sekunde vergeht. Die zweite folgt. Bin ich tot? Ich fühlte keinen Schmerz..., denke ich nach. Verunsichert schlage ich meine zugekniffenen Augen auf. Dann sehe ich direkt in die kalten, blauen Augen des geheimnisvollen Mannes. Und für einen flüchtigen Augenblick glaube ich eine Regung in ihnen zu entdecken. Überraschung... Bedrängnis... Auf einmal springt die Frau hinter mir auf. Ich kann gar nicht so schnell schauen, da schießt etwa aus ihrer Hand, das wie eine Scheibe mit Zacken aussieht. Das flache Messer durchschneidet surrend die Luft und bohrt sich direkt in den Arm des mysteriösen Mannes, der verhalten keucht. »Boss!«, brüllt Elliot und die beiden wollen heranstürmen. Doch ihr Boss deutet mit einem zornigen Nicken zu der flüchtenden Frau, die sich aus dem Staub macht. Sie verstehen sofort und jagen ihr hinterher, biegen ab... Wieder treffen unsere Blicke aufeinander. Es ist auf einmal so still, nicht mal die Schritte der Verfolgungsjagd kann man hören. Ganz langsam drehe ich mich um und starre zu dem Loch in der Wand - Der Schuss hat uns verfehlt, war nur knapp über unsere Köpfe gezogen.  Er hat mich nicht getötet. Ich lebe, schießt es mir durch den Kopf. Plötzlich erklingt ein angestrengtes Zischen, das mich herumwirbeln lässt. Der Mann lehnt sich an die Hauswand und presst sich, wie die Frau zuvor, eine Hand auf seine blutende Wunde. Er mahlt mit dem Kiefer. Erneut denke ich nicht nach, sondern stehe auf und trete zu ihm. Gerade ist er dabei das zackige Messer aus seinem Arm zu ziehen. Es fällt klirrend zu Boden und aus der Wunde läuft mehr Blut. »Das ist nicht gut!«, rufe ich, weshalb der Mann zu mir blickt. Mein Herz schlägt mit einem Mal wieder schneller. Doch er lässt mich schweigend an sich herantreten. Ich werfe einen Blick auf die Wunde unter dem zerfetzten Anzugärmel. Dann packe ich meinen eigenen und reiße ihn mit einem kräftigen Ruck ab. »Was tust du da?«, werde ich monoton gefragt. »Das muss verbunden werden, sonst verlieren Sie zu viel Blut«, antworte ich ganz ruhig, obwohl es in meinem Inneren nur schreit und klirrt. Ein Sturm aus Gefühlen. Er lässt es zu, dass ich seine Hand von der Wunde nehme. Sofort hüllen sich meine eigenen Finger in das dunkle Rot seines Blutes, aber ich schüttle diese Gedanken ab und presse meinen provisorischen Verband auf die Wunde. Dann wickle ich den Stoff so fest wie möglich um den Arm. Ich spüre, wie jede meiner Regungen genauestens beobachtet wird. Dennoch lasse ich mich nicht abbringen. Tief atme ich ein, wenn ich fertig mit verbinden bin und mir meine amateurhafte Arbeit ansehe. Wann hatte ich begonnen, den Atem anzuhalten? »Wir müssen einen Krankenwagen rufen«, sage ich und will mich wegdrehen, um zurück zum Supermarkt zu laufen, damit ich nach Hilfe fragen kann. Aber der gesunde Arm des Mannes schnellt vor, packt meinen eignen. »Untersteh dich...«, raunt er gefährlich tief. Allerdings lässt er mich gleich darauf wieder los.  Ich schlucke zittrig und blicke schweigend in seine Augen, die mich unnachgiebig mustern. Er ist einen ganzen Kopf größer als ich und mir kommt es vor, als wäre er auch doppelt so breit. »S-Sie... s-sind der Boss, oder?«, frage ich scheu. »Und du bist Jesse Carter.« »Woher...«, will ich beginnen, doch seine Untergebenen haben mich ja die ganze Woche lang beschattet. Da ist es klar, dass er alles über mich weiß. »Ich will gehen«, sage ich, als würde meine Meinung einfach so akzeptiert werden. »Ich werde niemandem etwas verraten.« Der Mann verengt seine Augen. »Nein. Du wirst nie wieder gehen können. Du gehörst jetzt mir.« Kapitel 3 --------- Wenn ich mir jemals in meinem Leben eine Entführung vorgestellt habe, dann endete sie darin, dass man in einen dunklen Keller mit Schimmel gesperrt wurde und ein schmutziges Stück Stoff in den Mund geschoben bekommt.  Aber nicht das.  Definitiv nicht das. »Mr Carter, der Boss wird Sie in wenigen Minuten empfangen. Würden Sie mir bitte folgen?«, fragt Adrian und deutet in die Richtung, in die ich ihm folgen soll. Doch ich beachte ihn gar nicht. Meine Augen hängen an der verglasten Wand im Eingangsbereich, die direkt zum türkisfarbenen Pool dahinter blicken lässt. Der dunkle Marmor des Bodens spiegelt die sanfte, aber kalte Beleuchtung wieder. »Mr Carter?«, fragt Adrian hartnäckiger.  Mir steht nur der Mund weit offen. Die schwarzen Büsten um uns herum färben sich in das eisige Licht. Und wenn ich meinen Kopf in den Nacken lege, dann sehe ich mich in den Spiegeln, die die gesamte hohe Zimmerdecke ausmachen. Ich glaube, ich werde verrückt..., schaffe ich es wieder einen Gedanken zu fassen. Das ist kein Haus. Das ist ein Kunstwerk. Da ist ein Pool vor meiner Nase... hinter Glas. In einem Haus. In einem schimmernden Palast... »Beweg‘ deinen Hintern!«, werde ich von Elliot angeranzt und schrecke wach, wenn er mich grob an der Schulter packt und hinter sich her zerrt. Doch Adrian geht dazwischen, schlägt die Hand seines Kumpanen von mir. Dann teilt er einen bösen Blick aus, der Elliot die Augen verdrehen lässt. Ich streiche mir hingegen über die schmerzende Schulter. Zeitgleich wird mir wieder bewusst, warum mir der halbe Ärmel fehlt - Ein Kampf, viel, viel Blut und... die Verletzung, welche ich notgedrungen verbunden habe. »Bitte folgen Sie mir jetzt, Mr Carter«, versucht es Adrian ein weiteres Mal. Aber durch seine feste Stimme und den strengen Augen weiß ich, dass es das letzte Mal sein würde. Also nicke ich brav und laufe im Sandwich mit den beiden Männern am verglasten Poolzimmer vorbei. Obwohl die Spiegel im schmalen Flur aufhören, fühle ich mich weiterhin von den leuchtend weißen Wänden und der dämmrigen blauen Beleuchtung eingeengt. Alles ist steril. Außer einigen abstrakten schwarz-weiß Gemälden ist der Gang vollkommen leer. Das soll sein Haus sein...?, denke ich angestrengt nach. Nachdem ich mich dazu entschieden habe, mein Leben für die fremde, verletzte Frau bei der 19ten wegzuschmeißen, wurde ich erneut in den Van verfrachtet und hierhergebracht. Meine beiden Entführer sagten, sie würden mich zum Haus ihres Bosses bringen... Es erinnert mich eher an eine Galerie. Was bedeuten die seltsamen Vierecke und Abdrücke auf den Bildern überhaupt?  Ich werde zu einem Raum im Gang gebracht, der von außen genauso leblos wie alle anderen aussieht. Als Adrian mir die Tür aufhält, erstreckt sich allerdings ein weiteres Kunstwerk vor mir. Ein enormes Aquarium ist der Höhepunkt des Raumes. Lila Fische, neongrüne, gelb-gepunktete, welche die leuchten, welche die aussehen, als tragen sie einen schweren Mantel und andere, die wie kleine Glühwürmchen wirken - Sie schwimmen graziös zwischen den bunten Korallen, tanzen anmutig mit ihren glitzernden Flossen. »Der Meetingraum des Bosses«, erklärt mir Adrian, bevor ich überhaupt fragen kann. Wie von selbst setzen sich meine Beine in Bewegung und tragen mich um die lange Tafel mit den etlichen Stühlen herum. Meine Finger finden langsam an das Glas, wodurch sich eine Gruppe von Fischen versammelt und genauso neugierig nach draußen starrt, wie ich hinein. »Bitte warten Sie hier einen Moment«, meint Adrian. Ich reiße mich los und drehe mich um. Meine Entführer, die bereits gehen wollen, bleiben stehen. »Was passiert jetzt?«, frage ich, verfluche mich für meine ehrfürchtige Stimme. Adrians Blick trifft genau auf meinen. »Ich weiß es nicht. Aber selbst wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen nicht sagen.« Dann geht er zusammen mit Elliot. Jetzt bin ich alleine. Was soll ich nur in diesem Anwesen? Was will dieser Boss von mir? Ist er sauer, weil ich gesagt habe, dass ich die Mafia nicht fürchte?, geht es mir durch den Kopf, während ich beobachte, wie zwei der größeren Doktorfische hinter einen moosbedeckten Stein tauchen. Wenn er mich umbringen wollen würde, hätte er es auch sofort tun können. Dafür hätte er mich nicht hierhergebracht. Das ergibt einfach keinen Sinn. Ich schaue mich im restlichen Raum um. Wie im gesamten Anwesen gibt es kaum Wärme, kaum Einrichtung, die zeigt, dass hier jemand Lebendiges wohnt. Nur einen langen Tisch an dem zwölf Stühle stehen. Ein Meetingraum. Ein kalter, gefühlsloser Meetingraum. Und jetzt warte ich... auf was auch immer mir bevorsteht?, schießt es mir durch den Kopf. Doch eine Antwort habe ich längst, denn ich begebe mich zur Tür und drücke die Klinke herunter. Tatsächlich lässt sie sich öffnen. Deshalb stecke ich den Kopf heraus und linse in beide Richtungen. Da die Luft rein ist, schleiche ich heraus und den Gang entlang, den wir eben auch langgegangen sind. Zwar lausche ich an jeder Tür, an der ich vorbeikomme und versuche sie zu öffnen, aber sie sind verschlossen. Deshalb gehe ich weiter bis ich an der Ecke zum Eingangsbereich stehenbleibe. Denn dort steht niemand Geringeres als der Boss. Er unterhält sich sich mit Adrian, doch ich kann nicht verstehen worüber. Sie brauchen nicht lange, kaum einige Sekunden später, biegt der Boss in den Gang an der rechten Seite ab und Adrian tritt nach draußen. Scheiße!, fluche ich innerlich und verziehe den Mund. Warum muss er genau vor der Tür stehen!? Da kann ich nicht mehr raus. Ich könnte auch noch die Treppe neben dem Poolzimmer nehmen, aber was bringt mir das? Fenster habe ich bisher keine gesehen. Also bleibt nur noch... Ich schlucke den Kloß im Hals herunter, dann tipple ich auf leisen Sohlen in den Gang, den auch der Boss genommen hat. Sofort sticht mir das sanfte, orangene Licht ins Auge, das aus einem Zimmer dringt, dessen Tür einen Spalt breit offen steht. Obwohl ich weiß, dass ich das mächtig bereuen werde, packt mich die Neugier. Ich schleiche heran und werfe einen Blick hinein. Ein weiterer Meetingraum, der Tafel zufolge. Diesmal allerdings mit einer Wand aus Bücherregalen und Ordnern, mit denen ich nichts anfangen kann. Meine Aufmerksamkeit liegt im Moment auch auf etwas ganz anderem. Oder eher auf jemand... Der Boss. Er steht mit dem Rücken zu mir. Ich sehe nur, wie er seinen Hut am anderen Ende des Zimmers auf das Sideboard legt. Wie bei unserer ersten Begegnung trägt er einen schwarzen Anzug, der diesmal aber am Arm zerrissen ist. Und mein eigener Ärmel liegt zu einem Verband darüber gebunden. Zuerst zieht er diesen ab und befördert ihn zu seinem Hut. Das ganze Rot lässt mich schlucken. Zum Glück scheint die Blutung zumindest gestoppt zu haben. Er zieht sich die Krawatte vom Hals, schmeißt sie achtlos zum Sammelsurium auf das Sideboard. Danach streift er das Jackett vom breiten Kreuz und deckt somit ein weißes Hemd auf. Er... zieht sich aus..., hallt es nervös in meinem Gehirn. Ich lecke unbewusst über meine Lippen. Durch das Hemd kann ich seine Muskeln erahnen, wenn sie sich an den Armen oder dem oberen Rücken abzeichnen. Das muss eine Menge Sport gewesen sein... Sein Körper sieht so fest aus... Warte... was denke ich da!? Der Boss knöpft das Hemd auf, ich höre es.  Doch warum beschleunigt sich auf einmal mein Puls und warum findet auf einmal mein Finger zum Mund, damit ich aufgewühlt daran kauen kann? Sofort reiße ich meine Hand herunter, wenn ich es realisiere. Scheiße, warum reagiert mein Körper so? Was tue ich hier...? Es fällt zu Boden. In einer fließenden Bewegung. Sein breiter Rücken ist nun ganz entblößt und frei für meine Sicht, die sich nicht von ihrem losreißen kann. Wenn er den Arm hebt, um nach vorne zu greifen, betrachte ich das Muskelspiel seines Bizeps mit großen Augen. Jede Regung scheint, als würde sie seinen ganzen starken Körper erbeben lassen. Meine Wangen werden ganz heiß. Meine Händen werden feucht. Ich schlucke abermals hart. Das ist dein Entführer, du Idiot! Reiß dich gefälligst zusammen!, mahne ich in Gedanken, doch kann nicht damit aufhören, meine Hände an der Hose abzuwischen. Willst du hier abhauen, oder dich von ihm flachlegen lassen? Beweg deinen Arsch hier weg, und zwar dalli! »Gefällt dir, was du siehst?« Ich zucke erschrocken zusammen. Meine wackligen Knie geben plötzlich nach und ich kippe nach vorne in den Raum, direkt auf alle viere. Doch ich reiße meinen Kopf hoch und blicke zum Boss, der mich über die Schulter mustert. Das winzige Lächeln auf seinen Lippen lässt mich erzittern. »E-Es... m-mir...«, stottere ich zusammen und versuche hastig aufzustehen. Mein Kopf glüht jetzt vor Hitze, Scham und Furcht zusammen, während meine zitternden Arme versuchen sich hochzustemmen. Als Schritte durch den Raum hallen, halte ich krampfhaft inne, bis Schuhspitzen in meinem Sichtfeld halten. Wenn ich aufschaue, wird mir eine Hand entgegengestreckt.  Ernsthaft?, rasen meine Gedanken, während mir der Boss ruhig die Hand reicht. Doch ich gebe schluckend nach, leg meine eigene Hand in seine. »D-Danke?«, frage ich mehr, als ich es sage, wenn ich mir hochhelfen lasse. Doch kaum stehe ich wieder auf den Beinen, erfasst mich schlagartig der nächste Ruck. Ich verstehe gar nicht was passiert, da werde ich schon herangezogen, bis sich ein Arm von hinten um mich schlingt und festhält. Ich quieke erschrocken, beiße mir schnell auf die Lippe, damit es in einem ängstlichen Raunen untergeht. Was, was, was!? Was ist jetzt? Was passiert hier?, versucht mein völlig überfordertes Gehirn den Grund herauszufinden, warum ich dem Boss auf einmal so nahe bin, dass ich seinen festen Bauch an mir spüre. Weil mir keine andere Möglichkeit bleibt, muss ich die Arme auf der erhitzten, nackten Brust ablegen. Mit schwummrigen Blick sehe ich in die grünen, amüsiert glitzernden Augen. »Jesse Carter...«, raunte er meinen Namen dunkel, dass sich meine Nackenhaare aufstellen und über meinen Rücken ein Schauer läuft. Wir sind uns so nah, realisiere ich. Wie beim ersten Mal, an dem es wir uns begegnet sind, trennt uns nur ein winziges Stück. Sogar seinen Atem kann ich spüren. Mir wird schon wieder so heiß... Ich muss Fieber bekommen... Ja, Fieber... »W-Was...«, versuche ich zwischen zitternden Lippen hervorzupressen. Ich weiß nicht, warum ich in seinem Arm bleibe, warum ich mich nicht herauswinde. Obwohl er eine Wunde hat, hält er mich unnachgiebig fest, vielleicht deswegen... »Was wollen Sie von mir? Sie haben mich verfolgen lassen. Sie haben mich hierherbringen lassen. Ich will endlich wissen, was das Ganze soll.« »Du bist anders.«, haucht er. »Ich verstehe nicht...« »Und Personen, die anders sind, finden früher oder später zu mir. Damit ich sie besitzen kann.« Endlich finde ich meinen klaren Verstand wieder und stoße mich von dem großen Mann ab, taumele ein paar Schritte zurück. Mein Gesicht brennt wie Feuer, dennoch verstehe ich langsam wieder, dass ich mich in großer Gefahr befinde. Genau, das ist dein Entführer. Du bist verdammt nochmal entführt worden, du Idiot! Bleib aufmerksam! Er setzt sich in Bewegung. Obwohl ich bereits fürchte, dass er zu mir kommt, läuft er stattdessen um den Tisch herum, an dessen Ende er Platz nimmt. Dann verschränkt er die Hände. »Eigentlich hatte ich unser Gespräch anders geplant - und ich hasse es, wenn etwas nicht nach Plan läuft - aber jetzt bist du hier. Neugierig und mutig, oder dumm und töricht... Ein sehr schmaler Grad.« »Sprechen Sie nicht so erhaben!«, platzt es irgendwie aus mir heraus, weil ich die Anspannung nicht mehr aushalte. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »Ich weiß ja nicht mal, wer Sie sind! Spucken Sie schon aus, was Sie wollen!« »Ausspucken...«, wiederholt er gelassen mit einem kalten Schmunzeln, das alleine reicht, um die Temperatur des Raumes um gefühlte zwanzig Grad sinken zu lassen. Mein Körper verkrampft erneut. »Ich soll nicht so erhaben sprechen? Na gut, dann werde ich es so sagen, dass du es verstehst«, beginnt der große Mann, den ich bisher nur als Boss kenne. »Ich will dich so lange in deinen süßen Hintern ficken, bis du nicht mehr laufen kannst.« »Äh...«, kommt es aus meinem offenem Mund. Mehr bringe ich in diesem Moment nicht zu standen. F...Ficken... Das hat er gerade gesagt... oder? Er hat gesagt, dass er mich... ich, äh..., versuchen sich meine Gedanken in meinem leergefegten Kopf zu sammeln. »Und nun die erhabene Version«, sagt der Boss am Ende der Tafel. Sein Schmunzeln wirkt jetzt zufrieden, weil er mich erfolgreich eingeschüchtert hat. »Ich gehe mit bestimmten Leuten eine Art Geschäft ein. Beide Seiten profitieren davon.« »M-Moment...«, sage ich und hebe die Hände. »S-Sie wollen also... Sie haben mich...« »Ich habe dich hierher eingeladen, um in Ruhe über diese Dinge sprechen zu können.« »Keine besonders freundliche Einladung«, schnaube ich verächtlich. »Bei mir wirst du kein Kerzenschein oder Rosen finden. Es zählt nur die Sache, das Drumherum ist überflüssig. Also gewöhne dich schon mal an freundliche Begegnungen«, erwidert er gelassen, als wüsste er genau was er tut, weil er es zu oft tut. Einen Augenblick ist Stille. Ich muss verarbeiten, was ich gehört habe. Schwer schluckend überlege ich, wie ich weiter vorgehen kann. Doch meine Stimme ist mal wieder schneller: »Was glauben Sie, wer Sie sind?« »Wie bitte?« »Ich meine... Sie lassen mich beschatten, entführen und dann wollen Sie, dass ich mit Ihnen schlafe?« »Genau das will ich.« Verständnislos schüttele ich den Kopf. »Aber warum?« »Weil du anders bist. Ich hasse es, mich zu langweilen.« »Wie arrogant kann man bitte sein?«, frage ich zynisch. »Das hat mich bisher noch niemand gefragt, dem sein Leben lieb war.« »Dann wird es aber Zeit.«  Ich sehe seine Augen zucken. Er beißt die Zähne aufeinander. Wahrscheinlich hat dieser Mann noch nie Widerworte bekommen. Und wahrscheinlich bekommt er auch nie wieder welche, wenn er mich dafür umgelegt hat. »Sie sind doch verrückt. Wir kennen uns nicht! Sie wissen ja nicht mal, ob ich... schwul bin oder so!« »Und? Bist du es?«, fragt er ganz unverhohlen. Wieder bleiben mir meine vorlauten Worte im Hals stecken und mein Gesicht läuft dunkler an. Er nimmt mein Zögern wohl als Bestätigung. »Also, was spricht dagegen?« »Vielleicht, dass wir uns immer noch nicht kennen und Sie mich entführt haben? Ganz nebenbei bemerkt?« Mir entflieht ein ungläubiges Lachen, obwohl der kalte Schweiß auf meiner Stirn davon zeugt, das ich das alles nicht witzig finde. Das glaube ich einfach nicht. Er will mit mir schlafen... so richtig Sex... bin ich in einem Film? »W-Was... wenn ich Ihr Geschäft ausschlage?«, hake ich nach, obwohl für mich niemals eine andere Möglichkeit infrage käme. Auch nicht für... echt tolle Muskeln und einem attraktiven Gesicht. Natürlich nicht. Nein... »Das wirst du nicht.« Er lehnt sich entspannt im Sessel zurück. Anscheinend ist er sich da ja sehr sicher. »Und das wissen Sie woher?« Ich weiche zurück, als er sich nun doch umentscheidet und aufsteht. Er schlendert heran, bleibt nahe vor mir stehen. Unwillkürlich legt sich mein Blick an seine offene Wunde, die ihm eigentlich eine Menge Schmerzen bereiten sollte. Entweder ist er ein talentierter Schauspieler, oder so abgehärtet, dass ihn das nicht mal juckt. Jesse, jetzt konzentriere dich auf das eigentliche Problem!, schelle ich mich innerlich. Ich sehe auf, in die stechend grünen Augen, gleite weiter zu den schmalen, leicht geöffneten Lippen, über die er sich nun leckt. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Wie würde es sich wohl anfühlen, wirklich mit ihm zu schlafen, meine Fingerspitzen über die Haut wandern zu lassen...? Würden sich vielleicht viele Narben darunter abzeichnen, oder eine Menge Tattoos? »Du hast gerade daran gedacht«, lässt mich seine tiefe Stimme zusammenfahren. Ich taumele überrascht nach hinten. Er folgt mir, bis ich mit dem Rücken an die Wand stoße. Ich kann nicht weg. Ich bin gefangen. Er beugt sich über mich. Er ist so viel größer und stärker als ich. Mein Atem geht stockend. Ich erzittere, als seine Lippen neben mein Ohr finden und hauchen: »Du hast daran gedacht, wie wir es tun.« »Nein!«, entgegne ich wie aus der Pistole geschossen. Mein Körper kann sich nicht rühren. Mir wird immer heißer. »Deine Augen glänzen und deine Atmung geht flach. Du bist erregt. Was werde ich sehen, wenn ich einmal weiter unten nachschaue?«, raunt er dunkel, heiser. Seine Hände wollen sich regen, aber ich schnappe sie sofort und halte sie davon ab, tatsächlich tiefer zu rutschen. »Lassen Sie das. Ich werde nicht mit Ihnen schlafen«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, weil ich doch selbst am besten weiß, wie es in meinem Schritt aussieht. Mit einem letzten Schmunzeln löst sich der Boss von mir. Dann schlendert er ebenso gelassen, wie er gekommen ist, zurück zu seinem Platz am Ende der Tafel. Ich zappele hastig an meiner Hose herum, um die ersten Anzeichen irgendwie verstecken zu können. »Du sollst nicht leer ausgehen.« Mein schwummriger Blick legt sich auf den Boss, der so selbstgefällig dasitzt und mich mit diesem wissenden Lächeln betrachtet... »Wie meinen Sie das?« »Ich weiß alles über dich. Du hast finanzielle Probleme, lebst in einer Sozialwohnung. Wenn du dich darauf einlässt, würde ich dir... unter die Arme greifen.« »Die Hilfe von Kriminellen brauche ich nicht.« »Natürlich nicht«, schnaubt er verächtlich. »Du solltest dir deine Antwort gut überlegen.« »Weil Sie mich ansonsten töten, wenn ich ablehne?« »Bisher hat dieses Haus jeder entweder tot oder unter meiner Hand verlassen.« Was jetzt? Ich weiß nicht weiter. Wenn ich nein sage, wird er mich umlegen! Und wenn ich..., beginnen meine Gedanken sich wie von selbst zu spinnen. ...zustimmen würde... Nein. Nein, natürlich nicht! Ich verkaufe doch nicht meinen Körper, soweit kommt es noch. Aber er ist echt sexy und Geld würde ich anscheinend auch noch dafür bekommen... AH! Gedanken, hört auf damit! Das will ich nicht! »Ich muss nachdenken«, sage ich schließlich, um vielleicht etwas Zeit herausschlagen zu können. »Nein«, entgegnet mir der Boss bestimmt. »Wie soll sich jemand in wenigen Minuten für sowas entscheiden können?«, dränge ich weiter. Tatsächlich verengen sich seine Augen, als würde er nachdenken. Dann meint er: »Na schön. Du darfst bis morgen überlegen.« Ich will bereits erleichtert ausatmen, da fügt er auf einmal an: »Aber natürlich wirst du die Nacht hier verbringen, in einem meiner Gästezimmer.« »Was?«, sage ich entsetzt. »Ich lasse mein Besitz nicht gerne aus den Augen.« »Haben Sie sich mal selbst reden hören?«, keife ich, balle die Hände zu Fäusten. Also bleibt mir im Grunde doch gar keine Wahl, als ihm zuzustimmen! Nicht, wenn ich hier gefangen bin - Das will er hören. »Sie werden mir Ihren Willen nicht aufzwingen können«, sage ich mit entschlossener Stimme. »Das brauche ich gar nicht. Wenn du dich mir erst hingegeben hast, wirst du an nichts mehr anderes denken können, als an mich. Du wirst mich wollen, du wirst mich begehren, bis jede Faser deines Körper sich nach mir sehnt.« Ich drehe den Kopf hastig weg, während mein Herz gegen meinen Brustkorb hämmert. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mitzuspielen und in der Nacht abzuhauen. Aber warum um alles in der Welt bin ich so aufgeregt...? Kapitel 4 --------- »Der Boss bittet Sie um keine Zurückhaltung. Alles in diesem Zimmer gehört Ihnen.« Mein Kopf ist wie so oft an diesem Tag leergefegt. Nach meiner Begegnung mit dem Boss, hat dieser Adrian bestellt, um mich irgendwohin zu bringen. Dass es ein Zimmer sein würde, dass jetzt mir zu gehören schien, damit habe ich nicht gerechnet. Aber das war ja bereits üblich. Meine geweiteten Augen suchen den großen Raum ab. An der hinteren Wand steht ein Bett auf einer Erhöhung, zu dessen Seiten sich deckenhohe Fenster erstrecken Die linke Wand ist mit einendem beleuchteten Schrank ausgefüllt und die andere mit einem Schreibtisch, auf dem gleich der passende Computer stand. Erwähnenswert ist auch noch die edle Couchgarnitur in glänzendem Schwarz vor dem Bett »W-Was soll ich hier?«, frage ich Adrian, dessen ruhiger Ausdruck in seinem Gesicht festgefroren scheint »Wie gesagt, der Boss gibt Ihnen dieses Zimmer zu Ihrer freien Verfügen. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt« Adrian nickt mir zu, dann verlässt er das Zimmer. Vielleicht wäre das meine Chance, erneut herumzustromern, einen Fluchtweg zu finden... aber ich bin zu gefesselt von diesem Raum, der wohl das Gästezimmer ist. Wie reich kann ein einzelner Mensch sein?, denke ich nach, während ich durch das Zimmer schreite. Meine Fingerspitzen finden über das aalglatte Material des Schranks, über das feine Holz des Tisches und über die samtene schwarz-weiß Bettwäsche. Dieser Mensch ist eindeutig zu reich. Neben dem Schreibtisch gibt es eine weitere Tür, von der ich nicht weiß, wohin sie führt. Um diesen Umstand zu ändern, begebe ich mich sofort zu ihr und spähe in das Zimmer dahinter. Tief einatmend stelle ich fest, dass es ein Bad ist. Oder eher die Milliardärs-Variante davon. Da steht eine enorme Regendusche mitten im Raum, von allen Seiten betretbar. Unbewusst sehe ich zu meinem zerrissenen Ärmel. Nicht nur dort bin ich mit Schmutz bedeckt, weil ich mich vor die verletzte Frau geworfen habe. Überall auf meiner Kleidung sind Flecke und Abdrücke. Mein Blick huscht zwischen der verführerischen Dusche und mir hin und her.  Wann werde ich jemals wieder die Chance haben, mich von einer solcher Erfindung berieseln zu lassen? Das ist einmalig. Und Adrian hat gesagt, dass das mein Zimmer wäre..., denke ich angestrengt, beiße auf meine Lippe. Ich könnte mich selber ohrfeigen, wenn ich den Saum meines Shirts ergreife, um es über meinen Kopf zu ziehen. Meine gesamte Kleidung findet achtlos auf den Boden, dann betrete ich die Regendusche. Gleich darauf gehen verschiedene Lichter um mich herum. Ein Fingertipp auf die Armaturen reicht, damit das Wasser zu laufen beginnt und über meinen nackten Körper läuft. Ich sollte einen Ausweg finden, doch was tue ich? Genüsslich unter der Dusche meines Entführers stehen. Aber es fühlt sich so gut an... Es ist so wohlig warm, dass ich immerzu seufzen muss.  Bald entdecke ich Shampoo in einem Korb an der Wand. Ich nehme es heraus, öffne den Deckel und rieche kurz daran. Ein Duft nach Rosen sticht mir entgegen. Ehe ich darüber nachdenken kann, gebe ich etwas in meine Hand und wasche meine Haare. Meine Finger gleiten von den Spitzen über meinen Hals, hinab zu meiner Brust. Wer auch immer dieses Gerät erfunden hat... Ich verfluche ihn dafür. Und als ich fertig mit duschen bin, gehe ich zu dem beleuchteten Schrank, um ihn zu öffnen und mir sofort zu denken: Bei aller Liebe, irgendwann ist es genug... Auf Bügel hängen, den ganzen Schrank ausfüllend, feine Anzüge, frisch gebügelte Hemden, Shirts mit exklusiven Aufdruck, Designerjeans und viele weitere Klamotten, die meine Augen gar nicht erfassen können – Alles von dem dämmrigen, blauen Licht der Schrankdecke erhellt. Weil mir nichts anders übrig bleibt, suche ich mir ein paar Sachen heraus, die am günstigsten aussehen. Schließlich trage ich ein ähnliches Hemd wie zuvor und eine schlichte Jeans, ohne ersichtlichen Markennamen. »Scheiße...«, fluche ich leise, wenn ich mich auf das weiche Bett fallen lassen, das, ganz im Gegensatz zu meinem alten Gestell zu Hause, so weich ist, dass mich die Matratze fast einsaugt. Was habe ich getan? Jetzt trage ich die Klamotten von Verbrechern. Wie viel Blut klebt wohl an den perfekt gewebten Ärmeln? Der Ausblick durch die Fenster neben dem Bett ist atemberaubend. Das Haus liegt inmitten eines dicht bewachsenen Walds, doch er gibt eine Berglandschaft frei, vor dem einer Fluss läuft. Die vollen Tannen beugen sich dem Wind und rauschen in seinem Heulen. Das menschenleere Gebiet wimmelte von freier Natur. Die Vögel in den Baumkronen singen morgens wahrscheinlich lieblich und abends sah man vielleicht Rehe über das Gras hüpfen. Obwohl der Boss mein Entführer ist und mich unter Gewalt hierherbringen hat lassen, breitet sich ein Ziehen in meiner Brust aus. Er hat alles. Ich habe nichts. Er ist alles. Ich bin nichts. Neidisch auf solchen Luxus zu sein ist normal, oder? Jeder würde sich fragen, warum er diese Annehmlichkeiten nicht besitzen kann. Also ist es auch nicht schlimm, dass ich ein kleines – wirklich nur ein ganz kleines – Stückchen neidisch bin. Wer ist dieser Mann? Ich kenne nicht mal seinen Namen. Und doch will er, dass ich mit ihm schlafe. Bei dem Gedanken daran, verfärben sich meine Wangen sofort rot. Er sagte, wenn ich mich auf sein Geschäft einlasse, würde er mir unter die Arme greifen. Heißt das, ich könnte vielleicht ein paar Sachen in meiner Wohnung reparieren... oder vielleicht sogar in ein sichereres Gebiet umziehen? Was heißt bei diesem Mann nur unter die Arme greifen, wenn er mir ein ganzes Zimmer überlässt, dass zusammengerechnet wohl teurer ist, als das gesamte Einkommen, das ich jemals verdienen werde?  Ein weiteres Mal streife ich durch das Zimmer, sehe mir die abstrakten Bilder an den Wänden an und rätsele, was die Formen bedeuten sollen. Im Badezimmer entdecke ich, dass die freistehende Badewanne unterschiedliche Modi zum Sprudeln hat. Ich schaue auch mal in den Schubfächern des Schreibtischs nach. Dort finde ich ein paar Bücher und Zeitschriften. Den Fernseher nahe des Tischs klappere ich ebenfalls durch. Alleine in diesem Raum gibt es unzählige Dinge zu finden, jedes davon einzigartig. Ich komme an der Sitzecke vor dem Bett zum Stehen. Meine Finger gleiten zu dem Punkt an der Brust, unter dem mein Herz schlagen musste. Dort hängt während der Schicht im Hotel das Namensschild, das mich als Reinigungskraft ausweist. Wieviel tausende Jahre ich Überstunden schieben müsste, um mir dieses Haus leisten zu können? Es ist enorm. Eine Gewalt, die auf mich niederschlägt. Plötzlich wird die Tür geöffnet. Es ist Adrian, der hereinkommt. Er mustert mich ausgiebig, dann sagt er: »Der Boss erwartetet Sie. Würden Sie mir folgen?« »Sollte ich hier nicht übernachten? Von weiteren Treffen war nie die Rede«, sage ich misstrauisch. »Sie sehen nicht aus, als würden Sie sich gleich schlafen legen. Zudem habe ich nur meine Anweisungen.« Zögernd trotte ich zu Adrian, der vorangeht, damit ich ihm folgen kann. Wir befinden uns auf der oberen Etage. Von hier aus kann man durch den verglasten Boden im Foyer in das Poolzimmer sehen. Adrian führt mich direkt daran vorbei, sodass ich schlucken muss, wenn ich es entdecke. »Was genau macht ihr eigentlich?«, hake ich nach. »Das fragen Sie besser den Boss, Mr Carter.« »Wie heißt er überhaupt?« »Auch das fragen Sie besser den Boss selbst.« »Was ist an einem Namen gefährlich?« »Bei den falschen Leuten kann ein Name Leben oder Tod bedeuten«, erklärt Adrian ernst. Doch ich verstehe es nicht. Möglicherweise so ein Mafia-Ding, in das ich mich gar nicht einmischen will. Adrian bringt mich zu einer Art Speisezimmer. Wenn wir es betreten, muss ich gewohnter Weise schlucken. In der Mitte steht eine gedeckt Tafel, drumherum herrscht die gewohnt minimalistische Stille. Und ganz am Ende sitzt der Boss. »Du kannst gehen«, sagt er mit tiefer Stimme an Adrian gewandt, der nickt und uns dann allein lässt. Dann legt sich sein Blick auf mich. »Wie ich sehe, trägst du die Sachen, die ich dir zur Verfügung gestellt habe.« Ich werde rot, weil ich mich schäme, so gehandelt zu haben. »D-Das ist nur... m-meine alten Sachen sind kaputt und...« »Du brauchst dich nicht rechtfertigen. Alles in dem Zimmer gehört dir«, sagt der Boss, lässt eine dramatische Pause. »Vorausgesetzt du lässt dich auf mich ein.« Er deutet auf den Platz neben sich, sodass ich der Aufforderung nachkomme und mich neben ihn setze. Gleich rutsche ich einen Meter mit dem Stuhl weiter, was ihn zum Schmunzeln bringt, ich sehe es genau. »Wie gefällt dir das Haus?«, fragt der Boss und beginnt zu essen, deutet mir mit einer Kopfbewegung an, es ihm gleichzutun. Ich starre allerdings nur zu dem guten Wein und den Fettuccine mit Avocadocreme, die aussehen, als hätte ein Künstler sie eigenhändig geformt. »Wie heißt du?«, hake ich nach und duze ihn, wie er es auch bei mir tut. Er hat nicht gefragt, ich werde es auch nicht mehr... Der Boss, wie ich ihn immer noch nennen muss, lässt das Besteck sinken und sieht mich aus seinen intensiven grünen Augen an. Als er nach einigen Augenblicken nicht nachlässt, hebe ich den Blick und erwidere seinen. Wüsste ich nicht, dass dieser Mann Dreck am Stecken hat, würde ich mir jetzt wohl auf die Lippe beißen. Ich würde rot anlaufen. Ich würde mir wünschen, dass es nicht bei dem anziehenden Blick bleibt... »Victor«, kommt es dunkel von ihm. »Hallo, Victor«, sage ich, um zu verdeutlichten, dass ich ihn jetzt erst kennengelernt habe. Aber er weiß alles über mich. »Bist du zu einem Entschluss gekommen?« »Es ist gerade mal eine Stunde vergangen« Victor, wie der Boss heißt, schnalzt mit der Zunge und nimmt einen Schluck vom Rotwein. Nicht sehr geduldig, der Liebe... »Trink auch was. Es ist nicht vergiftet«, sagt er und stellt sein Glas zurück. Wenn ich den Kopf schüttele, legt er seinen genervt zurück und kaut auf seiner Lippe herum. »Ich will lieber nach Hause.« »Nein.« »Wer erlaubt dir, mich gefangen zu halten?« »Dafür brauche ich keine Erlaubnis.« »Also tust du was du willst, egal ob es der andere auch will? Du setzt deinen Kopf einfach durch?« »Selbstverständlich.« Diesmal bin ich es, der mit der Zunge schnalzte. Was ist das für ein Schauspiel?, schießt es mir durch den Kopf. Ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf, um zu gehen. Es bringt nichts hier zu sitzen und zu erzählen. Das ist verrückt. »Gute Nacht«, wünsche ich und will mich umdrehen, werde aber am Handgelenk gepackt und zurückgezogen. »Ich habe dir nicht erlaubt zu gehen.« »Das hat du auch nicht, also lass deine verdammten Griffel von mir!«, erkläre ich laut und schlage Victors Hand weg. Daraufhin erklingt plötzlich ein ersticktes Keuchen. Er hält sich den Oberarm. Unter dem weißten Stoff seines Hemdes bildet sich ein dunkler Fleck. »Die Wunde...«, sage ich mehr zu mir selbst. »Warum gehst du denn nicht zu einem Arzt?« Victor knurrt. Ich verstumme.  Wie bei der verletzten Frauen, verselbständigt sich mein Körper. Ich trete näher zu Victor und fange an, seinen Ärmel hochzukrempeln. Er lässt mich machen. Dann schaue ich mir den notdürftigen Verband aus Mulden an, der sich allmählich rot färbt. »Hast du hier einen Erste-Hilfe Kasten?« »…Im Raum nebenan.« Ich laufe zu besagtem Raum, der sich als Küche herausstellt. Auf den ganzen Prunk achte ich gar nicht weiter, sondern hole den rot-weißen Kasten, den ich in einem der Wandschänke finde. Zurück im Speiseraum hat sich Victor bereits ein Stück vom Tisch entfernt, sodass ich besser an seinen Arm heranreiche. Wieso tue ich das?, schießt es mir kurz durch den Kopf, wenn ich den Kasten auf dem Tisch lege, um Victors alten Verband abnehmen zu können. Plötzlich findet Victors gesunder Arm an meiner Rücken. Ich erstarre, während ich ich auf seinen Schoß gezogen werde. Sofort will ich wieder aufspringen, aber er raunt: »Du hast Schuld an meiner Verletzung und willst mich jetzt nicht mal richtig verarzten?« Sein schiefes Grinsen will er nicht mal verstecken. Aber ich beiße mir auf die Lippe und muss zugeben, dass Victor schon irgendwie richtig liegt... Also schlucke ich hart und setze meine Arbeit fort – auf den Beinen meines Entführers. Zwar sitze ich ganz vorne, sodass ich beinahe über seine Knie rutsche, trotzdem ist dieser breite, warme Oberkörper vor mir... und ich darf nicht tiefer sehen... nicht tiefer... »Mhh... das machst du gut«, beurteilt mich Victor, als ich dabei bin, seinen klebrigen Verband auf den Boden fallen zu lassen und dafür eine Kompresse auf die Wunde lege, die sich zumindest seit vorhin etwas beruhigt hat. »Kümmerst du dich oft um Schwerverbrecher?« Ich versuche Victor mit einem bösen Blick zu strafen, was ihn allerdings nur schmunzeln lässt. Also reiße ich den Kopf herunter, konzentriere mich auf meine Aufgabe. Allerdings kann ich an nichts anders mehr denken, wenn die Hand an meinem Rücken mit einem Mal tiefer wandert. Zum Glück hält sie an meiner Hüfte an. »Wer war die Frau mit dem französischem Akzent?«, frage ich, weil ich mich vom Fantasieren abhalten will. »Du meinst die Kleine, die wegen dir entkommen ist?« Victor lehnt sich zurück. Der Schmerz scheint ja wirklich enorm zu sein, wenn er es so genießt von mir betätschelt zu werden...! »Warum wolltest du sie umbringen?« »Weil sie ein Feind ist.« »Wie meinst du das? Was oder wer bist du überhaupt? Was macht ihr hier?«, fließen die Fragen aus mir heraus. Ich nehme eine Klammer und befestige den Verband, sodass er fertig ist. Sogleich findet auch Victors andere Hand an meine Hüfte, sodass ich die Luft scharf einziehe. »Wenn ich dir das sage, müsste ich dich töten«, raunt Victor tief, lehnt sich vor. Automatisch weiche ich nach hinten und stemme mich gegen seine Schultern. »Wirst du das nicht eh?« »Nicht, wenn du dich auf mein Geschäft einlässt.« Mir ist so heiß. Das Blut fließt schneller durch meinen Körper und mein Herzschlag beschleunigt sich. Victor leckt sich über die Lippen, ich muss es ihm gleichtun. Aber wenn ich ihn jetzt küsse, gibt es kein Zurück. »Lass mich ein wenig machen«, schlägt Victor vor. Seine Stimme ist heiser. »Dann sieht du, dass es dir gefällt.« »Und wenn ich stopp sage, hörst du auf?« Ich erschrecke vor meiner Stimme, die ebenfalls heiser ist. Er verdreht die Augen. »Ja.« Ohne auf eine weitere Antwort zu warten, drückt er mich weiter an sich, sodass ich richtig auf seinem Schoß sitze. Sein Gesicht kommt näher. Ich drehe meinen Kopf automatisch zur Seite. Das nimmt er als Einladung. Seine schmalen Lippen legen sich an meinen Hals. Augenblicklich zucke ich zusammen. Es kitzelt und kribbelt. Das fühlt sich so intim an, ich werde direkt rot. »Nicht hier...«, quiekte ich aufgeregt. Mein Puls könnte nicht mehr gemessen werden – die Zahl, welche angezeigt werden würde, existiert gar nicht. »Genau hier«, bestimmt Victor, öffnet seine Lippen ein Stück und haucht einen Kuss an meinen Hals. Ein Schauer jagt den nächsten über meinen Rücken. Seine weichen Lippen wandern weiter. Ich lege meine Arme über seine Schultern. Dann klammere ich mich automatisch in sein Hemd. Victor erkundet meinen Hals. Und wenn es scheint, als hätte er eine gute Stelle gefunden, beginnt er an meiner Haut zu saugen. Doch das ist ihm nicht genug. Seine Hände schleichen sich heimlich unter mein Hemd. Ich spüre die rauen Finger. Sie berühren mich sanft, dann legen sich die gesamten Handflächen auf meinen Rücken, wandern nach oben. Wir sind uns so nah. Ich fühle mich beobachtet. Es ist vollkommen neu. So aufregend. »Mir ist heiß...«, keuche ich. Victors herber Duft nach Aftershave nehme ich deutlich wahr. »Ich werde dir helfen, dich zu entspannen.« Seine dunkle Stimme stellt alle meine kleinen Härchen auf. Ich will, dass er sein Versprechen wahrmacht. Ich will, dass er aufhört. Ich kann nicht mehr klar denken. Victors Lippen lösen sich von meinem Hals und seine Hand findet nach vorn an mein Hemd. Mit großen Augen sehe ich zu, wie er einen Knopf nach dem anderen öffnet. Danach küsst er mich wieder am Hals. Er wandert tiefer. Ich lege seufzend den Kopf in den Nacken. Victor küsst mein Schlüsselbein. Er verteilt Küsse darunter, bis er zu meiner Brust kommt. I-Ich.. kann nicht..., schießt es mir durch den Kopf. Victor will mehr, ich spüre unter mir, dass seine Hose enger wird. Aber ich will ihm nicht mehr geben. »Stopp...«, keuche ich atemlos. Wenn er nicht auf mich hört, stemme ich mich gegen seine Schultern. Er lässt sich wegdrücken. Dann sieht er mir tief und verlangend in die Augen. Ich erwidere es. Aber ich will nicht weitergehen. Also springe ich auf, schiebe eilig mein Hemd zurecht und nehme Abstand. Victor zieht die Augenbrauen zusammen und schüttelt verständnislos den Kopf. »Du willst aufhören?« »Weiter gehe ich nicht«, erkläre ich mit immer noch heiserer Stimme. Entweder er hält, was er verspricht, oder er ist ein widerliches Arschloch. Gleich finde ich es heraus. »Du kannst mich nicht geil machen und dann abhauen. Da spiel’ ich nicht mit, Süßer«, raunt Victor dunkel. Seine Augen verengen sich jetzt zu Schlitzen.  Meine zitternden Händen schließen die Knöpfe meines Hemdes ungeschickt, doch mein Blick liegt weiter auf Victor, der sich jetzt zurücklehnt. Er wartete darauf, dass ich zurückkomme. Er bekommt anscheinend immer, was er will. Also denkt er es auch dieses Mal. Aber ich habe nicht vor, mich ihm hinzugeben. »Ich bin keine Puppe. Und wenn ich nein sage, dann heißt das auch nein«, meine ich, versuche so stark wie möglich zu klingen, obwohl in mir ein Sturm aus Gefühlen herrscht. Lust, von Victors Berührungen. Verlangen nach mehr. Und die Angst vor den Konsequenzen, wenn ich jetzt stoppe. Doch dieser Mann, der alles besitzt, muss erstmal lernen, dass er mich nicht besitzen kann. »Du kannst mir mit Geldscheinen einen Teppich zu meinen Füßen flechten. Du kannst mich meinetwegen auch umbringen. Aber es gibt eine Sache, die du niemals bekommen wirst«, raune ich genauso verschwörerisch, wie Victor es getan hat.  Seine Hände ballen sich zu Fäusten. Er springt auf, sodass der Tisch wackelt. Unwillkürlich zucke ich zusammen und weiche einen Schritt zurück. Doch ich lasse mir keine Angst einjagen. Ich drehe mich auf dem Absatz und verlasse diesen Raum, mit tödlichen Blicken im Rücken.   Kapitel 5 --------- Kapitel 5   Seufzend wende ich meinen Kopf zur Seite. Mein tiefer Atem nimmt langsam ab und ich schlage blinzelnd die Augen auf. Wo bin ich..., schießt es mir durch den Kopf. Da drüben steht ein fremder Tisch und wenn ich den Kopf weiter nach oben wende, sehe ich eine fremde Aussicht zum Sonnenaufgang. Ich brauche zwei Minuten, bis die Erinnerungen an gestern zurückkehren. Dann wünsche ich mir, sie wären verschwunden geblieben. Fuck, mein Rücken..., knurre ich innerlich, wenn ich mich aufrichte. Hier im Zimmer, das mir überlassen wurde, gibt es zwar ein himmlisches Bett, trotzdem habe ich mich gestern auf das Sofa geschmissen. Und jetzt... jetzt lag ich halb verteilt auf Boden und Polster. Schwerfällig erheb ich mich, torkele ins Badezimmer und spritze mir ein wenig Wasser ins Gesicht. Währenddessen gehe ich durch, was gestern geschehen ist.  Ich bin hier ins Zimmer geflüchtet und hab mich auf das Sofa geschmissen. Dort habe ich darauf gewartet, gewaltsam rausgezerrt und für meine Frechheit bestraft zu werden. Aber er ist nicht gekommen und so bin ich einfach eingeschlafen. Victor, sage ich seinen Namen in Gedanken. Ich versteh’s nicht. Ich verstehe ihn nicht. Was will er von mir? Ich bin doch bloß ein dummer Junge… Weil ich nicht still dasitzen kann, entscheide ich mich, mein Zimmer zu verlassen und mich mal im Haus umzusehen. Wenn man mir einmal schon nicht die Ohren dafür langgezogen hat, wird’s auch ein weiteres Mal klappen. Ich gehe den gleichen Weg, wie gestern Abend, als ich zu Victor gebracht wurden bin. So komme ich an dem verglasten Boden vorbei und an der Terrasse, der ich gestern keine Aufmerksamkeit geschenkt habe. Heute allerdings schon. Denn dort draußen, auf zwei Gartenstühlen und in dicken Jacken, und mal keinen Anzügen, sitzen wohlbekannte Gesichter. Adrian und Elliot. »Keine Tomate drin«, höre ich Adrian, als ich auf die beiden zugehe. Sie scheinen mich noch nicht zu bemerken. Er wickelt einen Gemüsewrap aus seiner Folie. »Keine?«, fragt Elliot, den ich das erste Mal höre, wenn er nicht genervt oder zornig ist. Erst dreht er seine Thermoskanne zu, dann späht er zu Adrians Essen und zieht eine Lippe, als würde er etwas abschätzen. »Hier.« Adrian hält Elliot den Wrap hin. Dieser beugt sich sich zu ihm herüber und beißt dann einmal ab. In dem Moment wandern seine Augen noch oben und heften sich an mich. Schnell verfinstert sich sein Blick. Er zieht sich kauend zurück und Adrian dreht sich überrascht zu mir, weil er mich durch Elliot nun auch entdeckt. Dann steht er schnell auf und begrüßt mich freundlich. »Guten Morgen, Mr Carter.« Ich spüre eine leichte Hitze in meinen Wangen und ein peinliches Kribbeln im Bauch. Irgendwie fühle ich mich, als hätte ich einen besonderen Moment gestört... »Kann ich jetzt nach Hause?«, frage ich. »Die Antwort darauf müsste Ihnen selbst klar sein«, meint Adrian und zieht seine Augenbrauen hoch. »Wollt ihr hier noch über’s Wetter tratschen, oder kommt ihr mal zu Potte?« Elliot leckt sich über die Lippen, wuschelt sich durch seinen dunkelblonden Harre und kommt dann auf uns zu. Ich sehe die beiläufige Berührung an Adrians Arm, bevor Elliot seufzt. »Können wir endlich los?« »Los? Wohin schon wieder?«, kommt es schneller aus meinem Mund, als ich denken kann. In letzter Zeit fühle ich mich wie irgendein Müllcontainer, den man durch die Gegend schiebt. »Der Boss möchte, dass Sie ihn bei einem Termin aufsuchen. Und dafür müssen noch Klamotten eingekauft werden«, erklärt mir Adrian ganz sachlich. »Einkaufen?«, frage ich. Meine Stimme trieft vor Sarkasmus. »Weil mein Schrank voller Klamotten natürlich nicht für einen Tag reicht?« »Nun, der Boss besteht darauf.« Adrian deutet Elliot mit einem Nicken an, ihre Sachen zusammenzuräumen, dann geht er vor und wartet darauf, dass ich komme. Weil mir kaum eine andere Möglichkeit bleibt, spiele ich brav mit und lasse mich ins Auto verfrachten, mit dem wir in die Stadt fahren. Es ist schon Vormittag. Ich habe wohl sehr tief und lange geschlafen, wahrscheinlich vor Erschöpfung. Deshalb sind auch die Straßen voll und Stau bildet sich an jeder Kreuzung. Im Parkhaus sieht es nicht anders aus. Wir bekommen kaum einen Platz und wenn Adrian doch endlich einen gefunden hat, müssen wir uns durch eine Masse von Menschen nach drinnen kämpfen. Wenn ich jetzt zufällig verschwinde, würden sie es gar nicht mitbekommen…, schießt es mir durch den Kopf, während ich mich hinter Adrian zwischen zwei Frauen drängle. Elliot ist zwar hinter mir, aber der ist damit beschäftigt, jeden Fußgänger anzuknurren, der ihn anrempelt. Mein Herz schlägt schneller. Meine Hände werden unruhig. Sie lassen mich aus den Augen. Das ist meine Chance.  Wir gehen die Treppen von dem Verbindungsgang zum Einkaufszentrum nach oben. Wenn wir ankommen und ich Adrian eigentlich weiter folgen sollte, ziehe ich den Kopf ein und begebe ich mich nahe an einen unbekannten Besucher mit Kinderwagen. Es ist die perfekte Gelegenheit. Gerade kommt eine Strom Leute von den Rolltreppen, sodass ich mich einfach hinter dem Mann verstecke und nach rechts abbiege. Das hat funktioniert!, kreische ich innerlich, wenn ich dem Mann solange folge, bis ich bei dem Gang zu den Toiletten einbiege. Mein Herz rast und ich schaffe es kaum richtig zu atmen. Meine spontane Fluchtaktion hätte auch nach hinten losgehen können, aber ich habe es geschafft... Mich überkommt ein erleichtertes Schmunzeln. Das war ja fast zu einfach.Victor sollte wirklich darauf achten, welche Aufgaben er seinen Untergebenen zuteilt. Sie haben mich nicht gut bewacht. Bei den Toiletten ist kaum jemand. Nur eine Frau bezahlt gerade am Schalter und tritt dann ein. Ich versuche mein weiteres Vorgehen zu planen. Zuerst muss ich einen Wachmann finden oder so...  Tatsächlich springt mir auch sogleich einer ins Auge. Er dreht seine Runden bei der Informationstafel direkt neben den Rolltreppen. Die Geschäfte blinken und leuchten im gediegenen Ambiente und die ganzen Menschen machen es schwer, sich auf etwas zu konzentrieren. Adrian und Elliot habe ich bereits aus den Augen verloren. Wahrscheinlich werden sie sich gleich umgucken und dann mächtig erschrecken. Mein Schmunzeln wird breiter. Ich trete aus dem schmalen Gang und will zum Wachmann laufen, der kaum zehn Meter von mir entfernt steht. Die Hände an der Hose und der aufmerksame Blick über die Schöpfe der Besucher gerichtet. Gerade will ich meinen ersten Schritt nach draußen machen, plötzlich spüre ich einen schmerzhaft harten Ruck an mir. Ich taumele nach hinten, während sich eine Hand auf meinen Mund legt. Mein überraschter Schrei kommt nur als ein gedämpftes Murmeln durch. Dann wird mir mein rechter Arm auf den Rücken gedreht, bevor ich zurück in den schmalen Gang in eine geschützte Ecke gezogen werde. Meine Brust hebt und senkt sich wie Wellen bei einem Sturm. Mein Kopf wandert nach oben, sodass ich direkt in Elliots braune Augen sehe, die mich zornig anfunkeln. »Darf ich ihn erwürgen?«, zischt er und verstärkt den Griff um meinen Arm, sodass ich schmerzlich aufkeuche. Durch die Hand an meinem Mund bekomme ich kaum Luft. »Lass ihn los«, bestimmt Adrian sachlich, aber mit strenger Stimme, die keine Widerworte erlaubt. Er steht neben uns, das erste Mal, dass ich ihn auch bemerke. Elliot kommt der Anweisung zögerlich nach. Wenn ich merke, wie der Zug verblasst, reiße ich mich los und haste auf zwei Meter Abstand, wo ich mich sofort umdrehe und tief durchatme. Mein rasendes Herz, das vor Schreck beinahe ausgesetzt hätte, schlägt jetzt wieder gleichmäßiger. Langsam beruhige ich mich. »Warum?«, jammert Elliot und massiert über seinen Nasenknochen. »Warum sucht sich der Boss immer so schwierige Leute? Kann er nicht einmal auf jemand Unkompliziertes stehen, jemand der sich einfach manipulieren lässt?« Ich bin also nicht der Erste, den sie für Victor entführt haben. Natürlich nicht. Er hat ja selbst gemeint, dass er öfter mal solche Geschäfte mit Leuten eingeht, schießt es mir durch den Kopf. Meine Fluchtpläne kann ich wohl über den Haufen werfen. Dabei bin ich dem Wachmann so nah gewesen. So nah! »Blödmann...«, flüstere ich, obwohl ich innerlich hoffe, dass Elliot mich hört. Tatsächlich weiten sich dessen Augen für einen Augenblick. Dann baut er sich auf. »Was hast du gerade gesagt, du kleiner…!« »So, das reicht jetzt«, geht Adrian dazwischen, wortwörtlich. Er stellt sich zwischen Elliot und mir, dann hebt er die Hände, als würde das die Situation entschärfen. Sein Blick legt sich auf mich. »Mr Carter, muss ich wirklich erwähnen, dass es zwecklos ist, zu versuchen wegzulaufen? Das ist unser täglich Brot. Also bitte, bereiten Sie nicht größere Umstände, als nötig.« Ich sehe weg. Mir doch egal, ob ich Umstände bereite. Ich werde auch weiterhin versuchen abzuhauen, wenn sich eine Chance bietet. Adrian seufzt. Wahrscheinlich, weil er meine Sturheit erkennt. Wenn er auf mich zukommt, zucke ich allerdings zurück. Doch er kramt nur in seiner Jackentasche herum und reicht mir dann eine Karte. Eine Kreditkarte. »Was ist das?« »Der Boss wünscht keine Zurückhaltung. Diese Karte ist zu Ihrer vollkommen feien Verfügung«, erklärt Adrian. Von hinten ruft Elliot dazwischen: »Schätz dich glücklich, du kleiner Nichtsnutz. Nur am Flüchten und trotzdem die Goldbarren in den Arsch geschoben bekommen... unfassbar!« Ich überhöre ihn einfach und sehe lieber zu dem Stück Plastik in Adrians Hand. Zögerlich nehme ich die Karte und betrachte sie von allen Seiten. »Zu meiner freien Verfügung? Ich kann damit einfach Sachen kaufen?« »Ja, Mr Carter.« »U-Und wie viel Geld ist da drauf...?« »10.000 Dollar.« Meine Kinnlade klappt nach unten. »Ich sollte zum Ohrenarzt. Gerade habe ich gehört, dass auf der Kreditkarte 10.000 Dollar wären…«, lache ich ungläubig. »Nein, Mr Carter. Sie haben richtig gehört.« »Z-Zehn…«, beginne ich stotternd, zeige auf das Stück Plastik. Mein Mund kann sich nicht schließen. »D-Da sind… Ich kann damit…?« »Dieses Geld ist heute nur für Sie gedacht. Machen Sie damit, was auch immer Sie wünschen.« Die sind verrückt!, schießt es mir durch den Kopf, während ich den harten Kloß in meinem Hals herunterschlucke. Die sind richtige Irre! Mit 10.000 Dollar könnte ich… damit könnte ich mir eine ganz neue Zukunft aufbauen…! Und Victor schenkt sie mir einfach. Wie sehr will der mich ins Bett kriegen? Ich lasse mich von meinen beiden Entführern zurück ins Geschehen des Kaufhauses ziehen. Doch weil ich keinen blassen Schimmer habe, was ich mit dem Geld anstellen soll, entscheide ich mich letztlich dafür, im Elektrohandel vorbeizuschauen. Immerhin haben die Beiden mein Handy kaputt gemacht. Das wäre noch eine sinnvolle und gerechtfertigte Verwendung dieser übertriebenen Karte. Und tatsächlich verlasse ich diesen Laden keine halbe Stunde später wieder mit einem neuen Handy. Das gleiche Modell wie mein Altes und auch der gleiche Preis – zweihundert Dollar. Bleiben noch 9.800 übrig... »Mr Carter, Sie verstehen sicherlich, warum wir dieses Gerät für Sie aufbewahren«, meint Adrian, wenn wir die Rolltreppe nach unten fahren. Er hält meine Tüte mit dem Smartphone fest. »Ja, ja, schon klar...«, antworte ich, krame die Kreditkarte wieder hervor und reiche sie dann Adrian. »Hier, mehr will ich nicht.« »Aber Mr Carter...« »Nein«, meine ich bestimmt und steige am Ende der Rolltreppe herunter. Wir laufen zu der Sitzfläche. »Das ist nicht mein Geld. Und ich will es auch gar nicht. Das Handy habt ihr kaputt gemacht, aber das habe ich jetzt ja wieder.« Ich beobachte, wie Adrian einen flüchtigen Blick mit Elliot austauscht, der kaum merklich mit den Schultern zuckt. Dann nimmt er die Karte an, die ich ihm immer noch hinhalte. »Na schön, Mr Carter. Aber wenn Sie etwas entdecken, das Ihnen zusagt, geben Sie mir bitte Bescheid.« »Ich werde mich hüten das zu tun«, erwiderte ich und lasse mich beim kleinen freien Fleck auf einer Bank nieder. Abzuhauen hatte ich gar nicht nochmal versucht. Das würde nicht gut enden. Und hier einfach laut zu schreien, auch nicht. Ich bin mir sicher, meine beiden Entführer wissen schon damit umzugehen. Wenn Adrian und Elliot so vor mir stehen, in ganz durchschnittlichen Jacken und bequemen Jeans, dann könnte man glatt vergessen, dass sie Schwerverbrecher sind, die zu irgendeiner organisierten Bande gehören. Aber ich traue ihnen zu, eine – nein, gleich mehrere – Waffen unter den unschuldig wirkenden Anorak zu tragen. Wahrscheinlich ist dem sogar so, denke ich und sehe Adrian fragend an, weil ich wissen will, wie es weitergeht. Dieser seufzt und schlägt dann vor: »Ich werde etwas zu Essen holen. Sie haben ja noch gar nichts gegessen, Mr Carter.«  Erst jetzt fällt mir auf, dass ich seit fast zwei Tagen nichts mehr gegessen habe. Ich spüre, dass mein Magen zu knurren beginnen will. Adrian übergibt die Tüte mit dem neuen Handy an Elliot, der sich genervt stöhnend neben mich fallen lässt, den Kopf auf seinem Arm abstützt und die Augen verdreht. So langsam habe ich verstanden, dass du mich nicht ausstehen kannst, nörgele ich in Gedanken. Dann kommt eine angespannte Stille auf. Um uns herum herrscht zwar Gewusel und zwar nicht gerade leise, aber wir schweigen so entschieden, dass es schon peinlich ist. Wir sitzen so, dass wir Adrian beobachten können, der zum Bäckereistand geht, um uns Frühstück zu holen. Wenn ich nach links spähe, stelle ich fest, dass auch Elliots Blick auf seinem Kumpanen liegt. Seine Augen sind geweitet und er scheint in Gedanken versunken. Das mulmige Gefühl von heute Morgen kehrt wieder. »Also, ähm...«, beginne ich irgendwann, weil ich mir doof vorkomme. »Was läuft da zwischen Adrian und dir?« »Hä?« Elliot wendet sich zu mir. Seine Augen sind zusammengekniffen und wollen mich erdolchen. Ganz anders als noch zuvor. Er knurrt: »Willst du sterben?« Beschwichtigend hebe ich die Arme und lasse mich zurückfallen. So langsam habe ich verstanden, dass die Beiden mir wohl nichts tun würden – nicht solange ihr Boss Interesse an mir hegt. Deshalb wage ich mich auch weiter vor. »Ich meine, du magst ihn doch, oder? Seid ihr zusammen?« »Ein weiteres Wort und ich polier’ den Boden mit deiner scheiß Fresse«, raunt Elliot dunkel, packt meinen Kragen und zieht mich weit zu sich heran. Das mörderische Funkeln in seinen Augen, lässt mich dann doch schlucken. Aber als eine ältere Dame stehenbleibt und verwundert zu uns starrt, entscheidet sich Elliot dafür, mich loszulassen. Ich falle zurück und richte mein Hemd. Man darf doch wohl noch fragen!, schimpfe ich gedanklich. Der hat wirklich den Geduldsfaden einer abgebrannten Lunte. »Was macht ihr eigentlich? Also, vertickt ihr Drogen oder sowas?«, hake ich nach. Er würde mir sowieso keinen ernsthaften Schaden zufügen. Elliots aufgebrachten Atem kann ich selbst durch den Tumult hören. Doch er wischt sich durch’s Gesicht und massiert seine Schläfen. Dann fragt er: »Machst du einen auf doof, oder hast du echt keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast?« Ich ziehe eine Lippe. »Wenn ich es wüsste, dann würde ich nicht fragen!« Elliot schnalzt mit der Zunge. »Wie kann man so blind sein? Lebst du hinter dem Mond, oder was?« »Tut mir leid, dass ich mich hobbymäßig nicht über jede Verbrecherbande informiere, die in dunklen Gassen ihr Unwesen treibt!« Elliot wendet sich mir zu. Ich rechne damit, wieder am Schlafittchen gepackt zu werden. Aber er meint nur dunkel: »Dir sagt der Name Lassini gar nichts?« »Nein...«, beginne ich, doch in meinem Kopf bildet sich ein unbestimmtes Bild. Ich kann es nicht erfassen. »Ich soll es dir eigentlich nicht sagen...«, raunt Elliot und sieht sich um, als würde er sichergehen, dass uns auch niemand hört. »Lassini ist der Familienname unseres Bosses. Victor Lassini, so heißt er. Wir sind ihm treu ergeben. Wir würden unser Leben für ihn und die Familie geben, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Also versuch’ erst gar nichts Krummes anzustellen.« Lassini... Lassini..., wiederhole ich gedanklich. Es liegt mir auf der Zunge, aber ich kann es nicht definieren. Erst, wenn ich an eine Berichterstattung denke, die vor zwei Wochen im TV lief, wird es mir klar. Da hatten sie von einer kriminellen Organisation gesprochen, die mehrere verfeindete Leute nach einer Schlägerei getötet haben soll. »Dann war das deine Gruppe, die Schuld am Tod mehrerer Männer beim alten Rathausgebäude ist?« Elliot klopft sich auf die Brust. »Selbst dabei gewesen.« Ich verziehe den Mund. »Und du bist noch stolz darauf,  Menschen getötet zu haben?« »Natürlich. Ich habe es für die Familie getan.« »Du bist… ihr seid…« Ich breche ab, weil mir die Worte fehlen. Meine Hände zittern, selbst als ich sie in meinen Ärmeln zu verstecken versuche. Ich bin geschockt von ihren abstoßenden Taten. Im Fernsehen wurde die Schlägerei als kleines Massaker beschrieben, als brutal und gefühlskalt. Wie kann man sich dafür noch feiern? »Du solltest aus Dankbarkeit die Schuhe des Bosses lecken, dafür, dass er so großzügig ist und dir nicht einfach eine Knarre zwischen deine Lippen schiebt und dich entscheiden lässt.« »Ich will nichts mit euren Machenschaften zu tun haben«, sage ich entschieden. »Dafür ist es zu spät, Kleiner. Du bist längst mittendrin. Und heute Abend kannst du schon mal üben, brav deine Klappe zu halten.« »Was?«, rutschte es mir heraus. Elliot verschränkt die Arme vor der Brust und lässt sich nach hinten fallen. Seine Augen legen sich wieder auf Adrian, der jetzt vorne an der Schlange steht und als Nächstes dran ist. »Der Boss erwartet dich heute Abend auf seiner Yacht. Da steigt ne’ Feier und so ein schickes Essen mit wichtigen Geschäftsleuten. Also sei ein artiges kleines Anhängsel.« Ich senke den Kopf und atme tief durch. Was denken sich diese Leute nur? Ich bin ein lebendiges Wesen aus Fleisch und Blut! Sicherlich lasse ich mich nicht wie ein Objekt behandeln. »Ach übrigens«, meint Elliot und lässt mich damit zu ihm sehen. Ein winziges Lächeln schleicht sich auf seine Züge. »Du kannst ja versuchen, an deinem ersten Abend nicht gleich vergiftet zu werden. Wird aber schwer bei den bösen, bösen Leuten, die heute da sein werden. Du solltest dich auf einiges gefasst machen.« Kapitel 6 --------- Wenn man etwa eine halbe Stunde aus der Stadt fährt, kann man schon von Weitem das Meer sehen. Den hellen, sauberen Strand, die Promenade mit einer Meile voller Läden und den leuchtenden Hafen – Das alles kann man sehen, selbst jetzt in der Nacht. Denn überall brennen Lichter. Wir halten auf dem Besucherparkplatz. Wenn ich aussteige, muss ich direkt an meiner Krawatte zuppeln. Ich verziehe das Gesicht, wenn ich an mir heruntersehe. Weil das Jackett schwer und steif wie Beton ist, komme ich mir jetzt endgültig wie ein lebloses Objekt vor, mit dem man nur spielen kann. Im Großen und Ganzen komme ich mir einfach komplett bescheuert vor. »Warum mussten wir das neu kaufen?«, frage ich Adrian, der zu mir tritt und das Auto mit einem Knopfdruck auf seinem Schlüssel sichert. »Der Boss wollte es so«, entgegnet mir Adrian ruhig. Aber ich keife: »Und wenn der Boss will, dass ihr von einer Brücke springt, dann macht ihr das auch, oder was?« »Selbstverständlich«, meint Adrian. Ich bin mir nicht sicher, ob seine hochgezogenen Augenbrauen abschätzig oder belustigt wirken sollen. Ich schlage mir jedenfalls die Hand vor den Kopf. Weil die Promenade hier beginnt, müssen wir ein Stück zu Fuß gehen. Dabei kommen wir an vielen verschlossenen Läden vorbei. Ich riskiere einen Blick hinein, was ich dann doch schnell bereue. Hier gibt es keine Badelatschen oder Bernsteinschmuck zu kaufen. Da sind Kleider und Hüte ausgestellt, deren Preis ich gar nicht auszusprechen wage. Und die eine Sonnenbrille… alleine für dieses teure Stück würde ich Leibwächter engagieren. »Kann es sein, dass hier meistens nur Leute hinkommen, die – wie soll ich’s sagen? – am Ertrinken in ihrem eigenen Geld sind?«, frage ich und fummele weiter an dieser blöden Krawatte, die einfach viel zu eng sitzt. Nachdem wir im Einkaufszentrum zu Mittag gegessen haben, wurde der ganze Nachmittag damit verbracht, mir diesen peinlichen Anzug zu kaufen.  »Das ist der Yacht-Hafen, Mr Carter. Hier wird meistens mit höheren Summen gehandelt«, erklärt Adrian. »Ach verdammt!«, jammere ich, weil der Knoten meines Schlips so fest sitzt, das ich ihn nicht aufbekomme. »Das bin einfach nicht ich! Meinen letzten Anzug hatte ich an, als wir in der Schule ein Theaterstück aufführen sollten. Muss ich das denn wirklich tragen?« Elliots Hände verschwanden in seinen Hosentaschen. Auch meine beiden Begleiter trugen förmliche Kleidung. Ein schmales Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Der Boss wird nichts dagegen haben, wenn du alles ausziehst und nichts trägst.« Ich laufe rot an, presse meine Zähne aufeinander und schaue dann beschämt nach unten. Dann bin ich ganz still, weil es nichts bringt, mit denen zu diskutieren. Am Ende der Promenade steht ein beleuchteter Springbrunnen, der selbst um diese Uhrzeit noch eingeschaltet ist. Nach rechts würde es eine weiteren Einkaufsmeile entlanggehen. Links hingegen ist der Yacht-Hafen erbaut. Wenn mein Blick hinunter zu den Stegen gleitet, weiten sich meine Augen. Natürlich kein Segelboot mit Fähnchen, was habe ich mir gedacht?, schießt es mir durch den Kopf, während ich hart schluckend zu dem kleinen Kreuzfahrtschiff sehe, zumindest kommt es mir wie ein solches vor. Auf dem gigantischen Teil haben sicherlich über zweihundert Gäste Platz. Und natürlich glänzt das perfekt verarbeitete Material blankgeleckt. Ich reibe meine Hände an der Hose, wenn wir die Stufen zum Hafen hinuntergehen. Wir laufen den Holzsteg entlang und schon stehen wir vor dem teuren Luxusschiff. »Mr Carter«, sagt Adrian und deutet mir an, zuerst auf die Yacht zu gehen. Ich habe mir eingebildet, es würde schaukeln, wenn ich es betrete, aber das Ding ist viel zu schwer, als dass mein Gewicht etwas ausmachen würde. Meine beiden Aufpasser folgen mir, wenn ich durch die Tür ins Innere der Yacht trete. Dann atme ich tief durch. Der Raum ist gefüllt mit Menschen. Im gedämmten Licht der Kronleuchter stehen Frauen und Männer am gedeckten Buffet oder schaukeln im Takt der leichten Jazz-Musik. Jetzt weiß ich auch, warum dieser Anzug nötig ist. Das hier ist keine Party in Bikinis, mit Mutproben oder Komasaufen – Ich bin auf einer Gala.  »Möchten Sie etwas trinken, Mr Carter?«, fragt Adrian. Ich schüttele wie in Trance den Kopf. Das ist schon wieder so verdammt übertrieben!, denke ich angestrengt nach. Gleichzeitig färben sich meine Wangen rot. Ich lebe in einer Sozialwohnung und esse täglich Fertignudeln. Hier gehöre ich nicht her. Tut Victor das vielleicht, weil er mir um jeden Preis beweisen will, wie jämmerlich meine Leben ist? Seufzend beuge ich mich zu Adrian und flüstere: »Sind hier alle Verbrecher…?« »Die meisten gehören zur Familie«, antwortet mir stattdessen Elliot und bekommt einen strafenden Blick von Adrian. »Zu… deiner Familie?«, frage ich verwirrt. Elliot verdreht die Augen. Dann spricht er trotz Adrians empörten Ausdruck weiter: »Nicht meine leibliche Familie, du Dummkopf. Der Lassini Clan ist meine Familie. Brüder im Blut, verstehst du’s endlich?« »Das reicht jetzt«, raunt Adrian dunkel und packt Elliot am Arm, der herausfordernd die Augenbrauen hochzieht. »Der Boss verlangt Diskretion.« Mir sticht ein brünetter Mann ins Auge. Aus einer Gruppe von Leuten schlendert er mit seinem Glas Champagner herüber. Unsere Blicke treffen sich. Obwohl er lächelt, schleicht ein kalter Schauer über meinen Rücken. Wenn er vor uns stehenbleibt, bemerken auch meine beiden Aufpasser ihn und wenden sich um. »Wen haben wir denn da? Die beiden Turteltäubchen vom Dienst«, sagt er mit rauer, aber heller Stimme. Über seinen schmalen Augen heben sich die breiten, dunklen Augenbrauen. »Ich geb’ dir gleich Turteltäubchen!«, brüllt Elliot und macht einen harten Schritt auf den Neuankömmling zu. Adrian greif erneut nach seinem Arm, diesmal um ihn festzuhalten. Ein paar der umgebenden Gäste blicken zu uns und fangen mit tuscheln an. Der unbekannte Mann lacht herzhaft. »Köstlich. Ich mache doch nur Spaß, mein Verehrtester. Dass man dich aber auch immer so schnell auf die Palme bringen kann. Köstlich, einfach köstlich!« Er nippt an seinem Glas. Dann legen sich seine blauen, kalten Augen auf mich. »Und hier haben wir...? Ein neues Mitglied? Was musstest du tun, um jetzt schon hierher eingeladen zu werden?« »Das geht dicht nichts an Hektor«, meint Adrian mit gewohnt gelassener Mine. Aber ich kann erkennen, dass er die Nase rümpft. »Geh doch bitte die anderen mit deinem Charme belustigen, ja? Tust du uns den Gefallen?« »Verstehe. Jetzt weiß ich es.« Der abschätzige Blick dieses Hektors gleitet über uns. Dann nimmt er nochmal einen Schluck vom Champagner, bevor er sich mit einem Nicken löst und zu seinen vorherigen Gesprächspartnern zurückkehrt. »Wer war das?«, frage ich, wenn ich Hektor nachsehe. »Ich werde schauen, wo ich den Boss finde. Wartet hier«, entscheidet Adrian, ohne mir zu antworten, und verschwindet in der Menge. Ich stöhne genervt und schüttle den Kopf. »Und ich werde schauen, wo es Alkohol gibt, um mich zu betrinken. Warte hier. Und versuch erst gar nicht abzuhauen«, entscheidet als nächstes Elliot. Er lässt seine Hände in den Taschen verschwinden und stampft dann ebenfalls davon, Richtung Buffet.  Mein Mund öffnet sich vollkommen überrumpelt, aber heraus kommt nur ein schweres Seufzen. Ich lasse die Schultern hängen. Dafür spähe ich nach hinten zum Ausgang.   Egal, ob sie mich schon zwei mal eingefangen haben, wenn ich nicht versuchen würde, von hier wegzukommen, hätte ich aufgegeben. Deshalb bewege ich mich langsam rückwärts, einen Schritt nach dem anderen. Wenn ich mit meinem Kopf zur Musik zu nicken beginne, versuche ich so unauffällig wie möglich zu wirken. »Uff«, keuche ich, wenn plötzlich etwas in meinem Rücken auftaucht. Oder eher, wenn ich in jemanden hinlaufe, wie ich feststelle, wenn ich mich umdrehe.  »Wohin des Weges?«, fragt Hektor, der vor wenigen Sekunden noch mit uns gesprochen hat. Dann lächelte er freundlich. »Ich?« Meine Überrumpelung muss ich nicht spielen. Ich öffne meine Lippen, um sie gleich danach aufeinanderzupressen, weil ich keine Ahnung habe, was ich erwidern soll. Dann kommt mir eine Idee. Ich klatschte in die Hände und versuche mich an einem Lächeln. »Haha, ich hab’s mit der Blase. Gerade wollte ich zur Toilette.«  »Aber hier gehts nach draußen.« »Hahaha«, lache ich gezwungen, was sich wie das Fehlprogramm eines Roboters anhört. »Mit dem Orientierungssinn hab ich’s auch. Haha.« Das kauft der mir niemals ab, schießt es mir durch den Kopf. Adrian und Elliot tun mir nichts, aber das hier sind alles unbekannte Verbrecher… Boss hin oder her, die schrecken doch vor nichts zurück.  Hektor verengt die Augen, während er geduldig von seinem Glas trinkt. »Wir können Verräter gar nicht leiden, weißt du. Und gerade auf blutige Anfänger haben wir ein Auge. Sie kommen manchmal auf dumme Ideen.« »Ah…«, kommt es überfordert zwischen meinen Lippen hervor. »Haha, ja… Wie gut, dass heute Abend keine Verräter anwesend sind, nicht?« Mit einem Mal wird Hektors ganze Mimik dunkler. Seine Finger um das zarte Champagnerglas verkrampfen sich.  Ich reibe meine feuchten Hände aneinander. Dann probiere ich nochmal ein Lächeln aufzusetzen, bevor ich in eine unbestimmte Richtung deute. »Ach, äh… Tut mir wirklich leid, aber ich habe vergessen, dass mich, äh… der Boss schon sucht. Also…«, nutze ich einfach Victor aus, um mich ganz schnell zu verduften.  Obwohl dieses Argument wohl gezogen hat, spüre ich stechende Blicke in meinem Rücken, weshalb ich mich durch die Leute quetsche. Und irgendwann komme ich an einer Tür an, durch die ich einfach trete, um Abstand zu gewinnen. Ich sehe mich im schmalen Gang um, dessen Treppe nach oben führt. Vorsichtig laufe ich hoch und schiebe die Tür am oberen Ende auf. Dann weiten sich meine Augen. Ich muss das Deck erreicht haben. Ein metallisches Geländer umrundet das Schiff. Auf den glänzenden Holzdielen spiegelt sich der zunehmende Mond und der sternklare Himmel. Und wenn ich meinen Kopf nach rechts wende, streckt sich eine atemberaubende Skyline der Stadt am Ufer. Die Lichter der Wolkenkratzer vermischen sich mit denen der Autos und des Jahrmarktes. Sie malen Bilder in den Nachthimmel. Wie wunderschön, ist der einzige Gedanke, der im Moment in mir verharrt. Benommen trete ich gänzlich nach draußen, bevor ich mich langsam im Kreis drehe, um den Ausblick in mir aufzunehmen. Dann bleibt mein Blick an einer Person hängen. »Victor…«, hauche ich. Er dreht sich vom Geländer weg und sieht mich fragend an, wenn er mich erkennt. Mit kurzen Schritten gehe ich zu ihm. Seine Augen treffen auf meine. Sie fesseln mich, sodass ich nicht anders kann, als den Blickkontakt zu halten. Ich lehne mich ans Geländer. Victor tut es mir gleich. »Was machst du hier draußen? Du solltest doch bei deinen Gästen sein«, meine ich mit leiser Stimme. Irgendwie beschleunigt sich mein Puls. »Ich denke nach«, antwortet er. Der raue Klang schickt einen Schauer über meinen Rücken, wie bei Hektor. Und trotzdem ganz anders. »Worüber?« »Heute so wissbegierig?« Er lächelt leicht. Wieder kommt dieser Schauer, der meine Nackenhaare aufstellt. Mir wird bewusst, dass der Moment genauso abläuft, wie unsere erste Begegnung. Das schimmernde Wasser, die sternklare Nacht, dieses unbekannte Klopfen meines Herzens… Ich beiße auf meine Lippe, wende mich ab und sehe lieber zur Skyline. »Du scheinst alles zu besitzen. Sogar dieser unglaubliche Anblick gehört dir.« Victor raunt: »Von allem und jedem den ich besitze, ist nur das Beste und Schönste dabei.« Meine Gedanken beginnen zu rasen. Dann kann ich kein Schmunzeln verkneifen. »War das jetzt ein abgedrehtes Kompliment?« »Kommt darauf an, ob du mir gehörst.« Victors grüne Augen liegen unnachgiebig auf mir. Er will mich unter Druck setzen. Gerade so viel, damit ich seinen Wünschen entspreche. Er will mich besitzen. Er muss es. »Nein, ich gehöre ganz allein mir«, lässt meine Antwort nicht lange auf sich warten. Obwohl Victor sich über die Lippen leckt und seine Augen zu glitzern beginnen, wirkt es auf mich, als würde er sich zwingen, nicht aus dem Schema auszubrechen – nicht nachzugeben, nicht weiterzumachen, mit den Neckereien. »Bist du endlich zu einem Entschluss gekommen?«, fragt er stattdessen kalt und dreht sich zum Geländer. Ich atme tief durch. Dann beginne ich erneut an meiner Krawatte zu morkeln, bis ich endlich den Knoten aufbekomme. Ich schmiss das lästige Stück Stoff auf eine freie Liege hinter mir. Gleich darauf öffnet ich auch die Knöpfe meines Jacketts. Ich unterdrücke ein Knurren, woher es auch kommen mag. »Die Meisten gingen liebevoller mit den teuren Sachen um, die ich ihnen schenkte«, kommentiert Victor mein bockiges Verhalten. »Tja, die zehntausend Dollar kannst du jetzt einer Hilfsorganisation spenden. Dann darfst du dir auch mal eine gute Tat auf dein Konto verbuchen. «, sage ich schrill. »Du hast nichts ausgegeben?« »200 Dollar für mein Handy, das deine Schläger zerstört haben. Ansonsten nicht, nein«, antworte ich und wage, Victor wieder in die Augen zu sehen. Aber anstatt Wut darin zu finden, kann ich nicht deuten, was in ihnen vorging. Etwas ruhiger meine ich nachträglich. »Du kannst meinen Körper nicht kaufen. Wir kennen uns nicht. Vielleicht hast du ein paar Informationen über mich sammeln lassen, aber was weißt du schon über mich als Persönlichkeit?« Ich sehe, wie sich sein Mund leicht öffnet. Bestimmt will er sowas sagen, wie, dass ich ihm eh gehöre und nicht selbst entscheiden kann, was mit mir passiert. Doch tatsächlich meint er: »Dann erzähle mir etwas über dich.« Einen Moment blinzle ich verwundert, habe ich doch nicht mit so einer ganz normalen Erwiderung gerechnet. »Was denn genau?«, frage ich, obwohl ich mich innerlich frage, warum ich mich darauf überhaupt einlasse. Victor schnalzt mit der Zunge. Seine Augen suchen das Wasser ab. Das ist nichts für ihn, das spüre ich. Aber er reißt sich wohl zusammen. »Du lebst alleine in einer Zweizimmerwohnung. Das Haus ist sanierungsbedürftig, die Nachbarschaft auf staatliche Hilfe angewiesen. Und die Arbeit als Reinigungskraft bringt nicht viel Geld. Wie ist es soweit gekommen?« Er nimmt kein Blatt vor den Mund, schießt es mir durch den Kopf, bevor ich seufze. Ich verschränke die Arme auf dem Geländer, um mein Kinn abzulegen. »Heute noch?«, drängt Victor. Ich schüttele verständnislos den Kopf. »Wenn du etwas von jemandem möchtest, dann musste du höflich und geduldig sein.« »Na schön, und wie lange?« »So lange ich eben brauche!«, knurre ich. Wenn Victor die Augen verdreht, beiße ich mir auf die Lippe. Anscheinend bekommt dieser Mann nicht nur was auch immer er will.  sondern auch sofort, wenn er mit dem Finger schnippt.  Doch diesmal wartet er, starrt zu den sanften Wellen. Und ich lasse ihn warten, länger als nötig. Mit jeder Minute, die verstreicht, muss ich mich stärker davon abhalten, zu lachen. Wie geduldig er sein kann, wenn er doch will, denke ich nach, wenn zehn Minuten vergangen sind, in denen ich Victor einfach habe zappeln lassen. Ich mustere ihn heimlich von der Seite, seine große Statur, das kantige Gesicht. So einattraktiver Mann… Warum muss er ausgerechnet ein Verbrecher sein? Kann er nicht der süße Kollege aus dem Büro sein? Dann würde ich… Plötzlich bebt das gesamte Schiff. Erschrocken taumele ich einen Schritt nach hinten. Ich kneife die Augen zusammen, will mich am Geländer festhalten. Doch die Bewegung reißt mich zurück und ehe ich mich versehe… fängt mich etwas Weiches ab. Blinzelnd schlage ich die Lider auf, sehe hoch in Victors grüne Augen. Seine Hände stützen mich an meinen Schultern, sodass ich nicht nach hinten kippe. »Das Schiff hat abgelegt«, erklärt Victor mit dunkler Stimme. Die Wärme seines Körpers hinter mir spüre ich selbst durch den dicken Stoff meines Jacketts. Gänsehaut überkommt mich. Auf einmal wird mir bewusst, wie peinlich ich gerade aussehen muss. Also reiße ich mich von meiner perplexen Starre los, trete wieder ans Geländer und drehe mein Gesicht soweit zur Seite, dass Victor nicht erkennen kann, wie knallrot ich werde. »Wo waren wir stehengeblieben?«, frage ich mit hoher Stimme, die eigentlich gefasst klingen sollte. Ich räuspere mich. »Dass du mich seit zehn Minuten ignorierst«, sagt Victor, kommt ebenfalls wieder heran. Damit er mich auch ja nicht erkennen kann, hebe ich jetzt meine Hand zum Gesicht, auf die ich mich stütze. »Achso ja«, meine ich, räuspere mich abermals. Das Schiff bewegt sich vom Steg und fährt langsam auf das offene Meer zu. Um mich von der Scham abzulenken, beginne ich endlich zu erzählen. »Es, naja… Es fing alles damit an, dass ich von zu Hause abgehauen bin. Meine Eltern und ich hatten kein schlechtes Verhältnis, aber auch kein inniges. Man sagte sich halt morgen und aß zusammen, aber wir gingen nicht zusammen raus oder feierten irgendwie groß mit der Familie. Bis dahin war auch alles eigentlich in Ordnung, aber meine Eltern liebten sich nicht mehr. Sie ließen sich scheiden. Für mich war das eine schlimme Zeit. Ich habe nicht verstanden, warum sie sich auf einmal den ganzen Tag nur anbrüllten. So viele Vasen habe ich noch nie zu Bruch gehen sehen. Sie hassten sich förmlich und gingen sich richtig an die Gurgel. Das habe ich nicht mehr ausgehalten. Also bin ich weg da.« Warum erzähle ich ihm das?, denke ich nach, kralle mich in das kalte Geländer. Der Wind wurde kälter, je mehr wir aufs offene Meer steuern. Bestimmt interessiert ihn das eh nicht. Mit seinen Milliarden von Dollar geht ihm das so am Arsch vorbei. Ich bin ein Idiot…  »Willst du mich weitere zehn Minuten warten lassen, bis du weitererzählst?« Victor zieht die Augenbrauen abschätzig nach oben. Verblüfft, dass mir dieser Mafia-Boss anscheinend doch zugehört hat, schüttelte ich den Kopf und meine: »Es gab da diesen Freund. Der hatte eine Bar und meinte, dass es echt mega geil wäre, die Schule zu schmeißen und bei ihm zu jobben. Also hab ich’s gemacht. Da war ich gerade sechzehn. Das hielt kein halbes Jahr. Dann hatte er sich entschieden, dass ich ihm zu langsam arbeite und schmiss mich raus. Und da stand ich, mit nichts, außer den Sachen am Körper, ohne Unterkunft, ohne Familie, ohne Freunde… Zurück zu meinen Eltern konnte ich nicht, dazu hatte ich nicht den Mut und wo anders arbeiten ging genauso wenig. Denn dann wären nur die Ämter aufmerksam geworden und hätten mich zurück zu meinen Eltern gebracht. Also schlief ich nachts in verlassenen Badehäusern, tagsüber hielt ich mich in Büchereien auf, weil das schön warm war, und zwischendurch versuchte ich mir ein wenig Essen von den Leuten zu schnurren. Mehr als ein Jahr war ich obdachlos. Irgendwann lies mich Courtney auf. Sie ließ mich eine Zeit lang bei ihr wohnen und verschaffte mir Arbeit im Hotel. Tja und da wären wir dann…« Ich drehe mich zu Victor. Er sieht mich direkt an, sodass ich schlucken muss. Auf einmal löst er sich vom Geländer und tritt näher zu mir, sodass er plötzlich vor mir steht. Er lehnt sich vor, stützt die Arme neben meinen Körper ab und beugt sich herunter.  Ich stutze. Mit einem Mal fängt mein Herz wieder zu rasen er. Victors bittereres Parfüm kann ich jetzt riechen. Seine Wärme kann ich jetzt noch stärker wahrnehmen, weil er mich fast mit den Beinen berührt. »Ich will dich küssen«, raunt er dunkel. Seine Augen verengen sich. Seine starke Brust hebt und senkt sich intensiver. »Weil dich anmacht, wie schlecht es mir ging?«, frage ich zynisch und verziehe den Mund angewidert. »Weil es mich kochend vor Wut macht, dass so etwas Kostbares wie du nicht auf Seidentüchern getragen wurde.« Kurz lasse ich meine Deckung außer Acht, lasse meine Augen zu großen, runden Murmeln werden und meine Schultern sich entspannen. Aber dann wird mir bewusst, dass Victor sich nicht um mich als Person sorgt, sondern um irgendeinen geldlichen Wert. »Für dich bin ich lediglich ein Objekt, leblos, zum Spielen da.« Victor kommt noch näher. Beinahe berühren sich unsere Lippen. Meine Hände schwitzen. Obwohl der kalte Zug an meine Haut schlägt, ist mir unsagbar heiß. Mein Herz rast schneller und schneller. »Ich werde dir zeigen, dass du kein Objekt bist, indem ich dich etwas fühlen lasse, das nur lebendige Wesen fühlen können«, raunt Victor dunkel, sexy. Mein zuckender Körper schreit danach zu erfahren, wie er das anstellen würde. Mein Verstand kommt kaum mehr dagegen an. Plötzlich überwindet Victor den letzten Abstand zwischen uns und küsst mich. Meine Arme schnellen hoch, krallen sich in sein Jackett. Flattrig schließen sich meine Augen. Das Herz scheint mir aus der Brust zu springen. Ich verstehe nicht, was gerade passiert, spüre nur die rauen, aber weichen Lippen auf meinen.  Das fühlt sich neu an. Es kribbelt überall in mir. Das fühlt sich so unfassbar aufregend an. Victor löst sich von mir. Ich stöhne sofort, nachdem ich wieder Luft bekomme. Unser Kuss hat Ewig gewährt, kommt es mir vor. Aber jetzt sehe ich wie in Zeitlupe in Victors glasige Augen. »Kein Objekt«, stellt Victor mit einem siegreichen Lächeln fest. Meine Finger krallen sich weiterhin in sein Jackett und ich versuche einen klaren Gedanken zu fassen. Aber alles in mir schreit und kreischt. Ich bin so verwirrt. »Du siehst aus, als wäre das der beste Kuss gewesen, den du jemals gehabt hast«, stellt Victor fest und streichelt sanft mit dem Handrücken über meine Wange. Meine Lippe zittert. Ganz leise wispere ich: »Das war mein allererster Kuss…« Kapitel 7 --------- »Dein allererster…?«, beginnt Victor. Seine Augenbrauen wandern in die Höhe und meine Wangen nehmen Farbe an. »Dann hast du auch noch nie mit jemandem geschlafen?« Ich kann den Blick nicht mehr aufrecht halten. Er muss mich für unreif halten, für einen Spätzünder, oder vielleicht prüde, schießt es mir durch den Kopf. Plötzlich greifen mich Victors starke Arme an den Schultern, drücken mich weiter gegen das Geländer. Ich sehe überrascht auf und schlucke hart. Victors Hände gleiten meine Arme hinab, hinterlassen durch das Hemd eine Gänsehaut. Er drängt mich immer mehr zurück, sodass ich befürchte, bald ins Wasser zu fallen. Gleichzeitig rast mein Herz wieder von Neuem. So oft tut es das in letzter Zeit. Victors Lippen näheren sich. Ich spüre seinen Atem auf meiner Haut, schließe die Augen. Dann raunt er mir dunkel ins Ohr: »Du denkst doch nicht, dass ich dich jetzt jemals wieder gehenlassen könnte?« Obwohl sich meine Hände gegen Victors Brust stemmen, kann ich keine Kraft aufbringen, ihn von mir zu stoßen. Victors Lippen berühren mein Ohr, bewegen sich nach unten. Es kitzelt anfangs, aber bald wandelt es sich in ein aufregendes Kribbeln, das die Gänsehaut auf meine Arme treibt. Unwillkürlich lege ich den Kopf zur Seite. Victor nutzt das aus. Er küsst sich hinunter zu meinem Hals. Seine Lippen ziehen an der feinen Haut, seine Zähne  reißen sanft daran. Ich muss seufzen. »Unberührt, ohne Erfahrung, ganz allein für mich. Oh, du hättest das nicht sagen dürfen, wenn du wirklich gehen wolltest«, flüstert Victor heiser. »D-Du findest das gut?«, frage ich. Meine Stimme bricht beinahe ab, mein Körper wird heiß und es zieht überall, besonders in meinem Schritt. Victor machte mich jetzt schon seit zwei Tagen immer wieder heiß. Erst beim Ausziehen, dann in seinem Esszimmer und jetzt das hier… Ich kann nicht verhindern, dass ich jetzt schon erregt werde. Wie sollte ich? Mein Körper fordert ein, was ihm gezeigt und dann verweigert wurde… Victor richtet sich auf. Mit glasigen Augen fängt er meinen Blick ein. »Du weißt anscheinend nichts von deinem Wert.« »Schon wieder behandelst du mich wie ein Objekt.« »Nein«, kommt es leise aber bestimmend von Victor. Wenn er seine Hand ausstreckt und an meine Wange legt kann ich nicht anders, als mich an sie zu schmiegen. »Deine perfekte Haut, die roten Lippen, deine scheuen Augen, die mich nach mehr anflehen… und das Wissen, dass ich der Erste sein werde, der all das besitzt…« Bevor ich ihm widersprechen kann, küsst er mich auch schon, sodass ich leise stöhne und meine Augen um ein weiteres Mal schließe. Diesmal bleibt es nicht lange ruhig. Victors Zunge beginnt über meine Lippen zu lecken, drängt sich dazwischen. Kraftlos lasse ich es zu, dass er sich in mich vordrängt und beginnt alles zu erkunden.  Ich kralle mich in Victors Jackett, während sein Knie nach vorne rutscht, direkt in meinen Schritt. Nur kurz löse ich mich, um zu keuchen, aber Victor lässt mir keine Zeit, fängt mich wieder ein und küsst mich. Was soll ich tun…? Ich kann kaum mehr denken…, kreisen meine wenigen Gedanken, die übrig bleiben. Ich nehme meine letzte Kraft zusammen, drücke Victor von mir und versuche dann zu Atem zu kommen. »B-Bitte nicht weiter, bitte…« »Du kannst nicht lügen«, sagt Victor, nimmt mein Kinn in seine Hand und hebt es an, sodass ich ihm meine feuchten, verschwommenen Augen zeigen muss. »Warum soll ich aufhören?« Meine Finger lösen sich vom Jackett, schließen sich zittrig um Victors Hand. Dann hauche ich schwach: »Weil ich mich sonst nicht beherrschen kann…« Ein böses Lächeln huscht über Victors Gesicht. Er wird mich nicht gehenlassen. Mein eigener Körper wird mich nicht gehenlassen, weil er um den Finger gewickelt wurde. »Dann lass los«, raunt Victor. Seine Hand fährt nach unten, über meine Brust, immer tiefer und tiefer. Obwohl ich doch weiß, wohin er will, keuche ich erschrocken, wenn er über die leichte Beule in meiner Hose fährt. »Ich könnte dir die Welt zu Füßen legen. Lass einfach nur los.« »I-Ich will k-kein Geld…«, versuche ich meine Stimme irgendwie beisammen zu halten. Meine Gedanken liegen weit unten.  »Was willst du dann?« Ich will dich spüren, beantworte ich Victors Frage in Gedanken. Als ich den Blick auf seine intensive Augen richte, muss ich schlucken. Ich will dich auf mir spüren, ich will deine Hände über meinen Körper streicheln spüren… die Gänsehaut, das Kribbeln, die Lust. »N-Na schön…« Ein letztes Mal lasse ich meine Finger zu Victors Jackett gleiten. Sie streichen über den feinen Stoff. Meine Wangen glühen jetzt wie unter Strom. »Dann lass es uns tun, aber… nicht jetzt sofort. Nicht hier. Nicht bei all den Leuten. Ich will mein erstes Mal in Ruhe erleben und… ganz allein.« Ich beobachte, wie sich die Informationen in Victors Kopf schleichen. Seine Augen beginnen zu glühen und seine Brust hebt sich unter tiefen Atemzügen. Er küsst mich noch einmal. Dann meint er: »Alles was du willst.« Ich nicke betäubt. »A-Also gehen wir jetzt zurück, oder…?« »Ja«, sagt Victor, küsst mich zum Abschluss noch einmal und läuft dann zu der Liege, auf der ich meine Sachen geschmissen habe. Er sammelt sie auf, dann kommt er zurück und reicht sie mir. »Danke« Ich werfe mir unordentlich das Jackett über die Schultern, aber knöpfe es nicht zu. Die Krawatte verschwindet schnell in der Tasche. Meine Bewegungen sind fahrig und schnell, ich kann mich noch nicht konzentrieren. Victor, der schon zur Treppe gelaufen ist, deutet mir an, ihm zu folgen, was ich nach kurzem Zögern auch tue. Ich frage mich, ob man etwas an meiner Hose sehen kann, wenn wir zu den Gästen gehen. Doch so sehr ich mir wünsche, dass diese zerrende Anspannung abklingt, immer wenn ich zu Victors schelmischen Grinsen sehe, strömt erneut das Blut durch meinen Körper. Er verheimlicht nicht, dass er kaum abwarten kann, bis diese Feier zu Ende ist. »Ich lasse die Yacht auch drehen und wieder zurückfahren«, raunt er mir in den Nacken, wenn wir an der Tür zu dem Raum mit den Gästen ankommen. »Du kannst sie doch nicht alle wegschicken.« Als ich zu der Türklinke greifen will, spüre ich Victor an meinem Rücken und seine Hand, die sich auf meine legt. Ich atme zittrig durch, wenn er dunkel meint: »Und was ich alles kann.« »S-Sie werden enttäuscht sein«, sage ich. In meinem Kopf rasen die Gedanken: Wieder so nah! Wie soll ich mich da beruhigen, verdammt! »Und wenn?« »Sie werden sauer auf dich sein…« »Das soll sich einer trauen.« Ich drehe mich um und presse die Lippen sogleich aufeinander, als ich feststelle, dass das keine gute Idee war. Auf einmal kann ich nur noch daran denken, was später passieren würde – erstrecht, wenn ich Victor ansehe. »Du lässt auch niemals locker, oder?« »Und du weißt nie, wen du vor dir hast. Du weißt nicht, in welche Gefahr du dich mit jedem deiner vorlauten Worte begibst.« »Bisher scheinen sie dir aber zu gefallen, meine vorlauten Worte«, kontere ich, was Victors Züge für einen Moment zucken lässt. Aber er scheint sich daran zu erinnern, dass er endlich erreicht hat, was er wollte. Deshalb leckt er sich nur über die Lippen und deutet mir an, weiterzugehen. Hinter der Tür begrüßt uns die elegante Jazz Musik und die Menge an Menschen, die sich in den Raum gequetscht hat. Ich muss nahe an Victor gehen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Ich weiß gar nicht, was wir jetzt machen. Mann, ich kann einfach nicht mehr denken!, schießt es mir durch den Kopf, wenn wir das Buffet ansteuern. Meine Beine gleichen Wackelpudding. Mit jedem Schritt, den ich mache, glaube ich vor Aufregung umzukippen. »Sir!« Verwirrt sehe ich zu dem Körper, der sich durch zwei Frauen drängelt, die sich laut darüber beschweren, dass sie fast das Getränk ausgekippt hätten. Wenn er vor Victor stehenbleibt, erkenne ich, dass es Adrian ist, gefolgt von Elliot. Schweiß tropft von seiner Stirn, die Haare sind ganz zerzaust und er ist völlig außer Atem. »Was ist passiert?«, spricht Victor die Frage aus, die auch mir im Kopf schwirrt. »Wir können uns nur in allen Maßen entschuldigen, Sir.  Mr Carter, er ist…«, beginnt Adrian, stoppt allerdings, wenn ich ganz unschuldig hinter Victor hervorspähe. Seine Augen weiten sich und auch Elliots Mund klappt auf. »…er ist bei Ihnen…«, beendet Adrian monoton seinen Satz, ehe er die Augen schließt und tief durchatmet. Mit einem Mal wird mir klar, dass niemand gewusst haben konnte, wo ich gerade gewesen bin. Im Umkehrschluss mussten Adrian und Elliot die letzten fünfzehn Minuten damit verbracht haben, mich kreuz und quer zu suchen – ziemlich energisch, wenn ich nach dem erschöpften Keuchen und der zerknitterten Kleidung ging. Und wohl ebenso ernüchternd, dem mörderischen Funkeln in Elliots Augen zufolge, die mich erdolchen wollen. Ich versuche nicht mein amüsiertes Schmunzeln zu verbergen, was Elliot die Zähne mahlen lässt. Doch Victor ist bei mir. Ich sitze am längeren Hebel. Irgendwie. Wenn Victors verengte Augen über seine Untergebenen fliegen, merke ich das nervöse Zusammenzucken der Beiden. Selbst der sonst so gefasste Adrian schluckt schwer, wenn ihr Boss raunt: »Das werde ich jetzt ausnahmsweise mal vergessen, weil ich in guter Stimmung bin. Aber vielleicht sollte ich meine Leute mal wieder auf ihren Platz verweisen…« Adrian richtet sich auf, auch wenn sein Blick gesenkt ist. Er räuspert sich. »Bitte verzeihen Sie die Störung, Sir. Das wird nicht wieder vorkommen.« Victor schüttelt den Kopf. Dann ignoriert er seine durchgeschwitzten Untergebenen und geht weiter, weshalb ich ihm, nach einem Schulterzucken zu meinen beiden Entführern, folge. Wir halten vor dem Buffet, auf das Victor deutet. »Nimm dir zu essen. Ich werde gleich in eine Besprechung gehen. Die Yacht fährt zwei Stunden in der Bucht, bevor wir wieder anlegen.« »Zählst du schon die Sekunden?«, scherze ich und gähne gespielt herzhaft. »Wer weiß, vielleicht bin ich in zwei Stunden ja zu müde…« Plötzlich werde ich von Victor an die Wand gedrängt. Er packt grob mein Kinn und hebt es an. In seinem Blick liegt Gier. Er droht mir: »Treibe dein Spiel nicht zu weit.« Ich schlucke hart. Mich überkommt abermals Gänsehaut, diesmal allerdings nicht aus Lust. Er ist eben immer noch eine Verbrecher… Bei diesen verführerischen Worten, hätte ich beinahe vergessen, wie gefährlich er ist– wie unberechenbar. »Ich werde zur Toilette gehen.« Als ich mich abwende, blicke ich einmal über die Schulter zu Victor, der mich schweigend mustert, dann drängele ich mich durch die Menge. Leider sehe ich mich mit einem Problem konfrontiert: Schon bei meiner Begegnung mit Hektor hatte ich keinen blassen Schimmer, wo die Toiletten liegen. Deshalb irre ich mal nach Gefühl den Gang an der rechten Seite des Raumes entlang. Tatsächlich finde ich eine Tür, die mit WCbeschriftet ist. Doch gerade als ich eintreten will, halte ich an, weil im Inneren zwei unbekannte Männer stehen und sich miteinander unterhalten. Ich luge durch den Spalt. »…zum Narren hält. Ist auch egal. Wie viel bekommst du dafür?«, fragt der Mann mit Glatze. Er nimmt ein Tuch entgegen und wickelt es auf. Ich halte erschrocken die Luft an, wenn es eine Pistole ist, die zum Vorschein kommt. »Schon gut. Die anderen warten auf uns. Erzähle es ihnen aber nicht, sonst wollen sie auch noch eine. Wir sollten übrigens demnächst wieder Bericht erstatten, sonst denkt man noch, wir haben die Seiten gewechselt«, sagt der andere Mann mit der roten Krawatte. Er betrachtet sich im Spiegel, um die Schmalzlocke richten zu können. I-Ist das normal unter Kriminellen…?, schießt es mir durch den Kopf. Meine Hände verkrampfen an der Tür. Eine echte Waffe habe ich noch nie gesehen. Ob die geladen ist? Hat jeder von denen hier am Bord sowas bei sich? Vielleicht sollte ich zurück zu Victor. »Und Blair, wie geht es ihr? Leidet sie unter den Verletzungen? Vielleicht hat man sie für die nächste Zeit aus dem Dienst genommen«, hakt der glatzköpfige Mann nach und lässt die Pistole in seiner Tasche verschwinden. »Ach was.« Sein Gegenüber schnalzt mit der Zunge. »Sie gehört zur Elite. So eine schmale Verletzung am Bauch haut sie nicht um. Ich habe gehört, sie soll den Boss sogar am Arm getroffen haben.« Sie reden über Victor, aber ich verstehe den Zusammenhang nicht, denke ich nach.  Ich zucke zusammen. Die beiden Männer machen machen und kommen aus dem Raum. Eilig richte ich mich auf und sehe zu Boden, wenn sie an mir vorbeikommen, nur einen abschätzigen Blick zu mir werfen und dann den Gang hinter mir entlanggehen. Heimlich schaue ich, in welchen Raum sie einbiegen, dann reiße ich mich seufzend von der Toilette los und schleiche neugierig hinterher. Was tue ich bloß?, rasen meine Gedanken, als ich mich erneut vor einem Spalt wiederfinde, nur dass ich jetzt in einen Raum mit einem Tisch, mehreren Stühlen und einem Bildschirm sehe. Drei Frauen und die Beiden von eben versammeln sich um den Tisch. Dann breitet der glatzköpfige Mann ein paar Zettel aus. »Nächste Woche ist ein neues Hoch bei den Aktien angesagt. Der Boss wird wohl in den Büros nachsehen«, erklärt eine der Frauen. »Haben wir genaue Berichte zu seinem Haus?«, fragt eine andere und nippt am Sektglas. »Ich konnte aus diesem Adrian, oder wie der heißt, nichts rausbekomme. Der ist richtig darauf getrimmt, nichts auszuplaudern«, meint der glatzköpfige Mann. Irgendwas in mir sagt, dass es besser wäre, jetzt einfach zurück zu Victor zu gehen. Eine andere Seite will wissen, worüber genau diese zwielichtigen Leute sprechen. Für meine unschuldigen Ohren klingt das sehr verdächtig. Warum wollten sie Adrian aushorchen und weshalb brauchen sie Informationen über Victors Haus? »Neben Adrian ist da noch Elliot. Sie bewachen den Boss persönlich. Wenn Victor in den Büros ist, werden sie wohl bei seinem Haus bleiben.« »Übrigens… Soll der Typ sich nicht ein neues Spielzeug angelacht haben?« »Der kleine Knirps? Kein Problem.« »Das Wichtigste: Ist Mr Carlos damit einverstanden? Haben wir grünes Licht?« »Alle außer Blair haben immer rotesLicht«, gluckst der glatzköpfige Mann. Dem Schluckauf zufolge ist er angetrunken. »Wenn wir das durchziehen, wird man uns belohnen. Der alte Carlos kann nicht anders, als uns Führungspositionen zu geben, wenn wir Victor Lassini getötet haben.« Ich schlage mir die Hände vor den Mund, um nicht erschrocken zu keuchen. Meine Augen sind aufgerissen, trotzdem sehe ich den Besteckwagen nicht, als ich einige Schritte nach hinten taumele. Wenn ich mit der Hüfte dagegenstoße und das Geschirr darauf zu klimpern beginnt, rutscht mir das Herz in die Hose. Scheiße, die wollen Victor umlegen… Die machen kurzen Prozess mit mir!, rast es durch meinen Kopf. Bevor ich die Situation realisieren kann, haste ich auch schon den Gang entlang, zurück zum Hauptraum. Hinter mir ertönen harte Schritte, sodass ich mit rennen beginne.  Angekommen reiße ich die Tür auf und stolpere hinein. Die Jazz Musik höre ich nicht, die Stimmen der Menschen auch nicht. Das Blut rauscht jetzt in meinen Ohren. »Victor?«, hauche ich schwach. Ich muss ihn finden – bevor diese Leute mich finden, wer auch immer sie sind. »Victor?« Ich dränge mich durch die Leute. Als ich nach hinten blicke, kann ich erkennen, wie die Tür zum Gang geöffnet wird. Das müssen diese komischen Leute sein, die Victor umbringen wollen. Also quetsche ich mich durch eine Gruppe von Gästen, die aufgebracht fluchen. Dann durch die zwei Damen, die vorhin schon beinahe ihre Getränke verschüttet hätte. Schließlich halte ich am Buffet, wo Victor zuletzt gewesen ist. »Victor! Adrian! Elliot!«, rufe ich verzweifelt durch den Raum. Ich drehe mich bestimmt dreimal um mich selbst, aber nirgendwo sehe ich einen der drei. Sie hören mich nicht. Wo sind sie, verdammt nochmal! Was geht hier nur vor sich? Soll ich jemand anderes um Hilfe bitten? Aber wer weiß schon, wer noch zu denen gehört? Werde ich jetzt doch sterben? Soll Elliot recht behalten? Scheiße… »Du sieht aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen. Vorhin waren erst unsere beiden Turteltäubchen durchnässt und jetzt läuft dir der Schweiß von der Stirn.« Wie eine Katze springe ich alarmiert zurück. Doch der ängstliche Schrei blieb mir in der Kehle stecken, wenn ich erkenne, dass dieser Hektor vor mir steht. Er legt den Kopf schief, nippt an seinem Glas und zieht die Augenbrauen zusammen. »Da sind…« »Hm? Nuschel nicht so.« »S-Sie wollen Victor, also den Boss… Ich meine sie wollen ihn einfach…«, versuche ich einen Satz zusammenzustammeln, in der Hoffnung diesem Mann vertrauen zu können. Immerhin arbeitet er mit Adrian und Elliot zusammen, nicht? Etwas regt sich in Hektors Augen. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich sehe eine Mischung aus Angst und Erkenntnis. Dann verengt er die Augen zu Schlitzen: »Also wirklich, du solltest weniger trinken.« »Was? Ich bin nicht betrunken! Da sind Leute, sie…« »Natürlich sind da Leute. Das ist eine Feier«, erklärt Hektor und nimmt einen großen Schluck vom Glas. Dann wendet er sich ab und macht eine verabschiedende Geste. »Bitte warten Sie!«, flehe ich, will ihm hinterher. Allerdings verschwimmt er mit der Masse. »Sie müssen mir helfen! Die wollen…« Wird mir keiner glauben, wenn ich jemanden anspreche?, rasen meine Gedanken, als Hektor außer Reichweite ist. Doch ich habe keine Zeit. Diese ominösen Leute jagen mir hinterher, sodass ich gezwungen bin, weiterzulaufen. Weil mir nichts anderes übrige bleibt, renne ich die Treppen zum Deck hinauf, auf dem ich zuvor mit Victor gestanden hatte. Doch gerade als ich hoffe, sie abgehängt sie haben, muss ich mit geweiteten Augen den glatzköpfigen Mann am Geländer erkennen, der eigentlich hinter mir sein müsste… »Wie ist das möglich…?«, hauche ich schwach und will mich umdrehen, um wieder wegzulaufen, allerdings betreten jetzt seine Kumpanen das Deck und sperren mir somit den Weg ab.  Langsamen Schrittes taumele ich rückwärts, lasse dabei meinen Kopf von einer Seite zur anderen schnellen, wodurch ich feststelle, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Ich sitze in der Falle. »Bist ganz schön schnell, Kleiner«, lacht der Glatzköpfige, was einen Schauer über meinen Rücken schickt.  »Was wollen Sie von mir?« Ich versuche meine Stimme so gefasst wie möglich klingen zu lassen. »Du brauchst nicht so zu tun, als hättest du nichts mitbekommen«, erklärt er ruhig. Er gibt er den anderen ein Zeichen mit der Hand und ich werde an der Schulter gepackt. Kaum, dass ich realisiere, was gerade passiert, wird mir auch schon der Arm auf den Rücken verdreht. Ich keuche schmerzerfüllt auf. Dann werde ich zu dem Mann ans Geländer gebracht, der abschätzig auf mich herabsieht. »Besorgt etwas Schweres. Unser Freund hier wird einen kleinen Tauchgang bestreiten.«           Weihnachts-Bonus-Szene   »M-Muss ich das denn wirklich tragen…?« Victor sitzt auf dem großen, dunklen Sessel seines Arbeitszimmers und sieht, mit seinen zu Schlitzen gezogenen Augen, zu mir herab. Seine Hände ruhen auf den Armlehnen, die Finger streichen über das kalte, großporige Material.  »V-Victor…«, versuche ich erneut, weil er mir nicht antwortet. Dabei rutsche ich auf den nackten Knien weiter vor. Sie schubbeln auf dem Mamor. An meinen Beinen bildet sich Gänsehaut. Es ist kalt im Raum – Victors Blick reicht dazu. Meine Kleidung ist auch viel zu wenig. Lediglich dieses rote Kostüm, das bis zu meinen Hüften reicht, gestand er mir zu.  »Unartige Jungs müssen bestraft werden…«, zischt Victor zwischen zusammengebissenen Zähnen. Inzwischen komme ich bei ihm an, lasse meine Hand an sein Bein nach oben gleiten, bis sie auf seinem Knie ruht. »Ich weiß nich, ob ich das mag, Victor«, hauche ich, obwohl mir entgegen meiner Worte heiß wird. Mein Herz klopft laut und meine Wangen brennen förmlich. »Deine Liste mit unartigen Dingen ist gut gefüllt. Denkst du, so wird dein Wunsch erfüllt?« Victor beugt sich zu mir herunter. Ich kneife die Augen zusammen, wenn seine Hand sich unsanft um mein Kinn legt und mich zu ihm hochzieht, sodass ich mich auf seinem Schoß abstützen muss. Es ist nur mein Gesicht, dass er berührt, aber meine Haut brennt. »I-Ich wollte nicht unartig sein, Victor…« »Diese Einsicht kommt zu spät, heute ist Weihnachten. Und ich glaube dir nicht, wenn du das mit roten Wangen und bebendem Körper sagst. Magst du es vor mir zu knien? Das nenne ich mal unartig.« »V-Victor…« Meine Stimme und mein Körper zittern tatsächlich. Als ich meine Augen öffne, treffen sie direkt auf Victors Blick, weil er mein Gesicht unnachgiebig in seiner starken Hand hält. »Wie willst du deine unartigen Taten jetzt wiedergutmachen? Oder gefällt es dir sogar ein böser Junge zu sein? Willst du etwa dafür bestraft werden?« »D-Das ist nicht wahr…«, hauche ich wenig überzeugend. Ich bin selbst nicht mehr davon überzeugt. Mein Kopf dreht sich. Ich kann kaum mehr denken. Victor kommt näher, doch bevor wir uns küssen können, stoppt er hinterlistig und haucht gegen meine Lippen: »Dann zeig Santa mal, wie leid es dir tut.« Kapitel 8 --------- »Ihr macht einen großen Fehler«, raune ich, richte meinen Blick starr auf den glatzköpfigen Mann, der sich ans Geländer klammert, um nicht von seinem Alkoholrausch umzukippen. »Ich weiß wer du bist.« Er schwankt ein paar Schritte näher. Mit seiner rauen Hand packt er mein Kinn. »Die Gerüchte brodeln wie ein ausbrechender Vulkan. Du bist sein neues Spielzeug, nicht? Wie viel hat er dir geboten, damit er dich ficken kann?« Ich ziehe den Speichel hoch und spucke dem Typen mitten ins Gesicht. Seine Züge zucken gefährlich und er verzieht den Mund. Mit dem Handrücken wischt er sich meinen Sabber von der Wange, dann verengen sich seine Augen zu Schlitzen. Er verpasst mir eine kräftige Ohrfeige, sodass mein Kopf zur Seite fliegt. Gleich darauf wird mein Kinn erneut gepackt. Ich muss mein Blick wieder auf ihn richten. Wir stehen uns in nichts nach, was das böse Anstarren angeht. »Sag mir, wie das ist… alles zu haben und zu wissen, dass man es nur verlieren kann.« »Keine Ahnung wer ihr seid, aber Victor wird nicht zulassen, dass auf seiner Yacht Unruhe gestiftet wird.« Der Mann lacht amüsiert auf. »Ein Bengel, der den Boss nicht mal zwei Tage kennt, will mich belehren? Du bist einer von vielen. Wenn er dich satt hat, ist nicht nur der Luxus, den er dir bietet weg, dann hast du dein Leben verwirkt. Denkst du, er kommt und rettet dich?« Ein belustigtes Raunen geht durch die Leute hinter mir. Ich schnaufe verächtlich, dann richte ich mich in dem festen Griff, der meine Arme hinter dem Rücken hält, auf. »Vielleicht hast du das falsch verstanden. Ich muss nicht gerettet werden.« Es ist ein schmerzvolles Röcheln, was der Kehle des Glatzköpfigen entrinnt, wenn ich mein Bein anspanne und ihn schwungvoll in den Schritt trete. Nach Luft ringend geht er zu Boden. Dann winde ich mich mit ganzem Körpereinsatz. Durch den überraschenden Moment schaffe ich mich loszureißen und nach vorne zu stolpern. »Aua… Ah… L-Lasst ihn nicht entkommen…!«, klagt der Glatzköpfige jämmerlich. Leider kann ich keine Sekunde durchatmen, da stürzen sich seine Leute schon auf mich. Sie hetzen mir über das Deck nach. Zwar bin ich durch den kurzen Adrenalinschub schneller als sie, allerdings bleiben mir nicht viele Optionen, wenn ich an der Spitze des Decks stehe und von vier Leuten eingekesselt werde. Das Geländer drückt mir in den Rücken, wenn ich mich nach hinten presse und schwer atmend nach einem Ausweg suche. »Niedlicher Versuch. Wirklich, das muss man sagen. Fast wie ein drolliges Kätzchen«, gluckst der Glatzköpfige und zieht sich mühevoll auf die Beine. »Wir sollten dem Kater die Krallen stutzen.« Ich kann nicht ausweichen, wenn einer der Männer vorprescht und mir abermals die Arme auf den Rücken verdreht. Dann drückt er mich auf die Knie, sodass ich nur noch böse nach oben starren kann.  In der Kraft unterliege ich ihnen, schießt es mir durch den Kopf. Ein weiteres Mal versuche ich mich zu winden, allerdings ist die Überraschung nun nicht mehr auf meiner Seite, sodass sich die Hände an mir nicht rühren. Kann ich jetzt wirklich nur noch hoffen? Wo sind denn die ganzen verdammten Gäste?  »Reicht das?« Meine Augen legen sich auf einen Mann, der aus der Ecke einen Anker zieht und ihn schwer keuchend vor die Füße des Glatzköpfigen wirft. Sogleich beschleunigt sich mein Herzschlag. »Perfekt. Holt die Seile von den Sonnenschirmen und bindet ihm Arme und Beine zusammen«, weist dieser Glatzköpfige an, der anscheinend sowas wie der Anführer der kleinen Gruppe ist. Meine Augen weiten sich, als seine Befehle befolgt und meine Gelenke schmerzhaft miteinander verbunden werden. Mit offenem Mund muss ich zuschauen, wie der Anker an den Seilen befestigt wird. Schweiß tropft von meiner Stirn. Ich kann nichts tun. Ich bin bewegungsunfähig. »Victor wird euch umbringen«, meine ich, während ich auf die Beine gezogen und gegen die Brüstung gepresst werde. Mein Körper beginnt zu zittern, als ich einen Blick zum Wasser riskiere. Ich will nicht sterben… Scheiße… »Das tut er sowieso«, sagt William, lehnt sich grinsend neben mich. »Wir alle hier hassen Victor Lassini. Unser Boss hat uns auf eine Mission geschickt und du bist da irgendwie reingeraten. Nimm nicht persönlich, dass wir dich kaltmachen müssen.« Der Kerl packt meine Schulter und drückt mich weiter nach hinten, sodass ich mich auf die Zehenspitzen stellen muss, um nicht über das Geländer zu kippen. Mein Herz springt mir beinahe aus der Brust. Wennich in das Wasser falle ist es vorbei. Da komme ich nicht mehr raus. Was soll ich tun? Lass dir was einfallen! Jetzt! Schnell, bevor es zu spät ist… »W-Wartet«, sage ich, wodurch William die Brauen hochzieht. Wahrscheinlich kann man mir die Furcht nun an meinen großen Augen und dem abgehetzten Atem ablesen. Ich schaffe es nicht mehr sie zu verbergen. »Überlegt doch mal… Das wäre kein kluger Schachzug, oder? Victor wird wissen, wer die Verräter in seinen Reihen sind, solltet ihr mich töten.« »Woher? Wenn du tief auf den Grund sinkst, kann niemand sagen, wie du dahin gekommen bist. Wir verwischen all unsere Spuren. Mach’s gut, mein Freund.« Mir bleibt das Herz stehen, als sie den Anker hochheben, um ihn über die Brüstung zu werfen. Ich will mit brüllen anfangen, als mir plötzlich Rauch in die Nase steigt. Mein Kopf wirbelt augenblicklich herum, bis meine glasigen Augen an der Glut einer Zigarre hängenbleiben. »Was für ein langweiliges Spiel.« Die Gruppe von Verrätern erstarrt, als die kalte, raue Stimme durch den sternklaren Nachthimmel zu uns dringt. Wie in Zeitlupe drehen sie sich um und geben ein Keuchen von sich, wenn sie Victors mordlustiger Blick trifft. »Ich dachte, das wird interessanter«, raunt der Mafiaboss verschwörerisch, bevor er einen genüsslichen Zug seiner Zigarre nimmt und den Rauch als helle Wolke auspustet. Eine Hand steckt lässig in der Hosentasche, während er seelenruhig auf uns zu schlendert. »Amateure wie ihr bilden sich ein, unbemerkt in ein Netzwerk von erfahrenen Verbrechern schleichen zu können? Lächerlich. Wer hat euch geschickt? Der alte Carlos? Natürlich war er es, dieser Narr.« Ich schließe für einen Moment die Augen, um meinen zittrigen Atem zu beruhigen. Dabei höre ich, schnelle Schritte vom Inneren aufs Deck laufen. Wenn ich meine Lider wieder öffne, sehe ich, wie sich Adrian, Elliot und weitere Männer hinter Victor aufbauen und ihre Waffe auf die Verräter richten. Gerade will ich erleichtert die Schultern hängen lassen, da spüre ich plötzlich einen gewaltigen Zug an meinem Körper. Und ehe ich mich versehe, dreht sich die Welt um 180 Grad. Oder nein, ich bin es, als ich dem Anker über die Brüstung folge und kopfüber auf das Meer zurase. »Jess…!«, dringt nur noch an meine Ohren, ehe ich mit einem lauten Klatschen ins Wasser eintauche.  Panisch will ich nach Luft schnappen, allerdings läuft mir das eiskalte Wasser in die Lungen. Wild herumfuchtelnd muss ich feststellen, dass ich mit beängstigendem Tempo sinke. Das Bild vor meinen Augen ist getrübt. Ich erkenne lediglich die glitzernde Oberfläche, von der ich mich mit jeder Sekunde weiter entferne. Die Luft wird knapp. Ich habe zu viel Wasser eingeatmet, rasen meine Gedanken. Mit ruckartigen Bewegungen reibe ich meine Handgelenke aneinander, beim Versuch sie vom Seil zu lösen. Von oben höre ich gedämpfte Schüsse, doch meine Sinne schwinden. Ich kriege sie nicht ab! Das klappt nicht! Mein Kopf tut weh! Meine Brust schmerzt so doll… Auf einmal zerschellt das Meer erneut, als ein anderer Körper eintaucht. Es ist zu dunkel, ich kann kaum sehen, was passiert. Ich erkenne nur Arme, die sich durch das Wasser kämpfen und den großen Körper, der näherkommt. Mühsam stecke ich meine Hände nach ihm aus. Aus meinem Mund dringt die letzte Luft als zarte Blasen, als ich ihn zu mir rufen will. Dann kann ich etwas berühren. Ich spüre Haut an meinen Fingern, schließe sie um das kantige Gesicht dieser Person. Er streicht an meinen Schultern entlang, taucht tiefer zu meinen Füßen. Wir sinken beständig. Es wird dunkler, immer mehr. Aus den Augenwinkeln sehe ich Metall aufblitzen – ein Messer? Er ritzt am Seil. Es will sich nicht lösen. Er schneidet weiter, bis es sich in einer springenden Bewegung von meinen Beinen löst. Ich schaffe es nicht, ist mein letzter Gedanke, als der Anker nun ohne uns zu Boden sinkt. Allerdings bleiben meine Augen nicht geöffnet und meine Gliedmaßen spüre ich nicht mehr. Alles um mich herum verblasst. Mit einem Mal wird mein Gesicht von großen Händen umschloss. Ihre plötzliche Wärme verleitet mich dazu, die Lider nicht zu schließen. Mein Blick hebt sich mühevoll, bis er auf leuchtend grünen Augen liegt. Daraufhin wird mein Rumpf umschlossen und Lippen legen sich auf meine. Unwillkürlich öffne ich sie.  Dann bekomme ich wieder Luft. Ich kann ein bisschen atmen. Und ich kann den Blick nicht von Victor abwenden, wenn er mich küsst. Sein Griff wird stärker, als er sich löst. Er drückt mich fester gegen sich, dann ringt er uns mit einem Arm nach oben. Es wird heller. Die Geräusche von draußen werden klarer. Wir tauchen auf. Ich schnappe sofort nach Luft und huste schmerzhaft, dem Ersticken nahe. Das Wasser, das sich in den Lungen gesammelt hat, kann endlich raus und Platz für Sauerstoff machen. »Victor…«, ist das erste was ich keuche, wenn ich mich langsam gefangen habe. Er sieht mich direkt an. Seine nassen Haare tropfen mir ins Gesicht. Seine Wangen sind vom Tauchen ganz blass. Die Kälte bohrt sich wie Nadeln in unsere Haut. Aber das ist alles egal. Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken und küsse ihn. Er lässt nicht lange auf sich warten und erwidert meinen stürmischen Kuss. »Sir!« Wir lösen uns keuchend voneinander. Ich schaue zu Adrian auf, der sich über das Geländer der Yacht lehnt und erleichtert durchatmet, wenn er uns entdeckt. Neben ihm taucht Elliot auf. In einer fließenden Bewegung wirft er eine Hängeleiter zu uns hinunter, deren Ende er fest am Eisen verknotet. Victor deutet mir mit einem Kopfnicken an, nach oben zu klettern, was ich nach kurzem Zögern tue. Meine Beine zittern von der Kälte und Aufregung, sodass ich beinahe die erste Stufe nicht treffe. Aber ich reiße mich zusammen und steige oben angekommen über die Brüstung, woraufhin mir Victor wenige Momente später folgt. »Wir konnten alle einfangen, Sir«, erklärt Adrain. Ich lasse meinen Blick über das Deck schweifen, um zu sehen, wovon er spricht. Die Verräter sitzen jetzt allesamt an der Wand zum Innenraum gelehnt, bewusstlos wie es scheint. Ich seufze erschöpft, als ich feststellen kann, dass ich heute nicht auch noch eine Leiche sehen muss… »Sollen wir sie ins…«, beginnt Adrian erneut, doch sein Boss scheint ihm gar nicht zuzuhören. Dessen Augen liegen abschätzig auf mir und auch ich wende mich ihm wieder zu.  »Du musst aus den nassen Sachen raus«, bestimmt er, packt mich am Arm und zieht mich hinter sich her. Gezwungenermaßen muss ich Victor einmal quer durch die Yacht folgen. Die Gäste mustern uns verwirrt, wenn wir klitschnass an ihnen vorbeikommen, trauen sich aber nichts zu sagen. Und dann werde ich neben diesem Konferenzraum, in welchem sich die Verräter gesammelt hatten, in ein Badezimmer geschoben. Es ist um einiges kleiner als das in Victors Haus, aber nicht weniger luxuriös. Die Armaturen sind vergoldet, die Badewanne am Fenster steht frei im Raum und unter die Regendusche passen sicherlich vier Personen. »Zieh dich aus«, befielt Victor und streift das Jackett von seinen Schultern. Zuerst wende ich mich ab und erstarre, aber angesichts der Situation habe ich keinen Nerv darüber nachzudenken, was Victor sehen oder denken könnte, wenn ich nackt vor ihm stehe. Deshalb beginne auch ich mich auszuziehen. Dann gehe ich zur Dusche, die ich einschalte und erzittere, wenn das warme Wasser auf meine Brust trifft. »Das ist zu heiß.« Victor tritt neben mich und dreht den Hahn um, sodass das Wasser nunmehr lauwarm ist. »Du musst deinen Körper daran gewöhnen, sonst vermengen sich die Gefäße zu schnell.« Ich senke den Kopf. Mein Herz findet keine Ruhe und wenn Victor jetzt neben mir steht, setzt es wieder einen Sprung aus. Hat er noch Sachen an?, schießt es mir durch den Kopf. Doch ich traue mich nicht nach rechts zu sehen. Im Moment traue ich mich nicht mal, mich zu rühren. Meine Gliedmaßen fühlen sich an, wie aus Beton. Als ich aus den Augenwinkeln mitbekomme, dass Victor neben mir beginnt sich zu bewegen, riskiere ich einen schnellen Blick, den ich sogleich bereue. Denn er trägt nichts.  Duschen wir jetzt zusammen…? Ich habe keine Kraft mehr mich zu wehren…, denke ich und trete einen Schritt vor, damit ich weiter unter dem Wasser stehe, das jetzt meine Arme und Beine hinabläuft. Im Moment spielen meine Gedanken verrückt. Auch mein Körper beruhigt sich nicht – ich zittere von oben bis unten. »Diese Leute…«, beginne ich nach kurzer Zeit des Schweigens in dieser seltsamen Situation. »Wer waren sie? Sie hätten mich beinahe… Also wenn du nicht…« Was rede ich da?Warum wird er nicht fertig?, rasen meine Gedanke, wenn ich immer noch die schönen Mosaikfliesen an der Wand anstarre, um nichts anderes anzustarren. Das ist so unangenehm… Macht er das mit Absicht? Hat er schon rübergeguckt? Natürlich hat er! Das lässt er sich bestimmt nicht nehmen… Ich drehe mich um und will aus der Dusche treten. Zwar bin ich noch nicht richtig aufgewärmt, aber das sollte erstmal reichen. Besser als weiter mit Victor zu duschen. Allerdings schnappt mich etwas am Handgelenk und zieht mich zurück. Ich werde an die Fliesen gedrängt und zucke zusammen, als Victor sich vor mir aufbaut. »Wo willst du hin?«, raunt er. Aus Reflex rutschen meine Augen über sein breites Kreuz, die starke Brust, über sein Sixpack hinüber zu seinem besten Stück, das mich schlucken lässt. »Gefällt dir, was du siehst?« Sofort reiße ich die Kopf nach oben und presse meine Lippen schmerzhaft fest aufeinander, wenn ich rot anlaufe. Victor schmunzelt verschlagen, stützt seine Hände neben meinen Kopf an der Wand ab und lehnt sich vor. Ich ziehe die Schultern hoch und presse mich zurück. »Also mir sagt sehr zu, was ich sehe«, flüstert Victor. Trotz des warmen Wassers, das kontinuierlich auf uns niederprasselt, kann ich es verstehen. Er nimmt meine Hand in seine, dann führt er sie zu seiner Brust. Ich verkrampfe sogleich. »Wenn ich dir gefalle, kannst du gerne mehr sehen, oder fühlen, ganz wie du willst.« Sofort ziehe ich meine Hand weg, als hätte mich Victors heiße Haut verbrannt. Dann kneife ich die Augen zusammen und wispere: »Ich will nach Hause, Victor.« »Na schön, dann lass uns gehen. Das Boot dreht bereits. Wir fahren nur ein paar Minuten, bis…« »Nein!«, meine ich entschieden und wische mir durchs Gesicht. »Verstehst du denn nicht? Diese Leute… sie hätten mich beinahe getötet. Und du denkst nur an eins.« »Ich hatte alles unter Kontrolle.« »Ach ja? Deswegen banden sie einen Anker um meine Beine und warfen mich ins Wasser? Das nennst du Kontrolle?« »Ich wusste, dass sie Verräter waren. Aber ich ließ sie gewähren, um ihren Plan herauszufinden.« Entsetzt sehe ich zu Victor auf, der seine Augen verengt. »Du wusstest es und hast es trotzdem zugelassen?« »Das nennt sich Taktik.« »Das ist keine Taktik, das ist… Grrh!«, brülle ich und schlüpfe unter seinen Armen hindurch. Wieder werde ich gepackt und zurückgezogen – direkt an Victors Brust. »Du treibst es zu weit, Jesse«, raunt er dunkel. Bei meinem Namen überkommt mich Gänsehaut. »Ich habe deine Launen ertragen, weil du etwas Besonderes bist. Aber meine Geduld ist ausgeschöpft. Bald werde ich nicht mehr fragen, sondern mir nehmen, was ich will.« Er drängt meinen Kopf zur Seite, sodass sich seine Lippen an meinen Hals legen und zu saugen beginnen. Ich stemme mich keuchend gegen ihn, will mich wegdrücken. Tatsächlich lässt er mich nach einigen Momenten los, weshalb ich nach hinten taumele. »Ich will nach Hause«, wiederhole ich langsam und balle die Hände zu Fäusten. Wenn Victor abermals nach mir schnappen will, weiche ich aus. »Ich will zu meinemZuhause. Verstehst du? Ich bin komplett erschöpft.« »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich das erlauben würde?«, hakt er amüsiert nach und greift nach mir. Diesmal schafft er es, mich wieder an die Wand zu drücken. Ich weiche seinem einschüchternden Blick nicht aus. »Du kannst es dir aussuchen: Entweder lässt du mich jetzt gehen, oder ich werde niemals mit dir schlafen.« Victors Züge zucken gefährlich. Diese Widerworte kann er nicht leiden, sie machen ihn wütend. Deshalb lehnt er sich vor, die Augen zu Schlitzen verengt, und haucht mir ins Ohr: »Nein, dukannst es dir aussuchen: Entweder gibst du mir, was ich von dir verlange, oder ich nehme keinerlei Rücksicht mehr.« »Dann tue es«, sage ich mit aufrechtem Kreuz und festen Worten. »Du willst mich zwingen?« Ich breite meine Arme zu den Seiten aus, als würde ich mich Victor präsentieren. »Gegen dich kann ich mich nicht wehren. Mach was immer du willst.« Jetzt bin ich es, der die Augen verengt. »Aber behalte dabei immer im Hinterkopf, dass ich dich hassen werde, wenn du das durchziehst. Und dann bekommst du niemals, was du dir wünschst.« Victors Lippen kräuseln sich, seine Augen zucken, auf seiner Stirn tritt eine pulsierende Ader hervor und seine Züge sind so finster, wie ich sie noch nicht erlebt habe. Dann hebt er die Faust und lässt sie auf mich zurasen. Ich fahre zusammen und kneife die Augen zusammen, in der Befürchtung gleich geschlagen zu werden. Allerdings schlägt seine Faust neben mir in die Wand ein. Und wenn ich mich blinzelnd traue zu der zitternden Hand zu schauen, schlucke ich hart. Blut läuft von den Knöcheln herab, die durch den Aufprall geplatzt sind. »Du weißt nicht, wann Schluss ist.« Victors Stimme bebt unter seinem Zorn. Langsam richte ich meinen Blick wieder auf ihn. »Ich werde niemals aufhören und nachgeben.« Victor mahlt mit den Zähnen, während wir uns gegenseitig starr in die Augen sehen. Vielleicht vergehen nur wenige Sekunden, aber es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis er schließlich meint: »Zieh dich an. Ich werde dich zu deiner Wohnung bringen lassen.« Kapitel 9 --------- Kaptel 9     Langsame Schritte wecken mich auf. Ich blinzele den Schlaf aus meinen Augen und starre zur Decke. Wo bin ich? Victor hat mich nach Hause bringen lassen, oder? Als ich meinen Kopf zur Seite drehe, stoppt beinahe mein Herz. Victor steht direkt vor meinem Bett. Vor Schreck will ich aufspringen, aber er drückt mich zurück in die Matratze und küsst mich stürmisch. Zwar stemme ich mich gegen seine Brust, aber er nimmt meine Handgelenke und verbindet sie mit seiner Krawatte am Bettgestell. Dabei lässt er mir keine Zeit zum Sprechen, weil seine Lippen unnachgiebig von meinen kosten. »Ich will dich. Jetzt«, raunt der Mafiaboss, als er sich stöhnend von mir löst. Danach reißt er seine Hose auf und zieht sie sich von den Beinen. Sie fliegt zu Boden. Der Gürtel klirrt. »W-Was…?«, flüstere ich. Es hat keinen Sinn mit den Handgelenken zu ruckeln – sie lösen sich nicht. Auf einmal spreizt Victor meine Beine. Ich keuche erschrocken. Dann lehnt er sich vor und fängt mich in seinem Kuss ein. Ein Schauer krabbelt mir über den Rücken. Sein erregtes Glied liegt direkt auf meinem. Die große Beule zuckt ungeduldig. Sie lässt mein Blut tiefer fließen. »Victor, ich will nicht…!«, stöhne ich erregt in unseren Kuss. »Spiel nicht immer den unschuldigen Unnahbaren. Ich werde jetzt meinen Schwanz in seinen süßen, kleinen Hintern schieben und es dir hart besorgen«, haucht Victor an mein Ohr, während er sich von seiner Unterhose befreit. Ich hebe meinen Kopf, um an ihm herunterzublicken, dann weiten sich meine Augen, als sie auf sein voll steifes Glied treffen, dessen Spitze schon feucht glänzt. »Das ist zu groß! Das wird nicht passen!« Victor küsst mich abermals. Seine Zunge dringt in mich ein und drängt meine zurück. Sie ist rau, wie seine Hände und ebenso stark. Dann streichelt er über meinen Schritt und beginnt in zu massieren. Ich winde mich unter dem kribbelnden Gefühl. »Ich werde dir keine Zeit zum Nachdenken geben. Du wirst nur noch mich spüren, wie ich dich vollkommen ausfülle und in dir komme«, raunt Victor ein weiteres Mal in mein Ohr. Es ist so heiß. Unsere Körper glühen.  »Ah! Victor… Ja, bitte!«, jammere ich auf einmal, weil ich seine Hand an meinem Glied kaum mehr ertrage. »Gib es mir! Ich will mehr.« »So ist’s gut…« Victor küsst mich ein letztes Mal. Er leckt sich über die Lippen. »Aber hast du denn auch deine Reifen aufgepumpt?«   Dösig schlage ich meine Lieder auf. »Was?« »Du vernachlässigst das Fahrrad, stimmst? Dabei fährt es schon fast nicht mehr gerade. Willst du einen Unfall bauen?« »Wovon sprichst du…?« »Geschweige denn von dem Staub auf deinen Regalen. Wie lange putzt du nicht mehr?« »Ich hatte letztens keine Zeit…«, wispere ich völlig verwirrt unter dem halbnackten Mafiaboss festgebunden, der auf einmal einen Wischmopp und ein Kehrblech hält. Victor verengt die Augen – ein sexy Blick. »Lass uns Weichspüler kaufen gehen. Ich besorg’s dir… also die Putzlappen.«   Ich atme zittrig aus, als ich die Augen öffne und mich im klapprigen Metallbett aufsetze. Schnell sehe ich mich um, aber von Victor fehlt jede Spur… oder vom Wischmopp… »Das war nur ein Traum…«, flüstere ich mit Herzrasen. Ich streiche mir durchs Gesicht, während ich erröte. »Mir ist nicht mehr zu helfen… Was habe ich da geredet… Was habe ich da nur geträumt?« Um nicht weiter über dieses überaus peinliche Wirrwarr von Traumfetzen nachdenken zu müssen, konzentriere ich mich darauf, dass mein Handy schon kurz nach fünf Uhr anzeigt und ich somit viel zu spät dran bin. Deshalb schlage ich die löchrige Decke beiseite und haste durch das Wohnzimmer, in dem sich die Tapete bereits von der Wand löst. Im Badezimmer mit meiner zerplatzten Toilette und den aufgekratzten, gelblich schimmernden Fliesen krame ich meine Arbeitskleidung vom Wäscheberg. Ich schnappe meine Geldbörse von der ratternden Waschmaschinen, die als eigenes Erdbeben dokumentiert werden müsste. Dann katapultiere ich sie durch den Flur und knapp am Rucksack vorbei. Anschließend stehe ich zähneputzend unter der Dusche und trockne dabei schon meine eine Körperhälfte ab. Obwohl Dusche definiert werden sollte. Das Ding in meiner Wohnung war eher ein Wasserhahn an der betonierten Wand, eingekesselt zwischen zwei zerknitterten Vorhängen mit kleinen Fischen darauf gekritzelt. Als ich mit anziehen fertig bin und einen letzten Blick in meine Wohnung werfe, ruft mein Nachbar von oben: »Bist du wieder da, Miststück? Es war so ruhig ohne dich! Geh und stirb in einer Gasse!« Das habe ich ganz dolle vermisst, schießt es mir lippenkräuselnd durch den Kopf. Ich nehme mir einen Augenblick Zeit um durchzuatmen. Warum kommt mir alles auf einmal so fremd vor?Doch damit beschäftige ich mich nicht weiter. Stattdessen renne ich raus zum Fahrrad. Ich habe zwar das meiste meines Traums bereits vergessen, aber irgendeine Erinnerung rüttelt mich, wenn ich einen intuitiven Blick zu den Reifen werfe, die mal aufgepumpt werden könnten. Doch ich schwinge mich gleich auf meinen gutes, altes Klappergestell und fahre los. Die gleiche aufgesprungene Straße hinunter, die gleichen Graffiti-besprühten Mauerstücke entlang, die gleichen Bandengrüppchen passierend, die mit Drogen dealen – Der Weg den ich jeden Tag zur Arbeit nehme. Obwohl ich gerade mal das Wochenende weg war, kommt es mir vor, als sei ich von einer unvergesslichen Reise wiedergekehrt.  Alles ist irgendwie neu. Anders. Seltsam. Falsch.  Nachdem Victors Yacht gestern angelegt hat, brachten mich Adrian und Elliot zurück zu meiner Wohnung, ohne dass ich Victor noch einmal gesehen hätte. Sie gaben mir sogar das Smartphone, das ich gekauft hatte. Danach war ich rücklings ins Bett gefallen und eingeschlafen. Jetzt wieder zur Arbeit zu fahren, hat einen unbekannten Beigeschmack, den ich nicht einordnen kann.   »Was für eine anstrengende Schicht.« Courtney fällt ins fleckige Sofa unseres überfüllten Pausenraums. Obwohl dieser maximal fünfzehn Quadratmeter umfasst, quetschen sich acht unserer Kollegen hier mit rein – Nicht zu vergessen sind der Getränkeautomat und die Reinigungswagen. Da hilft nicht mal das süffige Landschaftsgemälde an der beschmierten Wand, das sowas wie Platz suggerieren soll. Courtney reicht mir eine Limonadendose. Dankend nehme ich an und seufze: »Ich fühle mich, als hätte ich ein jahrelanges Workout absolviert.« Sie grinst. »Hast du das ganze Wochenende die Beine hochgelegt? Dann ist es kein Wunder, wenn du erstmal wieder reinkommen musst.« »Eher im Gegenteil«, sage ich, nehme einen Schluck von der Limonade und beobachte eine Kollegin, die am Getränkeautomaten steht. Man munkelt, das Ding habe schon mehr Jahrzehnte auf dem Buckel, als das Hotel selbst. Deswegen verschluckt es gerne mal die hart erarbeiteten Münzen, ohne dafür Trinken auszuwerfen.  »Ich war mal eben in der Villa eines Mafiaboss eingesperrt, bis er mich auf seine Yacht nahm, wo ich beinahe ermordet worden wäre«, erkläre ich in dem Wissen, sie würde mich sowieso nicht ernst nehmen. Courtney prustet, wobei ihr das Getränk über die Lippen läuft. Sie winkt ein Taschentuch zu sich heran, welches ich ihr schmunzeln vom angrenzenden Tisch reiche. Dann wischt sie sich das orangene Getränk von der Bluse. »Du bist lustig drauf heute. Zu viele Filme gesehen?« »Ich wünschte, es wäre so…« »Wir haben schon lange nichts miteinander gemacht, seit du bei mir ausgezogen bist. Hast du nicht Lust mal ins Kino zu gehen oder so? Wir können auch was essen«, schlägt Courtney vor, fläzt sich nach hinten und winkt unserem einen Kollegen zu, als er sich verabschiedet. »Ich habe erstmal mächtig die Nase voll von Unternehmungen«, stöhne ich. Counter macht eine Schmollippe, weshalb ich schnell anfüge: »Sei mir nicht böse. Bitte, ja? Ich mache das auch wieder gut, versprochen.« »Kann es sein, dass du die Nacht rumgestreunt bist?«, fragt sie und zieht die Augenbrauen anzüglich hoch. »So bin ich doch nicht drauf, das weißt du.« »Na, wenn es das nicht ist… Sag bloß, du hast ne’ Freundin.« Ich beiße mir auf die Lippe. Soll ich ihr davon erzählen? Wie wird sie reagieren? Sie ist älter und erfahrener als ich. Vielleicht weiß sie Rat. Ich muss ja nicht gleich alles ausplaudern, nur das Wichtigste. Scheu werfe ich einen Blick rüber zu Courtney. »Liege ich richtig?« Ich beuge mich zu ihrem Ohr, um zu flüstern: »Was ich jetzt erzähle, bleibt unter uns, ok?« Sie nickt hastig. Dann seufze ich. »Erstmal sollte ich vielleicht… Also, ähm… Weißt du, ich stehe nicht so auf Frauen…« Sie zuckt zurück und macht eine Schnute wie ein Kugelfisch. Dann grinst sie hämisch. »Also hat dir ’nen heißer Kerl den Kopf verdreht?« »So ist das nicht«, wehre ich mich und laufe rot an. »Das ist ein wenig komplex. Also da ist so ein Mann… der ist echt unfassbar reich und attraktiv. Aber der will nur… naja, der will eigentlich nur Sex mit mir haben.« »Also eine Freundschaft Plus?«, schlussfolgert Courtney vollkommen gelassen, während ich mich an meine Dose klammere und ihr aus Scham nicht ins Geschieht sehen kann. »Er kauft mir alles was ich will und lässt mich in seinem riesigen Anwesen schlafen. Die Villa ist supermodern mit richtig viel Mamor, Regenduschen… und einem Pool. Er besitzt sogar… äh… eigene Bodyguards.« »Das ist ja der Wahnsinn!«, kreischt Courtney, wodurch die anderen zu uns sehen. Ertappt zieht sie die Schultern ein und flüstert: »Das ist ja geiler als eine Sechs im Lotto!« »M-Meinst du?« Unsicher morkele ich an dem Papier um meine Dose. »Ich weiß nicht wie er sein Geld verdient… Vielleicht ist das was Illegales oder so…« Es ist nicht gelogen, immerhin habe ich keinen Schimmer, woher Victors Geld eigentlich stammt und was sein Clan macht. »Süßer« Courtney fasst mich bei den Schulter und fängt meinen Blick ein. »Ich hab dich zwar aus der Obdachlosigkeit geholt und würde dir eine scheuern, wenn du was Kriminelles anfängst. Aber mir klingt das eher nach einem reichen Typen, der auf dich steht. Wovor hast du Angst? Du bist jung und quicklebendig, warum lässt du dich nicht mal darauf ein? Deinen Erzählungen nach würdest du mit einem sexy Kerl rummachen, der dir gleichzeitig die Welt vor den Füßen ausbreitet. Und du willst es doch bestimmt auch mal ausprobieren, oder?« Ich bin gerade dabei mir eine Antwort zu überlegen, da ruft es plötzlich aus dem Türrahmen: »Jesse?« Cole sieht erwartungsvoll zu mir und wenn ich aufstehe, um zu ihm zu treten, meint er: »Komm mal mit« Na einem verabschiedenden Nicken zu Courtney folge ich meinem Chef. Wir gehen in sein kleines Büro mit dem giftgrünen Teppichboden, wo ich schlucke, wenn ich die Tür hinter mir schließe. Es ist nie gut, mit diesem ekligen Typen alleine zu sein. »Ich weiß nicht, wie du die in der Chefetage dazu gebracht hast, aber dein Urlaub nächste Woche wurde genehmigt.« Cole wirft Unterlagen auf seinen Eichenholz-Schreibtisch. Dann lehnt er sich lässig dagegen. »Welcher Urlaub?«, frage ich und überwinde den Abstand, damit ich den Zettel in meine Hand nehmen kann, auf dem mein Urlaub unterschrieben wurde. Ich runzle die Stirn. »Du musst doch wissen, wann du Urlaub beantragst«, schnaubt Cole. Auf einmal spüre ich etwas meinen Rücken streicheln. Seine Hand über dem zarte Stoff meines schneeweißen Hemds legt sich an meine Haut wie ein Brenneisen. »Hast wohl mit deinen Äuglein geklimpert. Man kann sich auch hochvögeln, wenn’s mit arbeiten nicht klappt, was?« Schaudernd mache ich einen so großen Schritt nach hinten, dass mir beinahe die Hose reißt. Coles Hand findet zu meinem Gesicht, aber ich schlage sie weg. Er tritt einen Schritt näher. Ich weiche einen Schritt zurück. Trotzdem macht er den Abstand wieder gut. In gleichem Tempo schreite ich nach hinten, bis ich an die Wand stoße. Dann finden Coles Hände neben meinen Kopf an die Wand. Victor macht das auch immer, schießt es mir mit einem Mal durch meine Gedanken. Doch diesmal werden meine Hände nicht vor Aufregung nass und meine Lippen nicht vor Erwartungen trocken. Cole grinst hämisch. Wieso finde ich es nicht bei Victor abstoßend… Meine Tagträume werden dadurch unterbrochen, dass mich Cole plötzlich küsst. Ich presse die Lippen im Ekel zusammen. Doch ich stoße Cole so schwungvoll von mir, dass er nach hinten auf seine faltenlose Anzugshose fällt. Danach berühre ich meine Lippen mit den Zeigefingern, als würde sie ein Film aus Schmutz und Schlamm überziehen. Ich verziehe das Gesicht und mache auf dem Absatz kehrt, um blindlings aus dem Gebäude zu stürmen. Erst beim Fahrrad atme ich tief durch und lasse meine zitternden Finger über meine pochende Stirn streichen. Dann suche ich stampfend und schnaubend die Straße ab. Denn ich will das Chaos in mir gerade nicht stoppen. Zudem habe ich eine Ahnung, was dieses Schreiben von meinen Vorgesetzten zu bedeuten hat. Tatsächlich finde ich nach wenigen Metern, wonach ich suche. »Hey!«, rufe ich laut zu Adrian und Elliot, die vor dem Zaun eines Hauses geparkt haben und miteinander erzählen. Überrascht drehen sie sich zu mir. So klar, dass Victor mich nicht in Ruhe lassen kann, denke ich, verdränge völlig, was gerade in Coles Büro geschehen ist und bleibe vor den Beiden stehen, Es war so klar…! »Mr Carter«, begrüßt Adrian. Ich überspringe die Höflichkeiten, drücke ihm das zerknüllte Papier in die Hand. »Könnt ihr mir das erklären? Ich habe niemals Urlaub beantragt. War das euer toller Boss? Hat er sich jetzt auch noch in meinen Beruf eingeschlichen?« Adrians Augen fliegen die Zeilen entlang, während Elliot genervt faucht: »Jeder andere Mensch wäre froh über seinen Urlaub. Du bist echt undankbar, du kleiner Hosenscheißer.« »Also war Victor es?« Ich schüttle den Kopf. »Ich kann es nicht fassen. Was soll das? Warum schikaniert er mich?« Adrian gibt mir die Urlaubsbescheinigung zurück. »Ich bin mir sicher, es war nicht die Absicht des Bosses Sie zu kränken. Unser Auftrag ist nur, Sie zu überwachen und nächste Woche Montag zu ihm zu bringen.« »Was will er bloß von mir…?«, hauche ich schwach und lasse die Schultern hängen. Ein schmerzhaftes Ziehen nimmt meine Augen ein. »Warum tut er das…?«   Eine Nacht vergeht…  Eine weitere Nacht verabschiedet sich hämisch winkend von mir… Ich liege immerzu mit offenen Augen in meinem Bett und kann nicht abschalten, während die Woche im Eiltempo an mir vorbeizieht. Diese Situation gab es schonmal – bei meiner Entführung. Auch da haben mich Adrian und Elliot auf Schritt und Tritt verfolgt.  Sie stehen vor dem Hotel, ganze sechs Stunden lang, bis meine Schicht vorbei ist. Sie fahren mir hinterher, wenn ich einkaufen will und schauen mir danach in die Einkaufstüten. Sie stehen nachts vor meiner Wohnung, die sich wie ein Gefängnis aus Glas anfühlt. Und sogar auf Toilette, wenn ich einfach nur mal für mich sein will, habe ich das Gefühl überwacht zu werden. Zwar suche ich meine eigene Wohnung sogar nach Wanzen und Kameras ab, aber da sind keine… oder zumindest finde ich sie nicht. Sieben Tage kämpfe ich mich durch wüste Beschimpfungen meines lieben Nachbars. Ich setze mich den sexuellen Übergriffen von Cole aus, der mir nach dem letzten Mal immer näher kommt. Selbst wenn Kollegen dabei sind, schreckt er nicht zurück, einen Spruch abzulassen. Dann sind da Adrian und Elliot – Sie tun mir nichts, aber durch ihre Aufsicht stehe ich unter Strom, als würde ich in mit meinen Steckdosen unter die Dusche steigen.  Und ich frage mich, was ich tun soll. Gibt es eine Zukunft für mich?, denke ich nach, als ich Sonntagabend im Van gekauert sitze, der mich zu Victor bringen soll. Immer weiter rutsche ich im Sitz herunter. Bald fallen mir die Augen zu. Draußen ist es schon dunkel. Die Lichter der Straßenlaternen scheinen bedingt zu uns. Auf dem Sitz neben mir steht mein brauner Reisekoffer. Er ist mit Kaffeeflecken und rot-blauen Nähten versehen, weil ich ihn vom Flohmarkt habe. Dennoch ist er von mir gänzlich unbenutzt. Wann sollte ich auch die Zeit und das Geld zu Reisen haben? Wie soll es ab jetzt weitergehen? Ich habe mir ein Märchenwunder gewünscht, aber mein Leben ist ein Schutthaufen. Wenn es so weitergeht, wird sich nie etwas ändern. Wir biegen an der Kreuzung zum alten Rathaus ab. Ein kleiner Supermarkt erregt meine Aufmerksamkeit. Und ehe ich mich versehe, frage ich hauchend an Adrian gewandt: »Können wir hier kurz halten?« »Das ist ein Spaß, Mr Carter?«, erwidert dieser, wodurch mir bewusst wird, dass direkt neben dem grün leuchtenden Billig-Supermarkt ein Polizeirevier steht. »Ich meine den Laden… wollte nur was holen…«, murmele ich peinlich berührt. Ich beobachte, wie sich Adrian und Elliot abschätzige Blicke zuwerfen. »Wirklich nur eine Kleinigkeit. Was soll ich schon anstellen, wenn ihr mich bewacht?« Tatsächlich halten wir auf den beinahe leeren Parkplatz. Nach kurzem Versichern an meine beiden Aufpasser, dass ich nicht lange brauchen würde, husche ich durch die Drehtür ins Geschäft und streife die Regale entlang. Erst die Ecke mit dem Kleinkram, dann zum Tiefkühler und zu den Knabberrein. So ganz weiß ich nicht, wonach ich suche, aber ich habe das Bedürfnis, nicht mit leeren Händen bei Victor zu erscheinen. Egal was er angestellt hat… Er hat mir das Leben gerettet. Darüber kann ich nicht einfach hinwegsehen, denke ich, lasse meine Hand über das zerschrammte Aluminiumregal streichen und bleibe vor den Süßigkeiten stehen. Alles voll mit Karies – Bonbons, Kaugummis, Lutscher, Schokoladentafeln. Ich hoffe, er versteht das nicht als Zusage für sein Angebot… Mal schauen, was soll man einem milliarden-schweren Mafiaboss, der absolut alles besitzt, schenken? »Sir?«, höre ich, als ich mich gerade für eine Schachtel Pralinen entscheide. Ein Mann tritt neben mich, doch wenn ich die blaue Uniform mustere, erstarren jegliche meiner Muskeln. »Verzeihen Sie die Störung, aber sie sehen sehr blass aus. Geht es Ihnen gut?« »J-Ja…«, hauche ich schwach und drücke die Pralinen fest an mich. »Tatsächlich?« Der Polizist zuppelt seine Mütze mit der Marke zurecht. Er deutet nach draußen. »Diese beiden Personen da starren schon die ganze Zeit herüber. Sie sind aus dem verdunkelten Van gestiegen, oder? Sind sie sich sicher, dass alles in Ordnung ist?« Können uns Adrian und Elliot sehen? Verhalte ich mich verdächtig? Aber ich habe nichts falsch gemacht. Soll ich ihm sagen, dass ich entführt wurde? Werden Adrian und Elliot ihn erschießen? Oder wird er sie sogar erschießen…, rasen meine Gedanken. Schweiß sammelt sich auf meiner Stirn. Als ich über diese wischen möchte, schlottert meine Hand. »Sie zittern ja. Haben Sie Angst? Werden Sie erpresst?«, redet der Polizist auf mich ein. Ich taumele zurück, schnappe nach Luft. Was, wenn ich damit durchkomme? Victor wird mir das nicht verzeihen. Dann habe ich die Mafia am Hals, schreit alles in meinem Kopf. Und was, wenn die Polizei siegt? Dann kann ich endlich zurück nach Hause und mein altes Leben führen… Auf einmal schmerzt mein pochendes Herz. Denn diese Erkenntnis befriedigt mich nicht. Sie tut merkwürdig weh. Ich will nicht in mein altes, schreckliches Leben zurück… »Sir!« Ich werde bei den Schultern gepackt.  Mein Kopf wirbelt hoch. Doch ich setzte ein sanftes Lächeln auf. »Haha… Tut mir schrecklich leid… Wissen Sie, meine Großmutter ist gestern verstorben, deshalb stehe ich unter Schock. Der Wagen draußen gehört dem Bestattungsinstitut und diese Männer sind meine… meine… äh, Brüder. Sie haben mich immer im Blick, weil sie befürchten, ich würde zusammenklappen, haha…« »Mein aufrichtiges Beileid.« Der Polizist nimmt den Hut von seinem Kopf. »Es tut mir leid, Sie gestört zu haben. Bleiben Sie stark und sehen Sie nach vorne. Es kommen bessere Zeiten.« Ich nicke zum Abschied, dann puste ich die angehaltene Luft aus, wenn er um das Regal abbiegt. Da geht sie, meine einzige Chance, von Victor loszukommen.  Mein Puls beruhigt sich allmählich, wenn ich an der Kasse bezahle und zu meinen beiden Bewachern laufe. Allerdings werde ich von Elliot sogleich am Kragen meiner Jacke gepackt und gegen das Auto gedrückt. »Was hast du dem Bullen erzählt. Hä?«, brüllt er mich an. »Benimm dich!«, mahnt Adrian und zerrt seinen Kumpanen von mir weg. Dann straft er ihn mit bösen Blicken. Elliot mahlt mit den Zähnen. »Der hat doch sicherlich gepetzt, dieser Hosenscheißer. Ich mach’ dich sowas von kalt, wenn du geplaudert hast. Darauf kannst du wetten.« Mein Kopf senkt und meine Augen schließen sich erschöpft. Ich kann nur über meine eigene Entscheidung schmunzeln. »Lasst uns weiter. Victor wartet sicherlich schon.« Kapitel 10 ---------- Ich atme tief durch, dann klopfe ich an das Arbeitszimmer, zu dem mich Adrian gebracht hat. Nach einem strengen: »Herein«, schiebe ich die Tür auf und spähe in den Raum.  Victors Blick legt sich sogleich auf mich, wodurch ich hart schlucken muss. Er sitzt hinter einem dunklen Akazienschreibtisch mitten im Raum. Dahinter ist ein großes Fenster, das bis zur Decke reicht und eine Aussicht auf den Wald mit seinem plätschernden Bach bietet. An den Wänden stehen, passend zum Tisch, hölzerne Regale, über und über mit Ordnern und Büchern gefüllt. Das Ambiente wird durch eine Sitzecke in dunklem Blau abgerundet, bestehend aus einem Sofa und zwei Sesseln. Doch meine Aufmerksamkeit wird hauptsächlich von der dritten Person im Raum eingenommen – Hektor. Er zieht die Augenbrauen misstrauisch zusammen. »Was machst du hier?« »Jesse, du bist angekommen«, werde ich von Victor begrüßt. Er deutet auf die Ledercouch. »Setze dich für einen Augenblick dorthin.«  Nickend komme ich seiner Aufforderung nach und verkrümele mich im Sofa. Dann drücke ich die Pralinenschachtel an mich und beobachte Hektor, den ich auf Victors Yacht kennengelernt habe. Wenn er in seinem Büro stehen darf, muss er eine wichtige Position innehaben. »Was soll das?«, fragt Hektor, deutet mit dem Zeigefinger auf mich. »Wir haben doch gerade etwas Wichtiges besprochen.« »Das haben wir«, kommt es von Victor. Er lehnt sich im dicken Ledersessel zurück und verschränkt die Hände. »Du siehst, dass ich gerade Besuch bekommen habe.« Hektor schnaubt verächtlich. »Wir müssen herausfinden, was der Carlos-Clan plant und du ziehst es vor, mit deinem Spielzeug rumzualbern?« Victor verengt die Augen zu Schlitzen. Nicht nur mich lässt er schlucken – auch Hektors Kehle rutscht ein Kloß herunter. Um die Stimmung nicht weiter zu reizen, frage ich leise: »Soll ich lieber draußen warten?« »Nein«, bestimmt Victor mit harter Stimme, die keinen Widerspruch duldet. »Wir haben die Gefangenen ausgefragt. Sie sind nur Amateure, haben gesungen wie Nachtigallen. Das bedeutet…«, versucht Hektor weiter. Victor fällt ihm ins Wort: »Du darfst gehen.« »Hör mir doch zu!« »Ich sagte, dass du gehen darfst.« Hektor holt tief Luft. Er dreht sich um und begibt sich zur Tür, wo er stehenbleibt und einen finsteren Blick zu mir wirft. Dann beißt er die Zähne zusammen, bis er zu Victor meint: »Diese Arroganz wird dein Untergang sein.« Plötzlich knallt Victors Faust auf den Tisch, so hart, dass die Möbel wackeln. Ich zucke zusammen und spähe in seine zornig glitzernden Augen. Hektor reißt sich herum. Er stürmt aus dem Raum. Dann sind wir alleine. Keine fünf Minuten in diesem Haus und mein Herz läuft schon einen Marathon. »Musstest du so harsch sein?«, frage ich Victor.  Sein Kopf wendet sich langsam zu mir, während er sich zurück in den Sessel fallen lässt. Er mustert mich von den Fußspitzen bis zum Ansatz. Dann ebbt der Zorn aus seinem Blick ab. »Das geht dich nichts an. Misch dich nicht ein.« »Er scheint etwas Wichtiges sagen zu wollen. War es richtig, ihn so wegzuschicken?«, wage ich mich wie gewohnt in bodenlose Gewässer, in denen ich zu ertrinken drohe. »Deine Begrüßung ist so überglücklich wie erwartet«, sagt er ironisch. Er breitet die Hände aus. »Willst du mir nicht lieber um den Hals fallen? Du kannst dich auch vor mir hinknien und meine Hand küssen, wenn es dir besser gefällt.« Knurrend stehe ich auf und schlendere über das Parkett, bis ich vor dem Schreibtisch stehe und Victor herausfordernd in die Augen sehe. »Dafür, dass du dich in meine Arbeit eingemischt hast? Oder vielleicht, dass du mich wieder hast entführen lassen?« »Mir wurde berichtet, du seist so zahm wie ein kleines Kätzchen gewesen, hast sogar artig deine Sachen gepackt«, flötet Victor.  Ich will meinen Mund für einen Konter öffnen, muss ihn im selben Moment aber wieder schließen. Immerhin bin ich ja wirklich mehr oder weniger bereitwillig hergekommen. Stattdessen  lege ich die runde Pralinenschachtel auf einen Stapel Unterlagen vor Victor ab. »Was ist das?« Victor zieht die Augenbrauen zusammen. »Schokolade.« »Das sehe ich. Warum liegt da Schokolade?« »Als Dankeschön…«, murmele ich leise und schaue zu meinen Fingernägeln, an denen ich spiele. »Was hast du gesagt? Ich habe dich nicht verstanden.« »Wegen der Rettung… Als Dankeschön…« »Wenn du so nuschelst, kann ich es nicht richtig hören.« Ich balle die Fäuste, als sich Victor vorlehnt und amüsiert grinst. Er hat es verstanden, aber dieser Mistkerl will, dass ich es immer wiederhole. Das macht ihm Spaß, natürlich. Doch ich gebe ihm nicht, was er will. »Sie ist abgelaufen. Lag bei mir zu Hause noch rum. Irgendwie muss ich sie verwerten.« Victor fletscht mit den Zähnen. Das verletzt seinen Stolz, es ist kaum zu übersehen. Er fällt im Sessel zurück und seine Finger verkrampfen. Kalt lacht er auf. »Du unverschämter…« »…Mann meiner Träume?«, beende ich seinen Satz. »Naiver Bengel.« Wir starren uns eine Weile schweigend an. Dann nimmt Victor die Schachtel und durchbricht die Stille: »Was ist das für Schokolade?« »Äh, keine Ahnung. Normale Milchschokolade eben…« Victor schnalzt mit der Zunge. »Was soll ich damit?« »Essen vielleicht?« Er wirft die Schachtel achtlos auf den Tisch. Sie rutscht mit zwei Blättern bis zur Kante, an der ich sie auffange, bevor sie herunterfällt. »Hey, warum machst du das?« »Ich habe meine eigene Villa in meinem eigenen Wald. Wenn ich mit dem Finger schnippe, würden sich tausende von Menschen für mich in den Tod stürzen. Und du kommst hierher mit einer Kiste voller Billig-Schokolade?« Ich schüttele den Kopf. »Dir gehört die Welt, ich hab’s kapiert!« Mit Schwung donnere ich die Schachtel zurück vor Victor auf den Tisch. »Sie hat nur drei Dollar gekostet, aber du kannst sie dir nie wieder kaufen.« »Bitte? Was sollte ich daran nicht wieder bekommen können?« »Meine Dankbarkeit.« Ich drehe auf dem Absatz, dann laufe ich aus dem Büro, lasse die Tür hinter mir zuknallen. Bei meiner Ankunft in der Villa, hat Adrian meinen Koffer in das Zimmer gebracht, in dem ich auch letztes Mal geschlafen habe. Deswegen will ich mich schnurstracks dorthin begeben. Allerdings weiß ich spätestens bei dem zweiten Gang, in den ich einbiege, nicht mehr, wo ich mich befinde. Deshalb entscheide ich mich, einfach nachzusehen. Gerade, als ich nach der Klinke greifen will, wird plötzlich mein Handgelenk gepackt und ich werde mit dem Rücken an die Wand gedrückt. »Was…«, keuche ich erschrocken. Victor stützt sich mit dem Unterarm neben meinem Kopf ab. »Bist du zufrieden, wenn ich alle Pralinen esse? Legst du dann endlich deine Sturheit ab?« »So funktioniert das nicht.« Sein Gesicht nähert sich. Mein Herz schlägt schneller. Er haucht: »Dann bring es mir bei.« Von allein schließen sich meine Augen. Erst spüre ich Victors Atem, dann seine Lippen. Er küsst mich sanft. Dabei lässt er mein Gelenk los und legt seine Hand an mein Gesicht. Mit dem Daumen streicht er über meine Wange, die sich sicherlich rot färbt. Kurz lösen wir uns, um Luft zu holen. Daraufhin wird Victors Kuss verlangender. Seine feuchte Zunge bittet um Einlass, die ich ihr gewähre. Sie tastet sich zu meinen Zähnen und berührt meine eigne. Ich bringe ihm zu wenig Kraft entgegen, um ihn zurückzudrängen, wie er es bei mir tut. »Warte…«, seufze ich, als wir uns lösen. »Ich… kann nicht.« »Das ist mein Schlafzimmer. Lass uns erstmal rein«, sagt Victor. Er wartet keine Antwort ab, sondern nimmt meine Hand und zieht mich in den Raum. Staunend sehe ich mich um. Es ähnelt meinem Zimmer im Aufbau, aber das Inventar wirkt nochmal um Welten edler. Das Holz ist wie in seinem Büro aus Akazie und gleich zwei Türen führen an den Seiten weiter. Das Bett steht auf einer Erhöhung neben der verglasten Wand, hinter der die Sterne am Nachthimmel glitzern. Zudem wird der Raum durch eine schwarz-goldene Säule mit Blumen-Ornamenten geziert, die mittig neben dem Sofa an die Decke ragt.  »Komm.« Victor führt mich zu seinem Bett, auf dem mehrere Lagen Tagesdecken liegen. Er drückt mich leicht an den Schultern herunter, bis ich sitze. »Bescheidenheit ist nicht dein Lebensmotto«, sage ich und beobachte, wie Victor zu einer Minibar bei der Couchgarnitur tritt, um eine Flasche Champagner und zwei Gläser zu holen. Dann kommt er neben mich und reicht mir eines. »Ich brauche nicht bescheiden zu sein.« Er löst den Korken, worauf der Schaum über den Hals sprudelt. Schnell schenkt er mir ein, dann sich selbst. Ich klammere mich an das schmale Glas. Die Kohlensäure sprudelt vor sich hin. Mein Herz macht einen Satz. »Ich kann das nicht, Victor.« Er nimmt einen Schluck Champagner, bevor er sein Glas auf dem Nachttisch abstellt und sich neben mich setzt. »Sag mir was du willst. Vom Pazifik bis zur Sahara – ich kaufe dir was du willst. Ein Wort genügt.« »Ich habe dir doch erklärt, dass es so nicht funktioniert.« »Wie dann? Jeder, den ich hierhergebracht habe, hat mein Angebot angenommen. Ein Auto, ein Haus, ein neues Leben… Sie haben diese Chance genutzt. Warum du nicht?« Ich hole tief Luft. Dann sehe ich Victor in die Augen und halte ihm ein Finger vor die Nase. »Nummer eins: Egal was ich tue, ich werde es nicht für Geld machen.« Ein zweiter Finger folgt nach oben. »Wenn ich nein sage, wirst du meine Meinung respektieren.« Als Letztes folgt mein dritter Finger. »Zum Schluss… Deine kriminellen Angelegenheiten bleiben deine Sache. Wenn du mich da mit reinziehst, werde ich dir nicht verzeihen.« »Und dann schläfst du mit mir?« Schluckend taste ich mich mit der freien Hand über die seidige Bettwäsche, bis ich Victors Finger erreiche. Ich zögere, doch dann lege ich meine Hand auf seine. Den Blick kann ich nicht mehr aufrechterhalten, als sich meine Wangen zutiefst rot färben. »Endlich.« Victor will nach meinen Gesicht greifen, um mich zu küssen.  Ich fange seine Hand ab und sage: »Aber langsam.« Victor nickt, bevor er aufsteht. Er schenkt sich erneut vom Champagner ein und leert das Glas in einem Zug. »Dann werde ich jetzt duschen gehen.« Schweigend sehe ich ihm hinterher, als er zur Wand mit der Sitzecke läuft und durch die Tür in ein angrenzendes Badezimmer verschwindet. Augenblicklich stoße ich die angehaltene Luft aus. Zittrig fahre ich mir durch die Haare. Scheiße, ich habe gemeint, dass ich mit ihm schlafen werde! Das kann ich nicht! Mein Herz schmerzt schon, so dolle klopft es! Gleich werde ich ohnmächtig! Ich mache es Victor gleich und kippe mir mit einmal das ganze Glas Champagner hinter. Gleichzeitig geht im Badezimmer die Dusche an. Das Wasser prasselt auf den Boden. In meinem Kopf bildet sich das Bild des duschenden Victors. Seine großen Finger würden durch seine kurzen Haare streichen. Die warmen Tropfen würden auf der Haut abperlen, über seinen muskulösen Rücken laufen… Ich lecke mir über meine trockenen Lippen. Deswegen bin ich doch hergekommen, oder? Weil ich es ausprobieren will. Wenn ich mich nicht traue, kann ich nicht herausfinden, wie es sich anfühlt, rasen meine Gedanken. Sie werden unterbrochen, als Victor das Wasser ausschaltet und kurze Zeit später aus dem Badezimmer tritt. Um seinen Hüften schlingt sich jetzt lediglich ein Handtuch. Ich rutsche auf dem Bett herum. Victor kommt mit langsamen Schritten heran, den strengen Blick auf mich gerichtet. Es ist das erste Mal, dass ich die Tattoos an seinem linken Bein wahrnehme. Auf seiner Yacht war ich zu sehr mit dem Geschehenem beschäftigt. Er schenkt sich nochmals den Champagner nach und trinkt davon. Alles genau vor meiner Nase. Es würde reichen, meine Hand auszustrecken, um über seine Bauchmuskeln zu streichen, die sich bei jeder Bewegung anspannen. So nah ist er. Ich kann die Hitze vom Duschen spüre, die sein nackter Körper ausstrahlt. »Blümchensex ist nicht so meins«, sagt Victor, donnert das Glas   auf den Nachttisch. Ich zucke zusammen. Er stößt mich an den Schultern aufs Bett, klettert mit einem Knie auf die Kante und drückt mich herunter. »Viel lieber höre ich meinen Besitz nach mehr betteln. Du sollst dich unter mir winden. Erst, wenn du angekettet in meinem Bett liegst und mich Meister nennst, kann es mich befriedigen.« Meine Augen weiten sich. »Heute ist mein erstes Mal. Du musst… ganz sanft sein.« Victor schnaubt. »Hälst du mich für eine Anfänger? Begib dich in meine Hände und überlasse mir die Führung.« »Für… Für diese Nacht. Ich vertraue dir«, stimme ich ihm zu. Victor lächelt – ein sadistisches Lächeln. Gänsehaut bildet sich an meinen Armen. Die Macht über mich, die ich ihm gebe… das ist, was er will. Er will meinen Körper und meine Gedanken besitzen. Er will über mich herrschen. Ich schließe die Augen. Ohne sehen zu können, hebe ich die Hände, bis sie zu Victors Gesicht reichen. Sie tasten über sein breites Kinn, über die kantigen Knochen, zu den rauen Wangen. Er lässt sich von mir heranziehen. Dann küsst er mich. Als wäre dies ein Startschuss, fahren seine Hände unter meinem Pullover die Seiten hinauf. Seufzend öffne ich meine Lippen, lasse Victor gewähren. Er zieht meinen Pullover unter meinem Rücken hoch, dann schiebt er ihn auch vorne nach oben. Nervöses Zittern meines Körpers begleitet seine Finger über meinen schmalen Bauch. Victor beendet unseren Kuss. Dafür taucht er tiefer und haucht über meinen Bauch. »Du siehst süß aus, wenn du aufgeregt bist.« »Victor…«, hauche ich. »Du hast genug Zeit, meinen Namen zu stöhnen. Nur keine Eile«, raunt er sexy, bevor er sich zu meiner Brust küsst. Er streichelt über mein rechtes Schlüsselbein, während er vorsichtig an meinen Nippel haucht. Ich lege vor Scham einen Arm über mein Gesicht. Die Röte darf er nicht sehen. Auch nicht meine glasigen Augen. Stattdessen hört er mein überraschtes Piepsen, als sein Zeigefinger über meinen Nippel reibt. Er umkreist die empfindliche Haut, welche sich sofort versteift. »Dein Körper regiert so heftig«, sagt Victor, bevor er an meinem Nippel zieht. Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht wieder ein peinliches Piepen von mir zu geben. »Man merkt, dass noch niemand dich angefasst hat. Diese süßen Reaktionen sehe ich als allererstes und einziges.« Victors Zunge leckt über meinen Nippel, bis seine Zähne beginnen, hineinzubeißen. Nicht zu fest, aber genug, um einen Schauer über meinen Rücken zu jagen. Er reibt ihn mit seinen Zähnen und zieht wie zuvor mit den Fingern daran. Mein Atem geht stockend. Eine Weile setzt er diese Behandlung fort, bis er sich aufrichtet. Seite rechte Hand ruht an meiner Seite. Ich spüre seinen Blick auf meinem bedeckten Gesicht. »Schämst du dich?« Ich nicke stumm. Dann spüre ich auf einmal, wie er mit der freien Hand meinen Arm greift und ihn unerbittlich von mir zieht. Nun kann er meine knallroten Wangen sehen. Ich drehe hastig meinen Kopf zur Seite. Daraufhin packt er mein Kinn mit leichter Gewalt und zieht es herum. Blinzelnd schlage ich meine Augen auf, traue mich in seinen verführerischen Blick zu sehen. »Ich lasse es nicht zu, dass du auch nur den winzigsten Teil deiner Schönheit vor mir verbirgst«, erklärt er dunkel, was nicht dazu beiträgt, mich runterzubringen. Die ganze Zeit macht er mir Komplimente und bezeichnet mich als Schönheit. Schnulzige Heuchelei – Trotzdem falle ich darauf herein. »Wenn du dich versteckst, kann dieses perfekte Gesicht nicht seinen Sinn erfüllen – mir zu gefallen«, flüstert Victor. Sein Zeigefinger setzt an meiner Kehle an. Er schleicht kratzend nach oben. Unwillkürlich lege ich den Kopf in den Nacken. Es ist ein aufregendes Gefühl, welches mich durchströmt, als ich schlucke und seinen Nagel an meiner Kehle darüber spüre – gefährlich, drohend… Victors lässt von meinem Hals ab. Dafür zerrt er am Bund meiner Jeans. »Zieh sie für mich aus.« Er steigt von mir herunter, weshalb ich mich aufsetze. Unschlüssig sehe ich zwischen Victor und meiner Hose hin und her. Dann finden meine Finger zum Knopf, um ihn zu öffnen. Allerdings bekomme ich ihn nicht auf, weil ich zu stark zittere. Victor verdreht die Augen, rutscht näher. Er übernimmt diese Aufgabe für mich. Ich schlinge meine Arme um seinen Oberkörper und lege meinen Kopf auf seiner Schulter ab. Währenddessen konzentriere ich mich auf die winzigen Berührungen an meinem Glied, die Victor hinterlässt, als er den Reißverschluss aufzieht. Er gibt mir mit einem Tippen zu verstehen, dass ich aufstehen soll. Artig folge ich dieser Anweisung, damit er mir die Jeans über den Hintern ziehen kann. Schließlich muss ich Victor wieder loslassen, da er die Hose von meinen Beinen streift und sie zu Boden fallen lässt. Jetzt trage ich lediglich meine Boxershorts. Automatisch presse ich die Knie zusammen und bedecke die Beule mit den Händen. »Wie soll man da sanft bleiben, wenn du dich so unschuldig verhältst?« Victor leckt über seine trockenen Lippen. Es wirkt gierig. Er will mich unbedingt nehmen, ich sehe es in jeder Regung seines Gesichts.  Mein Blick legt sich auf Victors Tattoos. Eines sticht besonders hervor – der goldene Drache, der sich über seine Hüfte, um seinen gesamten Oberschenkel, bis zu seiner Wade schlängelt. Dieses mystische Wesen reißt das Maul gefährlich auf. Fast scheint es, als würde der Drache auf die kleineren Tattoos herabsehen. Diese schwarz-weißen Bilder vermischen sich mit Dornenranken und mehrere abstrakte Figuren. Bestimmt waren es um die zehn verschiedenen Kunstwerke, trotzdem waren die meisten dezent genug, um nicht überladen zu wirken. »Haben sie eine Bedeutung?« Ich zeige auf Victors Tattoos.  Er folgt meinem Blick und dreht das Bein zur Seite, sodass er die gestochenen Bilder besser sehen kann. Dann schaut er mir direkt in die Augen, was mich schlucken lässt. »Ja… haben sie.« »Was bedeutet der Drache?«, hake ich nach. Er lässt einige Moment verstreichen, dann meint er: »Der Drache ist das Zeichen dafür, dass ich den Lassini Clan führe. Ich habe ihn mir stechenlassen, als die Familie an mich überging.« »Und die kleineren Tattoos?« »Für jede große Mission, die ich erfolgreich abschließen konnte, ist ein weiteres Bild zu ihnen gestoßen.« Eine Weile betrachte ich noch die Tattoos, dann rutscht mein Blich zu seinem Handtuch, das durch die Zeit tiefer gerutscht ist und sich bald zu lösen droht. Victor bekommt mit, worauf meine Augen liegen und fragt amüsiert: »Willst du es mir abnehmen?« Er nimmt meine Hände in seine, dann führt er sie zu dem feuchten Handtuch. Meine Fingerspitzen vergraben sich hinter dem weichen Tuch. Dadurch spüre ich die straffe Haut und den leichten Ansatz von Haaren. Weil ich mich selbst nicht traue weiterzugehen, leitet Victor meine Hände weiter, um sich von dem Handtuch zu befreien. Dann sitzt er ganz nackt vor mir. Mein Herz hämmert unnachgiebig gegen meine Brust. Flüchtig schaue ich zu Victors halb erregtem Glied. Es ist selbst in diesem Moment so groß, wie in meiner Erinnerung. Ich höre ihn belustigt schnauben. »Soll ich jetzt jeden Schritt für dich übernehmen? Fass mich an… Ich will deine kleinen Finger um mich spüren.« Victor legt meine zitternde Hand an seinem Glied ab, dirigiert sie hoch… dann wieder ein Stück nach unten… Hier ist er genauso heiß, wie am restlichen Körper. Und er wird immer heißer und härter… »Wenn ich dich so manövrieren muss, wirkt es, als ekelst du dich vor mir«, sagt Victor, zieht die Augenbrauen hoch. »N-Nein… ich…«, stammelt mein Mund. »Das ist ein bisschen viel für mich. Es ist so ungewohnt.« »So lange habe ich noch nie fürs Vorspiel gebraucht.« »Tut mir leid, dass ich so langsam bin«, schmolle ich. Victors stöhnt genervt. Dennoch schmunzelt er. »Du lässt mich ja gerne warten, das weiß ich bereits.« Ich wage mich einen Schritt weiter und schließe meine Hand enger um Victors Glied. Langsam beginne ich, der Bewegung zu folgen, die mir Victor vorgibt. Ich kann spüren, wie das Blut in seinem Glied pulsiert. Es scheint sich mit jeder Sekunde weiter zu verhärten. So langsam scheint es Victor zu gefallen. Er stützt sich mit der freien Hand zurück und seufzt sogar. Irgendwie spornt mich das an. Also teste ich mein eigenes Tempo aus, sodass sich Victors Hand bald von meiner löst. Dafür streichelt sie über meine Wange, hinab zu meiner Hüfte. »M-Mache ich das richtig?«, frage ich und verfluche mich im selben Moment dafür. Das klingt völlig unbeholfen. »Wie sieht es für dich aus?«, erwidert Victor. Es sieht aus, als würde er mögen, wie ich ihn massiere, auch wenn es nicht das ist, was er gewohnt ist. Plötzlich nimmt Victor meine Hand von seinem harten Glied, das sich unter meiner Behandlung aufgerichtet hat. Er scheucht mich hoch und zieht mich daraufhin zwischen seine Beine. Mit großen Augen realisiere ich, dass ich jetzt mit dem Rücken an seinem nackten Körper sitze. Sein Glied drückt sich an mich und ich ziehe die Schultern ein. »Um die ganze Sache zu beschleunigen…«, raunt Victor an mein Ohr. Bestimmt merkt er die Gänsehaut, die sich über mir ausbreitet. Diese Position ist intensiver als zuvor. Ich kann lediglich seine Hände sehen, die um meine schmale Taille schleichen und über meine Schenkel streichen. »Öffne deine Beine«, befiehlt er mir ruhig. Zögerlich komme ich dem nach. Dann presse ich mein beschämtes Gesicht gegen seine Schulter. Victor streichelt über meine Knie, zu meinen Schenkeln, dann die Innenseite entlang. Anfangs kitzelt es ein wenig, was sich schnell in ein Kribbeln verwandelt. Ich beiße mir fest auf die Lippe, als er beginnt mit dem Stoff meiner Boxershorts zu spielen. Er hat Spaß daran, seine Finger kurz darunter gleiten zu lassen und sie wieder herauszuziehen, ohne mich wirklich an empfindlichen Stellen zu berühren. Doch er scheint Gnade zu haben, weil es mein erstes Mal ist. Deshalb legt er seine ganze Hand auf die Beule, die durch meine Shorts ragt. Er beginnt sie zu streicheln, zu reiben… mit mehr Druck zu massieren. Es fühlt sich wie eine wohlige Wärme an, sie sich von meinem Unterleib in meinem gesamten Körper ausbreitet. Mit der einen Hand kralle ich mich in die Überdecke, mit der anderen an Victors Arm. »Endlich kann ich das alles erkunden…« Er küsst meinen Nacken, fährt mit seiner freien Hand meinen Bauch hinauf und reibt meinen Nippel, wie er es vorhin auch getan hat. Ich stöhne meine angehaltene Luft heraus. »Fühlt sich gut an, nicht wahr? Ich habe dir doch gesagt, dass du dich nur in meine Hände begeben musst. Du musst dich nicht mehr sorgen, nicht mehr denken – Du musst nur tun, was ich dir sage, um glücklich zu sein.« »V-Victor…«, stöhne ich, als er den Weg in meine Boxershorts findet und nun über mein nacktes Glied fährt. Meinem Mund entweichen nur noch Wortfetzen: »Mh… Ah… Das… Haa…« Mein Blut kennt nur noch eine Richtung – tiefer und tiefer. Victors geschickte Finger reiben über meine gesamte Länger, bis sie an der Spitze stoppen, um diese zu umkreisen. Er weiß genau, wie er den richtigen Druck einsetzt, um mich zu reizen, aber mir nicht zu viel zu geben. »Du wirst schon feucht. Wenn es nicht dein erstes Mal wäre, würde ich dich jetzt für diese Ungeduld bestrafen«, mahnt Victor mit dunkler Stimme. Anschließend kratzen seine Zähne an meinem Hals, bis sie eine geeignete Stelle finden, um hineinzubeißen.  Ich will mich krümmen, aber die Hand an meinem Brustkorb drückt mich zurück an Victors heißen Körper. Daraufhin bewegt sie sich tiefer, direkt zu meinem Kreuz und zu meinem Hintern. Wieder stöhne ich, als sie über ihn streicheln und auch dort beginnt, mich zu massieren. Victors gieriges Seufzen, direkt an meinem Ohr, verstärkt die Spannung, die durch mich zischt. Allmählich merke ich, wie er mich geradewegs zum Orgasmus treibt. Diese unbekannten Gefühle halte ich nicht lange aus. Zum Glück stoppt Victor. Er zieht mich auf die Beine, bevor er zum Nachttisch geht und eine dunkle Tube mit lila Aufschrift holt. Danach tritt er genau vor mich und flüstert mir dominant ins Ohr: »Zieh die Unterhose aus. Ich will, dass du dich mit dem Bauch ins Bett legt. Verspanne dich nicht.« Kurz schaue ich ihm in die glasigen Augen, bevor ich mir meine Boxer abstreife und mich genauso auf die Decken lege, wie er mir angewiesen hat. Mein Herz rast, als er sich neben mich kniet und wieder über meinen Hintern streichelt. Er drängt seinen Finger zwischen meine Backen. Langsam stößt er gegen mein Loch, umkreist es gemächlich oder drückt dagegen. Ich höre, wie Victor die Tube Gleitgel öffnet. Er zieht seine Hand zurück, um das Gel darauf zu verteilen. Anschließend findet sein Finger zu vorherigen Postion zurück. Erneut zieht er kreise um mein Loch, doch diesmal erhöht Victor den Druck, bis er ein wenig in mich eindringt. Ich stöhne laut. Sofort zieht sich alles in mir zusammen. »Ich habe doch gesagt, du sollst nicht verkrampfen«, zischt Victor. »T-Tut mir leid… Es ist so… komisch«, erwidere ich, presse mein Gesicht in die Decken. Ich versuche tief durchzuatmen, nicht in Panik zu geraten. Und als Victor mir beruhigend über den Rücken streichelt, entspannen ich mich langsam. Ebenso der Muskel um Victors Finger. Er steigert den Druck, damit er tiefer in mich eindringen kann. Diesmal gelingt es ihm. Abermals muss ich stöhnen, als sein gesamter Finger in mir ist. Viel Zeit zum Gewöhnen lässt mir Victor nicht. Kurz darauf beginnt er den Finger aus mir zu ziehen und immer schneller in mir zu versenken. »Du bist so eng…«, stellt er mit belegter Stimme fest. »Ha… Mh…«, ist meine aussagekräftige Antwort darauf. Einige Minuten setzt Victor dieses Spiel fort. Mit jedem Augenblick, der verstreicht, spüre ich, wie sich mein Loch dehnt und seinen Finger besser aufnimmt. Dasselbe scheint Victor auch zu bemerken. Deshalb setzt er einen zweiten Finger am Loch an und dringt mit ihm ein. Meine Fingernägel krallen sich in die Überdecken. Diese Erregung ist gänzlich anders, als das Reiben meines Glieds. Diese Hitze, die mich durchströmt, bleibt bestehen, aber es ist eher ein reizendes Gefühl, das wie ein Blitz in mich schießt. »Du solltest soweit sein«, stellt Victor nach weiteren drei Minuten fest. Er zieht seine Finger aus mir zurück. Ich vernehme Schritte, die über das Parkett laufen und einen Schrank, der abermals aufgezogen wird. Als ich über die Schulter spähe, muss ich hart schlucken. Victor führt ein Kondom zu seinen Lippen. Dann reißt er es mit den Zähnen auf und wirft das Papier achtlos weg. Das sieht unfassbar sexy aus. Er klettert zurück aufs Bett und schiebt sich das Kondom über sein hartes Glied. Mich übermannt die Frage, ob ich es wirklich in mir aufnehmen kann. Seine Finger waren die eine Sache, aber sein Glied ist so groß…  »Mach ganz langsam«, bitte ich Victor, der sich über mich positioniert. Er nimmt sich erneut das Gleitgel und verteilt es auf seinem pochenden Glied. Bestimmt kann er gar nicht mehr warten, in mich zu stoßen. Victor beugt sich herunter, damit er mich küssen kann. Er haucht gegen meine Lippen. »Du sollst doch nicht mehr denken. Ich werde deinen kleinen Hintern schon ordentlich behandeln.« Seine Hüfte legt sich auf mich, wodurch das harte Glied gegen meinen Po drückt. Fest presse ich die Lippen zusammen. Mit einer Hand zieht Victor meine Backen auseinander, mit der anderen dirigiert er sein Glied gegen mein Loch. Er drängt die Spitze in mich, aber es ist zu eng… »Du darfst nicht verkrampfen«, erinnert Victor mich. »Ich versuche es…« Er zieht sein Glied wieder ein Stück zurück, dann drückt er es mit mehr Kraft gegen mein Loch. Diesmal stoppt er nicht, sondern macht solange weiter, bis er ein Stück in mich eindringt. Das reißende Gefühl verstärkt sich… schmerzhaft. Es zieht in meinem Hintern, gleichzeitig fühlt es sich jetzt schon viel ausgefüllter an, als mit Victors Fingern. Also lasse ich trotz des Schmerzes zu, dass er sich wieder in mich schiebt. Immer weiter… diese kurze Zeit kommt mir sehr lange vor. Erst, als er vollkommen in mir ist, traue ich mich, den angehaltenen Atem auszustoßen, »Es tut weh… ein bisschen«, wimmere ich. Victor küsst mich, bevor er sagt: »Das hört gleich auf.« Der Schmerz bleibt für einige Moment bestehen. Es fühlt sich so an, als würde mich Victors Glied auseinanderreißen. Doch dann bewahrheiten sich seine Worte und er ebbt ab. In den Vordergrund rückt das Gefühl, gänzlich ausgefüllt zu sein. Viel besser als mit den Fingern. Viel besser als nur vorne berührt zu werden. »Jetzt okay?«, fragt Victor.  Ich nicke schwach, woraufhin Victor sich besser über mir positioniert und beginnt, sich aus mir zu ziehen. Sofort stöhne ich laut. Jetzt, wo der Schmerz weicht, durchzucken mich wieder diese Blitze. Noch intensiver, als Victor sein Glied beinahe aus mir zieht, um gleich darauf in mich zu stoßen. Zuerst ist er sehr langsam und vorsichtig. Jede Bewegung ist konzentriert. Er stößt in mich vor und zieht sich fast ganz heraus. Mein Seufzen erfüllt den Raum. Aber nach einigen Minuten steigert er das Tempo. Jetzt stößt er nicht mehr ganz in mich und zieht sich auch nur noch bis zur Hälfte zurück, was ihm mehr Schnelligkeit erlaubt. »Victor… Das ist…« »Atemberaubend?«, fällt er mir ins Wort, fängt mich sofort in einem Kuss ein. Seine Hüfte wird mit jedem Stoß schneller. Auch er beginnt schwer zu atmen und seine Hände auf mir werden hastiger. Sie streichen jetzt ungeduldig über meine Schultern oder schieben mein Becken auf sein Glied. Plötzlich küsst mich Victor ein letztes Mal, bevor er sich ganz aus mir herauszieht. Er nimmt mich bei den Schultern und dreht mich auf den Rücken. Mein scheuer Blick trifft auf seinen. Sein sadistisches Schmunzeln kehrt zurück. »Du wist mir alles zeigen. Jedes Gefühl, jedes bisschen Lust. Schau mir in die Augen und sieh nicht weg.« Victor spreizt meine Beine, drängt sein Glied an meinen Po und dringt ohne Vorwarnung in mich ein. Ich will laut stöhnen, da küsst er mich stürmisch und verschränkt unsere Hände über meinen Kopf. Nun gönnt er mir keine Pause mehr. Mit kräftigen Stößen versenkt er sich in meinem Hintern, lässt mir kaum Zeit zum Luftholen. Unwillkürlich hebe ich die Beine an, was ihn wiederum noch tiefer in mich lässt. Während er mich unnachgiebig nimmt, legt er meine Beine um seine trainierte Taille.  Für mein erstes Mal ist das zu viel. Kaum streichen seine Finger über mein steifes Glied, kann ich nicht mehr an mich halten. Ich biege den Rücken durch und komme zum Orgasmus. Noch nie zuvor habe ich solche Sternchen vor meinen Augen tanzen sehen. Mein Stöhnen geht erstickend unter. »Du bist schon…?«, fragt Victor und beobachtete meinen bebenden Körper, der unter dem Orgasmus erzittert. Er verdreht die Augen, dann fasst er meine Hüfte und beginnt sich noch härter als zuvor in mich zu schieben. Ich lege meine Hände auf seine und ringe nach Atem, während Victor ein paar letzte Male in mich stößt. Dann kommt er ebenfalls. Seine Bauchmuskeln ziehen sich unter der Angstregung zusammen. »Victor…« Er streicht mir die verklebten Haare von der Stirn. »Ich hoffe, dein erstes Mal hat dir gefallen.« Wir verbleiben für einige Moment so, bevor sich Victor aus mir herauszieht. Er entfernt das benutzte Kondom von seinem Glied und schmeißt es im Bad weg. Er hat ein Tuch mitgebracht, mit dem er die Spuren meines Orgasmus’ von meinem Bauch wischt. Als er auch dieses entsorgt hat, legt er sich neben mich, seinen Kopf mit dem Ellenbogen stützend. »Ich kann nicht fassen, dass wir es getan haben.« »Du hast mich lange genug hingehalten.« »Mein erstes Mal…« »Gehört jetzt mir ganz allein.« Victor streicht meinen Arm entlang, was Gänsehaut auf ihm verursacht. »Mir wird kalt und ich bin richtig erschöpft«, erkläre ich. Mein Kopf ist wie leergefegt. Das war ein unvergessliches erstes Mal. Dieser Mann hatte mich absolut im Griff. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich es mal bereuen werde, genieße ich die Ruhe. »Du solltest jetzt gehen.« Ich horchte auf. »Wohin?« »In dein Zimmer. Zum Schlafen.« »Warte.« Ich setzte mich auf. »Willst du damit sagen, dass ich jetzt wirklich gehen soll? Dein Ernst?« »Selbstverständlich. Wir haben miteinander geschlafen, also sind wir fertig«, erklärt Victor mit unbestreitbarer Arroganz. Mich überkommt ein empörtes Lachen. »Du schmeißt mich raus, keine fünf Minuten nachdem du mich entjungfert hast?« »Ich habe von vornherein klargemacht, dass ich nur Sex will. Alles davor oder danach interessiert mich nicht.« Ich balle die Fäuste. Gerne würde ich sie ihm gerade ins Gesicht reiben. »Nicht einen Fuß werde ich aus diesem Zimmer setzen.« »Bitte?« »Ich schlafe hier. Niemand wird mich davon abhalten.« »Jesse… Du wirst auf der Stelle gehen. Das ist mein letztes Wort«, droht er gefährlich. Doch anstatt einzuknicken, knie ich mich hin und krabbele zur rechten Seite des riesigen Bettes. Dann schlüpfe ich unter die vielen Lagen Decken. Mich durchzuckt ein kurzer Schmerz, als ich mich auf den Hintern lege.  »Wenn du eine Wiederholung von heute willst, schlafe ich hier. Das ist mein letztes Wort«, sage ich grinsend. Victor fletscht mit den Zähnen. Das hasst er. Eben noch war ich wie Wachs in seinen Händen und jetzt gebe ich die Richtung an. Wahrscheinlich würde er mir dafür am liebsten an die Gurgel gehen. Doch er hält sich zurück, raunt dunkel: »Tu, was du nicht lassen kannst.« Er steht auf, reißt die Überdecken zu Boden und schaltet das Licht aus, indem er einen Touchscreen am Nachttisch betätigt. Dann legt er sich auf die andere Seite des Bettes, sodass er mir den Rücken zuwendet. Ich schleiche unbemerkt näher. Anschließend stupse ich meine Stirn an seine Schulter. »Was soll das werden?« »Kuscheln.« »Weder kuschele ich, noch betreibe ich etwaige romantische Interaktionen«, knurrt er zornig. Gar nicht auf die tödliche Atomsphäre achtend, lege ich einen Arm um den Mafia-Boss und schmiege mich näher. »Du musst ja nicht kuscheln. Das übernehme ich.« Obwohl ich Fliegengewicht nicht den Hauch einer Chance hätte, wenn mich Victor gewaltsam aus seinem Bett zerren würde, lässt er es zu, dass ich ihn umarme. Vielleicht sieht er einfach darüber hinweg, damit ich ihn ein weiteres Mal ranlasse. Meine Augen werden immer schwerer. Bevor ich einschlafe, kommen mir ein paar letzte Worte über die Lippen: »Das war schön…« Kapitel 11 ---------- Schmatzend schlage ich die Augen auf. Während ich mir den Sabber vom Mund wische, taste ich mich mit der anderen Hand zur Seite. Doch als neben mir nur gähnende Leere herrscht, setze ich mich auf. Verwirrt schaue ich im Zimmer umher. »Victor? Bist du hier?« Mein Blick fällt auf einen beigen Schlafanzug, der über die Lehnen der Couch hängt. Ich schwinge die Beine aus dem Bett, strecke mich ausgiebig und laufe zum Sitzbereich. Der Anzug scheint genau meine Größe zu haben. Victor muss ihn für mich rausgelegt haben, nachdem er – wann auch immer – gegangen ist. Deshalb ziehe ich ihn mir kurzerhand über, bevor ich aus dem Zimmer tapse. Ich schlendere barfuß durch den unbekannten Gang. Gestern habe ich mich verlaufen, weshalb ich hier herausgekommen bin. Zu meiner rechten Seite sind weitere Zimmer, auf der linken hingegen ist ein offener Bereich. Für mich wirkt er fast wie die Aussichtsplattform eines Turms. Er bietet einen rundum Panoramablick auf den unberührten Wald. An der Wand zur rechten steht eine lange Bar mit zehn Hockern und vor den schier unendlich breiten Fenstern Cocktailsessel wie in einer Lounge. Keine Ahnung wie spät es ist, aber die Sonne bewegt sich eilig zum Höhepunkt. Der gesamte Bereich ist mit Licht geflutet. Das sieht krass aus, schießt es mir durch den Kopf. Nachts ist es hier bestimmt perfekt. Ein Cocktail, sanfte Musik, die Sicht zu den Sternen… Victor führt ein Leben wie im Traum. Ich möchte hier auch mal sitzen. Mit ihm. Mein Blick bleibt an zwei bekannten Personen hängen, die am linken Bereich sitzen und gedankenverloren zum Wasserfall über den Baumwipfeln starren. Ich gehe langsam zu ihnen. »Hast du das Shampoo aufgebraucht?«, höre ich Adrian, als ich näherkomme. »Du weißt, dass wir keines mehr haben?« »Reg dich ab«, stöhnt Elliot. »Du wolltest doch unbedingt, dass ich spüle.« »Mit Shampoo?« »Der Geschirreiniger ist halt auch alle, was weiß ich!« »Gibt es etwas, das nicht ausgegangen ist?« Elliot grinst. »Also Kondo…« Adrian springt wie vom Blick getroffen auf, als er mich bemerkt. Dann schneidet er Elliot das Wort ab: »Ja, ja, genau! Gut, dass wir das geklärt haben!« Er lächelt mir freundlich zu. »Ah! Mr Carter! Ein schöner Morgen, nicht wahr?« »Habe ich gestört?« »Ja, kannst du dich verpissen?«, murrt Elliot, wofür er einen bösen Blick von Adrian kassiert. »Bitte verzeihen Sie, Mr Carter. Setzten Sie sich doch«, richtet Adrian die Situation gerade. Er deutet auf den letzten der drei Sessel, weshalb ich platznehme. Dann setzt sich auch Adrian wieder. »Wo ist Victor«, frage ich. »Unten, glaub ich«, meint Elliot, der sowohl Kopf als auch Arme kraftlos über die Lehnen baumeln lässt. »Geh doch zu ihm und lass dich durchnehmen, anstatt uns hier zu nerven.« »Das reicht jetzt«, mahnt Adrian mit erhobener Stimme. »Warum? Wir sind nicht aus dem Schlafzimmer des Bosses gekommen…«, raunt Elliot anzüglich, bevor er mir einen amüsierten Blick zuwirft.  Ich beiße mir auf die Lippe, als mir die Röte ins Gesicht schießt. Die beiden wussten zwar vorher schon, weshalb mich Victor hat entführen lassen, aber nun habe ich es wirklich getan! »I-Ist ja auch egal«, sage ich und räuspere. »Was anderes: Ihr seid irgendwie rund um die Uhr beim Boss und ich sehe euch auch nicht gehen. Wohnt ihr mit hier oder so?« Adrian deutet nach draußen auf ein Häuschen, kaum zwanzig Meter von diesem Anwesen entfernt. »Wir wohnen nebenan. In unserer Stellung müssen wir zu jeder Zeit abrufbereit sein.« »Der Fernseher ist echt nicht schlecht«, ergänzt Elliot die Ausführungen. »Und die Kaffeemaschine, oder die Saune… oder  »Dann seid ihr quasi jeden Tag und wirklich 24 Stunden zusammen? Geht ihr euch da nicht manchmal selbst auf den Keks? Und was ist mit Victor? Ihr klebt jeden Tag an ihm.« »Es ist eine sehr große Ehre, unserem Boss in dieser Form nützlich zu sein. Für uns gibt es keine lobreichere Anerkennung«, erklärt Adrian, als hätte er diese Sätze mehrere Jahre auswendig gelernt. Elliot stöhnt. »Ehre schön und gut. Trotzdem ist es manchmal echt zum Kotzen«, antwortet er ehrlicher. »Wenn das der Boss hört!«, raunt Adrian. »Komm schon, als ob wir ihm nicht auch hin und wieder auf den Zeiger gehen.« »Was soll Mr Carter denken, wenn du so abwertend über unser Pflichtgefühl sprichst?« Elliot mustert mich intensiv. Dann sieht er mich direkt an. »Ich hab nur gesagt, dass es eben nervt, jemanden ständig an der Backe zu haben.« Er verengt die Augen. »An meiner Loyalität ändert das nichts. Für die Familie würde ich Tausend Tode sterben.« Ich schlucke. Einen Moment kehrt Stille ein. Adrian nimmt seine Tasse, die auf dem niedrigen Tisch steht und trinkt vom Tee. Um das Thema in eine friedfertigere Richtung zu lenken, frage ich: »Hat eigentlich jeder in eurer Familie so ein Drachentattoo wie Victor? Ist das vielleicht ein Erkennungszeichen?« »Äh, nö. Was für ein Quatsch. Du hast wohl zu viele Mafia-Filme gesehen«, prustet Elliot, was mich die Zähne zusammenbeißen lässt. »Aber Adrian hat eines. Er wollte damals unbedingt das gleiche haben wie sein großes Vorbild, Victor Lassini.« Unsere Köpfe wirbeln herum, als Adrian sich plötzlich am Tee verschluckt und röchelnd nach Luft ringt.  Elliot grinst böse. Dann fragt er mich: »Willst du wissen, wo er die putzige Mini-Version hat?« »Wo?« »Direkt über seinem…« Wie ein Katze springt Adrian auf und schlägt seinem Kumpanen die Hand vor den Mund. Seine Augen glühen, als er mit unterdrückter Wut zu mir sagt: »Bitte entschuldigen Sie uns, Mr Carter. Wir beide haben eben etwas unter vier Augen zu besprechen.« Elliot kann gar nicht so schnell aufstehen, da wird er schon von Adrian aus der Kuppel gezerrt. Blinzelnd sehe ich zu, wie sie hinter der Ecke abbiegen, dann bin ich wieder allein. Seufzend verlasse ich ebenfalls den Bereich und folge dem Gang weiter, bis ich zu meinem Zimmer komme. Ein Blick hinein bestätigt meine Annahme, wieder hergefunden zu haben. Und draußen folgt auch das bekannte Poolzimmer, das ich von oben aus betrachten kann. Diesmal allerdings mit einem entscheidenen Detail: Victor schwimmt im türkisfarbenen Wasser.  Er breitet seine muskulösen Arme aus, um sich nach vorne zu drücken. Dabei taucht sein Kopf unter Wasser, damit er die Dynamik besser ausnutzt. Als er wieder auftaucht und das schimmernde Wasser von seinen Haarspitzen abperlt, setzt mein Herz einen Sprung aus. Was ist das?, schießt mir durch den Kopf. Ich kralle mich in mein Pyjamaoberteil, direkt auf meiner Brust. Mein Blick liegt weiterhin auf Victor, welcher am Ende der Bahn ankommt und seinen trainierten Körper zurückwirft. Er fährt sich anziehend durch die Haare, als wäre da eine Kamera, die sich rund um die Uhr nur auf ihn richtet, um seine Attraktivität einzufangen. Ich verdrehe die Augen. Er könnte über seine eigenen Füße stolpern und sähe dabei noch sexy aus. Victor wendet sich, um die nächste Bahn zu ziehen. Allerdings hebt sich sein Kopf, sodass er in der Bewegung stoppt, als er mich bemerkt. Ein herrisches Grinsen erscheint auf seinen kantigen Zügen. Er hebt den Finger und winkt mich zu sich heran. Erst zögere ich, dann laufe ich die Treppe herunter. Ich entdecke an der Seite des Poolzimmers eine Glastür, durch die ich trete. »Du musst sehr zufrieden gewesen sein, so lange wie du geschlafen hast«, begrüßt mich Victor. Er stemmt sich am Beckenrand hoch. Dabei ziehen sich seine Muskeln unter der Anstrengung zusammen. Als er wieder in voller Größe dasteht, kommt er mit ausgelassenen Schritten zu mir. Nur mit einer Badehose bekleidet, muss ich schlucken, als ich ihn unwillkürlich mustere. »Du treibst so früh am Morgen schon Sport?«, frage ich und sehe mich im Zimmer um. Neben dem Pool befindet sich auch eine Sauna an der gegenüberliegenden Wand. Davor sind kleinere Becken in den Boden eingelassen. Ein Whirlpool steht in einer marmorierten Erhöhung neben dem Sofaeck zum Entspannen. Zudem ist auch hier die Decke verspiegelt, allerdings nur über dem Bereich des Pools. Plötzlich greift Victor nach meiner Hüfte und zieht mich heran. Erschrocken wirbelt mein Kopf hoch, während er mich an seinen nassen Körper drückt. Er raunt in mein Ohr: »Ich muss für dich fantastisch aussehen.« Meine Nackenhärchen stellen sich auf. Ich winde mich räuspernd aus Victors Griff. »Was tust du? Der Schlafanzug wird ganz nass!« Schnell ist er wieder bei mir und hält mich in seinen Armen. Seine linke Hand findet an meinen Ausschnitt und schleicht zum ersten Knopf, den er geschickt öffnet. Er raunt verführerisch: »Dann solltest du ihn besser ausziehen.« Empört schlage ich die freche Hand von mir und verziehe die Lippen. »Du denkst nur mit deinem Schritt.« Victors Augen zucken gefährlich ob meiner anmaßenden Bemerkung. Aber das Grinsen des Mafia-Bosses wird nur breiter. Auf einmal fasst er mich unter den Kniekehlen und am Rücken. Dann hebt er mich einfach hoch. Aus Reflex schlinge ich meine Arme um seinen Hals und presse mich an ihn. Meine Wangen laufen rot an. »W-W-Was tust du?« Anstatt mir zu antworten, läuft Victor direkt auf den Pool zu. Mir dämmert was er vor hat. Doch als ich zu dem klaren Wasser sehe, bilde ich mir ein, dass es sich pechschwarz verdunkelt. Ich höre die Wellen, die gegen das Schiff schlagen, spüre die Kälte, die meine Haut zerfrisst und die Luft, die ich vergebens suche. »V-Victor…«, flüstere ich heiser. Meine Augen weiten sich bei den Erinnerungen an den Abend auf Victors Yacht. Meine Finger krallen sich in seinen Rücken. »N-Nicht… Lass mich los…« Er hört nicht auf mich, überwindet den letzten Abstand und hält mich direkt über das Wasser. Ich beginne unkontrolliert zu zittern. Bisher konnte ich diese Beinahe-Tod Erfahrung verdrängen, aber jetzt kommt sie mir wie real vor.  »Victor! Lass mich runter! Lass mich runter!«, kreische ich jetzt panisch. Ich beginne mit den Beinen um mich zu treten. Victor runzelt verwirrt die Stirn. Mit voller Kraft drücke ich mich von ihm, obwohl das eher kontraproduktiv ist, weil ich so in den Pool fallen könnte. Meine Stimme überschlägt sich: »Runterlassen! Lass mich runter! Ich will nicht! Hör auf! Lass mich runter!« Victor macht ein paar Schritte rückwärts, dann setzt er mich auf den nassen Fliesen ab. Kaum spüre ich Boden unter den Füßen, geben meine Beine nach. Kraftlos falle ich auf die Knie. Ich hole tief Luft, wieder… und wieder. Victors abschätziger Blick sticht in meinen Rücken. Deshalb gleite ich zur Seite, bis ich auf dem Hintern sitze und sehe ihm in die Augen.  »Was ist das für ein Theater?« Der Mafia-Boss verschränkt die Arme. »Theater…«, flüstere ich entrüstet, habe allerdings keine Kraft, aufzubegehren. Mein Herz schlägt vor Todesangst. »Du bist daran Schuld. Niemals mehr werde ich vergessen können, was passiert ist.« »Sprichst du von dem Abend auf meiner Yacht?« »Bei dir ist jede verstrichene Minute ein Hoch und Tief aus Gefühlen. Mein Kopf ist das reinste Chaos.« Victor verdreht die Augen, als wäre er genervt von meinen Ängsten. Jemand wie er fürchtet den Tod natürlich nicht. Er kann nicht verstehen, wie ich mich fühle, wenn ich die zarten Wellen im Pool nur anschaue. Victor verringert den Abstand zum Becken und vollführt einen Kopfsprung hinein. Das Wasser spritzt zu mir, sodass ich einen Arm vor mein Gesicht halte. Weil er nach einigen Momenten nicht auftaucht, rutsche ich näher zum Pool, um nach ihm zu schauen. Plötzlich durchbricht er die Oberfläche, bevor er zu mir an den Beckenrand schwimmt. Eine Hand wird mir ausgestreckt, fordert mich dazu auf, weiter heranzukommen. »Erst die Beine«, sagt Victor. »W-Warte, das geht nicht…« Ich kralle die Finger in meinen Schlafanzug. »Mit den Sachen kann ich doch nicht ins Wasser. Zudem will ich nicht. Ich kann nicht.« »Die Sachen sind egal. Komm einfach.« »A-Aber die waren sicherlich teuer…«, suche ich nach Ausreden, nicht in den Pool zu müssen. »Die Nähte könnten reißen. Das Chlor ist schädlich für die Farbe.« Victor legt den Kopf schief. »Etwas besseres fällt dir nicht ein? Schon mal davon gehört, dass man gleich wieder in ein Auto steigen soll, wenn man ein Unfall gebaut hat? Kommst du jetzt nicht, wirst du es nie.« »Dann bade ich eben nie wieder!«, protestiere ich. Die Bilder in meinem Kopf sind zu grauenvoll. Dunkelheit, welche mich umschließt, das Gefühl zu ersticken… Ich schlinge die Arme um meinen Körper. Victor stöhnt: »Tu was du willst«, dann dreht er um und beginnt zum Ende der Bahn zu schwimmen.  Während er mit dem Training fortfährt, lasse ich die Schultern hängen. Mit meinen Augen folge ich den geübten Bewegungen von Victors muskulösem Körper. Das Wasser schwappt bei jedem seiner Züge über den Beckenrand, hinein in den vergitterten Abfluss. Langsam strecke ich mein rechtes Bein aus, bis ich den großen Zeh in den Pool stecken kann. Die Temperatur ist nicht so kalt wie in einem Hallenbad, aber auch nicht kochend heiß wie in einer Therme. Zudem scheint es gerade so tief zu sein, dass mir das Wasser bis zum Kinn reichen würde. Völlig anders als das grauenhafte Meer, denke ich nach, gleite ein weiteres Stück heran. Diesmal teste ich mit meiner Hand die Beschaffenheit des Wassers, lasse die Wellen durch meine Finger gleiten. Hier kann mir kaum etwas passieren. Warum traue ich mich nicht? »Bist du eine Katze?«, spottet Victor, als er am linken Rand auftaucht, um durchzuatmen.  Ich verziehe den Mund. »Lässt sich leicht sagen, wenn man selbst nicht beinahe ertrunken ist.« »Das weißt du woher?«, fragt Victor, zieht die Augenbrauen abschätzig hoch. Ich horche auf. »Wie meinst du das?« »Mein Vorgänger war der Meinung, ein Kind lernt am schnellsten, wenn es ins kalte Wasser geworfen wird – wortwörtlich.« Victor schwimmt heran. Ich schlucke hart, als er sich auf den Rand abstützt. »Habe ich jemals gejammert, wenn ich beinahe gestorben wäre? Die ganze Welt hat es auf meinen Kopf abgesehen, trotzdem ziere ich mich nicht wie eine Prinzessin.« Er verengt die Augen zu Schlitzen. »Also reiß dich gefälligst zusammen.« Ich schüttele empört meinen Kopf. »Unfassbar.« Victor will sich bereits wieder abwenden, um mit Schwimmen fortzufahren, da balle ich die Fäuste. Wütend schlage ich durch den Pool. Das Wasser schwappt auf und spritzt dem Mafia-Boss direkt ins Gesicht. Victor kneift die Augen zusammen. Stille kehrt ein. Er beleckt sich die Zähne, dann fährt er sich über seine geschlossenen Lider. Seine Hand beginnt vor unterdrücktem Zorn zu Zittern. Dann hebt er langsam – fast wie in Zeitlupe – seinen drohenden Blick zu mir. Ich habe ihn gedemütigt, ja, das ist es wahrscheinlich, was ihm durch den Kopf geht. Egal, ob ausschließlich ich alleine es gesehen habe, das verletzt seinen Stolz. Der eitle Boss – ich habe seine Unantastbarkeit durchbrochen. »Was?«, frage ich todesmutig. Als er mir nicht antwortet, spritze ich ihn einfach nochmal mit Wasser voll. Diesmal wischt er sich nicht über die Augen, sondern verengt sie weiter zu Schlitzen. Ein hartes Schlucken kann ich nicht verhindern. Aber ich will ihm keine Furcht zeigen. Stattdessen wiederhole ich diese Aktion. Bei einem Mal stoppe ich nicht – Ich beginne ihn unentwegt mit Wasser vollzuspritzen. »Hm? Was? Was, was, was?« Durch die Wucht des Wassers, das mir selbst die Sicht nimmt, kann ich Victor nicht erkennen. Plötzlich spüre ich eine kräftige Hand an meinem Knöchel. Bevor ich überhaupt realisieren kann was geschieht, fährt ein Ruck durch meine Glieder, der mich direkt vom Rand in den Pool zerrt. Für einen Augenblick bin ich Unterwasser, doch ich werde gleich an die Oberfläche gezogen und gegen die Fliesen gedrückt. Meine Hände werden schmerzhaft fest auf den Beckenrand gepresst. Die Kante bohrt sich in meinen Rücken. Das Herz rast mir durch die Überraschung.  Victor beugt sich zähnefletschend über mich. »Wo ist deine Dreistigkeit jetzt? Hast du Angst?« Als Antwort puste ich das Wasser aus, das ich noch im Mund habe – erneut direkt in Victors Gesicht. Diesmal kann ich nicht anders, als amüsiert zu lachen, als Victors Strähnen in sein Gesicht rutschen, was ein wenig wie Seetang aussieht. Anschließend meine ich: »Bin im Pool. Yippie… oder so?« Victor streicht sich die Haare aus dem Gesicht, dann sieht er mir böse in die Augen. Ich wende mich nicht ab, verberge das Schmunzeln nicht. Keine Ahnung wie lange wir so verweilen. Wir sehen uns bloß an, bewegen uns kaum. Nur der Griff um meine Handgelenke lockert sich, sodass sie nicht mehr wehtun. Was denkst du gerade?, frage ich Victor innerlich. Er scheint in meinem Blick zu forschen. Ich versuche das gleich bei ihm zu tun. Mein Herz, das sich in unseren Momenten des Schweigens beruhigt hat, setzt einen Sprung aus. Was siehst du in mir? Wer genau bist du eigentlich? Warum tust du mir weh und siehst mich in der nächsten Sekunde so eindringlich an? Victor hindert mich nicht daran, dass ich meine Hände aus seinem Griff löse und sie an seine Wangen lege. Ich streiche mit den Daumen über seine raue Haut. Dann ziehe ich ihn zu mir heran, damit wir uns küssen können. Seine warmen Lippen bewegen sich gierig auf meinen. Er schlingt einen Arm um meine Hüfte. Die nassen Sachen im Wasser flattern schwerelos. Wiederum kleben sie an anderen Stellen an unserer Haut. Ein Schauer schleicht durch meine Nerven, als sich Victors Hände zu meinem Hintern tasten und ihn zu massieren beginnen. Kurz darauf packt er meine Schenkel, um mein Becken auf seines zu ziehen. Automatisch schlinge ich die Beine um seinen Rumpf. Ich ziehe ungeduldig Kreise mit der Hüfte. Victor wird schon hart, ich spüre es durch seine Unterhose und den klebrigen Stoff meines Pyjamas. Er küsst mich ungezügelt, öffnet die ersten Knöpfe meines Oberteils. Ich seufze. Plötzlich wird die Tür zum Poolzimmer aufgerissen. Überrascht lösen wir uns voneinander und sehen zu dem störenden Eindringling, der sich als Adrian herausstellt. Als dessen Blick über uns gleitet, senkt er schnell den Kopf und räuspert sich. »Ich bitte um Verzeihung für die Störung, aber es ist sehr dringlich, Sir.« Victors Hände verkrampfen sich. Er knurrt böse: »Ich hoffe für dich, dass das Haus in Brand steht. Ansonsten drehe ich dir den Hals um.« Adrian schluckt schwer. »Schlimmer, Sir. Wir haben gerade Meldung bekommen, dass der Carlos Clan dreizehn unserer Männer in der 19ten getötet hat. Wie es scheint, haben sie sich eine Art Stützpunkt aufgebaut und klappern jetzt das Revier ab.« Victors Augen weiten sich. Eine pulsierende Ader tritt an seinem Hals hervor. Er lässt von mir ab, dann stemmt er sich aus dem Wasser, um ein Handtuch vom Sofa zu schnappen und sich abzutrocknen. Er befiehlt Adrian mit eiserner Stimme: »Ruf zusammen, wer sich in zehn Minuten mobilisieren lässt. Wir brechen sofort auf.« Nach Adrians Verbeugungs-ähnlicher Bewegung verschwindet dieser so schnell, wie er gekommen ist. Verwirrt blicke ich von der Tür zu Victor und wieder zurück. »Komm raus. Zieh dich an. Beeilung«, befielt Victor mir. Er wischt mit dem Handtuch über die Haare. Danach schmeißt er es achtlos nach hinten. »Was… Wohin?«, frage ich zögerlich. »Wir fahren zur 19ten. Mach hin.« »Moment.« Ich drücke mich wie Victor zuvor am Beckenrand hoch, bis ich sitze. »Du hast mir versichert, dass du mich aus deinen kriminellen Angelegenheiten raus lässt. Warum soll ich auf einmal mitkommen?« Victor läuft zur Tür. »Du bleibst nicht alleine hier.« »Was soll das?« Ich verenge die Augen. »Beeil dich. Ich werde mich nicht wiederholen.« Ich stehe hoch, bevor ich die Zähne zusammenbeiße. Anschließend brülle ich: »Du hast es mir versprochen! Erinnerst du dich an gestern Abend? Wir saßen auf deinem Bett, bevor du mich entjungfert hast! Und du gabst mir dein Wort, dass deine Verbrechen deine Sache ganz alleine bleiben werden!« Victor bedenkt mich mit einem letzten abschätzigen Blick. »Wie schade, dass ich ein böser Junge bin. Wir halten bekanntlich nicht, was wir versprechen.«    Kapitel 12 ---------- »Du bleibst hier.« Ohne auf Victors Befehl einzugehen, starre ich durch das Autofenster. Wir sind, keine fünf Minuten nachdem die Meldung über den gegnerischen Schlag eingetroffen war, aufgebrochen und zu der 19tengefahren. Wie ich festgestellt habe, ist damit das Hafengebiet gemeint, in dem wir uns jetzt befinden. Hier habe ich Victor das erste Mal getroffen. »Verstanden, Jesse?«, wiederholt Victor scharf. Er sitzt neben mir auf dem Hintersitz. Als ich ihm nicht antworte, packt er grob mein Kinn, um mich dazu zu zwingen, ihn anzusehen. »Setzt du ein Fuß aus dem Auto, breche ich dir eigenhändig die Beine. Ist das klar?« »Natürlich, mein Meister und Gebieter«, säusele ich mit einem sarkastischem Lächeln, das sofort erstirbt, wenn Victor aus dem Wagen steigt. Adrian und Elliot tun es ihm gleich. Ich kann beobachten, wie sie die Schusswaffen an ihrem Gürtel richten. Dann werfen die beiden mir einen letzten prüfenden Blick durch die getönten Scheiben zu, bevor sie ihrem Boss in die Gassen hinein folgen. Kaum sind sie außer Sichtweite, steige ich ebenfalls aus dem Van. Mit aller Wucht, die ich aufbringen kann, schmettere ich die Fahrzeugtür zu. So ein Scheißkerl! Dabei habe ich ihm vertraut. Du bist so ein Idiot, Jesse. Um einen besseren Überblick über den Ort zu bekommen, drehe ich mich im Kreis. Wenn ich mich nicht irre, stehe ich an derselben Stelle, an der wir vor rund einer Woche gehalten haben, als ich von Adrian und Elliot entführt worden war. Aus westlicher Richtung sind wir gekommen. Dort liegt auch der Hafen der Stadt. Weiter südlich müsste der Einkaufsmarkt stehen, aus dem ich geworfen wurden war. Und wenn ich Victor nach Osten folgen würde, käme ich wahrscheinlich zu der Stelle, an der er die verletzte Frau hatte erschießen wollen. Soll ich einfach gehen?, schießt es mir durch den Kopf, während ich die heruntergekommenen Straßen mustere. Ausgekippter Müll, über den sich die Insekten sammeln, vor so gut wie jeder Haustür. Der Asphalt ist aufgeplatzt, die Gemäuer zerbröckelt. Die nachmittägliche Sonne senkt sich allmählich am Horizont, wodurch sie ihre langen Schatten durch die zugeschütteten Gassen wirft, die kaum etwas von dem Licht abbekommen. Das hier ist kein besseres Viertel als das, in dem ich meine Wohnung hatte. Die meisten meinen, hier wäre es so ziemlich menschenleer, wenn man von den Drogenbanden und organisierten Verbrechen absah. Zumindest was das angeht, müssen die Gerüchte stimmen. Immerhin ist das hier wohl Victors Gebiet. Ich frage mich immer noch, was er denn eigentlich macht, um so viel Geld zu besitzen. Das kommt ja nicht alles davon, weil er ein bisschen Marihuana an der Ecke vertickt. Weil ich mich nicht nicht wie ein naives Schulkind herumkommandieren lassen würde, nehme ich den gleichen Weg wie Victor und seine Untergebenen zuvor. Zumindest, bis ich einige unbekannte Stimmen vernehme. Sie scheinen aus dem rechten Gang zu kommen. Um nicht aufzufallen, presse ich mich mit den Rücken an eine Hauswand. Dann versuche ich den Atem anzuhalten, bis sie vorbeigegangen wären. Tatsächlich tauchen wenige Augenblicke später zwei Männer von rechts auf. Sie reden angeregt miteinander, bemerken mich nicht, als sie den Weg an meinem Versteck passieren und an der nächsten Ecke wieder abbiegen. Victors Männer?, denke ich nach, als ich wieder Luft hole. Langsam laufe ich weiter. Hoffentlich Victors Männer und nicht welche von dem anderen Clan… Plötzlich brüllt ein lauter Schuss durch das Gebiet. Unwillkürlich schlage ich mir die Hände an meine Ohren, um den nahen Schall zu dämpfen. Mindestens ein Dutzend Tauben fliegen aufgeschreckt wenige Meter von mir entfernt über die Häuser der Baracken. Ich lasse meine Arme schluckend wieder sinken, sodass ich harte Schritte höre, die in eine unbestimmte Richtung rennen. Dann will ich weiterlaufen. Doch dazu kommt es gar nicht. Auf einmal sehe ich Metall vor meiner Nase aufblitzen. Es geht viel zu schnell, als dass ich reagieren könnte. Ein ritzendes Geräusch erklingt, als würde sich etwas ins Gemäuer bohren. Als ich meinen Kopf zur linken Seite wende, muss ich mit großen Augen erkennen, dass ein scharfes Messer in der Wand steckt – ein Wurfmesser, um genauer zu sein. Nur knapp hat es mich im Flug verfehlt. Ich stoße den Atem zittrig aus. »Bonjour.« Abrupt drehe ich mich zu der weiblichen Stimme im Rücken. Allerdings steht niemand hinter mir. »Hier oben.« Mein Kopf wirbelt zum Hausdach, bevor ich einen Schritt zurücktaumele. Ich hauche ungläubig: »Sie sind die Dame von vor einer Woche…« Die hübsche Frau mit dem französischen Akzent – oder Blair, wie ich auf Victors Yacht erfahren hatte – überschlägt ihre langen Beine auf der Regenrinne. Sie lehnt sich zurück, wodurch die Haare ihres schwarzen Bobs nach hinten fallen. Dann öffnet sie ihre dunkelroten Lippen, um zu sagen: »Oui, Oui, mon chéri.« »W-Was… wollen Sie von mir?«, frage ich verunsichert. Hieß es nicht von den Verrätern, dass Blair ein Mitglied von diesem Carlos war, wer auch immer das sein mochte? Adrian hatte vorhin gemeint, der Carlos Clan wäre in Victors Gebiet eingedrungen. Also gehörte Blair zu den Feinden. »Sind Sie hier, um zu beenden, was ihre Kameraden begonnen haben?« Der kalte Schweißt tritt mir auf die Stirn. Ich spanne meine Muskeln an, in Voraussicht, jederzeit weglaufen zu können. Blair wippt mit ihren Füßen in den schwarzen Overknees mit Lederoptik. »Non, du liegst falsch.« »Dann wollen Sie Victor umbringen?« »Heute nicht«, wispert sie. Sie schlägt ihre Augen mit den langen Wimpern zu, um sie kurz danach zu öffnen und zu mir herabzustarren. »Heute bin ich alleine wegen dir hier, mon chéri. Aber nicht aus der Absicht zu töten.« Ich verenge die Augen zu Schlitzen, immerhin hat ihr Wurfmesser mir eine ganz andere Nachricht vermittelt. »Was wollen Sie also von mir?« »Je réglerai une facture. Je déteste l'admettre, mais tu m'as aidé. C'est pourquoi je vous dois quelque chose.« »Was? Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen!«, meine ich verwirrt. »C'est mieux ainsi«, beginnt sie um eine neues. Doch dann spricht sie in der Sprache weiter, die ich auch verstehe. »Ich bin hier um dich zu warnen.« Plötzlich kreischt ein weiterer Schuss durch die Gassen. Ich zucke augenblicklich zusammen und sehe in die Richtung, aus der auch der vorherige Schuss zu mir gedrungen ist. Dann grölen Männerstimmen, bis es wieder still wird. »Was tun sie da?« Zögerlich blicke ich zu Blair, die mich unbeeindruckt mustert. »Une lutte acharnée – Ein erbitterter Kampf. Seit Jahren herrscht gewaltsame Uneinigkeit zwischen dem Lassini Clan und dem Carlos Clan. Es begann vor rund vierzig Jahren. Der Carlos Clan ist überzeugt, dass dieser Krieg von den Lassinis angezettelt wurde. Sie sollen angeblich die Ehefrau des damaligen Carlos Bosses ermordet haben, um neue Gebiete zu erschließen. Der Lassini Clan hingegen wirft seinem Gegenspieler vor, ihr Grund sei eine Lügengeschichte, die genutzt wurde, um ihren Boss unter Druck zu setzen und das Hafengebiet freiwillig abzugeben, in der Hoffnung, nicht kämpfen zu müssen. Ich hingegen glaube, dass längst vergessen wurde, was damals eigentlich geschehen ist. Sie kämpfen nur noch aus Gewohnheit heraus.« »Du arbeitest für den Carlos Clan, nicht wahr?« »C'est vrai, mon chéri. Mr Carlos ist mein Boss.« Ich beiße mir auf die Lippe. Wenn mir Blair tatsächlich nicht schaden will, kann ich diese Chance nutzen, um an neue Informationen zu gelangen. Deshalb frage ich: »Was genau sind die Gebiete der Clans?« Blair deutet mit ihrer Hand über die Stadt. »Victors Revier beginnt bei der West-High-Bride, zieht sich über den Festplatz mit dem alten Rathaus, um das Volksschwimmbad, bis hier zum Hafengebiet – Die halbe Stadt. Also gehört die andere Hälfte…« »Deinem Clan…«, schlussfolgere ich. »Eine Sache wird mir aber noch nicht klar. Warum wird dieses Viertel, in dem wir uns befinden, die 19te genannt?« »Noch bevor der Kampf zwischen den beiden Clans entbrannte, soll hier die sogenannte 19te Zeilegeschrieben worden sein. Es existierte bereits der Entwurf eines Friedensvertrags. Die 19te Zeile im Vertrag untersagte den Clans jegliche Kampfhandlung.« »Wieso gerade an einem heruntergekommen Ort wie diesem?« Ich schüttele den Kopf. Blairs Augenbrauen wandern in die Höhe. »Dieses Viertel florierte einst wie kein Gebiet der Stadt. Die ärmlichen Verhältnisse hier hielten die Leute zusammen. Zudem wurde die Mafia akzeptiert – nein – sie wurde als führende Instanz wertgeschätzt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie gemütlich es in den beleuchteten Gassen war. Überall wo der Blick hinreichte standen Restaurant, Bars, kleine Kinos und Straßenmusiker. Da jeder die Mafia achtete, gab es kaum Kriminalität. Man musste nicht fürchten, dass den eigenen Kindern nachts etwas zustoßen würde. Zwar hielt sich das Grundeinkommen der Bewohner eher gering, aber die Clans versorgten die Leute mit Nahrung, Medizin und Gütern. In der 19ten wurde oft bis in den Morgen gefeiert.« Für einige Momente kehrt Schweigen ein. Ich versuche mir ein Bild von Blairs Erzählungen zu machen. Schließlich atme ich tief durch. »Na schön, du hast meine Fragen beantwortet. Aber was bringt dir das? Und vor was willst du mich überhaupt warnen?« »Vor Victor«, raunt Blair dunkel. Unter ihre Smokey Eyes legen sich dunkle Schatten. Sie bricht den Blickkontakt ab. »Vor diesem… monstre.« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Sie springt in einer eleganten Bewegung vom Hausdach. Augenblicklich weiche ich soweit zurück, dass ich mit den Schultern an die hintere Wand stoße. »Erst ist er kalt zu dir. Er spielt sich auf, nimmt sich was er will. Dann nährt er sich dir. Mit seinem Geld weiß er genauso umzugehen, wie mit seinem Charme. Er kauft sich deine Gunst.« Ich kralle mich in die Ritzen der losen Steine hinter mir. Blair kommt mit ausgedehnten Schritten näher. Ihre Hüfte schwingt geschmeidig im sanften Wind, der vom Fluss zu uns zieht. »Bis er…« Blair kommt vor mir zum Stehen. Akribisch beobachte ich ihre Hand, die sich an meine linke Wange legt. Gedankenverlornen streicht sie meine Haut entlang. »…dich mit seinen großen Händen berührt. Er flüstert dir schöne Worte ins Ohr, versichert dir, wie hübsch und einzigartig du bist.« Blairs Lippen hauchen an meinen Nacken, was einen Schauer durch meinen Körper schickt. »Er küsst dich auf den Mund… am Hals… auf die Brust… zwischen deinen Beinen…« Zögerlich stoße ich Blair von mir, um wenige Schritte zur Seite zu flüchten. Anschließend wische ich durch mein errötetes Gesicht. »Ne soit pas embarrassé – Schäme dich nicht. Viele erlagen Victors Kunst. Sie alle mussten früher oder später von Victors Spiel erfahren, wie er sie abhängig machte, wie er sie benutzte, um seine Lust zu befriedigen… wie er ihren Geist besaß, ohne dass sie sich wehren konnten.« Mein Mund öffnet sich, ohne dass ein Wort entweicht. Erst beim zweiten Mal frage ich: »Was wollen Sie mir damit sagen?« »Du glaubst, dass ich verrückt bin.« Blair holt eine Zigarette aus der Tasche, die sie anzündet, bevor sie einen kräftigen Zug nimmt. Sie stützt einen Arm auf den anderen. »Weißt du, was BDSM ist?« Meine Lippen kräuseln sich. Abermals senke ich den Blick, während mein Gesicht weiter Farbe gewinnt. »Von deiner unschuldigen Reaktion ausgehend, nehme ich an, du hast bereits davon gehört, es allerdings nie selbst versucht hast. Erst umschmeichelt dich Victor, dann teilt er mit dir heiße Berührungen im Bett, bis er dich zu seinem willigen Sklaven erzieht. Sein Schema ist stets das gleiche.« Allmählich reiße ich mich aus meiner Starre. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Danach drehe ich mich um, womit ich Blair den Rücken zeige. »Laufen Sie zu allen wildfremden Leuten, um sie mit perversem Zeug zu bequatschen? Was geht Sie mein Liebesleben an?« Um nicht länger dieser verwirrenden Frau zuhören zu müssen, laufe ich los. Allerdings lassen mich ihre nächsten Worte stoppen: »Hast du Victor gefragt, was mit deinen Vorgängern geschehen ist?« Ich schlucke. »Was ist mit ihnen geschehen?« Anstatt mir zu antworten, tritt Blair neben mich, um über meine Schulter zu streichen. Sie wirft ihre abgenutzte Zigarette in eine Pfütze, wodurch die Glut erlischt. Daraufhin lauten ihre letzten Worte: »Ich habe dich gewarnt. Wir sind jetzt quitt. Das nächste Mal, wenn wir einander begegnen, stehen wir auf verschiedenen Seiten.  Au revoir, mon chéri.« Kaum spricht sie ihren Satz zu Ende, läuft sie zum Hausdach, auf dem sie gesessen hat. Als wäre sie eine jahrelange Leichtathletikerin, schwingt sie sich am Balken herausragenden Hausgerüsts nach oben. Fasziniert seufzend beobachte ich, wie sie leichtfüßig über die Dächer springt, bis sie aus meiner Reichweite entschwindet. Auf einmal fällt mir eine wohlbekannte Person ins Auge. Ohne weiter darüber nachzudenken, hänge ich mich an Adrians Rockzipfel, welcher eilig vorbeihuscht. Erst biegen wir rechts ab, dann zwängen wir uns durch eine schlammige Spalte. Daraufhin muss ich feststellen, dass ich zu langsam war und Adrain aus den Augen verloren habe. Dafür ertönt abermals ein lauter Schuss – näher als zuvor. Ich folge der Richtung, aus der das grausame Geräusch gekommen ist. Es führte mich zu einem Kiosk, der wohl schon zwei Jahrzehnte geschlossen ist. Die vergilbten Plakate über dem Verkaufsschalter werben von Produkten, die so alt sind, dass ich sie nicht kenne. Das Gitter, welches Diebe am Eindringen hindern sollte, ist zerbrochen. Drinnen sieht es leergeräumt bis auf den letzten Staubkorn aus. An diesem Ort dringt zudem wieder Licht zu mir. Der Weg wird am Ende breiter und scheint auf einen offenen Platz zu führen. Gerade umrunde ich den Kiosk, um zu Adrian aufzuschließen, den ich hier vermute, da werden meine Schritte langsamer… und langsamer… und langsamer… Mein erleichtertes Lächeln versteinert. »Wer…« Adrian dreht sich erschrocken um. Als er mich erkennt, wispert er: »Mr Carter…« Blut… Ein regloser Körper… Das Loch in seiner Brust, aus der so viel Blut strömt… Das ist keine Leiche, rede ich mir gedanklich ein. Meine Augen ruhen auf dem Mann zu Boden. Er lehnt halb gegen den Kiosk. Die Schleifspur von Blut an der Wand zeigt, dass er wohl an dieser heruntergerutscht war. Mein gesamter Magen zieht sich zusammen. Fuck… Fuck! Das ist tatsächlich eine Leiche! Adrian kommt rasch zu mir. Er nimmt meinen Arm, damit er mich hinter den Kiosk schleppen kann. »Mr Carter, geht es Ihnen gut? Ich kann verstehen, dass das ein Schock war. Bitte bleiben Sie erstmal ruhig.« Unbewusst nicke ich, obwohl mein Innerstes zu toben beginnt. Keine fünf Sekunden später kommt mir mein gesamter Mageninhalt hoch. Ich drehe mich zur Seite, dann übergebe ich mich pausenlos. Mehrere Minuten bin ich dabei zu würgen und nach Luft zu röcheln. Währenddessen streichelt mir Adrian beruhigend über den Rücken. Erst, als ich nur noch Magensäure aufstoße, riche ich mich schlotternd auf. Ich muss mich am Kiosk abstützen, um gerade zu stehen. »Geht es?« Adrian reicht mir ein Taschentuch, mit welchem ich mir den Mund säubere. »Sie sollten doch im Wagen warten…« »Du hast ihn erschossen. Er ist tot, oder?« Adrian nickt bedacht. Ich kralle meine Fingernägel in die rissige Hauswand, was diese rumoren und am oberen Ende einstürzen lässt. Der Schutt fällt klappernd zu Boden, zerspringt dort. Schmerzhaft fest reiße ich an meinen Haare, beginne Kreise zu ziehen. Meine Gedanken – wenn ich den Wirrwarr von Fetzen in meinem Kopf überhaupt so nennen kann – rasen. Das hätte ich nicht verhindern können. Oder? Wäre ich früher gekommen… nein. Mich trifft keine Schuld! Aber ich stehe hier neben dem Mörder, dann bin ich nicht besser! Er ist tot, so wirklich tot… Fuck… Ich muss… Ich will mich duschen. Ich fühle mich so beklebt. Mit dem Blut des Mannes? Ja, natürlich habe ich auch Schuld… Wäre ich nur früher gekommen… Eine Hand auf meiner Schulter lässt mich hochschrecken. Adrian sagt sanft: »Sie können nichts mehr für Ihn tun, Mr Carter. Wenn ich nicht geschossen hätte, würde ich jetzt nicht mehr leben. Dieser Mann starb mit Ehre, in dem Wissen seine Familie verteidigt zu haben. Das ist der Weg, den wir gewählt haben.« »Was ist das für ein verfickter Weg?«, brülle ich. »Ich werde Sie zum Wagen bringen.« Adrian hält mir seine Hand entgegen.  Ich schlage sie beiseite.»Du bist krank! Ein Mörder! Du bist…!« Ruhig sagt Adrian: »Seien Sie so sauer auf mich, wie sie möchten, aber wir müssen zurück zum Wagen, bevor Ihnen etwas zustößt…« Plötzlich ein Schuss. Und noch einer. Wieder… Wieder… Einer Maschinenpistole gleich, donnert ein Schuss nach dem anderen durch den verdunkelnden Himmel. Sie stammen vom offenen Platz, den ich erspäht habe. Ich setze mich in Bewegung, um zu schauen, was vor sich geht. Doch Adrian stellt sich mir in den Weg. »Gehen Sie jetzt nicht dorthin, Mr Carter.« »Warum? Was werde ich sehen?« Adrians Blick wird eindringlich. »Nichts, was Sie vergessen könnten.« Erst zögere ich, dann will ich hastig um Adrian herumlaufen. Allerdings packt er mich mit leichter Gewalt, um mich festzuhalten. Meine Versuche, mich aus seinem geübten Griff zu lösen, enden vergebens. Die Schüsse im Hintergrund ebben ab, bis eine kalte Stille herrscht, die Gänsehaut auf meinem kompletten Körper auslöst. Auf einmal nähern sich Schritte. Adrian und ich wenden uns beinahe zeitgleich zum offenen Platz. Er wird nachlässig, weshalb ich mich aus seinen Händen befreien und um den Kiosk schauen kann. Gleich darauf bereue ich diese Entscheidung. Mein Magen rebelliert abermals. Es ist Elliot. Seine Kleidung verdreckt, die Haare wirr, die Augen matt… Er hält abrupt, als er Adrian und mich bemerkt. Mit dem Handrücken wischt er sich das frische Blut aus dem Gesicht. Keine zehn Pferde hätten mich abhalten können, an ihm vorbeizustürmen, direkt zum offenen Platz, der sich als Müllhalde herausstellt. Meine Schultern sacken ein. Vor der Kulisse von Abfallhaufen, neben einem Fabrik-ähnlichem Gebäude, liegen bestimmt zwanzig tote Männer im Schlamm und eigenen Blut – Ich will sie nicht zählen. Die meisten der Leute scheinen mir völlig fremd, einige wenige erkenne ich als Besucher von Victors Yacht-Feier. Eine Tragödie auf beiden Seiten… »B-Bitte… I-Ich…« Zwei lebendige Personen sind noch anwesend. Sie stehen neben einem umgekippten Lastwagen. Obwohl besser gesagt nur Victor steht. Ein anderer Mann mittleren Alters kniet vor dem Mafiaboss, die Hände zusammengeschlagen… flehend in die Höhe haltend. Victor zielt unnachgiebig mit der Pistole auf den Kopf seines Gegenüber, während er die Nägel seiner rechten Hand beäugt. »Du hast dich versteckt.« »Das war falsch! Das hätte ich nicht tun dürfen! Es tut mir fürchterlich leid! I-Ich…« Dem Mann gehen die Argumente aus. Ich muss machtlos zusehen. »Das wird nie wieder vorkommen! Das nächste Mal… da werde ich k-kämpfen und… B-Bitte verzeihen Sie mir dieses eine Mal! Oh, b-bitte!« Victor gluckst kalt. Als er zu seinem Opfer sieht, scheint es für mich, als glühten seine Augen dämonisch. »Das sind zu viele Tot an einem Tag.« »G-Genau! V-Vielen Dank, das werde ich nie…« »Da macht ein weiterer keinen Unterschied. Wäre doch schade, wenn deine Untergebenen starben und du als einzigster überlebst, findest du nicht?« »Nein!«, will ich schreien. Heraus kommt allerdings ein heiseres Keuchen. Ich stecke meinen Arm aus, mache einen Schritt nach vorne.  Schlagartig drückt Victor ab. Ich zucke zusammen. Meine Schultern sacken ein. Die Kugel fliegt dem Mann durch den Kopf – ein glatter Durchschuss. Der Körper kippt zur Seite. Er ist sofort tot. Victor steckt seine Waffe zurück an den Gürtel, bevor er kehrt macht. Knapp mustert er mich. Dabei verzieht er keinen Gesichtsmuskel. Er läuft hemmungslos durch die Leichen. Hier und da steigt er über einen schlaffen Arm oder einen bleichen Kopf. Wenige Sekunden später bleibt er neben mir stehen. Er beugt sich zu meinem Ohr herab. Obwohl ich mit leerem Ausdruck zum erschossenen Mann starre, dringen seine Worte zu mir durch: »Betrüge mich niemals… Niemals.« Kapitel 13 ---------- Kapitel 13   Ich starre dem Mafiaboss in seine kalten Augen. Meine verschränkten Hände verkrampfen sich mit jeder Minute mehr, die wir schweigend an der Tafel sitzen.  Nach den Ereignissen in der 19ten sind wir zurück zu Victors Villa gefahren. Kurz nach unserer Ankunft wurde ich in das Esszimmer gebracht, mit der Begründung, dass Victor mit mir essen will. Jetzt sitze ich ihm gegenüber – zwischen uns eine geschätzt zehn Meter lange Tafel. Viele unangerührte Teller, Gläser und Weinflaschen stehen auf dem Tisch. Die teuren Speisen – von Pasta über feine Suppen mit edlen Garnierungen, bis zu zarten Filets – dampfen vor sich hin. Obwohl wir zu zweit sind, ist die gesamte Tafel mit Essen gefüllt, ganz ohne Grenzen. »Willst du mich für eine weitere Viertelstunde böse angucken, oder können wir mit dem Abendessen beginnen?«, durchbricht Victor die Stille, als es ihm wohl zu langweilig wird, Blicke auszutauschen. Ich verziehe das Gesicht. »Mir wird schlecht, wenn ich diese ganze Verschwendung sehe. Kennst du überhaupt Grenzen?« »Es existieren nur die Grenzen, die ich setze.« »Ah, hab mich geirrt. Mir wird schlecht, wenn ich dich sehe.« Ich lege den Kopf schief. Victor leckt sich gereizt über seine Lippen. Bevor er etwas erwidern kann, meine ich: »Willst du dich mit dem ganzen Essen entschuldigen? Denkst du, ich falle dir um den Hals, weil ich satt und glücklich bin?« »Wofür sollte ich mich entschuldigen?« Victor greift zur Sitzfläche eines angrenzenden Stuhls. Zum Vorschein kommt die Pralinenschachtel, die ich ihm geschenkt habe. Er stellt sie vor sich auf seinen leeren Teller, dann beginnt er am Klebestreifen zu morkeln. »Vielleicht, weil du dein Versprechen gebrochen hast? Vielleicht, weil du mich all diese schlimmen Dinge hast mitansehen lassen?« Ich balle die Fäuste.  Victor scheint es nicht mal für nötig zu halten, mich anzuschauen. Er werkelt lieber an der Pralinenschachtel herum, bis er den Klebestreifen abzieht. Während er die Süßigkeitenverpackung öffnet, meint er nebenbei: »Du solltest im Auto warten. Hoffentlich war es eine gute Lehre, was passiert, wenn man meine Anweisungen missachtet.« Diesmal bin ich es, der mit den Zähnen fletscht. Victor legt den Deckel der Pralinen beiseite. Dann nimmt er eine der Billigschokoladen und lässt sie langsam in seinen Mund gleiten. Mit einem seichten Schmunzeln stützt er sich auf seine Hand. Genüsslich kauend mustert er mich. »Schau, es war dir doch so wichtig, dass ich sie esse.« Victor öffnet den Mund, als will er mir beweisen, dass er brav aufgegessen hat. »Was ist mit meinen Vorgängern passiert?«, frage ich aus dem Nichts heraus. Weil Victor die Augenbrauen hochzieht, füge ich an: »Ich bin nicht der Erste, den du für deine Spielchen hast entführen lassen. Wie viele waren vor mir hier und was ist mit ihnen geschehen?« Victor isst eine zweite Praline. Dann lehnt er sich zurück. »Fragst du, weil du wirklich eine Antwort willst, oder weil du ein paar zuckersüße Ausreden hören möchtest?« »Die Wahrheit… und nichts als die Wahrheit.« Eine dritte Praline folgt in seinen Mund. Dafür, dass mein Geschenk so billig war, scheint es ihm zu schmecken. Oder er stopft sie sich aus Frust hinein. Dann überkommt mich ein Schauer. Denn Victor antwortet auf meine Frage: »Sie sind tot.« »Tot…?«, hauche ich, als hätte ich mir vorher nicht schon sowas in der Art gedacht. »Wie viele waren es?« »Sieben… acht… ich habe nicht Buch darüber geführt.« »Und alle hast du… umgebracht?« Jetzt finden Victors Augen zu mir. Sein aufmerksamer Blick lässt mich schlucken. »Sie haben mich betrogen.« »In welcher Form? Was ist ein Betrug für dich? Ist es Betrug, sich aus Angst um sein Leben zu verstecken, wie der Mann vorhin? Ist es Betrug für dich, wenn du angezweifelt wirst? Ist es Betrug, wenn ich nicht mehr bei dir sein will? Bringst du mich auch um, wenn ich deinen Wünschen nicht mehr entspreche?«, rede ich mich in Rage. Mein Herz beginnt zu rasen. »Selbstverständlich«, erwidert Victor emotionslos, als würde es ihn nicht im Geringsten rühren, würde er mich jetzt, hier auf der Stelle erschießen. Als wäre er nicht für eine Sekunde traurig, würde ich nicht mehr leben. Ich unterbreche unseren Blickkontakt. Dafür fasse ich mir an meine Brust, die sich für einen Moment so anfühlt, als hätte man mit einer Nadel durch meine Haut gestochen. Warum hat er das gesagt? Ist das sein verdammter Ernst? Bei ihm ist nichts, rein gar nichts? Nicht das letzte Bisschen Bedauern? So sieht er mich? »Ich bedeute dir absolut gar nichts?«, kann ich mich nicht abhalten zu fauchen, als es aus mir herausplatzt. Einen Atemzug lang weiten sich Victors Augen – ich kann es erkennen, auch wenn es nur minimal ist. Dann huscht sein Blick durch den Raum und er rutscht auf seinem Stuhl herum. Zumindest bis er sich wieder nach hinten lehnt. Seine Augen finden zurück zu mir. »Das heißt nicht, dass ich dich gerne tot sehen will. Mir wäre es lieber, wenn wir noch ein paar intime Stunden verbringen würden, bevor du dich entschließt, mich zu verlassen.« »Sie hatte recht.« Entrüstet schüttele ich den Kopf. »Du bist ein Monster.« »Ein Monster?«, lacht Victor kalt auf. Er nascht sogleich eine weitere Praline. Diesmal tippt er aber mit dem Fingernagel auf der Papierschachtel.  Ich zucke zusammen, als er plötzlich aufspringt und seine Handflächen auf den Tisch knallt, sodass alles darauf zu wackeln beginnt. Er löst sich von seinem Platz, um mit langen Schritten auf mich zuzukommen. Jeden Meter, den er sich mir nährt, drücke ich mich weiter nach hinten gegen die Lehne. »Du findest also, dass ich ein Monster bin, ja?« Victor bleibt neben mir stehen. Er packt meinen Stuhl. Mit einem kräftigen Ruck dreht er mich von der Tafel weg. Dann stützt er sich auf meine Armlehnen, beugt sich zu mir herunter, sodass kaum eine Hand mehr zwischen uns passt. Mein Herz rast, diesmal vor Unsicherheit. Victor verengt die Augen. »Ein Monster bin ich also… Gut, dann lass mich ein richtiges Monster sein.« Ich weiß gar nicht wie mir geschieht, da küsst mich Victor einfach. Obwohl ich mich mit ganzer Kraft gegen seine Schultern stemme, versage ich dabei, ihn wegzudrücken. Seine Zunge leckt über meine Lippen. Als ich sie ihm nicht öffne, packt er grob mein Kiefer und drückt so fest zu, dass mir keine andere Wahl bleibt, als meinen Mund zu öffnen. Victors Zunge dringt in mich ein. Ich versuche mich aus seinem Griff zu winden, doch er lässt mich erst los, als ich seinen Arm von mir reiße. Keuchend wende ich mich zur Seite. Mit dem Handrücken wische ich mir über meine feuchten Mundwinkeln. Anschließend hole ich aus und schlage Victors so hart ins Gesicht, dass sein Kopf zur Seite fliegt. »Widerliches Arschloch«, raune ich. »Du bist durch und durch ein ekelhaftes, krankes Monster.« Anstatt auf mich einzugehen, fängt mich Victor erneut in einem Kuss ein. Er presst meine Handgelenke auf die Lehnen, während er sein Knie zwischen meine Beine auf den Sitz drängt. Seine Lippen lösen sich von meinen. Dafür schleichen sie mein Kinn hinab zu meinem Hals, an dem sie sich festsaugen. »Victor! Hör auf! Lass mich los!«, schreie ich. Meine Versuche nach ihm zu treten, gehen geradewegs ins Leere. »Ich habe gesagt, du sollst mich loslassen!« Gerade bin ich dabei, mir im Klaren zu werden, was passieren wird, wenn Victor mich tatsächlich weiter anfassen würde, da verringert sich auf einmal der Druck an meinen Handgelenken. Victor löst sich von mir, um sich ein Stück hochzustemmen. Überrascht blicke ich ihm in die Augen. Er blinzelt mehrmals, als würde seine Sicht verschwimmen. Dann taumelt er sogar ein Stück zurück. »V-Victor…?«, frage ich überfordert. Er stützt sich an der Tischkante ab. Seine Finger, die eben noch meine Handgelenke gehalten haben, finden jetzt an seinen Hals. Er beginnt angestrengt zu husten. »I-Ist alles okay?«, frage ich, obwohl ich ganz eindeutige sehe, dass nichts okay ist. Den Schock von Victors Übergriff habe ich gerade völlig verdrängt. Fast hat es den Anschein, als bekäme er keine Luft mehr. Deshalb stehe ich auf, um zu ihm zu treten. Ich fange seinen Blick ein. »Was hast du?«  Victor kneift die Augen zusammen. Atemlos keucht er: »Was war in der… Schokolade… Was…« Weiter kommt er nicht. Denn seine Beine geben nach, weshalb er auf die Knie geht. Ich folge ihm mit rasendem Herz nach unten, packe ihn an den Schultern. Gerade rechtzeitig – Victors Röcheln verstummt, als er gegen mich fällt. Notgedrungen halte ich seinen schweren Oberkörper, der mich selbst fast umkippen lässt. »Victor!« Ruckeln an seinen Schultern bringt nichts. »Sag was, komm schon!« Tätscheln seiner Wangen zeigt keine Wirkung. »Was ist los? Bitte! Victor!« Von dem ohnmächtigen Körper kommt keine Regung. Deshalb sehe ich mich verzweifelt im Raum um. Weil ich nichts erkenne, das mir helfen könnte, rufe ich so laut, dass man mich in den Fluren hören kann: »Hey! Ich brauche Hilfe! Hey!« Lange lassen Victors zweite Schatten nicht auf sich warten. Adrian öffnet die Tür des Speisesaals. Als er mich mit dem bewusstlosen Victor am Boden sitzen sieht, stürmt er direkt herbei und nimmt mir den schweren Körper ab. »Was ist passiert?«, fragt er alarmiert, prüft den Puls seinen Bosses mit zwei Fingern. Auch Elliot kommt wenige Augenblicke später herbeigeeilt. Doch dieser geht anders als sein Vorgänger, direkt auf mich los. Er zieht mich am Kragen hoch, um mich schmerzhaft fest gegen die Tischkante zu pressen. Seine Stimme ist beinahe tödlicher, als sein Blick, der mich zu durchbohren versucht: »Was hast du kleiner Drecksack mit dem Boss gemacht, hä? Wenn du ihn vergiftet hast, dann verspreche ich dir, werde ich dich wünschen lassen, an deinem Gift verreckt zu sein!« »Elliot, hilf mir gefälligst!«, brüllte Adrian, der gerade dabei ist, Victors Arm über seine Schultern zu legen, um ihn hochhieven zu können. Böse knurrt Elliot mich an, dann lässt er mich los. Er legt sich Victors anderen Arm um die Schultern. Gemeinsam tragen die beiden unter ihren bewusstlosen Boss aus dem Speisesaal.    Als die Tür zu meinem Schlafzimmer geöffnet wird, springe ich vom Sofa auf. Seit anderthalb Stunden bin ich schon in diesem Raum eingeschlossen. Nachdem Victor zusammengebrochen war, hatten Adrian und Elliot ihn in sein Zimmer gebracht und ihren Arzt kontaktiert. Weil sie wohl tatsächlich befürchteten, dass ich etwas mit Victors Zusammenbruch zu tun habe, sperrten sie mich hier ein. Dann hat das lange Warten begonnen, in dem ich die ganze Zeit ungewiss blieb, wie es Victor ging.  Adrian tritt in den Raum. »Mr Carter, es tut mir leid, dass wir Sie hier festhalten mussten, aber diese Maßnahme galt nur zur Vorsorge. Wenn Sie möchten, können Sie jetzt zum Boss.« Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Mein Herz hämmert, als ich Adrian zu Victors Schlafzimmer folge. Kaum betrete ich den Raum, schnellen meine Augen auf Victor. Er liegt zugedeckt in seinem Bett. Im Gegensatz zu vorhin, trägt er keine Anzugsjacke, sondern ein lockeres T-Shirt. Schweiß glänzt auf seiner Stirn. Zudem prangt ein Verband an seinem rechten Am über der Wunde von unserem zweiten Treffen. Hinter dem Bett steht Elliot, die Arme verschränkt und die mörderisch funkelnden Augen auf mich gerichtet. Vor dem Bett sitzt ein unbekannter Mann, den ich anhand seines weißen Kittels als Arzt zuordne. Als er uns bemerkt, zieht er das Stethoskop aus seinen Ohren, um sich zu mir zu drehen. Dann lächelt er schief. »Wie geht es ihm?« Ich laufe zum Bett, kniee mich daneben. Vorsichtig streiche ich Victor eine Strähne aus dem Gesicht. »Das ist Mr Carter, von dem wir dir vorhin erzählt haben«, stellt mich Adrian dem Arzt vor. Dann zeigt er auf den jungen Mann mit den schmalen Augenbrauen. »Das ist Mr Lessiko Foot, der begabteste Arzt in unseren Reihen.« »Der sich für zwei Wochen ins Ausland verzogen hat«, wirft Elliot abfällig ein.  Lessiko, wie der Arzt zu hießen schien, kratzt sich verlegen am Hinterkopf. Unter seinen Augen liegen dunkle Schatten, als hätte er seit Wochen nicht richtig geschlafen. Seine blasse Haut wirkt im Kontrast dazu kränklich. Selbst seine wirren blonden Haare scheinen wie ausgebleicht. »I-Ich musste doch den Stoff für m-mein neues Experiment besorgen, ahaha…«, leiert Lessiko dösig, als wäre er angeschwipst. »Stoff? Mein Arsch! Der Boss war verwundet, du irrer Psychopath! Er sollte dich auseinandernehmen!«, erwidert Elliot zähneknirschend. Um wieder zum eigentlichen Thema zurückzukehren, erklärt mir Adrian ruhig: »Bitte verzeihen Sie, Mr Carter, dass wir angenommen haben, sie hätten dem Boss Schaden zugefügt. Aber Sie verstehen sicher, dass wir zu jeder Zeit auf alles gefasst sein und jeden kleinen Verdacht ernst nehmen müssen.« Ich atme tief durch. »Was war denn mit Victor?« »Ein anaphylaktischer Schock«, antwortet Lessiko. Er verstaut seine medizinischen Instrumente in einer Klapp-Tasche, die er gegen seinen Oberkörper drückt. »Eine allergische Reaktion. D-Dabei hat er die Nuss-Allergie schon seit seiner Kindheit… glaub ich.« »Nuss…«, hauche ich, als mir klar wird, dass ich wohl die Schuld an Victors Zusammenbruch trage. Ich beiße mir fest auf die Lippe. »E-Es kann sein, dass… in der Schokolade, die ich ihm geschenkt habe… also ich weiß nicht… das ist eine Vermutung. Ich habe nicht nachgesehen…« »Du kleiner Wichser!«, brüllt Elliot, sodass ich zusammenzucke. Er will über das Bett nach mir greifen, aber Adrian ist schnell bei ihm, um ihn zurückzuzerren. »Der Boss hätte sterben können, ist dir das klar? Ich bin dafür, dass wir ihn auf der Stelle beseitigen! Nachher ist der noch ein Agent vom Carlos Clan! Ich sag’s euch! Aber es hört ja nie jemand auf mich!« Meine Schultern sacken aufgrund der wüsten Beschuldigungen ein. Elliot reißt sich von Adrian los. Mit einem Zungenschnalzen dreht er den Kopf zur Seite. Ich beuge mich über Victor, um in sein feuchtes Gesicht zu sehen. Er hätte sterben können… wegen mir? »Du hast… ha… schöne Hände…« Verwirrt blicke ich zu Lessiko auf. Sein Lächeln wirkt abwesend. Er zieht die Ärmel seines Kittels über seine Hände, die in weißen Handschuhen stecken. »Meine sind richtig hässlich, ha… ahahaha…« Aus Instinkt ziehe ich meine Hände vom Bett herunter. Dann rutsche ich einen halben Meter von ihm weg. Wenn ich nicht gesagt bekommen hätte, dass dieser Mann ein ernstzunehmender Arzt sein soll, würde ich gleich eine weiteres Stück vor ihm fliehen. Der hat nicht mehr alle Latten am Zaun. Das sind alles kriminelle Irre, was habe ich erwartet?, schießt es mir durch den Kopf.  »Du machst ihm Angst«, mahnt Adrian den jungen Arzt. Dieser sieht endlich weg. »T-Tut mir leid. Das s-sagen… ahaha… die meisten…« Jetzt späht er wieder flüchtig zu mir. »Sie sagen, dass ich verrückt bin… ahaha… lustig.« Ein verunsichertes Schmunzeln huscht über meine Lippen, obwohl ich mich am liebsten vor dem seltsamen Typen verkrümelt hätte. Plötzlich vernehme ich ein Husten. Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden legt sich auf Victor, der träge seine Augen öffnet. Er sieht sich im Raum um, bis sein Blick an mir hängenbleibt. Mein Herz setzt einen Sprung aus. »Was ist geschehen?« »Du hattest einen ana… anapyl… einen allergischen Schock wegen Nüssen«, komme ich den anderen mit Erklären zuvor. Victor wischt sich hustend über die Stirn. »Was ist das hier? Habe ich was zu verschenken? Oder warum beobachten mich vier Mann in meinem Schlafzimmer? Raus, sofort!« Er wedelt auffordernd Richtung Tür. Auf sein Kommando setzen sich alle schweigsam in Bewegung. Gerade will ich erleichtert ausatmen, weil ich Victor heute nicht mehr sehen muss, da ruft er mir hinterher: »Du bleibst hier, Jesse.« Ich beiße mir auf die Lippe. Anschließen gehe ich die drei Meter zu Victors Bett zurück. »Lessiko« Angesprochener, der eben die Tür hinter sich schließen wollte, zuckt zusammen. Wahrscheinlich hat er dieselbe Hoffnung gehegt, seinem Boss nicht mehr gegenübertreten zu müssen. Victor raunt dunkel zu dem jungen Arzt: »Wir sprechen uns morgen.« Lessiko nickt beklemmt, bevor er diesmal wirklich die Tür schließt. Nun sind Victor und ich ganz alleine. Weil ich vor seinem Bett stehe bin ich um einiges größer als er – eine ganz ungewohnte Art Victor anzuschauen. »Bist du enttäuscht?« Er legt einen Arm unter den Kopf. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »Warum?« »Fast hätte mich deine Schokolade erwischt. Leider hast du es nicht geschafft, mich mit diese einmaligen Chance umzubringen«, lacht er bitter. Entsetzt balle ich die Fäuste. »Du glaubst, ich würde mir wünschen, dass du stirbst?« »Tust du nicht?« Victor mustert mich von den Knien bis zu meinem Ansatz. »Du bist ein Gefangener in meinem Haus, sagst selbst, dass ich ein Monster bin, das dir schlimme Dinge angetan hat und willst trotzdem nicht, dass ich sterbe?« »Natürlich nicht!«, platzt es aus mir heraus. Ich stemme mich auf die Matratze, um Victor so nahe zu kommen, dass ich sogar das Weiten seiner Pupillen wahrnehme. »Nicht jeder ist so ein schreckliches Monster wie du. Du hast dich an mir vergriffen. Du hast mir schlimme Dinge gezeigt, die ich niemals vergessen werde. Doch deswegen wünsche ich niemandem den Tod!« Für einige Sekunden betrachten wir uns schweigend. Dann beginnt Victor laut zu lachen. Sein Gelächter wechselt zwischendurch zu Husten, bis er sich schließlich angestrengt durch die Haare fährt. »Jesse… du solltest mich hassen. Hass ist gut, er treibt dich an, wenn du im Dreck liegst, mit der Spucke der Leute am Hals. Hass ist das einzig wahre Gefühl. Deswegen hasse mich, Jesse. Mit jeder Faser deines Körpers.« Mein Blick wird sanfter, als ich mich auf die Bettkante setze. »Das möchte ich aber nicht. War dein Wille nicht immer, dass ich dich begehre?« Victor schnaubt verächtlich. »So naiv…« »Mag sein, dass ich für dich nur ein dummes Spielzeug bin, das du rumschubsen kannst.« Victor erstarrt, als ich die Decke anhebe, damit ich unter diese schlüpfen kann. Daraufhin ziehe ich sie mir über die Schultern. Ich spüre seine Körperwärme. Erst jetzt wird mir bewusst, wie kalt ich mich gefühlt habe. Mein Herz springt einmal ganz schnell. »Immer noch besser, als ein trauriger und einsamer Steinklotz zu sein.« Weil ich direkt an Victor liege, kann ich ihn schlucken hören. »Einsam?« Keine Ahnung, das ist einfach so ein Gefühl. Wenn dich jeder hassen soll, kann dich doch keiner lieben. Du armer, einsamer Mann… alles besitzen und doch niemanden um sich haben, denke ich in dem Moment. »Bist du wirklich überzeugt, es gibt kein stärkeres Gefühl, als Hass?« Ich schaue zu Victor auf, der meinen Blick erwidert. »Was machst du überhaupt in meinem Bett?«, weicht er meiner Frage aus. Ich zucke mit den Schultern. »Willst du mich etwa nicht in deinem Bett?« »Komm darauf an, was wir darin machen.« »Bestimmt nicht das…«, beginne ich, verstumme allerdings, als ich Victors Hand an meiner Stirn spüre. Er streicht mir meine Haare hinters Ohr. Wo seine Fingerspitzen mich berühren, beginnt meine Haut zu kribbeln. Mein Körper sehnt sich nach tröstender Wärme, ganz gleich welcher Art. Victor streicht über meine Wange, meine Kehle, mein Schlüsselbein… Er hat mich verletzt. Denke an das ganze Blut, denke daran, wie er sich an dir vergriffen hat. Diese Zärtlichkeiten sollte ich nicht genießen. Möglicherweise sollte ich ihn doch hassen. Ja! Jesse, hasse ihn, na los…!, schweifen meine Gedanken umher, während ich seufzend die Augen schließe. Shit… Kapitel 14 ---------- Schwärze. Der Himmel voller Dunkelheit, endlos, in einer Spirale, die mit jedem meiner Schritte länger wird – An mehr aus meinem Traum kann ich mich nicht erinnern, als ich schreiend aufwache. Ich schnappe panisch nach Luft, während ich meine Finger in das Bettlaken kralle. Die Erkenntnis, dass ich mich in Sicherheit befinde, schleicht sich langsam in meinen Kopf, sodass mein Atem gleichmäßiger wird. Als ich neben mich sehe, ist das Bett erneut leer. Doch bevor ich mich fragen kann, wo Victor ist, höre ich seine Stimme: »Ein Albtraum?« Ich drehe meinen Kopf ruckartig zur Ledercouch, auf der Victor sitzt. Er mustert mich kurz, bevor er sich den Unterlagen auf dem niedrigen Tisch widmet. Weil er eine Stoffhose und sein gewohnt weißes Hemd trägt, ist er wahrscheinlich schon länger wach. Die Sonnenstrahlen, die durch die geöffneten Vorhänge in das Zimmer dringen, zeigen mir, dass es gegen neun Uhr sein muss. Während ich mir über meine Augen reibe, schwinge ich die Beine aus dem Bett. Ich trotte die zwei Stufen der Holzempore herunter, bis ich bei Victor ankomme. Direkt neben der Couch lasse ich mich in einen Sessel fallen, sodass ich ihm gegenübersitze.  »Woher weißt du, dass ich einen Albtraum hatte?« Ohne Aufzusehen, antwortet er: »Du hast geschrieen.« Ich beiße mir auf die Lippe. Gleichzeitig folge ich der Spitze seines Kugelschreibers, die routiniert über das Papier kratzt. Auf Kopf zu lesen ist schwer. Nicht mal die Überschrift kann ich entziffern. Bei meinen Beobachtungen, die ich einige Minuten schweigend fortsetze, bemerke ich auch das erste Mal, dass Victor mit links schreibt. Jetzt, wo ich es richtig erkenne, erinnere ich mich daran, dass er immer mit dieser Hand gearbeitet oder mich berührt hat.  Ich lächele, weil ich die Stille durchbrechen kann. »Du bist Linkshänder, oder?« Victor erstarrt. Als sich sein Blick hebt, zieht er die Augenbrauen zusammen. »Ist das ein Problem?« »Äh… Nein… warum sollte es?« »Egal.« Victor schüttelt den Kopf, bevor er sich seiner Arbeit widmet. »Du hast mich nur an etwas erinnert.« »An was erinnert?« »Vergiss es einfach.« Ich kräusele die Lippen. »Warum willst du mir nichts über dich erzählen?« »Weil es nichts Spannendes zu erzählen gibt.« »Wenn ich dich verstehen soll, muss ich mehr von dir wissen«, dränge ich weiter. »Bitte Victor…« Er fährt sich angestrengt durchs Gesicht, weil ich ihn vom Arbeiten abhalte. Wahrscheinlich will er einfach weiterschreiben, weshalb er mir antwortet: »Früher als Kind habe ich oft Schläge wegen meiner Hand bekommen, deshalb reagiere ich unbewusst darauf. Mehr ist es nicht. Zufrieden?« »Mehr ist es nicht?«, hauche ich entsetzt. Victor widmet sich wieder den Unterlagen. Er sortiert einige Blätter um, bevor er seine Unterschrift am Ende setzt. Ein ums andere Mal frage ich mich, wer dieser Mann eigentlich ist. »Was arbeitest du? Woher hast du überhaupt so viel Geld?«, bohre ich tiefer nach. Victor donnert seinen Kugelschreiber auf den Tisch. Dann holt er tief Luft. »Jesse, ich muss mich konzentrieren. Es steht dir frei, dich im Haus zu bewegen.« Ich schnalze mit der Zunge. »Weshalb bist du hier geblieben, wenn ich dich störe?« Anstatt mir zu antworten, schnappt Victor sich seinen Stift vom Tischrand und bearbeitet die Unterlagen weiter.  Kann es sein, dass er sich Sorgen gemacht hat, weil ich schlecht geschlafen habe?, schießt es mir durch den Kopf, den ich daraufhin kräftig schüttele. Blödsinn. Bestimmt wollte er mich besser kontrollieren können, nachdem was gestern geschehen ist. Warum denke ich immer mehr solcher lächerlichen Sachen über ihn? »Beantworte mir diese letzte Frage. Dann bin ich schon still«, quengle ich wie ein kleines Kind. Victor stöhnt. »Neben den Aktivitäten des Clans gibt es eine Hauptfirma: Wir verwalten das Geld von Leuten, die auf legalem Weg nicht an einen Kredit oder an ein Konto kommen würden. Zudem ist der ausschlaggebende Teil das Investieren in unsere Fonds, die am meisten abwerfen.« »Ah…«, mache ich, weil ich nicht ganz nachkomme. »Du bist quasi der Steuerberater der Verbrecher.« Victor wirft mir einen bösen Blick zu, den ich mit einem breiten Grinsen erwidere. Dann lasse ich ihn wie versprochen arbeiten. Ich lehne mich nach hinten, um Victor zusehen zu können, wie er Blatt um Blatt zu korrigieren scheint. Doch je länger die Stille herrscht, desto mehr driften meine Gedanken zu gestern ab. Zuerst sehe ich vor meinem inneren Auge Victor und mich im Pool, dann die 19te… Blair… die Leichen… das Blut… Ich halte mir eine Hand vor den Mund, weil ich meinen bitteren Mageninhalt auf der Zunge spüre. Meine Finger beginnen zu zittern. Ablenkung… was ich jetzt brauche ist Ablenkung… Ganz egal was, Hauptsache es lässt mich vergessen, was passiert ist! Plötzlich platzt es aus mir heraus: »Was genau ist BDSM?« Victor driftet mit dem Stift ab und zieht einmal quer über das Blatt einen langen Strich. Langsam hebt er den Kopf. »Was hast du gerade gesagt?« Ich sitze kerzengerade da. Mein Gesicht läuft rot an. Nun realisiere ich, was ich gerade begonnen habe. Ich breche unseren Blickkontakt ab, bevor ich flüstere: »W-Was… BDSM i-ist…« Auf einmal scheint Victor jegliches Interesse an seiner Arbeit verloren zu haben. Er legt den Stift beiseite, bevor er die Beine überschlägt. »Warum willst du das wissen?« »N-Neugier…« Ich morkele an meinen Fingernägeln im Schoß. Ab und an traue ich mich flüchtig aufzusehen. Victors kalte Augen auf meinem Körper schicken Gänsehaut über meine Arme. »Woher kommt diese Neugier?« »E-Erzähle ich später…«, meine ich, um Blair zu vergessen. Es vergehen einige Augenblicke, in denen wir schweigen. Ich frage mich, was für einen Sturm ich da heraufbeschworen habe. »Du solltest dir ein eigenes Bild machen«, durchbricht Victor als erster die Stille. »Soll ich es dir zeigen?« »Zeigen?« Victor leckt sich über die Lippen. Meine Nackenhaare stellen sich auf, als er sadistisch lächelt. »Was BDSM ist.«       Kurz glaube ich, mein Herz springt mir aus der Brust, als ich das T-Shirt über meinen Kopf ziehe. Damit wäre ich fertig anzogen – wenn man meine lockeren Shorts mit einberechnet. Nach meinem Verplapperer bei Victor hat er mir angewiesen, mich zu waschen, weil ich noch meine Sachen vom Vortag trug. Da ich nun fertig bin, verlasse ich  hart schluckend sein Badezimmer.  Victor sitzt lässig auf seinem Bett. Seine Augen schleichen meinen Körper hinauf, von den Zehenspitzen, bis zu meinen Haaren. Dabei lässt er sich alle Zeit der Welt. Ich räusperte mich, bevor ich zu ihm trete. Kaum stehe ich vor ihm, findet seine Hand an mein Bein. Überrascht zucke ich zusammen, was Victor böse schmunzeln lässt. »Also… Was willst du mir zeigen…?« »Diese Ungeduld«, tadelt Victor. Aber er steht auf und deutet mir an, ihm zu folgen. Wir begeben uns zur linken Wand neben der Erhöhung mit dem Bett. Victor öffnet seinen Kleiderschrank, der – wie ich feststelle – begehbar ist. Beinahe ein ganz neuer Raum erstreckt sich hinter den dunklen Holztüren. An der Decke hängen polierte Lampen in schlichtem Design. Als wir eintreten, gehen sie von selbst an. Rings um mich herum hängen Kleiderbügel in den offenen Holzabteilen mit gebügelten Hemden oder teuren Blazern. Schier tausende von Schubfächern sind im Schrank angebracht. Davon abhalten, mal in eines zu spicken, kann ich mich nicht. Meine Augen fallen mir fast aus, als ich eine Handvoll Uhren in diesem vorfinde. Sie sind in schaumstoffartigen Aufstellern platziert. Goldene Armbändern oder Zeiger in ausgefallenem Design, mit kleinen Edelsteinen als Ziffern – Keine davon schien weniger als ein halbes Vermögen gekostet zu haben. »Komm.« Victor hält vor einer Tür, die am rechten Ende des Raums in einen ungewisses Abteil führt. Unauffällig, als hätte Victor mein Spionieren nicht bemerkt, schließe ich das Schubfach wieder. Ich laufe an den edlen Klamotten, den gewachsten Schuhen in den klappbaren Schrankfächern und den kostspieligen Accessoires vorbei, bis ich bei Victor halte. »Was ist dahinter?« Ich fahre mit dem Finger die vergoldetet Klinke der Tür nach. »Deine Antwort.« Victor spannt mich nicht weiter auf die Folter. Er öffnet diese mysteriöse Tür, bevor er als erster eintritt und sie mir aufhält. Ich werfe zögerlich meinen ersten Blick in den Raum. Sofort weiten sich meine Augen, während mein Herz wieder zu rasen beginnt. »Scheiße…« Victor nimmt meine Hand, um mich weiter hineinzuziehen. Danach schließ er die Tür hinter uns. Er betätigt einen Lichtschalter, sodass es heller wird. Nun kann ich alles besser erkennen. Ob ich es auch will, bin ich mir in diesem Moment absolut nicht sicher. »Teile deine Gedanken mit mir«, haucht Victor neckisch in mein Ohr, als hätte er mit meiner überforderten Reaktion gerechnet. Meine Augen huschen von einer Seite des Raums zur nächsten. Ich weiß nicht, was ich zuerst ansehen soll. Das hier ist ein Schrank in einem Schrank, nur mit mehr… Spielzeug. Auch hier sind überall an den Wänden Schubfächer und offene Schrankteile angebracht. Sie sind gefüllt mit Dingen, die ich nicht kenne. Dinge, von denen ich nicht mal weiß, wofür sie gedacht sind… oder wo man sie reinstecken könnte. Tücher, Bänder, Dildos, Latexhandschuhe – In Gedanken zähle ich auf, was ich alles erkennen kann. Die Regale sind vollgestellt mit Schachtel, Tuben oder gummiartigen Dingen, welche ich noch niemals in meinem Leben gesehen habe. Dort liegen auch Metallstäbe und andere undefinierbare Objekte in seltsames Formen. Am meisten lässt mich allerdings die hintere Wand schlucken. Fein säuberlich an Haken angebracht, hängen dort Seile und Peitschen, oder was auch immer das darstellen soll… Ich schlage mir entsetzt eine Hand vor den Mund. Nicht mal bei meinem ersten Mal mit Victor war ich so knallrot gewesen. Ich wispere voller Ehrfurcht: »D-Das… willst du mit mir machen?« Als ich einen Schritt nach hinten taumle, stoße ich gegen Victor, der mich an den Schultern fasst. »Wolltest du es nicht eben noch vor einer halben Stunde?«  »I-Ich wusste nicht… das ist…« Mir bleiben die Worte im Hals stecken. Am liebsten würde ich hier so schnell wie möglich raus. »I-Ich glaube, ich stehe nicht so darauf, gehauen zu werden. Das ist nichts für mich…« Victor lacht amüsiert. »BDSM hat nicht zwingend etwas mit Schmerzen zu tun.« »Aber da hängen doch solche Dinger… Wenn es nicht unbedingt mit Schlägen zu tun hat, womit dann?« Ich spüre Victors Atem in meinem Nacken. Dort stellen sich meine Härchen auf, als ein Schauer durch meinen Köper fährt. Victor raunt dunkel: »Mit dem Gefühl, das du gerade hat. Die Ungewissheit, was als nächstes passiert. Du begibst dich voll und ganz in die Hand eines anderen, lässt ihn über dich bestimmen, ohne denken zu müssen. Nur fühlen. Die Anspannung. Die Angst. Das Verlangen.« Seine Hand findet zu meinem Kinn. Er streichelt mit seinem Zeigefinger meine Kehle hinab. Mein zittriger Atem lässt ihn grausam lächeln. »Du sagst, dass das nichts für dich ist, dabei bebt dein Herz vor Aufregung. Du willst mir gehören, habe ich nicht recht?« Ich stoße mich von Victor ab. Als ich mich zu ihm drehe, halte ich mir den Handrücken vor das Gesicht, in dem kläglichen Versuch etwas von meiner Scham zu verdecken. »Jetzt mach mal halblang! Als ob ich das wollen würde! Deine Selbstverliebtheit kennt wahrlich keine Grenzen.« Victor greift nach meiner Hüfte. Er streicht mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht. »Wenn ich falsch liege, wieso hast du mich auf BDSM angesprochen?« Ertappt sehe ich weg. »I-Ich wollte es nur mal wissen. Wer hätte denn gedacht, dass du gleich ein ganzes Lagerhaus an Sexspielzeug bunkerst?« »Lass es uns ausprobieren…«, raunt Victor. »A-Ausprobieren?« Meine Stimme ist um viele Töne zu hoch. »Jetzt sofort? Hier? Das alles?« Victor gluckst: »Ich weiß, dass du dich schon freust, aber alles ist dann doch ein wenig zu viel. Zumindest, wenn du morgen noch laufen können willst.« Ich murre kleinlaut: »Du weißt, wie das gemeint war.« »Suche dir für den Anfang drei Sachen heraus, die dir gefallen könnten.« »Ich habe nie gesagt, dass ich da mitmache!« »Wenn dir dein Meister etwas anweist, hast du das nicht in Frage zu stellen«, raunt Victor, bevor er sich von mir löst und zum linken Regalteil schlendert. Ich entscheide mich gegen einen zynischen Kommentar. Stattdessen trete ich neben Victor und schaue mir die Dinge im Regal an. Wenn ich schon mal hier bin, will ich auch wenigstens wissen, was das alles eigentlich ist. Deshalb gleitet meine Hand erst über das Holz, dann über eine lila Tube mit weißer Aufschrift. »Das ist Gleitgel, wie wir es letztes Mal benutzt haben. Nur mit ein paar… Extras«, erklärt Victor, als hätte er meine Frage gewusst. Er lehnt mit der Schulter gegen das Regal, die Arme verschränkt. Dabei beobachtete er jede meiner Bewegungen. Meine Hand fährt weiter. Ich gehe ein paar Schritte, bis mir eine Art schwarzes Band aus Leder mit einem Ball daran ins Auge sticht. Nachdem ich es an mich nehme, drehe ich es in verschiedene Richtungen. Mit einer Schnalle an der Seite scheint man es öffnen zu können. Aber wofür dieser Ball ist, erschließt sich mir nicht. Darum frage ich: »Was macht man damit?« Victor tippt sich an die Lippen. »Damit dein Zuckermündchen endlich ruhig ist.« In Windeseile lege ich das Band zurück an seinen Platz. Ich beiße mir auf die Lippe. Dafür nehme ich die eine metallene Stange an mich, welche mir vorhin schon auffiel. An den Enden sind Karabinerhaken angebracht. Als ich sie drehe, bemerke ich, dass man die Stangenteile anscheinend auseinanderziehen kann. Victor öffnet eine Schublade, aus welcher er zwei lederne Fesseln holt. Er legt sie vor mir ab. »Die brauchst du dafür.« »Und dann?« »Dann kannst du nichts mehr vor mir verstecken.« Mehr brauchte ich definitiv nicht zu wissen, als auch die Stange schnell wieder an ihren eigentlichen Platz findet. Victor kramt erneut in der Schublade. Währenddessen hole ich ein weiteres ledernes Band hervor. Diesmal kann ich es aber als schlichtes Halsband identifizieren – zumindest hoffe ich es.  Plötzlich wird alles dunkel. Erschrocken fasse ich in mein Gesicht, wo ich ein weiches Etwas über meinen Augen ertaste. Victors Finger legen es mir geschickt um. Doch ich störe ihn dabei, als ich das Ding, das mir die Sicht nimmt, auf meine Stirn ziehe. »Eine Augenbinde?« »Richtig erraten.« »Nimmt man die nicht zum Schlafen?« »Das Halsband, gefällt es dir?«, weicht Victor meiner Frage aus. Er zieht es mir einfach aus den Händen. »Gefallen würde ich nicht sagen. Aber im Gegensatz zu dem ganzen anderen Kram hier sieht es harmlos aus. Wahrscheinlich sagst du mir jetzt, dass es irgendwelche Dornen hat oder Elektrostöße ausstrahlen kann.« »Nein, ein ganz normales Halsband.« »Wow. Das beeindruckt mich jetzt…«, beginne ich meinen sarkastischen Kommentar, stoppe allerdings, als Victor das Band öffnet und beginnt, es um mein Hals zu legen. Mit jedem Handgriff streifen seine Finger über meine Haut. Ein Schauer überkommt mich. Als er fertig ist, lehnt er sich zurück, wie ein Künstler, der seine Arbeit betrachtet. Ich berühre das Band zaghaft. »Das gefällt dir? Wenn ich angekettet und geknebelt bin? Ist das deine Wunschvorstellung von mir?« »Was, wenn ich ja sage?« Victor schlingt seine Arme um meine Taille. Dann zieht er mich nahe an sich. Ich antworte ihm nicht. Dafür beugt sich Victor herab. Er fängt mich in einem sanften Kuss ein, der mit jeder Sekunde intensiver wird. Wie von selbst lege ich meine Hände in seinen starken Nacken. Das letzte Mal sind wir gestört wurden. Ganz natürlich, dass sich mein unbefriedigter Körper zu Wort meldet.  Wir lösen uns voneinander. Ich schnappe nach Luft. Victor hingegen schnappt nach den Fesseln. Seine Augen beginnen erregt zu glitzern. »Dir zuzugucken war schwer genug. Ich warte nicht länger. Die drei Sache werden wir benutzen.« »Aber…«, beginne ich. »Nein«, nimmt mir Victor herrisch das Wort. »Ab jetzt tust du nur noch, was ich dir sage, verstanden?« »Aber, wenn…« »Verstanden?«, unterbricht er mich. »Ich bin mir nicht…« Victor zieht mich mit einem starken Ruck an mir, sodass mein Herz überrascht schneller hüpft. Er raunt drohend in mein Ohr: »Hast du verstanden, Jesse?« Von Victors haushoher Überlegenheit in diesem Kampf überrumpelt, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu nicken. Hierfür belohnt mich Victor mit einem langen Kuss, den ich gleichermaßen erwidere. Etwas sanfter fügt er schließlich an seine Anweisung an: »Du musst dich mir nur hingeben. Denke an nichts, außer mich. Ich werde gut für dich sorgen, keine Angst.« Nicht mehr denken… nicht an gestern, an nichts… Das klingt gut. Das ist doch, was ich wollte, oder?, denke ich nach. Dann schmunzele ich. Meine Entscheidung steht fest: Ich lasse mich auf Victor ein. Wenn es nicht meine Hoffnungen erfüllen würde, könnte ich immer noch aufhören. Bevor wir den Raum verlassen, holt Victor ein Seil, das er um seine Hand wickelt. Zuerst will ich ihn danach fragen, doch ich halte mich zurück. Er führt mich in sein Schlafzimmer, in welchem er die Vorhänge zuzieht, damit eine bessere Stimmung aufkommt. Dann drängt er mich zum Bett, auf das ich mich rücklings fallenlasse. Die Fesseln und das Seil schmeißt er neben mich aufs Bett, bevor er über mich klettert. Seine Hände stützen sich an meinem Kopf ab. Er fängt mich in einem stürmischen Kuss ein. Unsere Bewegungen sind abgehakt. Eigentlich will ich gerade nichts lieber, als uns die Kleidung vom Leib zu reißen und mit Victor zu schlafen. Stattdessen machte er mir ein Strich durch die Rechnung. Denn nun hält er an, leckt sich gierig über die Zähne. »Zieh dein Shirt aus.« Seinem Befehl folgend, hebe ich meinen Oberkörper an, um es mir über den Kopf zu ziehen. Anschließend drückt mich Victor zurück auf die Decke. Er nimmt eine der Handfesseln, die er demonstrativ vor mein Gesicht hält. Jedoch ziehe ich meine Hand zurück, als Victor sie greifen will. »Du musst mir erklären was du machst! Denke daran, dass ich gerade mein zweites Mal habe!« Diesmal lasse ich es zu, dass Victor meine Hand in seine nimmt. Mit einem schiefen Lächeln führt er sie zu seinen Lippen. Er küsst mein Handgelenk, weiter höher, meinen Unterarm entlang. Bei meiner Schulter angekommen, richtet er sich wieder auf, den Blick nicht eine Sekunde von mir nehmend.  »Jetzt werde ich dir die Fesseln umlegen. Sie tuen nicht weh, siehst du?« Er drückt gegen die weiche innere Polsterung. Weil ich vorsichtig nicke, folgt Victor seiner Erläuterung. Er öffnet die Fessel an der vergoldeten Schnalle, welche das Leder um die Polster festhält. Zwar versuche ich stillzuhalten, als er die Fessel um mein Gelenk befestigt, doch allmählich erfasst mich ein Zittern. Noch schlimmer wird es auf der anderen Seite.  Nach und nach frage ich mich, was ich gerade eigentlich mache. An sowas habe ich nie zuvor in meinem Leben gedacht. Inzwischen passiert alles Schlag auf Schlag. Meine kurzen Gedankengänge werden jäh unterbrochen, denn Victor ist fertig mit meinen Fesseln. Daher ertaste ich dieses extravagante Spielzeug, das sich perfekt um meine Haut schlingt. Ein wenig fühlt es sich wie ein enges Kissen an. »Sitzen sie zu fest?«, fragt Victor, weshalb ich den Kopf schüttele. »Sollte etwas schmerzen, wirst du es mir sagen. Üblicherweise gibt es auch ein Safeword, mit dem die oder der Dom weiß, wann es zu viel wird.« »Was bedeuten diese ganzen Begriffe?« Victor verdreht die Augen. Anscheinend bin ich wieder an die Grenzen seiner kurzen Geduld gestoßen. »Der Dom ist die Person, welche die Führung übernimmt. Der Sub ist der passive Part. Und das Safeword ist eine Absicherung. Es wird vielleicht vorkommen, dass du stopp oder nein sagst. Doch das gehört dazu. Erst beim Safeword weiß ich, dass du es ernst meinst.« Ich schlucke. »Und wie lautet dieses Safeword?« »Das kannst du dir aussuchen. Nimm nichts, das zum Thema Sex passt oder dir zu schnell über die Lippen rutschen könnte, damit sich nichts vermischt.« Nachdenklich seufze ich. »Okay, dann äh… Es ist ganz egal was, Hauptsache es hat nichts mit Sex zu tun? Hm… Wie wäre es mit…« Ich sehe an Victor vorbei zu dem Tisch, an dem er vorhin gesessen hat. »…Kugelschreiber?« Victor zieht die Augenbrauen hoch. »Kugelschreiber?« »Du hast doch gesagt, dass es egal ist!«, keife ich beleidigt. »Was besseres fällt mir halt nicht ein!« »Mir soll es recht sein.«  »Und was machen wir als nächstes?«, hake ich nach. Er deutet zu den Kissen. »Lege dich ans Kopfende.« Ich folge seinem Befehl. Als Victor sich mit dem Seil an die Bettkante setzt, schlucke ich hart. Er will es durch die Haken an meinen Fesseln fädeln, doch ich setzte mich auf. Ich stütze ich mich an Victors Schulter ab. »W-Warte… Ich glaube, ich kann das nicht. Heute ist mein zweites Mal. Das ist ein wenig z-zu viel… glaube ich.« Einen Moment scheint es, als würde der Mafia-Boss überlegen, wie er am besten vorgehen sollte. Schließlich entschiedet er sich dafür, über meine Wange zu streicheln. Mein Herz setzt einen Sprung aus. Erstrecht, als er mich auffordert: »Sieh mich an.« Ich tue, was er will. Seine kalten Augen schauen direkt in meine. »Nach deinem ersten Mal habe ich angenommen, dass nun weißt, dass ich kein Amateur bin. Wenn ich dir schaden wollen würde, hätte ich es längst getan. Du bist ganz neu in diesem Thema, da werde ich dich nicht sofort ins kalte Wasser werfen. Also überlasse alles weitere mir.« Victor startet einen neuen Versuch, das Seil durch meine Fesseln zu fädeln. Ich lasse es zu, dass er meine beiden Handgelenke miteinander verbindet. Dann drückt er mich zurück aufs Bett, damit er das Seil am Kopfende mit den Holzlatten verknoten kann. Obwohl sich die Fesseln angenehm an meine Haut schmiegen, gibt es kein Entkommen draus. Jetzt sind meine Hände über meinen Kopf am Bett angebunden. Oberhalb meines Körpers bin ich stark in meinen Bewegungen eingeschränkt. Wie auf Knopfdruck beginnt mein Herz zu rasen. Victor könnte mit mir tun und lassen, was er will, weil ich ihm komplett aufgeliefert bin.  Er zieht mit zwei Fingern die Augenbinde von der Stirn über meine Augen. Ich sehe nichts mehr. Jetzt weiß ich nicht mal wo Victor sich befindet. Sitzt er noch neben mir? Zieht er sich gerade aus? »V-Victor? Sag was…«, fordere ich, lecke mir tausende Male über meine Lippen. »B-Bitte… Victor…« Ich fahre zusammen, als Victors Stimme direkt neben meinem rechten Ohr auftaucht. »Ängstlich gefällst du mir.« »Als ob ich Angst vor dir habe!«, protestiere ich.  Das Bett regt sich, als würde Victor aufstehen. Vor dem Haus zwitschern die Vögel. Der Wind schlägt gegen die Fenster. Doch von Victor dringt kein Geräusch zu mir. Kein Atem, keine Schritte im Raum, kein Rascheln der Kleidung. Bald befürchte ich, er hat mich einfach alleine liegengelassen. Obwohl meine Hände feucht werden, würde ich mir keine Blöße geben, nach meinen großen Worten. Da ich einer meiner Sinne beraubt bin, muss ich mich auf die restlichen Eindrücke konzentriere. Um mich herum nehme ich alles intensiver wahr – Victors bitteres Parfüm, der leichte Geruch nach Zigarrenrauch, die Luftzüge, welche seine Bewegungen auslösen. Er ist ganz nahe. Auf einmal legt sich eine Hand an meinen Knöchel. Diese kleinste Berührung reicht, damit einen Schauer über meinen Rücken läuft. Sie schleicht mein Bein hinauf, über meine Shorts, bis zu meinem Bauch. Das Gewicht von Victors Beinen drückt in die Matratze an meiner Hüfte. Er kniet über mir, es muss so sein. Während er meinen Hals entlang streichelt, beginnt meine Brust zu erkunden. Aus Reflex will ich mich krümmen, um meinen nackten Körper zu schützen. Allerdings reiße ich nur an den Fesseln, die mich klirrend festhalten. Ich höre Victors amüsiertes Schnauben. Seine Lippen legen sich an meinen Nippel, an dem er zu ziehen beginnt. Um mir weiteren Freiraum zu nehmen, schiebt er eine Hand unter meinen Rücken, den ich zum Hohlkreuz durchbiegen muss. Jetzt kann ich ihn nicht mehr daran hindern, in meinen empfindlichen Nippel zu beißen, mich mit den Zähnen zu necken.  Seufzend bemerke ich Victors freie Hand. Sie gleitet mühelos in meine Short, wo sie über mein Glied fährt. Durch unser Spiel bin ich schon ein wenig hart, was Victors heiße Hand nur verstärkt. Ist er auch erregt? Will er mehr?, schießt es mir durch den Kopf, da ich seine Stimmung nicht sehen kann. Ich will mehr… Victor lässt meinen Wunsch unerfüllt. Seine Hand bewegt sich keinen Zentimeter, dafür hat er Interesse daran gefunden, seine Lippen an meinem Hals zu legen. Er saugt so fest daran, dass ich morgen sicherlich einen dunklen Fleck haben würde. Einer ist gut – an wie vielen Stellen meines Körpers umspielen seine Lippen meine Haut? So oft am Hals, so oft auf meiner Brust, so oft an meinem Bauch… Bald hat er mein Blut so tief fließen lassen, dass mein Glied vollständig aufgerichtet ist. Noch immer, hält er mich dort unten umschlungen, ohne mir ein paar der süßen Gefühle zu gönnen, die er in mir auslösen könnte, würde er mich massieren. Nur ab und zu, streicht sein Finger meine Länge entlang. Mein Becken kann ich nicht mehr stillhalten. Ich will mehr spüren, härter, fester. Doch Victor drückt mich zurück auf das Bett, sodass ich keine Chance habe. Aber das reicht nicht. »Victor…«, hauche ich irgendwann, weil es mir erscheint, als wollte er niemals weitermachen. »Wann…« Er antwortet nicht, erkundet meinen Körper weiterhin mit seinem Mund. Ich seufze, als er wie in Endlosschleife von meinem Bauch nach oben wandert und an meinem Hals zu saugen beginnt. »Wann machst du weiter…?« Wieder keine Antwort. »Das ist langsam zu… Victor…« Keine Antwort. Machtlos – so fühle ich mich unter dem Mafiaboss. Angekettet, der Sicht beraubt, gequält mit diesen Berührungen, die nichts halbes und nichts ganzes sind. Noch dazu antwortete er mir nicht, als wollte er mir damit zeigen, dass ich tatsächlich keine Macht mehr habe. Er bestimmt, wann es weitergeht. Er bestimmt, was als nächstes passiert. Er bestimmt, wie mein Körper bebt oder wie unbefriedigt ich mich fühle. »Was muss ich machen…?« Victors Zähne kratzten meine Kehle entlang. Sie schließen sich wieder um meinen Nippel, den sie zu reiben beginnen. Gleichzeitig streift er schwach über mein Glied. Jedes Mal wird diese Unzufriedenheit schlimmer.  »Sag mir was ich machen soll… Bitte…« Victor gibt nicht nach. Mein schwerer Atem halten in meinen Ohren wider. »Victor, bitte… Ich kann nicht mehr… Es fühlt sich schrecklich an, wenn du mich so quälst…«, versuche ich es ein weiteres Mal, beiße mir auf die Lippe. »Ich mache auch, was du willst… aber bitte… mehr…« Anscheinend hat sich etwas in dem Mafia-Boss geregt. Er stoppt mit seiner Folter. Jetzt spüre ich, wie sein Gesicht sich mir nähert. Sein Atem, die Hitze… »Alles, was ich will?« Ich kneife die Augen unter der Binde zusammen, obwohl Victor mich darunter nicht sehen kann. Dann nicke ich beschämt. Seine dominante Stimme zeigt klar und deutlich, dass er mir nur diese einzige Chance lassen würde, richtig zu handeln. Er raunt in mein Ohr: »Dann flehe deinen Meister nach Gnade an.« »Hm?«, fiepe ich überrascht. »D-Das… das meinst du nicht ernst, oder? Das kann ich doch nicht…« Ich halte mitten im Satz an, als Victor schon wieder seine Lippen an meinen Hals legt. Anscheinend habe ich falsch gehandelt, meine Chance verspielt, erlöst zu werden… »Okay! Ich mache es ja…! Also… b-bitte…«, beginne ich. Victor stoppt tatsächlich, um meinen Worten lauschen zu können. Wenn ich jetzt zögere, dann würde er mich wohl bis zum Abend foltern… Das würde mich um den Verstand bringen! Deshalb beiße ich mir schmerzhaft fest auf die Lippen, bevor ich voller Scham flüstere: »B-B… B-Bitte M-M…« Ein hartes Schlucken rinnt meine Kehle hinab. »B-Bitte habt Gnade, M-Meister… Ich kann nicht mehr…« Während ich mich mit rasendem Herz frage, ob ich Victors Wunsch entsprochen habe, setzt er sich wohl auf, dem Ruckeln zufolge. Dann spüre ich ihn meine Stirn küssen. »Guter Junge«, lobt er mich.  Bei seiner sanften Liebkosung macht mein Herz einen Satz. Doch lange hält die Überraschung nicht an. Victor packt den Bund meiner Shorts, um sie in mehreren, groben Rucken über meine Hüften zu ziehen. Dann entledigt er sich selbst seiner Kleidung, wie ich aus den Bewegungen der Matratze und dem Rascheln der Kleidung schließe. Das Öffnen eines Schubfachs ist zu hören, dann das einer Tube. Victor zieht meine Beine auseinander, sodass er an meinen Hintern reicht. Mir bleibt keine Zeit zu realisieren, was passieren wird, da stöhne ich auch schon laut durch den Finger, der in mich eindringt. Auf einmal kann Victor es nicht schnell genug haben. Er schiebt seinen Finger wenige Male tief ihn mich, bevor er entscheidet, dass er einen weiteren dazunehmen kann. Ich werfe den Kopf in meinen Nacken, halte mein Keuchen nicht zurück. Endlich nicht nur diese zarten Berührungen, sondern Empfindungen, die mich vor Erregung zusammenzucken lassen. Es ist genauso gut, wie mein erstes Mal – nein – diesmal scheinen mir seine Finger viel tiefer und fester in mich einzudringen. Während Victor einen dritten Finger in mich schiebt, der mich meinen Rücken durchbiegen lässt, knistert Plastik oder Papier. Ein Kondom, das er öffnet? Immer noch kann ich nichts sehen, nur Victors große Hände spüren. Ich will mich winden, meine Fingernägel in das Laken krallen. Doch die Fesseln halten mich davon ab. Also greife ich das Seil, um mich daran zu klammern, während ich stöhne. Im Gegensatz zu meinem ersten Mal, lässt sich Victor keine Zeit beim Dehnen. Kaum habe ich mich an das Gefühl seiner Finger gewöhnt, zieht er sie wieder aus mir heraus. Dafür lehnt er sich über mich, stützt deinen Ellenbogen neben meinem Kopf ab.  Victors Glied drückt gegen meinen Hinter. Als die Spitze in mich eindringt, verlässt ein Zischen meine Lippen. »V-Victor… das tut weh…« »Shh…« Er legt seine Hand an meine Stirn, mit der er meine verklebten Haare nach hinten streicht. »Was habe ich dir über das Verspannen erklärt? Letztes Mal hat der Schmerz auch nachgelassen.« »Ich will dich ansehen«, sage ich, obwohl Victor meiner Bitte nicht nachgeben wird. Die Augenbinde gehört zu diesem Spiel, das er liebt. Er würde die Lust, die er gerade empfindet nicht verderben wollen. Zumindest denke ich das, bis der seidene Stoff von meinen Augen gezogen wird. Blinzelnd sehe ich zu Victor auf. Dann bewegt er seine Hüfte, dringt tiefer in mich ein. Ich stemme meine Füße gegen das Bett, seufze ungehalten. Als sein Glied vollständig in mir ist, wartete Victor. Der Schmerz, der sich wie Risse in meine Beine und Bauch schleicht, ist größer als gestern, er vergeht hingegen auch schneller. Bald fängt mich Victor in einem Kuss ein. Er zieht sich aus mir zurück, um langsam wieder in mich zu stoßen. Ein paar Mal wiederholt er diese Bewegung, bis er das Tempo anzieht. Ich stöhne in unseren Kuss, bekomme kaum Luft, weil seine Lippen nicht von mir lassen. Immer wieder stößt er nun im schnellen Tempo in mich, lässt mich jedes Mal keuchen. Im Raum ist es beinahe so heiß, dass ich mir wie in einer Sauna vorkomme. Der Schweiß läuft meine Stirn hinab. Auch Victors Haut ist benetzt mit den salzigen Perlen seiner Anstrengung. Er greift nach meinen Beinen, um sie sich über seine Schultern zu legen. Als er das nächste Mal in mich stößt, breitet sich ein kribbelndes Gefühl in meinen Magen aus. Zuerst spüre ich es nur leicht, doch als Victor ein zweites Mal in mich stößt, flüchtet ein unbewusstes Wimmern über meine Lippen. Ich zucke zusammen, als er erneut so in mich stößt, dass dieses durchdringende Gefühl durch meinen Körper strömt. Gänsehaut breitet sich überall auf mir aus.  »V-Victor… da… ah… mh…«, wimmere ich. »Habe ich den richtigen Punkt gefunden?«, raunt er grinsend, bevor er mich abermals in einem Kuss einfängt. Ich kneife die Augen zusammen. Er stößt nun immer wieder so in mich, dass er das Flackern in mir auslöst, das mich halb um den Verstand bringt. Sowas habe ich zuvor noch nie gespürt – ganz anders als das bloße Reiben meines Glieds oder auch Sex an sich.  Deshalb halte ich nicht lange durch. Wenige Minuten später, reiße ich meinen Kopf in den Nacken, während ich stöhnend zum Orgasmus komme. Dabei bricht meine erschöpfte Stimme halb ab. Danach ringe ich nach Luft. Glücklicherweise gesteht Victors sie mir zu. Seine Stöße stoppen für den Moment. Er löst sich von mir. Seine Augen mustern mich. »Du bist schon…? Das Durchhaltevermögen müssen wir dir noch antrainieren.« Er grinst verheißungsvoll, beginnt sein Becken erneut in mir zu bewegen. Seine letzten Stöße sind nicht so rhythmisch wie zuvor, denn auch er kommt wenige Augenblicke später mit einem unterdrückten Stöhnen. Während wir beide unser rasendes Herz zu beruhigen versuchen, streicht Victor meine Seiten entlang. Er küsst mich noch einmal, bevor er sich an die Bettkante setzt. Von dort aus löst er die Knoten im Seil, sodass ich meine Arme wieder frei bewegen kann. Eilig nehme ich sie vor meinen Körper und streiche meine versteiften Muskeln entlang. Inzwischen beginnt mich Victor mit den Tüchern vom Nachttisch zu reinigen und sein benutztes Kondom zu entsorgen. Anschließend öffnet er die Fesseln um meine Handgelenke, welche schwache, rote Abdrücke hinterlassen haben. »Ich werde eine rauchen gehen.« Der Mafiaboss läuft zu seinem Kleiderschrank, aus dem er sich einen Bademantel holt. Danach zieht er die Vorhänge beiseite, um auf die Terrasse zu treten.  Plötzlich bin ich allein. Das war… intensiv, schießt es mir durch den Kopf. Mein Blick legt sich auf die Vorhänge, durch deren Schlitz das Tageslicht ins Innere dringt. Er hat mich einfach sitzenlassen, stelle ich fest. Diese Tatsache auf sich beruhen zu lassen, habe ich nicht vor. Deshalb suche ich mir ebenfalls einen Bademantel aus Victors Kleiderschrank, bevor ich zu ihm nach draußen trete. Der frische Geruch des Waldes vermischt sich mit dem Zigarettenrauch. Ich lehne mich über das Geländer. Victor zieht abschätzig die Augenbrauen hoch. »Hast du gehofft, wenn du zurückkommst, bin ich verschwunden?« Er nimmt einen kräftigen Zug. »Eigentlich schon.« Kopfschüttelnd dränge ich mich zwischen ihn und das Geländer, sodass er mich direkt ansehen muss. Wir verbleiben so mehrere Augenblicke schweigend. Irgendwann hält er mir die Zigarettenschachtel anbietend vor die Nase. »Ich… habe noch nie geraucht.« »Nicht mal probiert?« »War immer zu teuer.«  Nach kurzem Zögern ziehe ich eine Zigarette heraus. Betrachtend drehe ich sie zwischen meinen Fingern. Victor entzündet mit seinem Feuerzeug eine Flamme, in welche ich das eine Ende halte, bis es zu glühen beginnt. Dann stecke ich mir zum ersten Mal in meinem Leben eine Zigarette zwischen meine Lippen… und beginne auf der Stelle zu husten. Für Victors belustigtes Lachen würde ich ihm gerne eine verpassen. Stattdessen starte ich aus Stolz heraus einen weiteren Versuch. Das Ende ist voraussehbar – Der ungewohnte Rauch kratzt in meinen Lungen, sodass ich unkontrolliert huste. Diesmal landet die eklige Zigarette im Aschenbecher, kaum eine Armlänge von uns entfernt.  Um Victor nicht ungeschoren davonkommen zu lassen, klaue ich ihm einfach seine eigene Zigarette, die ich ebenfalls ausdrücke. »Du solltest nicht rauchen.« Er legt den Kopf schief. »Hat das dein ausführlicher Selbstversuch ergeben?« Ich nicke überheblich. »Rauchen ist ungesund. Zudem werde ich dich nicht mehr küssen, wenn du nach dem Zeug da schmeckst. Widerlich.« »Dann solltest du mich vom Rauchen abhalten«, raunt Victor dunkel. Sein Knie drängt sich zwischen meine Beine. Er streichelt meine Wange entlang. »Dir fällt sicherlich der ein oder andere Weg ein.« Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken, lehne mein Becken vor. »Hab schon eine Idee…« Kapitel 15 ---------- Während ich durch die Flure streife, frage ich mich, ob es tatsächlich erst Mittwoch ist. Mir kommt es eher vor, als wären mehrere Wochen vergangen, seitdem ich zu Victor gebracht wurden war. Mein erstes Mal, die Geschehnisse in der 19ten… all das soll nur in drei Tagen geschehen sein? Nach meinem ausführlichen Streifzug durch Victors Villa komme ich wieder über dem Poolzimmer an. Neben den bekannten Räumen gibt es noch einige Gästezimmer auf der oberen Etage, mehrere Besprechungsräume auf der unteren und dazu noch das Speisezimmer mit der angrenzenden Küche. Obwohl das Haus so groß ist, sind die meisten Zimmer leer. Nur teure Möbel und Licht scheint es darin zu geben. So lieblos, als würde hier jegliches Leben fehlen. Wofür benötigt man auch als einzelne Person so viel Platz?, geht es mir durch den Kopf. Doch gleichzeitig muss ich wieder an die schlimmen Dinge von Vorgestern denken. Ich halte mir eine Hand vor den Mund, um meinen Brechreiz zu unterdrücken. Gestern hatte ich es geschafft, meine Erinnerungen zu überspielen. Nach unserem Sex sind Victor und ich nicht mehr aus dem Zimmer gekommen. Ich war einfach nur froh gewesen, nicht mehr denken zu müssen. Aber jetzt, wo ich nichts mehr zu tun habe… Ich dachte, ein Rundgang würde helfen, vergebens. Besser ich gehe zu Victor…, denke ich angestrengt, als ich mir über meine nasse Stirn wische. Aber er wollte die Arbeit erledigen, von der ich ihn gestern abgehalten habe. Wird er mich da nicht wegschicken? Aber wenn ich nicht zu Victor kann, was soll ich dann machen, damit es aufhört…? Ich beiße mir auf die Lippe, als ich die Worte in meinen Gedanken nochmals durchgehe. Was denke ich denn da? Das klingt ja fast so, als würde ich ohne Victor nicht klarkommen. Was für ein lächerlicher Witz. Weil mir nichts anderes einfällt, begebe ich mich zu der Glaskuppel mit der fantastischen Aussicht auf den Wasserfall. Ich koche mir einen Cappuccino, mit dem ich mich anschließend auf einen Sessel niederlasse. Meine Beine ziehe ich an, schlinge den freien Arm darum. Der Himmel ist heute wieder wolkenfrei. Seufzend starre ich in das klare Blau.  Ich und Victor brauchen? Wer’s glaubt! Gestern war eine Ausnahme, weil ich Ablenkung haben wollte. Ja, genau, so sieht das nämlich aus! Wenn ich wollen würde, könnte ich auch einfach abhauen! Einfach durch die Tür und weg! Es ist ja nicht so, als wäre ich freiwillig hier. Ich bin immer noch Victors Gefangener!, rasen meine aufgebrachten Gedanken. Ich werfe einen kurzen Blick über die Schulter. Es ist ja nicht so, als wäre Victor der Einzigste, mit dem ich über mein Erlebtes sprechen könnte… Meine Schultern sinken herab, während ich in Richtung seines Arbeitszimmers starre. Es ist ja nicht so… als könnte ich mich niemandem auf der Welt anvertrauen, außer ihm… Tief durchatmend stelle ich meine Tasse auf den Tisch. Doch… genauso ist es, oder? Eine Weile noch sehe ich durch die weitläufigen Fenster, dann balle ich meine Hände zu Fäusten. Was für ein Quatsch. Dieser Ort macht mich verrückt!, schießt es mir durch den Kopf. Ich springe auf. Mit einem Affenzahn stampfe ich durch den Flur, die Treppe hinunter, den Eingangsbereich entlang, bis ich vor der Haustür stehe. Niemand ist hier, um mich zu überwachen. Kein Adrian, kein Elliot… Niemand, der mich abhalten würde, tatsächlich durch die Tür zu gehen. Victor scheint mich zu unterschätzen. Oder er ist so maßlos arrogant, dass er glaubt, ich würde nicht mehr versuchen abzuhauen. Wohl eher die ungeheuerliche Selbstverliebtheit. Bevor ich nach der Klinke greifen kann, ertönt plötzlich ein schmerzerfüllter Schrei. Ich zucke heftig zusammen und taumele unbewusst von der Tür zurück. Ehe ich mich fragen kann, woher der Schrei kam, brüllt schon Victors Stimme aus einem der Besprechungsräume: »Du solltest mir die Schuhe dafür sauber küssen, dass ich es dir nicht abreiße!« Ich schleiche zum zweiten Zimmer im linken Gang, vor das ich mich hocke, um durch das Schlüsselloch spähen zu können. Victor steht vor dem hinteren Schreibtisch, während jemand hellblondes vor ihm kniet. Das ist doch dieser ominöse Arzt Lessiko, nicht wahr?, schießt es mir durch den Kopf. Victor reißt ihn am Ohr, wie man es früher bei unartigen Kindern getan hat. Lessikos zusammengekniffenen Augen zufolge, scheint ihn Victor nicht gerade zimperlich anzupacken. Er hebt die gefalteten Hände in die Höhe. »T-Tut mir leid… Das wird nie wieder vorkommen, ich verspreche es! B-Bitte… das tut weh…« »Das soll es auch«, grummelt Victor. Zum Schluss zieht er nochmal extra fest an Lessikos Ohr, was dieser mit einem Quieken kommentiert. Dann lässt er ihn los und läuft zu seinem Schreibtisch, von dem er einige Blätter nimmt. Lessiko fällt erschöpft zurück. Mit einer Hand hält er sich das rote Ohr. Seine schmollende Lippe erinnert mich an ein kleines Kind, das bestraft worden ist. Wieder einmal frage ich mich, ob dieser Mann wirklich Arzt sein soll. »Lessiko.« Angesprochener zuckt zusammen, bevor er hastig zu seinem Boss aufschaut. Dieser dreht sich mit einigen Blättern herum und lehnt sich gegen den Tisch. »Du solltest dir der Konsequenzen bewusst werden, die dein Handeln mit sich bringt. Jeden anderen hätte ich schon lange für deine Frechheiten umgebracht. Das war das letzte Mal, dass ich dich verschone, ist das klar?« Lessiko sackt zusammen. Dann flüstert er ehrfürchtig: »J-Ja, Victor…«  Wohl nicht überzeugt, vergräbt Victor seine Hand in Lessikos Haare, um ihn zu sich hochzuziehen. Mit verengten Augen raunt er: »Wir sind nicht mehr die kleinen Jungs von früher. In deinem bizarren Kopf mag das alles nur ein Spiel sein, aber ich verspreche dir, dass die Kugel in deinem Kopf mehr als echt sein wird.« »J-Ja… V-Victor…« Der Mafiaboss lässt seinen Untergebenen los. Für einige Augenblicke mustert er seinen Gegenüber, bevor er nochmals die Hand hebt. Wohl in der Befürchtung eines weiteren Schmerzes, kneift Lessiko die Augen zusammen. Doch Victor klopft ihm nur gegen die Stirn. »Die Leute sagen, dass du ein verrückter Irrer bist. Ich weiß, dass du klüger bist, als alle anderen. Also benutz das hier oben gefälligst, bevor du irgendeinen Scheiß anstellst!« Als Lessiko nickt, lässt Victor es darauf beruhen. Er läuft geradewegs zur Tür. Ich stolpere zurück, um nicht umgeworfen zu werden. Allerdings kann ich mich nicht schnell genug verstecken. Deshalb stehe ich jetzt Victor gegenüber, der aus dem Zimmer kommt. Ein verunsichertes Lächeln huscht über meine Züge. Victor bedenkt mich mit einem abschätzigen Blick. Danach lässt er mich stehen und läuft weiter. Ihm mit dem Blick folgend, atme ich erleichtert aus. »Hallo…« Ich wende meinen Kopf zu Lessiko, der jetzt ebenfalls aus dem Zimmer tritt. Er winkt mir zögerlich zu. Dieses seltsam dösige Lächeln, das mir vorgestern schon Schauer über die Arme gejagt hat, kehrt auf seine Lippen zurück. »Du bist der mit den schönen Händen… hah…« Ich nicke zur Begrüßung, dann will ich mich eilig aus dem Staub machen, da bemerke ich Lessikos Ohr, welches ganz rot und angeschwollen ist. Erst beiße ich mir auf die Lippe, dann kann ich mich nicht dazu durchringen wegzusehen. Stattdessen überwinde ich den Abstand zu dem seltsamen Arzt. »Tut es sehr weh?« Ich strecke meine Hand aus, um ihm die Haare zurückzustreichen, doch er flieht sofort einige Schritte nach hinten. Ich stutze. »Entschuldigung. Habe ich dich erschreckt?« Lessikos Augen schwirren eilig über mich, offensichtlich prüfend, was er von mir halten soll. »Die… meisten vermeiden es, mich zu berühren… hah… Sie haben Angst vor mir, weil ich gestört bin, wie sie sagen…« Ein trauriger Schimmer legt sich über seine müden Augen. Er kommt ein wenig näher, bevor er zögernd nach meinen Händen greift, die es ihm wohl angetan haben. »Sie sagen, ich experimentiere mit dem Blut von Leichen, die Victor umgebracht hat. Sie sagen, ich würde mich unter dem langen Kittel selbst verstümmeln. Hast du etwa keine Angst vor mir?« Obwohl mein Herz schneller schlägt, ist da dieses Ziehen in meiner Brust, das mir sehr bekannt vorkommt. Und jetzt, wo ich mich entschieden habe, einen Schritt auf den ominösen Arzt zuzugehen, kann ich keinen Rückzieher machen. Deshalb entspanne ich meine Hände in seinen, um zu zeigen, dass es mir nichts ausmacht, ihn zu berühren. Dann schnaube ich. »Was die Leute nicht alles sagen. Denen könnte ich auch erzählen, dass mein Schwein zum Mond fliegt und sie würden es glauben. Über mich sagen sie, ich sei ein Verbrecher, weil ich arm bin. Wenn ihr Leben zu langweilig ist, sollen sie eben über jemanden Spannendes erzählen.« Ein winziges Schmunzeln erscheint auf Lessikos Lippen. Anscheinend bin ich auf dem richtigen Weg. »Aber mal ehrlich: Victor ist so brutal. Dem sollten selbst mal die Ohren langgezogen werden, dann sieht er wie das schmerzt.« Lessikos Augen weiten sich. Er meint verschwörerisch: »Hast du einen Todeswunsch? Niemand der noch bei Verstand ist, würde so über den Lassini-Boss sprechen…« Ich grinse. »Dann sind wir schon mal zwei Verrückte.« Innerlich verbuche ich mir den Siegespunkt, als Lessiko zu kichern beginnt. Anscheinend habe ich das Eis gebrochen. Wenn er so ehrlich lacht, wirkt sein fahles Gesicht auch nicht mehr wie von einer schweren Krankheit befallen. Wieder einmal wird mir bewusst, was Tratsch alles bewirken kann. »Dein Ohr ist angeschwollen. Lass uns das kühlen«, schlage ich vor, als er sich beruhigt hat. »Das… hah… kann ich auch selbst.« »Keine Ausreden, komm«, bestimme ich, bevor ich den Arzt hinter mir herziehe. Ich bringe ihn in die gläserne Kuppel. Anschließend suche ich bei der Bar nach Eiswürfeln, die ich in eine Frischhaltefolie gebe. Nachdem ich sie in ein Geschirrtuch wickele, gehe ich zu Lessiko, der sich auf einen der vielen Sessel gesetzt hat. »Halte das an dein Ohr.« Ich überreiche ihm das Eis. Dann setze ich mich gegenüber.  Mit einem amüsierten Glitzern in den Augen, kommt Lessiko meiner Anweisung nach. Auch wenn er von außen wirkt, als würde er jeden Moment einschlafen, entgehen mir seine wachsamen Augen nicht, die jeder meiner Bewegungen folgen. »Mir ist jetzt klar, warum Victor dich mag… hah… haha…«, lacht er träge. Zuerst springt mein Herz, doch ich reiße schnell den Kopf hoch, um zu fragen: »Warum?« Als Antwort bekomme ich ein Schulterzucken. »Ach, wer weiß… haha… Besser, du achtest nicht auf mein… hah… Gerede.« »Wie geht es deinem Ohr? Victor ist wirklich brutal…« »Ein bisschen naiv für diese Seite der Welt… haha… Wenn ich nicht Victors Cousin wäre, hätte er mich schon vor Jahren in Stücke gerissen.« Ich blinzele mehrmals. »Warte, du bist Victors Cousin?« Er nickt. »Wir drei sind die letzten aus der Blutlinie.« »Wer ist die dritte Person?« »In wenigen Minuten müsste er hier ankommen. Hast du ihn schon mal kennengelernt? Hektor Lassini?« Unter dem Schauer, der durch meinen Körper zischt, stellen sich meine Härchen im Nacken auf. Hektor kenne ich bereits. Wir sind uns das erste Mal auf Victors Yacht begegnet. Damals war es eine Art Fluchtinstinkt gewesen, der mich erfasst hatte. Jetzt wird mir klar, warum er mir so wichtig erschien. »Ja, ich habe ihn schon kennengelernt.« »Ich mag ihn nicht.« Lessiko lacht leise. »Er mag mich auch nicht. Oder Victor. Ebenso wenig mag Victor uns. Wenn wir nicht die letzten Lassinis wären, hätte er uns schon damals beseitigt.« Seine dösige Stimme wird klarer, als er sagt: »Aber ich mag Victor. Er ist… hah… mein Boss. Er ist der Grund, warum ich am Leben bin… hah… Ich werde ihm für immer dankbar sein, auch wenn er mich hasst oder tötet.« »Warum sollte er dich hassen?« Lessiko lässt das Eis sinken. Er beginnt am Stoff seiner weißen Handschuhe zu zuppeln. »Wir sind ihm ein Dorn im Auge… eine potentielle Gefahr… hah…« Was für eine schreckliche Familie…, geht es mir durch den Kopf, als ich die aufrichtigen Worte des jungen Arztes vernehme.Er bewundert Victor, aber der sieht ihn nur als irgendeine Gefahr? Um das erste Vertrauen mir gegenüber nicht zu verspielen, suche ich nach einem anderen Thema. »Wo wir grade über Victor sprechen… Wie alt ist er eigentlich?« Lessiko grinst. »Das weißt du nicht? In diesem Sommer ist er 31 Jahre geworden, der alte Opa.« Kurz entgleisen mir meine Gesichtszüge. Natürlich kam mir Victor schon immer reifer vor, aber ich dachte nicht, dass uns ganze zehn Jahre trennen. »Puh… wow… und die anderen so?« »Ähm… Hektor müsste 29 sein. Soweit ich weiß, sind Adrian und Elliot 26 und ich bin das Küken mit 23 Jahren.« Er sieht mich direkt an. »Stimmt, du bist ja das neue Küken hier.« Beinahe zeitgleich schauen wir zum Flur, als plötzlich ein Mann auftaucht – niemand geringeres als unser Tratsch-Thema, Hektor Lassini selbst. Erst steckt er seine Hände in die Hosentaschen, dann zieht er seine buschigen Augenbrauen weit nach oben, während er zu uns schlendert. Lessiko senkt den Blick, rutscht im Sessel zur Seite. Ich allerdings schaue dem Cousin des Lassini-Bosses direkt in die Augen. »Wen man nicht alles trifft«, begrüßt er uns. »Du bist der Junge, den unsere beiden Turteltäubchen bewachen, stimmt’s?« Er mustert Lessiko, der wie versteinert dasitzt. »Was macht Victors neue Liebschaft mit dem Irren?« Er tritt Lessiko am Schienbein. »Behält er dich also immer noch um sich. Irgendwann wird er untergehen, wenn er sich mit Abfall wie dir zumüllt.« Ich springe hoch. Hektors Blick legt sich wieder auf mich. Wir schenken uns nichts. »Gibt es irgendein Problem?« Hektors Augen weiten sich heuchlerisch. »Ich mache doch nur Spaß. Unter uns Jungs ist das so, nicht wahr?« Er tritt Lessiko ein weiteres Mal. Diesmal fester, sodass Lessiko keucht und sein Bein wegzieht. Hektor will seinen Tritt wiederholen, doch ich stelle mich dazwischen. Meine Fäuste ballen sich. »Ihm scheint es kein Spaß zu machen.« Mein Gegenüber schnalzt mit der Zunge. »Dann tut es mir natürlich schrecklich leid.« Er legt seinem Cousin eine Hand auf die Schulter. »Wir vertragen uns doch. Wie artige Jungs.« Diesmal dränge ich mich soweit zwischen die beiden, dass Hektor einige Schritte Abstand nimmt. »Was wollen Sie hier?« Plötzlich zieht er eine Pistole aus dem Gurt. Erschrocken weiche ich zurück, bis meine Kniekehlen an die Tischkante stoßen. Mein Herz beginnt zu rasen, als Hektor seine Waffe gegen meine Stirn drückt. »Und du bist wer noch gleich, dass dich das etwas angeht?« Obwohl mein Herz von jetzt auf gleich hämmert, lasse ich mich nicht von so einer haltlosen Drohung verunsichern. Ich sehe dem Mafiosi ruhig in die Augen, als ich antworte: »Jemand, der seine Probleme auch ohne Gewalt lösen kann.« »Hört, hört!« »Lass das…«, wirft Lessiko von der Seite ein. »Nimm die Waffe runter! Victor lässt dich tausend Tode sterben, wenn du ihm etwas tust, das weißt du.« »Ach der.« Schmunzelnd senkt Hektor die Waffe. Er steckt sie zurück an den Gurt. »Die meisten wären nicht so kühn geblieben, mit einem Pistolenlauf an der Stirn. Da kommt einem glatt die Frage, ob du sowas nicht gewohnt bist.« »Was wollen Sie damit sagen?« Schulterzucken. »Man weiß nie, auf welcher Seite die Leute stehen, oder wo sie trainiert wurden.« »Machen Sie gerade Andeutungen, ich würde zum Carlos Clan gehören?«, schlussfolgere ich. »Denk was du willst.« Hektor macht kehrt. Ohne ein weiteres Wort, verschwindet er so still, wie er gekommen ist. Lessiko und ich sehen ihm beide nach. Dann meint dieser: »Ich mag ihn nicht.« »Ich auch nicht…«, erwidere ich schluckend. Obwohl ich mich gerne noch länger mit Lessiko unterhalten hätte, folge ich Hektor. Er läuft geradewegs zu Victors Arbeitszimmer, in dem ich ihn am Sonntag getroffen habe. Allerdings verliere ich ihn aus den Augen, als ich Victor am unteren Ende der Treppen entdecke. Anstatt ihm weiter zu folgen, laufe ich lieber zu dem Mafiaboss, der gerade sein Gespräch mit Adrian beendet. Weil er mich noch nicht bemerkt zu haben scheint, schleiche ich zu seinem Rücken. Ich stelle mich auf Zehenspitzen und lege ihm meine Hände über die Augen. »Wenn ich dein Gegner wäre, würdest du jetzt tot sein.« Hastig zieht Victor meine Hände aus seinem Gesicht. Dann dreht er sich herum. Er schnaubt entgeistert. »Habe ich dir die Sprache verschlagen?«, fordere ich ihn heraus. Victor verengt die Augen, drängt mich mit seinen Schritten zurück, bis ich mit meinem Rücken an die Glaswand des Poolzimmers stoße. Er stützt sich neben meinem Kopf ab, bevor er raunt: »Wenn du mein Gegner wärst, hätte ich dich schon lange erschossen, bevor du die Treppe überhaupt betreten hättest.« Er beugt sich zu mir herunter, um mich zu küssen, doch ich halte ihm eine Hand vor den Mund. »Musstest du nicht arbeiten?« Lieblos reißt er meine Hand herunter, presst sie neben meinen Körper an das Glas. »Ab heute werde ich mich nicht mehr zurückhalten. Wenn du frech wirst, bestrafe ich dich.« »Und wenn du frech wirst?« Victor leckt sich über die Zähne. Doch daraufhin entspannen sich seine Züge gleich wieder. »Spare dir deine Kraft für heute Abend. Wir werden eine kleinen Ausflug machen.« Ich runzle die Stirn. »Deine Ausflüge haben mir bisher nicht gefallen.« »Was würde dir denn gefallen?« »Bis du nicht der große Big-Boss, der alles bestimmt?« Victors Hände an mir verkrampfen sich. Jetzt kommt wieder sein unantastbarer Stolz durch. »Anscheinend hegst du keine Wünsche diesbezüglich.« Bevor er mich loslässt, beugt er sich zu mir herab, um in mein Ohr flüstern zu können: »Behalte deine ausstehende Strafe gut im Gedächtnis. Mit jedem dreisten Wort wird sie härter – ganz egal, wie wenig Erfahrung du hast.« Ein Schauer schleicht über meinen Rücken. Ich sehe Victor nach, als er die Treppen hinauf in Richtung seines Arbeitszimmers geht. Unbewusst lecke ich mir über die Lippen. Dieser gerissene Mistkerl… Kapitel 16 ---------- »Wo sind wir?«, frage ich stirnrunzelnd. Adrian hält mir die Tür auf, damit ich aus dem Wagen steigen kann. Einen abschätzigen Blick zurück auf das polierte Fahrzeug werfend, trete ich zu Victor, der vor dem Hochhaus steht. Er lässt die Hände lässig in seine Taschen gleiten und blickt das lange Gebäude auf. Ich lehne mich zu ihm herüber, um leiser weiterzusprechen: »Und vor allem: Warum haben wir deine gesamte Belegschaft mit?« Hinter uns steigen Lessiko und Hektor aus, um sofort mit Adrian und Elliot zu streiten zu beginnen. Wir sind zwar mit zwei unterschiedlichen Autos gekommen, aber ihre Gesichter sprachen schon vor der Fahrt Bänder. Victors Blick wendet sich um, sodass er direkt auf mir liegt. »Was denkst du?« Wir sind gegen zwanzig Uhr von Victors Villa aus ins Zentrum der Stadt gefahren. Jetzt stehen wir vor einem der Hochhäuser, das genauso aussieht, wie seine Schwestern und Brüder um es herum. »Ein Bürogebäude?«, mutmaße ich »Du hast aber nicht die anderen mitgenommen, weil du jetzt irgendwelche Firmenchefs abknallen willst, wie in den Krimi-Filmen?« »Knapp daneben«, schnaubt Victor amüsiert. »Halt bloß dein großes Maul, du verfickter Augenbrauen-Heini!«, brüllt plötzlich Elliots Stimme von hinten. Ich drehe mich um. Er steht am Straßenrand Hektor gegenüber, der die Arme vor der Brust verschränkt. Adrian flüstert ihm irgendwas ins Ohr und Lessiko wirkt mit seinen eingezogenen Schultern und den scheuen Augen, die nervös über unsere Köpfe schweben, wie ein ausgesetzter Welpe. »So primitiv, dabei scherze ich doch bloß. Deine Bettgeschichte weiß sich besser zu benehmen«, schnurrt Hektor schmunzelnd. Elliot packt seinen Gegenüber am Kragen. »Noch ein falsches Wort, dann reiße ich dir den Kopf ab!« »Lass ihn los!«, mahnt Adrian eindringlich. Er zieht seinen Kollegen mühevoll von Hektor weg. »Er will dich bloß provozieren!« »Sollten wir nicht lieber…«, versucht Lessiko das Wort zu ergreifen. Als würde er um Erlaubnis zum Sprechen bitten, streckt er die Hand nach oben. Daraufhin keift Elliot: »Halt du dich raus da!«, was Lessiko resigniert einen Schritt rückwärts machen lässt. »Warum denn so aufgebracht, mein Bester?« Hektor deutet mit einer wischenden Bewegung auf seinen Gegenüber. Elliots Augen zucken unter seiner Wut. »Dir prügele ich noch dein scheiß Grinsen aus dem…« »Ruhe.« Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich Victors ruhige, aber messerscharfe Stimme vernehme. Augenblicklich verstummen seine Untergebenen und wenden sich ihrem Boss zu. Dieser wirft einen eisigen Blick über die Schulter, der selbst mich frösteln lässt. Dann wartet er nicht länger, sondern betritt das Gebäude. Weil ich mir unsicher bin, laufe ich ihm einfach nach, direkt durch die leere Empfangshalle. Heimlich spähe ich zu dem Mafiaboss auf. Mir ist klar, warum die Leute vor ihm Angst haben. Er hat seine Männer vollkommen im Griff. Seine bloße Präsenz kann einen lähmen, wenn er es will. Als Victors Augen sich plötzlich auf mich legen, sehe ich ertappt beiseite. Dafür schaue ich mich jetzt um. Tatsächlich wirkt die Empfangshalle wie in einem ganz normalen Bürogebäude. Ein Tresen, einige Sessel… nichts besonderes. »Willst du jetzt… arbeiten?« Victor schnaubt belustigt. Anscheinend findet er es spannender mich im Dunklen tappen zu lassen. Peinlich berührt wische ich mir durchs Gesicht. Gefolgt von Victors Leuten durchqueren wir die Halle und fahren mit dem Fahrstuhl in die fünfte Etage. Ich zögere, als vor dem Eingang der Etage zwei Wachmänner neben einer roten Absperrung stehen. Doch Victor geht ohne Umschweife weiter. Zuerst mustern uns die Männer im Anzug, doch als sie wohl Victor als Lassini-Boss erkennen, richten sie sofort ihr Kreuz, um einen stolzen Anblick abzugeben. Dumpfer Bass dringt aus der Etage an meine Ohren, Stimmen, Musik… Fast kommt mir das ganze wie ein exklusiver Club vor. »Guten Abend, Sir!« Einer der Männer entfernt das Absperrband. »Bitte treten sie ein, Sir!« Der andere öffnet die Tür. Sofort wird die Musik laut. Die polierten Fliesen des Flurs spiegeln das lila Licht, welches nach außen dringt.  Weil ich Victor nicht folge, bleibt er in der Tür stehen. Er dreht sich zu mir um. »Muss ich dich tragen?« »Du willst mich schon über die Schwelle tragen? Meinst du nicht, das geht ein bissen schnell?« Ich laufe weiter, lasse Victor hinter mir.  Meine Augen weiten sich, weil sich meine Annahme bestätigt. Durch den dunklen Raum fliegen die gebündelten Strahlen der Scheinwerfer. Auf der Bühne, viele Meter vom Eingang entfernt, spielt eine Band Musik, die sofort zum Tanzen einlädt. Zum Takt schwingend, heizt die Sängerin ihren Zuschauern kräftig ein. Ihre Bewegungen sind sexy, ausladend, ohne Scheu. Der Gitarrist und der Schlagzeuger stoßen zu ihrem Gesang dazu. Neben der gut gefüllten Tanzfläche stehen zahlreiche Tische, an denen noch mehr Gäste sitzen. Über den Plätzen ragt ein Loge, die wohl eine perfekte Aussicht auf die Bühne bietet.  Diesmal ist es Victor, der mich stehenlässt und nach rechts in Richtung der Bar läuft. Ich hole zu ihm auf, während ich mich staunend umsehe. »Mitten in einem Hochaus so ein Club. Ich wusste nicht, dass es hier sowas gibt.« »Kein Ort, an den man zufällig gelangt«, sagt Victor.  Wir kommen an der Bar vorbei, welche mit eigenen Scheinwerfern ausgestattet ist. Der Barkeeper wirft seinen Shaker in die Luft, um ihn gleich darauf geschickt aufzufangen und seinem Gast einzuschenken. Als sich der Mann an der Bar zu uns herumdreht, entdecke ich eine dunkle Narbe, die sich von seiner Stirn über seine Schläfe zieht. Anscheinend nicht gut verheilt. Der Haaransatz seiner extrem kurzen Frisur sieht beim Beginn der Narbe fast wie angesengt aus.  Plötzlich richtet sich sein Blick mit einem Ruck auf mich. Schnell sehe ich zur anderen Seite, zeige auf einen freien Tisch in der Nähe. »Setzen wir uns dorthin?«, fragte ich Victor. Er schnaubt. »Zu den Leuten? Du machst Scherze.« »Bist du dir zu schade, um dich zu deinem Fußvolk zu begeben?«, grummle ich. Uns trennen Welten. Wahrscheinlich sind die Leute hier schon viel wohlhabender als ich. Doch Victor betrachtet sie immer noch als ungenügend. Was muss er über mich denken? Victor tritt zur Treppe, die auf die Loge führt. Er streckt seinen Arm zur Seite aus. »Dir soll nur das Beste geboten werden.« Seiner Aufforderung nachkommend, laufe ich nach oben, wo ebenfalls Tische aufgebaut sind. Doch die erhöhte Aussicht reicht ihm natürlich nicht. Der Mafiaboss führt mich in ein separates Abteil, mit geradem Blick auf die Bühne. Abgezäunt ist es durch Glaswände, die wiederum von Vorhängen bedeckt sind. An der hinteren Wand steht ein schwarzes Ecksofa, davor ein niedriger Tisch und Sessel. Als würden die Musik, die Stimmen und die Bühne nicht genug sein, gibt es noch einen Bildschirm an der Glaswand. Die abstrakt geformten Regale seitlich tragen verschiedene Teller mit Obst oder Süßspeisen, aber auch Boxen, bei denen ich nicht entschlüsseln kann, wofür sie gedacht sind. »Wir schätzen uns überglücklich Sie begrüßen zu dürfen!« Ein Mann in voller Kellnermontur kommt herangeeilt, als wir das Abteil betreten.  Victor lässt sich lässig aufs Sofa fallen, legt seine Arme über die Lehne. Er klopft neben sich, als würde er darauf warten, dass ich treudoof angetrottet komme, um ihn anzuhimmeln. Stattdessen trete ich einfach nur beiseite, damit der Kellner hineinkommen kann. Victors Augen zucken gefährlich. »Kann ich Ihnen etwas bringen, Sir?« Der Kellner holt seinen Notizblock heraus. Seine Hände zittern, das Lächeln wirkt verkrampft. »Bring einfach irgendwas«, ordert Victor gereizt. Wahrscheinlich, weil ich seinen Wünschen nicht entspreche.  Der junge Kellner nickt artig. Als er seinen Stift zurück in die Tasche stecken will, fällt er ihm aus der Hand. Klimpernd kullert er über den Boden, bis er bei Victors Schuhen stoppt. Hart schluckend macht der Mann einen einzelnen Schritt vor, weiter nicht. Der Boss verengt die Augen, lässt seinen Untergebenen ängstlich zu Boden blicken. Weil er zu eingeschüchtert scheint, um sich Victor weiter zu nähern, hebe ich kurzerhand den Kugelschreiber auf. Ich übergebe ihn an die zitternde Hände des Kellners, der mich panisch mustert. Heiser flüstert er: »D-Danke vielmals!« Anschließend hastet er schleunigst nach draußen. »Warum hast du ihm geholfen?« Ich drehe mich zu Victor um. »Weil ich kein Arschloch bin.« »Anführer erlauben keine Fehler. Er ist der erste, der mir die Kehle aufschlitzt, wenn ich nachlässig werde.« Verständnislos wische ich durch die Luft. »Er hat einen Stift fallenlassen!« Victor steht auf. Er nimmt eine der gebackenen Süßigkeiten, schlendert zu mir. »Probiere«, befielt er mir. »Was ist das?« Ich nehme das mundgerechte Gebäck. »Weiß ich nicht, aber ich will, dass du aufhörst, dich zu beschweren. Also iss und sei still.« Er umrundet mich, bereits dabei, das Abteil zu verlassen. »Wenn du etwas willst, bestelle es einfach. Steht es nicht auf der Karte, sag ihnen, dass du meine Erlaubnis hast. Warte hier, bis ich zurück bin.« Kaum ist Victor weg, warte ich selbstverständlich nicht, wie er aufgetragen hat. Stattdessen suche ich nach unserem Gefolge, das wir irgendwie auf dem Weg nach oben verloren haben. Das Gebäckstück in den Mund schiebend, entdecke ich drei von ihnen an einer nahegelegenen Sitzecke und gehe zielstrebig dorthin. »Nirgendwo gibts besseren Alk. Wo bleiben die Flaschen?« Elliot überschlägt seine Beine auf dem Glastisch, gähnt gelangweilt. »Nimm die Füße da runter…«, murmelt Adrian, anscheinend mit der Geduld für seinen Gegenüber ringend. »Jesse«, begrüßt mich Lessiko lächelnd, als dieser mich zuerst bemerkt. Ich setzte mich neben den jungen Arzt aufs Sofa, welcher sofort fragt: »Bist du nicht bei Victor?« Ich zucke mit den Schultern. »Was bin ich? Seine Puppe?« Durch Adrians eindringlichen Blick, hebe ich beschwichtigend die Arme. »Er hat noch was zu erledigen, okay?« Hinter uns kreuzen sich die Wege vom ganzen Personal, das zwischen den Sitzflächen hindurchschlängelt. Unten auf der Bühne spielt die Band den letzten Ton, bevor sie zum neuen Song ansetzt. Pfeifen dringt durch die Menschenmasse. »Habt ihr Hektor zurückgelassen?«, hake ich nach, drehe mich in alle Richtungen, nach Überblick in dem Getümmel suchend. »Er ist…«, beginnt Lessiko, stoppt dann. Er lässt die Schultern sinken. »Wo ist er eigentlich…?« Eine Kellnerin balanciert drei Flaschen auf ihrem Tablett. Sie hält vor unserem Tisch, um die Bestellung servieren zu können. Auf den Alkohol stürzend, schenkt sich Elliot sofort seinen Sekt ein, trinkt ihn in einem Zug leer. Seufzend lehnt er sich zurück. »Wenn wir Glück haben, sehen wir den nie wieder«, bringt er sich in unser Gespräch mit ein. Dann deutet er mit seinem Glas auf Lessiko. »Was hast du überhaupt im Ausland getrieben?« Auf den Lippen des jungen Arztes erscheint ein dösiges Lächeln. Aus den Innentaschen seiner Jacke holt er eine schmale Röhre hervor, die mit einem Korken verschlossen ist. »Nach drei Monaten fertig… hah… Willst du probieren?« Elliot reißt ihm die Röhre aus der Hand. Er zieht den Korken heraus, bevor er vorsichtig an der gelblich schimmernden Flüssigkeit schnuppert.  »Das reicht. Weg damit!«, weist Adrian ungeduldig an. Er verschränkt die Arme. »Gib es zurück. Jetzt.« »Häh?« Provokativ lehnt sich Elliot über den Tisch, wackelt mit dem Röhrchen. »Wo ist das Problem?« Er verdreht die Augen. »Bin seit fast zehn Jahren clean.« »Und das soll genauso bleiben. Also weg damit!« Nach einem finsteren Austausch von Blicken, rutscht Elliot zähnefletschend zurück. »Was ist das?«, frage ich. Elliots Augen huschen über die Flüssigkeit, bis sie zu mir finden und mich ausgiebig mustern. Schelmisch grinsend hält er mir – was auch immer das gelbe Zeug sein mag – unter die Nase. »Wenn du’s trinkst, weißt du’s.« »Ist das… eine Droge?« »Mr Carter.« Adrians Stimme klingt besorgt. »Ich würde Ihnen abraten, etwas einzunehmen, dessen Ursprung Sie nicht kennen.« »Danke, aber das ist mir selbst bewusst.« »Ich spreche nicht nur von…« Er steht auf und schnappt sich das Röhrchen direkt aus Elliots Hand. Anschließend wirft er es gleichgültig zu Lessiko, der beinahe nach vorne kippt, im Versuch, es unbeschadet aufzufangen. »…Substanzen, die offensichtlich Betäubungsmittel sind.« »Keine Sorge, Victors Spielzeug wird sich nicht selbst kaputt machen.« Seufzend erhebe ich mich, streife zum Geländer der Loge . Die Leute unten tanzen ausgelassen zur Musik. Von hier oben kann ich den ganzen Raum überblicken. Sie scheinen Spaß zu haben. Tanzen macht auch mir Spaß, aber wann war ich das letzte Mal aus? Das ist zu der Zeit gewesen, in der ich von Zuhause weggelaufen bin. Als ich in der Bar meines Freundes gejobbt habe, war das Haus immer voll und dort herrschte gute Stimmung. Danach habe ich keine Zeit mehr zum Feiern gehabt. Die Leute hier sind Verbrecher. Diese Feier ist illegal. Aber ich will… Meine Hände verkrampfen sich. Ich will auch… einmal… ein einziges Mal…! Mich vom Geländer abstoßend, bewege ich mich in Richtung Treppe. Allerdings kommt mir Adrian dazwischen, als er fragt: »Mr Carter, wo möchten Sie hin?« Erst drehe ich mich um, dann stöhne ich. »Steht es mir jetzt nicht mal mehr frei zu tanzen?« »Tut mir leid.« Adrian kommt zu mir, als wollte er sichergehen, nahe genug zu sein, sollte ich mich entscheiden, Hals über Kopf loszustürmen. Er deutet mit einer Bewegung zum Tisch. »Leider kann ich darüber nicht entscheiden. Setzen Sie sich doch bitte wieder. « »Bitte.« »Mr Carter, wenn der Boss…« »Bitte!«, versuche ich es eindringlicher, fange seinen Blick ein. »Nur tanzen. Ich haue nicht ab, versprochen. Wenn du mir nicht glaubst, dann komm doch einfach mit.« Adrian beißt sich auf die Lippe, anscheinend hadernd, wie er weiter mit mir Sturkopf verfahren soll. Doch er wirft flüchtig über den Rücken zum Rest der Gruppe: »Wir sind kurz unten.« Grinsend wie ein kleines Kind, das seine Eltern überredet hat, schieße ich los nach unten, dicht gefolgt von meinem Bewacher. Dieser ruft mir auf der Treppe zu: »Aber nur zehn Minuten und Sie bleiben dort, wo ich Sie sehen kann!« »Aber klar doch!«, flöte ich lieblich. Leider achte ich nicht darauf, wo ich hinlaufe und rempele jemanden nach der letzten Stufe an. »Entschuldigung«, sage ich, stutze allerdings, als sich das vernarbte Gesicht zu mir wendet. Das ist der Mann, der mir vorhin schon aufgefallen ist. Ein unverständliches Grummeln kommt über seine Lippen, dann läuft er weiter. Ich setze meinen Weg ebenfalls fort. Während sich Adrian auf einen freien Stuhl setzt und mich nicht aus den Augen lässt, drängele ich mich auf die Tanzfläche. Allerdings schleiche ich soweit durch, dass ich Adrian nicht mehr sehen kann – Er mich wahrscheinlich genauso wenig. Mein Versprechen würde ich halten. Aber das besagt nur, dass ich nicht weglaufe. Es ist heiß. Es ist laut. Es ist aufregend. Eingekesselt von etlichen Leuten, schaue ich zur Bühne auf. Die Band beginnt ein neues Lied zu spielen. Ich habe es schon einmal gehört, weshalb es mir auf Anhiebt gefällt. Darum strecke ich die Arme über den Kopf und beginne zu tanzen. Der Song ist schneller, wird im textlosen Refrain richtig hektisch. Meine Bewegungen passe ich an, nutze meine Schultern, meine Beine, halte mich nicht zurück.  Drei Lieder tanze ich so. Es wird immer wärmer. In meinen langen Klamotten und Jacke ist es unerträglich. Mir läuft der Schweiß von der Stirn, aber es tut gut. Endlich bewege ich mich! Ich lächele erschöpft und zufrieden gleichzeitig. Die Leute herum nehme ich kaum war. Es ist mir egal, mit welchen Drogen hier gehandelt wird, was für Verbrechen an diesem Ort schon geschehen sind. Irgendwie ist es wie ein Rausch. Noch ein Lied. Ich tanze weiter. Ein Lied noch… Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf der Tanzfläche bin, als mich plötzlich jemand am Arm packt. Erschrocken wirbele ich herum. Adrians Stirn ist genauso nass wie meine, nur dass wir die letzte Viertelstunde wohl ganz unterschiedlich verbracht haben. »Bin nicht weggelaufen, wie versprochen«, sage ich frech. Der sonst so gefasste Adrian atmet erleichtert aus. Dann zieht er mich ohne Umschweife hinter sich her. »Bitte kommen Sie jetzt. Wir werden zurückgehen.« »Warum so aufgebracht?«, stichele ich, während ich mich wehrlos von der Tanzfläche ziehen lasse. »Wissen Sie eigentlich, dass mir der Boss den Kopf dafür abreißen würde, wenn er wüsste, dass ich Sie einfach hier herunter gelassen habe? Sie lieben es anscheinend mich in den Herzstillstand zu treiben.« »Warum siezt du mich eigentlich immer noch? Wenn du willst, kann du…«, beginne ich, stoppe allerdings, als Adrian langsamer wird, bis er gänzlich stehenbleibt. Verwirrt folge ich seinem Blick. Dann schlucke ich. Victor steht an der hinteren Wand gelehnt, direkt zu uns schauend. Seine Augen scheinen uns zu durchbohren. Adrians Hand verkrampft sich um meinen Arm. »Kommen Sie.« Er bringt mich zu seinem Boss, wo er mich sofort loslässt, als hätte er sich an mir verbrannt. »Mir wurde gesagt, du hast ihn nach unten gelassen«, beginnt Victor. Er legt den Kopf zur Seite. »Stimmt das?« »Ich habe versucht…« »Ob es stimmt, will ich wissen«, unterbricht Victor ihn wie aus der Pistole geschossen. Er verengt die Augen. »Das heißt entweder Ja, Sir oder Nein, Sir.« Adrian sieht zu Boden. »Ja, Sir.« »War meine Anweisung nicht deutlich genug gewesen?« Obwohl Victors Stimme ruhig ist, fühlt sie sich wie Nadeln an, die in unsere Haut stechen. »Oder hast du beschlossen, selbst zu bestimmen, wie es von jetzt an weitergeht? Willst du der neue Lassini Boss sein?« »Nein, Sir… E-Es tut mir leid…« »Wenn ich sage, Jesse wird nicht aus dem Abteil gelassen, heißt das also, jeder kann eigenmächtig bestimmen, was er tut?« Auf Victors Stirn tritt eine Ader hervor. Sein Kinn ist erhoben, nur aus den Augenwinkeln zu seinem Untergebenen blickend. Ich kann nicht anders, als abermals zu schlucken. »Was machst du das nächste Mal, wenn ich dir einen Befehl gebe? Wenn ich sage, du sollst jemanden erschießen, richtest du dann die Waffe auf mich?« Hastig schüttelt Adrian den Kopf. »Das würde ich niemals wagen…!« Victor legt ihm eine Hand auf die Schulter, was diesen zusammenzucken lässt. Das ist kein freundschaftliches Schulterklopfen, sondern ein bedrohliches Machtspiel. »Letztes Mal habe ich darüber hinweggesehen, weil es ein Versehen war. Heute hast du vorsätzlich gegen meinen Befehl gehandelt. Dulde ich in meinen Reihen den kleinsten Ansatz von verräterischem Verhalten?« »Victor!«, rufe ich. Der scharfe Blick des Bosses richtet sich nun auf mich. Obwohl mein Körper sich anspannt, habe ich nicht vor, wegzusehen. »Lass ihn los. Er hat es doch nur gut gemeint.« »Nicht, Mr Carter…«, flüstert Adrian vorsichtig, um mich daran zu erinnern, mit wem ich da gerade spreche. Daraufhin ziehe ich die Hand des Bosses von seiner Schulter. »Ich habe keine Angst vor Victor.« Dieser fletscht nun mit den Zähnen, ballt die Fäuste. Bestimmt würde er mich gerne dafür schlagen oder am besten gleich erschießen. »Was?« Ich dränge mich zwischen die beiden Parteien, stemme meine Hände in meine Hüfte. »Adrian hat keine Schuld. Ich habe ihn so lange bequatscht, bis er ja gesagt hat. Wenn du auf jemanden wütend sein willst, dann auf mich. Also los, bestrafe mich.« Victor raunt eiskalt: »Du sollest keine unbedachten Wünsche äußern.« Herausfordernd trete ich noch einen Schritt näher, bis ich Victor fast berühre. »Wirst du es nicht tun? Hast du Angst?« Anscheinend habe ich eine Grenze erreicht, die ich vielleicht besser nicht überschritten hätte. Victor packt mich grob, lässt Adrian stehen. Überstürzt zerrt er mich nach oben auf die Loge. Er stößt mich lieblos in sein privates Abteil, bevor er die Tür versperrt und die Vorhänge schließt. Nun doch ein wenig eingeschüchtert, weiche ich zurück, als Victor vor mich tritt. Er packt die Ärmel meiner offenen Jacke. Dann reißt er sie über meinen Schultern, zerrt sie brutal herunter, bis sie nur noch an meinen Gelenken hängt. Ich schwanke zurück, stoße gegen die Wand. Victor folgt mir, engt mich komplett ein.  »Zieh dich aus.« Mein Herz rast von jetzt auf gleich. Ich lecke über meine trockenen Lippen, versuche meine Gedanken zu sammeln. Victor nutzt meine Worte von zuvor: »Wirst du es nicht tun? Hast du Angst?« Weil ich nicht reagiere, schlägt Victor mit seinen Handflächen gegen die Glaswände. Ich zucke zusammen. »Zieh dich aus.« Kapitel 17 ---------- Meine Brust hebt und senkt sich unregelmäßig unter meinem stoßartigen Atem. Das erste Mal, als ich Victor begegnet war, standen wir fast genauso. Seine Augen liegen direkt auf mir, erbarmungslos. Mein Herz klopft wie damals. »Jetzt bist du ganz still? Du hast Angst dich auszuziehen?«, raunt er dunkel. »Wenn du niederkniest und mich um Verzeihung anflehst, habe ich vielleicht Erbarmen.« Wie betäubt, tasten sich meine Fingerspitzen zum Saum meines Pullovers. Ohne den Blick von Victor zu nehmen, ziehe ich mein Oberteil langsam über meinen Kopf und lasse es auf den Boden fallen. Der Mafiaboss mustert mich misstrauisch. Er schnaubt, bevor er sich von mir löst. Dann läuft er zum Sofa, lässt sich fallen, die Arme wie zuvor über die Lehne schwingend. Seinem auffordernden Nicken nachkommend, öffne ich den Knopf meiner Hose, den Reißverschluss. Mit den Fersen streife ich meine Schuhe ab. Nachdem die Jeans von meinen Beinen gleitet, steige ich heraus. Die Socken ziehe ich mit einem Finger herunter. Victor deutet auf die Mitte des Raumes, weshalb ich mich vor den Tisch stelle. »Alles ausziehen.« Kurz spähe ich zur Tür. Daraufhin erklärt Victor: »Verschlossen. Ohne meine Erlaubnis kann niemand herein… oder heraus.« Diesmal ist es meine Unterhose, an die meine zitternden Finger finden. Ich kann seinem Blick nicht mehr standhalten, als ich das letzte bisschen Stoff über meine Hüften ziehe und es zu meiner Hose werfe. Unwillkürlich presse ich die Beine zusammen, halte meine Hände vor den Schritt. »Habe ich dir erlaubt, dich so zu verstecken? Arme hinter den Rücken!«, kommt Victors schroffer Befehl. Zögerlich tue ich, was er will. Die Scham, völlig entblößt mitten im Raum zu stehen, während er jeden Zentimeter meines Körpers mit seinen kalten Augen überfliegt, vermischt sich mit der Aufregung. Ich will im Boden versinken. Gleichzeitig bin ich völlig im Moment gefesselt. Ich will, dass es aufhört, ohne, dass es vorbei ist. »Komm her.« Ich trete um den Glastisch herum, bis ich direkt vor Victor stehe. Gewaltsam löst er den Knoten seiner Krawatte, bevor er mein Handgelenk packt, um mich herumzudrehen. Hinter meinem Rücken führt er meine Arme wieder zusammen, bindet sie mit seiner Krawatte fest. Diese sitzt so eng, dass ich mich nicht selbst von ihr befreien könnte. Anschließend zerrt er mich wieder herum. »Hinknien.« Mein Blick wandert zum Parkett. Mir wird bewusst, was Victor vorhat. »Was ist?« »Victor…«, beginne ich, stoppe aber, als er die Augen verengt. Verwirrt frage ich mehr, als ich sage: »M-Meister…?« Offensichtlich zufrieden mit meinem Lernprozess, huscht ein kleines Lächeln über seine Lippen. Beiläufig streicht  er mein Bein entlang. Habe ich ihn gerade wirklich Meister genannt? »Knie dich hin«, wiederholt Victor sanfter als zuvor. »Ich weiß aber nicht… wie das geht…« »Deshalb lernst du jetzt.« Meine Lippen fest aufeinander pressend, knie ich mich vor den Mafiaboss, welcher seine Hose öffnet. Ich lasse zu, dass er mir über die Wangen streichelt, mich weiter heranführt. Der Knopf seiner Hose steht offen, lässt zu, dass ich die schwarze Unterhose erkennen kann. Victors Hand fährt meinen Hals hinab, über meine Schulter, wieder hinauf. Über meine Lippen kommt ein Seufzen. »Was… kommt als nächstes?«, frage ich unbeholfen, wie ein Kind, welches das folgende Schulfach vergessen hat. »Als nächstes legst du deine schönen Lippen…« Victor zieht seine Unterhose soweit herunter, dass sich sein bereits halb erregtes Glied nun direkt vor meinem Gesicht befindet. »I-Ich weiß nicht… Was, wenn ich etwas Seltsames mache? Wenn niemand sowas machen würde?« »Dann bist du der Erste«, ist Victors Antwort, bevor er sich zu mir beugt, um in mein Ohr zu hauchen: »Oder bevorzugst du lieber ein schmerzhaftere Strafe?« Als ich den Kopf schüttele, lehnt er sich wieder zurück. Diesmal findet seine Hand an meine Hinterkopf. Einen letzten Blick werfe ich hoch zu Victor, dann schließe ich die Augen und lege meine zitternden Lippen an die Spitze seines Glieds. Weil ich keinen blassen Schimmer habe, was ich als nächstes tun soll, halte ich kurz inne. Mit den Lippen folge ich Victors Glied bis nach unten, nur um danach das gleiche Spiel nach oben zu treiben. Ich bilde mir ein, Victor tief durchatmen zu hören, aber ich traue mich nicht aufzusehen. Deshalb weiß ich nicht, was der Mafiaboss gerade für ein Gesicht macht. Um einen Schritt weiterzugehen, nehme ich jetzt die Spitze seines Glieds in meinen Mund. Ab und zu scheitere ich am Versuch, meine Hände auf seinen Beinen abzulegen, weil ich vergesse, dass sie mir hinter dem Rücken zusammengebunden wurden. Meine Lippen bewegen sich zögerlich tiefer, wieder höher… Bevor ich fortfahre, löse ich mich nun doch. Ich spähe zu Victor auf. »R-Richtig…?« Seine Stimme klingt rau. »Richtig.« Erleichtert, nicht schon am Anfang versagt zu haben, mache ich mit meiner Aufgabe weiter. Diesmal traue ich mich, Victors Glied tiefer in meinen Mund aufzunehmen. Mir wird ganz heiß. Ich schließe meine Lippen fester, beginne mich auf und ab zu bewegen. Mit jedem Mal, das ich sein Glied ein Stück weiter aufnehme, muss ich den Drang unterdrücken, zu seufzen. Nervös rutsche ich auf meinen Knien, beschleunige das Tempo. »Mehr…«, fordert Victor seufzend, »…mit der Zunge.« Ich folge seinen Anweisungen, fahre mit der Zunge herab, wenn ich meinen Kopf senke. Victors Finger graben sich in meine Haare. Gedämpft beginnt er zu stöhnen. Ob er sich gut fühlt? Ob jedes Mal diese Hitze durch seinen Körper schieß?, geht es mir durch den Kopf. Während ich Victor mit dem Mund verwöhne, schießen die Bilder unserer letzten Nächste durch meine Erinnerungen. Würden wir danach weitermachen? Ist es dann schon vorbei? Ich presse meine Knie zusammen, bewege unruhig meine Hüfte. Langsam werde ich auch hart.  Es ist unangenehm. Es zieht. Ich will mehr. Keuchend löse ich mich von Victor, dessen glasige Augen sich sofort auf mich legen. Ehe er mir den Befehl zum Weitermachen geben kann, stehe ich taumelig auf. Direkt über den Mafiaboss knie mich auf die Couch. »Mach mich los…«, bitte ich heiser. Zähnefletschend bedenkt mich Victor mit einem dunklen Grummeln, weil ich nicht tue, was er will. Trotzdem lässt er es zu, dass ich jetzt auf ihm sitze, ihn von oben herab betrachte. Er reißt mich mit einem brutalen Ruck an sich, um mich stürmisch zu küssen. Aus Leidenschaft? Aus Ärger? Wenn er will, könnte er mich zu allem zwingen. Dazu, dass ich weitermache, dass ich nicht mehr so arrogant auf ihm sitze… Stattdessen öffnet er tatsächlich den Knoten um meine Handgelenke. Kaum bin ich befreit, schlinge ich meine Arme um seinen Nacken und erwidere unseren heftigen Kuss. So gut…, hallt es in meinen überforderten Gedanken. Ich will mehr, ihm noch näher sein… Will er das auch? Will er auch alles von mir wissen, mich berühren und küssen und festhalten? »Lass uns…«, stöhne ich in unseren Kuss. Gleich darauf fängt mich Victor wieder mit seinen Lippen ein. Inzwischen tastet er mit einer Hand in seiner Hosentasche herum, mit der anderen greift er grob meinen Hintern.  Als er ein Kondom aus seiner Tasche kramt, verkneife ich mir einen zynischen Kommentar. Herzlos reißt er es auf, zieht es über sein hartes Glied. Alles während unseres wilden Kusses. Ein Stück drückt er mich von sich. Nach Luft ringend betrachten wir uns. Ich frage mich, was er gerade denkt. Ob er mich einfach nur nehmen will… Ob er gerade nur mich will… Victor streicht meinen Hals hinauf. Bereitwillig öffne ich meinen Mund, als sein Finger sich zwischen meine Lippen drängt. Wie zuvor bei deinem Glied schleicht meine Zunge seinen Finger hinab. Diesmal muss ich ihm in die Augen sehen. Ein Schauer fährt über meinen Rücken. Ich fühle mich vollkommen entblößt.  Er zieht seinen Finger aus mir zurück, den er sofort zu meinem Hintern führt und in mich eindringt. Hastig beginnt er mich zu dehnen, lässt sich kaum Zeit dafür. Ich lege meinen Kopf auf seiner Schulter ab. Ein paar Mal habe ich dieses Gefühl schon mit Victor erlebt. Jetzt tut es nicht mehr weh. Jetzt ist da nur dieses Kribbeln, das sich von meinem Hintern, über meinen Bauch kämpft. Ich kann kaum stillhalten. Nach seinem zweiten Finger will Victor mich mit einem dritten Dehnen, doch ich drücke ihn an der Brust zurück. Er fällt nach hinten, packt meine Hüfte. »Ich will’s endlich tun.« »Dann mach es selbst«, bestimmt er dunkel. Erst beiße ich mir auf die Lippe. Noch ein Stück krabbele ich vor, hebe mein Becken an und führe sein Glied ungeschickt zu meinem Hintern. Einmal schlucke ich noch. Anschließend lasse ich mich langsam nieder. Weil ich zu ungeduldig beim Dehnen war und wir diesmal kein Gleitgel benutzen, reißt es nun doch, sodass ich Victors Glied kaum in mich aufnehmen kann. Meine Hilflosigkeit scheint er zu merken. Sein Griff wird an meinen Seiten stärker. Bestimmend gibt er die Richtung an, rückt mich langsam herunter, bis ich ihn vollkommen in mir aufgenommen habe. Ich lehne mich wieder gegen Victor, hole kurz Luft. »Du bist so hart, dabei habe ich dich noch gar nicht hier berührt…«, flüstert er mir verschwörerisch ins Ohr, als sich seine Hand um mein Glied schlingt. »Wenn du willst, dass ich dich massiere, solltest du dich bewegen. Jetzt.« Wie mir aufgetragen, hebe ich meine Hüfte, um mich daraufhin zu senken. Bei jeder Bewegung folgt Victor mit seiner Hand an meinem Glied. Es fühlt sich zu berauschend an, um mich richtig bewegen zu können. Meine Beine zittern. Meine Muskeln verkrampfen. Diese Position erlaubt Victor so tief in mich vorzudringen wie noch nie. Weil ich diesmal den aktiven Part übernehme, fühlt es sich wie Stunden an, in denen wir Sex haben. Irgendwann scheint es Victor zu langsam zu gehen, weshalb er beginnt, das Tempo vorzugeben, indem er von unten in mich stößt. Meine Arme drücken mich steif an die Brust des trainierten Mannes. Gegen seine heiße Haut prallt mein hektisches Stöhnen. Auf meiner Stirn bildet sich der Schweiß. Im Raum herrschen gefühlt vierzig Grad. Victors erregte Stimme klingt neben meinem Ohr. Seine Hand massiert mich kräftig.  Bald habe ich das Zeitgefühl verloren. Deshalb kann ich nicht sagen, wie lange wir so verbleiben.  Ich komme als erstes, nachdem Victor wieder diesen besonderen Punkt in mir trifft, der mich wimmern lässt. Kurz darauf vergraben sich Victors Finger fest in meine Hüfte, als auch er stöhnend zum Orgasmus kommt. Nachdem wir für einige Augenblicke die letzten Wellen unseres Orgasmus’ ausklingen lassen, krabbele ich zittrig von Victor herunter. Er entsorgt das Kondom und säubert uns, bevor er wieder zu mir auf das Sofa zurückfällt. Kaum sitzt er, schnappe ich mir eines der Kissen. Ich bugsiere es auf seinen Beinen. Frech lege ich mich mit dem Kopf auf seinen Schoß. Obwohl Victor missbilligend die Stirn runzelt, bleibt er still. Ich nutzte die Ruhe aus, um mit meiner Fingerspitze gedankenverloren seinen Bizeps nachzufahren. »Jetzt hast du deine Strafe für mich gehabt.« »Was soll das für eine Strafe gewesen sein?«, fragt er knurrend. »Du wirst Adrian nichts mehr tun, oder?« Mein Finger stoppt, damit ich ihm eindringlich ansehen kann. »Ihn umbringen… oder ihn tagelang foltern… oder seine Familie mit Benzin verbrennen…« »Willst du mich davon abhalten oder mir neue Ideen für Möglichkeiten zum Leiden liefern?« Er verdreht die Augen. »Adrian hat schon Schlimmeres verbockt.« »Warum warst du dann vorhin so schroff?« »Was glaubst du, ist die signifikanteste menschliche Eigenschaft?«, fragt er. Ich will über eine Antwort nachdenken, doch soweit kommt es nicht. Victor packt mich plötzlich an den Haaren und zieht meinen Kopf zurück. Erschrocken zucken meine Hände nach oben. Er beugt sich zu mir herab, flüstert leise, aber deutlich: »Angst.« Als er mich loslässt, schlucke ich. Seine Aktion eben hat nicht wehgetan, dafür umso anschaulicher seine Worte untermalt. Um die Stimmung nicht herunterzuziehen, wechselte ich schnell das Thema: »Gehört der Club dir?« »Ja.« »Wollen wir dann vielleicht… zusammen tanzen?« »Nein. Etwas besseres.« Victor steht auf. Er weist mir an, mich anzuziehen, was ich verwirrt tue. Als wir beide Kleidung tragen, führt er mich aus seinem privaten Abteil – sogar aus dem ganzen Club – heraus. Neben dem Küchenbereich liegt ein Fahrstuhl, der uns nach oben bringt. Ich weiß noch nicht, wo wir uns befinden, als sich die metallenen Türen öffnen und Sicht auf einen sternenklaren Nachhimmel bieten. Mit offenem Mund betrete ich die Dachterrasse. Sonnenliegen und Bett-ähnlichen Polsterecken stehen auf dem Lounge-artigen Geschoss. Steinerne Laternen ragen aus dem Betonboden, verteilen orangenes Licht. Dahinter heben sich die Hochhäuser der Stadt schier bis zum Mond. In manchen Fenstern brennt Licht. Manch eines der Gebäude ist mit einer enormen Werbetafel behangen. Als ich zum Geländer laufe, nehme ich die schwindelerregende Höhe wahr, die mich von den winzig scheinenden Autos trennt. »Gefällt es dir?« Victor lehnt sich neben mich. Er holt eine Zigarre hervor, die er anzünden. Einen kräftigen Zug kostet er von ihr. »Du könntest eine eigene Wohnung mit solcher Aussicht haben. Ein eigenes Haus. Es genügt ein Wort.« Matt sinken meine Schultern herab. »Was bin ich für dich? Du sagst, ich bin kein Gegenstand. Du sagst aber auch, dass du keine Gefühle außer Hass kennst… Also was bin ich?« »Mein Geschäftspartner«, antwortet Victor völlig trocken, pustet den Rauch aus. »Du gibst dich mir hin und dafür erfülle ich dir deine Wünsche, ganz gleich was es kosten mag.« »Aber ich hatte bisher keine Wünsche«, sage ich. Unsere Blicke treffen sich. Irgendwas in Victors Blick regt sich, als würde er tief grübeln. »Also gibt es auch keinen Vertrag. Wir haben niemals die Konditionen festgelegt.« Victor lacht. Nicht lange, aber ehrlich. Doch mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Meine Augen weiten sich unter dem schönen Gesicht, das lachend warmes Kribbeln durch meinen Körper schickt. Obwohl wir uns nicht lange kennen, fühlt es sich besonders an. Als wäre ich der Einzige, der ihn jemals lachen gesehen hat. Er verschränkt die Arme auf dem Geländer, schaut in weite Ferne. »Und deine Forderungen lauten?« Mein Herz macht einen Satz. »Ich weiß nicht. Vielleicht will ich gar nichts…« In Gedanken setze ich meinen Satz fort: Oder einfach nur bei dir sein. Ich beiße mir schmerzhaft fest auf die Lippe. Das ist falsch. Falsch. Falsch.  Einige Minuten verstreichen schweigsam. Allmählich spüre ich den Wind hier oben durch meine Jacke hindurch. Darum schlinge ich die Arme um meinen fröstelnden Körper. Victor mustert mich, bevor er seine Zigarre einfach in einem der Aschenbecher ausdrückt. Dann streift er seinen Mantel ab. Ich verkrampfe, als er hinter mich tritt, um den dicken Stoff über meine Schultern zu legen. Stutzend ziehe ich den langen Mantel vor mir zusammen.  »Seit wann bist du ein Gentlemen?« Ich drehe mich herum. »Das bin ich schon immer gewesen.« Unentschlossen streiche ich über Victors Arm. »Lass uns lieber reingehen. Sonst erkältet du dich noch.« Erneut lacht Victor. Für mich sieht es perfekt aus. Hör nicht auf. Lass es nicht verschwinden… »Greif in die linke Jackentasche«, fordert er. Als ich dem nachkomme, ertaste ich eine Box. Zu Tage befördert, drehe ich das handbreite Kästchen in alle Richtungen. »Was ist das?« »Deswegen war ich eben verabredet gewesen. Eine Spezialanfertigung. Mach es auf.« Also ziehe ich das weiße Seidenband ab, klappe den Deckel auf. Als ich sehe, was sich darin befindet, muss ich ein paarmal blinzeln. In der Polsterung liegt ein schwarzes Lederhalsband, dem Stück gleich, das ich gestern getragen habe. Dieses ist es allerdings mit goldenen Nähten und einem kaum sichtbaren Drachenmuster verziert. »Ich will, dass du es immer trägst«, fordert Victor rau. »Überall? Zu jeder Zeit?« Dominant reißt er mich an sich. »Beim Schlafen, beim Waschen, beim Ausgehen und beim Sex. Jede Sekunde deines Lebens gehört jetzt mir.« »Das ist verrückt! Was, wenn es jemand sieht?« Er schmunzelt. »Was denkst du, ist der Sinn der Sache?« Weiter kann ich mich nicht beklagen, da er mir die Schachtel abnimmt. Er klappt sie zusammen und steckt sie in die Tasche meiner Jacke. »Zeige deinem Meister, wem du gehörst.« Auf einmal erstirbt Victors ausgelassenes Gesicht, als wäre er auf Knopfdruck jemand anderes. Mehrere Falten legen sich auf seine Stirn, während er tiefer in meine Tasche rutscht. Dann zieht er seine Hand hervor. Ich lege den Kopf irritiert zur Seite. Etwas etwas graues ruht zwischen seinen Fingern. Victors Blick, der nun eiskalt ist, wandert von dem daumenbreiten Teil zu mir auf. Er lässt mich augenblicklich los, nimmt Abstand. Mich überkommt Gänsehaut. »W-Was ist das…?« Sein gesamter Ausdruck schreit plötzlich danach, mich erwürgen zu wollen. Mit drohender Stimme raunt er: »Eine Wanze.« Kapitel 18 ---------- Victors drohenden Schritten nach hinten folgend, stoße ich mit dem Rücken gegen das Geländer. Ich ziehe die Luft erschrocken ein, als er mich am Kragen meines Pullovers packt und soweit über den Abgrund hält, dass ich mit der oberen Körperhälfte über dem hundert Meter entfernten Tod schwebe. Panisch klammere ich mich an Victors Arm, will mich hochziehen. Doch er hält mich noch ein Stück tiefer, sodass ich mich aus eigener Kraft nicht mehr aufrichten kann. »V-Victor…«, wispere ich voller Furcht. »W… Warum…?« »Ich fragte dich einst, ob du den Tod fürchtest.« Mit pochender Wutader an der Stirn, versetzt er mir einen Stoß, sodass ich glaube, jede Sekunde zu fallen. »War dein Mut genauso gelogen, wie deine säuseligen Worte eben?« Plötzlich hat der kalte Zugwind nichts mehr romantisches. Er zeigt mir nur noch, wie weit ich mich vom Boden entfernt befinde – wie weit ich fallen könnte. Obwohl ich mich bereits an Victors Drohungen gewöhnt habe, meint er es diesmal ernst. Meine Fingernägel krallen sich in das weiße Hemd, während meine großen Augen auf dem makaberen Gesicht liegen, das jegliche Wärme verloren hat.  »Du hast mich die ganze Zeit abgehört«, stellt Victor nüchtern fest. Seine freie Hand greift in meine andere Jackentasche, um wild darin zu wühlen. Zum Vorschein kommt ein weiterer daumenbreiter Gegenstand. Victor ballt seine Hand zur Faust, bis seine Knöchel weiß hervortreten. Ein leises Knacken deutet darauf hin, dass er das kleine Ding zerquetscht hat.  »Ein GPS Sender auch noch?« Er lehnt sich überheblich zurück. Sein ironisches Lachen hat etwas gruseliges. »Wolltest du ihn mir heute unterjubeln? Für eine arme Reinigungskraft ohne richtige Wohnung bist du recht gut ausgestattet, hm?« »Ich weiß nicht, was das ist!«, verteidige ich mich, spähe flüchtig hinunter zur befahrenen Straße. »R-Reden wir darüber, aber… e-erst musst du mich loslassen…« »Soll ich, ja?« Meine unbedachten Worte ernstnehmend, lässt er tatsächlich meinen Kragen los. Jetzt halte ich mich nur noch an seinem Arm geklammert, um nicht zu sterben. Als ich zum gnadenlosen Mafiaboss aufblicke, spüre ich einen stechenden Schmerz in meinen Augen. Das kann er nicht tun… Warum tut er das…? Ich dachte, wir fühlen das gleiche… Über meine Lippen flüchtet ein einziges, heiseres Schluchzen.  »Victor…«, hauche ich bestürzt. »…Victor…« Der Mann, vom dem gerade wortwörtlich mein Leben abhängt, leckt sich über die Zähne. »Was wundert es mich? Tom, Nina, Isabell, Justin, Felix, Mark – Es war eine Frage der Zeit, bis ich dich auf ihre Liste schreiben könnte. Allerdings dachte ich, dass wir vorher noch ein wenig mehr spielen würden.« »Ich kenne diese Leute nicht!«, schreie ich. »Natürlich nicht. Sie sind tot, weil sie mich verraten haben. Deine Vorgänger. Bist du gespannt darauf, sie kennenzulernen?«, fragt er grausam. »Für wen arbeitest du?« Ich kneife die Augen zusammen. »Für niemanden, verdammt! Keine Ahnung, was das für Zeug ist, oder wie es in meine Taschen kommt. Warum sollte ich dich abhören wollen! Das ist verrückt! Hör auf damit! Lass mich runter!« »Nenne mir einen Grund, warum ich dich nicht stoßen sollte«, raunt Victor dunkel. »Du hast mich beleidigt, mich beschämt… doch Verrat werde ich niemals zulassen. Irgendwelche letzten Worte?« Das ist nicht wahr, schießt es mir durch den Kopf. Eben hast du mir gezeigt, wie du sein kannst. Jetzt sollst du nur noch ein brutales Monster sein? Als mein Blick auf Victors trifft… als ich das nervöse Flackern seiner Augen wahrnehme, da atme ich tief durch. All das war keine Einbildung, nicht wahr? »W-Wenn du mich umbringen willst, dann tue es endlich. Worauf wartest du?« Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »Soll ich betteln, dich anflehen? Wofür? Ich habe nichts getan, für das ich mich rechtfertigen muss.« Meine Finger, die sich in Victors Hemd krallen, werden mit jeder Sekunde schwächer. Meine Arme beginnen vor Erschöpfung zu zittern. Und dann passiert es.  Ein unbeschreibliches Gefühl durchströmt mich, als mich die Schwerkraft packt. Meine Haare fliegen mir ins Gesicht, während ich das Gleichgewicht verliere. In der letzten Sekunde sehe ich noch Victors aufgerissene Augen, bevor ich mich nicht mehr halten kann und nach hinten kippe. Plötzlich schnellt eine große Hand vor. Sie packt mich mit aller Kraft am Arm, sodass ich kopfüber hänge, gerade einmal mit den Kniekehlen am Geländer. Der natürliche Instinkt, der mir die Angst vorm Tod zeigt, ergreift Besitz von mir. Deshalb strecke ich Victor panisch meinen freien Arm entgegen. Sofort ergreift er ihn, zerrt mich, selbst bald über das Geländer fallend, nach oben. »Bis du verrückt?«, brüllt der Mafiaboss, nachdem er meinen Oberkörper zurück über das Geländer hievt. Schwankend komme ich mit meinen Füßen zurück auf das Dach. Meine wackeligen Knie geben nach, sodass ich zusammenbreche. »Warum hast du mich gerettet?« Victors Brust hebt und senkt sich ruhelos. Es ist das erste Mal, dass er meinem Blick ausweicht. Das erste Mal, dass er scheint, nicht zu wissen, was er tun oder sagen soll. Er fährt sich etliche Male durch seine Haare, die wegen unseres Beinahe-Sturzes ganz zerzaust sind. Dann dreht er sich um. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verlässt er die Dachterrasse mit schnellen Schritten.  Dauerhaft fliegt amüsiertes Schnauben durch den Raum. Als ich Elliot auf der Couch einen genervten Blick zuwerfe, hebt er hochnäsig sein Kinn, verschränkt die Arme vor der Brust. »Zu gerne würde ich sagen Ich hab‘s euch ja gesagt, aber da der Boss gerade deine Todesursache bespricht, hebe ich mir das besser für Adrian später auf.« Ich stampfe durch mein Zimmer, bis ich direkt vor dem selbstzufrieden Mafiosi stehe. »Komm schon, du glaubst doch nicht wirklich, dass ich irgendein Spitzel einer anderen Gruppe bin.« Schulterzucken. »Deine Vorgänger waren es doch auch.« »Immer die Rede von meinen Vorgängern!« Ich wische mit meiner Hand durch den Raum. »Verdammt, ich kenne diese Leute nicht! Und ich bin auch nicht wie sie!« »Zumindest Letzteres stimmt… ein wenig.« Elliots Augen beginnen im Raum herumzuschwirren. Seltsamerweise scheint er unruhig zu werden. »Genau! Du und Adrian müsstest doch langsam wissen, dass ich mit all dem nichts zu tun habe! Meine sogenannten Vorgänger verhielten sich doch bestimmt ganz anders, wenn sie Betrüger waren!« Elliot sieht weg. Auf einmal meint er leise: »Zumindest hätten sie Adrian nicht geholfen…« Das Ende seines Satzes wird durch lautstarkes Räuspern übertönt, das furchtbar künstlich klingt. Er springt auf, wischt sich über den Mund. Von Elliots ungewöhnlichem Verhalten ganz verwirrt, bilde ich mir sogar ein, kurz einen leichten Rotschimmer auf seinen Wangen zu erkennen. Diese unangenehme Situation ist aber auch schnell wieder beendet, als er mich mit alter Manier am Kragen packt. »Wer hat denn überhaupt dafür gesorgt, dass der Boss Adrian einen Kopf kürzer machen wollte?« Diese leere Drohung kann ich nicht ernst nehmen, weshalb meine Augenbrauen in die Höhe schießen. »War das jetzt ein verrücktes Dankeschön?« Elliots Augen beginnen vor Wut oder Scham zu zucken, da bin ich mir nicht ganz sicher. Vielleicht auch beides. Er ballt die Faust, führt sie neben mein Gesicht. »Ich geb‘ dir gleich Dankeschön!« Plötzlich wird die Tür meines Schlafzimmers aufgezogen. Hereingestürmt kommt ein unbekannter Mann. Elliot lässt mich los. Nach dem Vorfall beim Club wurde ich mit ihm hier ins Zimmer gesperrt. Alles war so ruckartig gegangen, dass ich nicht mal Zeit gehabt habe, mir darüber im Klaren zu werden, dass ich beinahe von einem Hochhaus gestürzt wäre. Das Warten hingegen war unerträglich gewesen. Ein wenig wie an dem Abend, an dem Victor zusammengebrochen war. Und nun würde es wohl weitergehen… »Jesse Carter, mitkommen«, fordert der Fremde, kaum dass er mein Zimmer betritt. Unbeholfen schaue ich zu Elliot auf. Dieser schnalzt mit der Zunge, bevor er wieder die Arme verschränkt. »Sagt wer? Wenn Hektor was will, soll er gefälligst selbst kommen.« Also gehört dieser Mann zu Hektor?, schießt es mir durch den Kopf. Länger kann ich nicht nachdenken. Der Unbekannte Typ packt mich am Arm und will mich mitziehen. »Hey, du Penner!« Elliot geht zwischen uns, dirigiert mich hinter sich. »Hast du keine Ohren, oder was? Verzieh dich!« Auf einmal holt der Mann eine Pistole aus seiner Hosentasche hervor, die er Elliot an die Schläfe legt. Zähneknirschend lässt mich Victors Untergebener los, hebt die Hände hoch.  »Befehl vom Boss. Stell dich in den Weg und ich knall dich ab.« Brutal umschließt die rechte Pranke des Kerls mein Handgelenk, bevor er mich zur Tür zerrt. Am Ausgang kann ich mich loslösen. Doch kaum will ich zurück ins Zimmer flüchten, spüre ich einen reißenden Schmerz an meinem Kopf. Der Typ hat seine Finger in meinen Haaren verkrallt. Automatisch schnellen meine Hände zum Punkt des Schmerzes, aber ich kann mich nicht befreien. Also muss ich dem Typen vor Schmerz keuchend folgen, durch die obere Etage der Villa, bis wir bei Victors Arbeitszimmer ankommen. Kaum treten wir ein, verstummen die Gespräche im Inneren. Alle Augen legen sich auf uns. Zuerst erkenne ich Adrian und Hektor, die vor dem dunklen Schreibtisch stehen. Dahinter sitzt Victor. »Hab ihn mitgebracht«, begrüßt der Kerl, welcher mir meine Kopfhaut abzureißen scheint. Victors verengte Augen fliegen über mich. Dann schlägt er plötzlich mit der geballten Faust auf die Platte seines Tisches. Der Computer und die Unterlagen darauf beginnen zu wackeln. Die Schränke klimpern. »Hektor!«, brüllt der Boss durch den Raum. Alle Anwesenden zucken zusammen. Es scheint, als wäre Victor kurz vorm Platzen. »Habe ich dir erlaubt, ihn anzufassen?« Hektor raunt nachdrücklich zu seinem Untergebenen: »Lass ihn los, du Idiot!« Dieser sogenannte Idiot scheint die Situation nicht zu begreifen, weshalb er mich tatsächlich loslässt. Aber nicht, ohne mich nach vorne in den Raum zu stoßen. Ich falle wie ein nasser Sack auf alle Viere, reibe mir sofort über den Kopf. Dies bringt das Fass zum Überlaufen. In Rage greift Victor zur Waffe auf der schwarzen Lederunterlage. Ohne zu zögern, richtet er den Lauf auf den fremden Mann hinter mir. Dann schießt er.  Weiterhin kniend, weiten sich meine Augen. Wie durch einen Schleier vernehme ich das letzte Röcheln des Mannes, bevor er nach hinten zu Boden kippt. Obwohl ich nicht sehen kann, wie er dort liegt, fühlt es sich an, als würde sein Tod direkt vor meinen Augen geschehen. Es fühlt sich an, als würde sein frisches Blut durch meine Beine laufen, bis ich völlig darin versinke. »Adrian.« Victors allmählich ruhigere Stimme weckt mich aus meinen Halluzinationen. Mein Kopf hebt sich, bis ich dem Boss direkt in seine mörderisch funkelnden Augen sehe. »Bring ihn raus.«  Artig nickend, tritt Victors Untergebener hinter mich. Schleifgeräusche deuten darauf hin, dass die Leiche gerade aus dem Zimmer entfernt wird. Um mich nicht zu übergeben, halte ich mir die Hand vor den Mund. »Das war einer meiner Männer!« Nun seinerseits mit pochender Ader an der Stirn, tritt Hektor näher zu seinem Cousin. »Du meinst wohl einen meiner Männer…« »Alles nur wegen diesem…« Naserümpfend findet Hektors Finger auf mich. »Wegen eines deiner Spielzeuge! Seit wann würdest du für…« Er stoppt mitten im Satz. Die wütenden Züge wandeln sich in Fassungslosigkeit. »Du hast Gefühle für ihn.« Ruckartig stemmt der Boss sich auf. »Du hast Gefühle für den Jungen?«, wiederholt sein Cousin. »Du hast Gefühle für ihn entwickelt«, wiederholt er erneut, diesmal lachend.  Victors Arme beginnen zu zittern. »Also stimmt es?« Kreise durch den Raum ziehend, murmelt Hektor: »Der große Lassini-Boss ist verliebt? Haha, ich glaube es kaum!« Nicht einmal Hektor rechnete wohl damit, dass Victor zum zweiten Mal die Waffe hebt. Donnernd schießt die Patrone so nahe an dessen Wange vorbei, dass sie die Haut zerreißt und eine schmale Linie Blut hervortritt. Dahinter kracht sie ins Regal. Zwei Bücher kippen um, wovon eines zu Boden fällt. »Nicht getroffen«, erklärt Victor, als hätte er sich vertan. Dabei zeigt seine kalte Stimme nur zu deutlich, dass er sein Ziel erreicht hat. Er öffnet das Magazin der Pistole, schüttelt sie auf Kopf. »Keine Munition mehr. Glück gehabt.« Hektor taumelt rückwärts. »Großvater würde sich im Grabe drehen, wenn er dich so sehen könnte. Nicht mehr lange, dann hast du zerstört, was sich die Familie über Generationen aufgebaut hat!« »Verschwinde«, presst Victor zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Um zum Schluss nicht doch noch erschossen zu werden, entscheidet sich Hektor dem Befehl seines Bosses nachzukommen. Schließlich bleiben nur noch Victor und ich zurück. Er hat es wieder getan…, rasen meine Gedanken. Was meint Hektor mit Gefühlen? Wieso wieder eine Leiche? Victor hat Gefühle… für mich? »Aufstehen.« Ohne mich zu beachten, kramt Victor neue Patronen aus dem obersten Schubfach bevor. Routiniert legt er sie ein, bis die Pistole nachgeladen ist. Diesmal zeigt sie an meine Stirn. »Aufstehen.« An der Tischkante ziehe ich mich hoch. Damit meine schwankenden Knie nicht einknicken, stütze ich mich am Holz ab. Für eine Weile schweigen wir uns an. Irgendwann durchbreche ich die Stille mit einem herzhaften Lachen. »Was wird das?« Victor verengt die Augen. Ich lache weiter, wische mir die Tränen aus den Augen. Er greift nach meinem Saum, zieht mich über den Tisch. Danach liegt der verrauchte Lauf seiner Waffe direkt an meinem Kopf. Nach einem Grund für mein Lachen forschend, packt er mein Gesicht, damit ich ihn ansehen muss. »Hast du jetzt den Verstand verloren?« »Vielleicht bin ich ja verrückt geworden.« Die Lachtränen, die ich mit meinen Fingerspitzen aus den Augen schöpfe, versiegen nicht. Immer mehr sammeln sie sich, laufen mir über die Wange, bis ich weine… Victor lässt los. »Anscheinend.« Eine Mischung aus Lachen und Weinen, zwischendurch ein nervöser Schluckauf… Zu mehr bin ich Haufen überquellender Emotionen nicht mehr fähig. Die Tränen laufen über mein Kinn, tropfen auf Victors Unterlagen. Er setzt sich nur in seinen Sessel, beobachtet mich abschätzig, als müsste er noch erforschen, was er von meinem Ausbruch halten soll. Inzwischen schnappe ich unkontrolliert nach Luft, weil ich mich irgendwie beruhigen will. »Fertig?« Ich schluchze. Allmählich bekomme ich wieder Luft. »Hat dich Lessiko mit seinem Wahnsinn angesteckt?« »Haha…« Meine Ärmel müssen als Tuch herhalten, weil ich sie über mein Gesicht wische. »Wie könnte ich bei all dem nicht wahnsinnig werden? Ich wäre fast ertrunken, von einem Hochhaus gefallen, mehrmals erschossen wurden… Du tötest Leute vor mir…« »Du kannst es gerade unmöglich gesehen haben.« »Darum geht es nicht!«, protestiere ich laut. Meine Schultern sinken. Leise spreche ich weiter: »Ich habe das Donnern gehört, das Blut gerochen, die Erschütterung gespürt… Es wäre wohl alles andere als natürlich, wenn ich nicht den Verstand verlieren würde…« Meine eigenen Worte erst jetzt selbst begreifend, sehe ich Victor eindringlich an, hauche: »Ich verliere den Verstand, nicht wahr? Die Träume nachts, die Halluzinationen am Tag… Was hast du jetzt vor? Wenn ich dir sage, dass ich kein Spion bin, glaubst du mir dann? Hast du wirklich… Gefühle für mich?« Bei meinen letzten Worten verhärten sich Victors Züge abermals. Die Knöchel seiner Fäuste treten weiß hervor. Was muss es für ihn, den Boss eines gefürchteten Mafia-Clans, für eine Demütigung sein, Gefühle für jemanden zu empfinden. Zumindest stelle ich es mir wie das Zerschellen seines gesamten Stolzes vor. Es ist sowieso nicht wahr…, flüstere ich in Gedanken. Weder er noch ich… Keine Gefühle, nur Sex. Das hatte er doch gewollt. Keine Romantik, kein Gesäusel, keine Liebe… Victors Lippen zucken, als würden sie etwas ausspucken wollen, doch mit Gewalt daran gehindert werden. Langsam erhebt er sich. Seine Bewegungen, seine Schritte über das Parkett sind wie das Schleichen einer Dunkelheit, die mich einhüllen würde.  Jetzt steht er direkt neben mir. Ich drehe mich herum. Zum ersten Mal scheine ich ihn tatsächlich ansehen zu können. Die Züge auf einmal nicht verzerrt, der Körper auf einmal nicht wie unter Strom. Wie auf dem Dach, nachdem wir beinahe gefallen wären. Ehrlich, sanft, traurig. Meine Hände legen sich an Victors Wangen. Schon wieder diese Einbildungen… Ich träume, dass Victor tatsächlich die Augen schließt und sich an meine Hände schmiegt. Doch als sich seine Lider wieder aufschlagen, muss ich realisieren, dass ich nicht fantasiere. Um zu glauben, was gerade geschehen ist, vergeht der Moment allerdings viel zu schnell.  Victors Züge nehmen ihren gewohnt distanzierten und kalten Ausdruck an. Dann packt er mich unter den Armen, hebt mich auf seinen Schreibtisch und drück mich nach hinten.  Mein Rücken verschiebt die Blätter, Kugelschreiber und Ordner. Teilweise werden sie zum Rand geschoben, fallen einfach herunter. Gewaltsam pinnt er meine Handgelenke am Holz fest, beugt sich herab zu mir. Er drängt sich mit den Knien zwischen meine Beine, die ich ihm öffnen muss, weil er zu stark ist. Dann raunt er: »Niemand macht sowas mit mir.« »Victor«, kommt es mir über die Lippen. »Niemand hat mich jemals…« Nun hält er mich nur noch mit einer Hand fest, während seine andere unter mein Shirt rutscht. »…fürchten lassen.« Furcht?, schießt es mir durch den Kopf. Mein eigenes Seufzen durchbricht die Gedankengänge, als Victor über meine Brust zu streicheln beginnt. Ich will es nicht hier tun… Nicht nachdem ich sehen musste, wie jemand gestorben ist. Aber ich kann mich nicht wehren. Nicht, weil Victor mich festhält oder zwingt… sondern weil sich mein Körper danach sehnt, vergessen zu können. Weil mein Körper weiß, dass Victor mich vergessen lassen kann… weil er der Einzige ist. Aber mein Kopf kann nicht vergessen – Zumindest habe ich das gedacht. Doch was, wenn der Kopf bereits zu verdorben ist? Wenn ich bereits verrückt bin? »Das hier…«, stöhne ich, lege meine Finger an Victors Hemd, um es aufknöpfen zu können. Anschließend legt er seine Lippen auf meine, küsst mich eindringlich. Er sagte, dass ich ihn hab fürchten lassen. Meint er damit diesen Moment, in dem ich beim Club fast vom Dach gefallen wäre? Seine Augen werde ich nicht vergessen können… Ja, jetzt da er es selbst sagt, sah es nach Furcht aus. Er hat gefürchtet, dass ich falle… Ist das wahr? Was auch immer in unseren Köpfen vor sich geht – Im Moment zählen nur noch die intimen Berührungen, die wir miteinander teilen. Als würden wir sprechen, ohne ein Wort zu sagen. Erzählen, ohne zu erklären. Denn im Moment ist dies der einzige Weg, auf dem wir ehrlich zueinander sein können. Unsere einzige Möglichkeit, zusammen zu sein. Kapitel 19 ---------- Eine Welt scheint immer ein Ort zu sein, den man nicht verlassen kann, so sehr man sich auch bemüht. Was aber, wenn dir plötzlich jemand eine Welt zeigt, die du nie zuvor betreten hast? Wenn deine Welt nichts außer Asche war und sich nun eine Tür in einen blauen, klaren Himmel öffnet? Kannst du dann an diesem neuen Ort leben, oder bleibt es doch letztlich die gleiche Welt, nur von einem anderen Punkt aus betrachtet? Mein Leben war nie wirklich erfüllt gewesen. Familie habe ich keine mehr, die sich um mich sorgt, meine Arbeit zerrte an meiner letzten Kraft und wenn ich heute zurückblicke, frage ich mich, wofür ich eigentlich gelebt habe. Seit ich Victor begegnet bin, geht alles drunter und drüber. Er hat mich schlimme Dinge sehen lassen, die mich quälen, vielleicht den Verstand verlieren lassen… aber trotzdem fühle ich mich das erste Mal so richtig wach, wenn ich bei ihm bin. Mein Herz schlägt ganz schnell. Der Schweiß auf meiner Stirn rinnt unter meiner Aufregung herab. Jeden Tag, wenn ich bei Victor bin. Das mit dem Club ist jetzt einige Stunden her. Von Victors Arbeitszimmer aus haben wir in seinem Schlafzimmer weitergemacht. Die ganze Nacht. Das Thema mit den Sendern hat er nicht mehr angesprochen und ich habe mich gehütet, ihn daran zu erinnern. Ich verstehe darunter, dass er mir glaubt. Zumindest hoffe ich das… Und jetzt, kaum da es morgens ist, werde ich von Victor geweckt. Er kommt ans Bett, wirft mir ein paar Sachen zu und verlangt von mir, mich zu beeilen. Noch völlig von der Nacht erschöpft, schleife ich mich ins Badezimmer und später ebenso energielos hinunter in den Eingangsbereich. Als ich Victor gegen die Tür gelehnt auf mich warten sehe, ist meine Müdigkeit allerdings bald vergessen. Ich glaube es ist das erste Mal, dass wir ohne seine Gefolgschaft unterwegs sind. Victor setzt sich ans Steuer seines Sportwagens, den er vor der Villa geparkt hat. Kaum sitze ich neben ihm, fahren wir los. Keine Ahnung, was er schon wieder geplant hat, aber es fühlt sich anders an, als gestern noch.  Ein wenig kommt es mir vor, als hätte Victor eine Art Hemmschwelle durchbrochen. Die ganze Fahrt über kann ich nur zu ihm sehen, zu dem winzigen Schmunzeln auf seinen Lippen. Die restlichen vier Tage der Woche fühlen sich ebenso anders an, als noch zuvor. Vielleicht ist Victor nicht der Einzige, bei dem eine Hemmschwelle überwunden wurde. Am Donnerstag fahren wir in ein riesiges Aquarium. Wir laufen durch die Becken voller exotischer Fische. Doch niemand ist da. Wir sind völlig allein. Victor hat tatsächlich das gesamte Objekt für den Tag gemietet.  Wie wir durch den Glastunnel laufen, über uns die Haie und Schildkröten… Doch wir können die Blicke nicht voneinander nehmen. Mitten unter dem schier unendlich tiefen Becken reißt er mich an sich und küsst mich leidenschaftlich. Am Freitag führt Victor mich in ein Theater aus. Das geschichtsträchtige Gebäude ist von außen mit Scheinwerfern beleuchtet, die sich mit dem Licht der untergehenden Sonne messen. Wir sitzen auf den besten Plätzen in der Loge, als die Opernsängerin ihre Leidensgeschichte singt.  Die Menge jubelt, applaudiert für ihre Grazie. Doch wir beide scheinen nichts dafür übrig zu haben. Deshalb drückt mich Victor in die gepolsterten Sitze, während ich sein edles Jackett aufknöpfe. Ich kralle mich ins Geländer, beiße in meinen Arm, um nicht so laut zu stöhnen, dass man uns bemerken könnte, als Victor in mich eindringt. Am Samstag nimmt mich Victor mit in die 19te. Obwohl ich zuerst glaube, nur Verzweiflung an diesem Ort vorzufinden, muss ich erstaunt feststellen, wie viele Leute sich hier herumtreiben. Jetzt, da die 19te wieder unter der uneingeschränkten Kontrolle des Lassini-Clans steht, ist nicht nur das Revier wieder aufgebaut wurden. Viele Menschen scheinen tatsächlich an diesem Ort sowas wie Schutz zu suchen. Obdachlose, Waisenkinder, kranke Personen… Sie sitzen an den Baracken, nach etwas Geld bettelnd oder Victors Männern bei den Aufräumarbeiten helfend, ein Bier mit ihnen trinkend. Plötzlich muss ich an Blairs Worte denken, die gesagt hatte, dass die 19te mal ein florierender Stadtteil gewesen sein sollte. Ihre Worte… klingen auf einmal so wahr. Auf dem Weg in die Lagerhalle kommen wir an einem kleinen Mädchen vorbei. Ihr langes Hemdchen weht im Wind, als sie zu mir läuft und an meiner Hose zuppelt. »Haben Sie ein bisschen Geld, Sir?« Eigentlich will ich bereits resigniert seufzen, weil Victor ja all meine Besitztümer beschlagnahmt hat. Allerdings legt dieser mir tatsächlich einen fünfzig-Dollar Schein in die Hand, bevor er mich stehenlässt und weiterläuft.  Die Augen der Kleinen leuchten dankbar, als ich ihr das Geld überreiche. Sie umarmt mich stürmisch, bevor sie mit den nackten Füßchen zurück ins Haus läuft. Dann blicke ich zu Victor, der bereits einige Meter voraus ist. Kaum habe ich ihn eingeholt, frage ich: »Was sollte das gerade? Warum hast du ihr das Geld nicht selbst gegeben, wenn du schon so großzügig bis?« Er steckt die Hände in seine Hosentasche. »Es gibt Personen, die Leben nehmen und Personen, die Leben geben«, ist seine rätselhafte Antwort darauf. »Man kann nicht beides sein.« »Und warum nicht?«, höre ich mal wieder nicht auf, nachzuhaken. »Ich habe mal gehört, dass dieser Ort einst eine Zuflucht für viele Leute war. Warum nur sieht es dann jetzt so schlimm aus?« Wir laufen durch die Baracken hindurch, bis wir zu dem Platz kommen, an dem ich Victor beobachtet habe, wie er jemanden getötet hat. Die Erinnerung spielt mir Streiche, lässt mich das Geschehene wieder und wieder sehen… Doch irgendwie wird mir nicht mehr schlecht. Auch wenn mein Atem stockt und ich kaum Luft bekomme. Habe ich mich etwa daran gewöhnt?, schießt es mir durch den Kopf. Wie viel kann ein Mensch aushalten, bis er verdrängt was er fühlt…? Bis er verrückt wird? »Du hast sicherlich auch gehört, wie der Carlos Clan damals hier eingefallen ist und alles zerstört hat«, will Victor mit Erklären beginnen. Doch ich unterbreche ihn. »Das meine ich nicht. Ich frage mich nur, warum du diesen Ort nicht wieder aufbaust.« Victor dreht seinen Kopf zu mir. Wir sehen uns direkt an. Seine Mimik regt sich unruhig, fast als hätte er tatsächlich noch niemals darüber nachgedacht. Wir werden gestört, als einer von Victors Männer zu uns kommt. Er führt uns in die Lagerhalle. Das Treiben verstummt, als der Boss das Revier betritt. Die Personen an den Kisten drehen sich zu uns. Die Leute auf dem Gerüst an der Decke horchen ehrfürchtig auf. Die Menschen um uns herum blicken nur zu Victor und mir, als würden sie jede seiner Regungen aufnehmen wollen. Doch die Stimmung ist nicht angespannt. Es wirkt eher so, als wären alle glücklich, Victor zu sehen. Als würden sie ihn verehren. Und Victor nimmt sich Zeit für seine Untergebenen. Er setzt mich auf eine der Kisten ab, bevor er von seinen Leuten abgefangen wird, die allesamt wichtige Fragen haben und sich am liebsten zur gleichen Zeit auf ihren Boss stürzen würden. Fasziniert lege ich mein Kinn auf der Hand ab, beobachte die Menge um Victor herum, die ihn wie eine Berühmtheit einkesselt. Es scheint so, als haben sie ihn Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Sie zeigen ihm die Bestände, den Fortschritt in den Bauarbeiten… Alle sind mit einer Art Leidenschaft dabei, die auch Adrian und Elliot zu besitzen scheinen. Am Samstag zeigte Victor mir ein Stück vom Lassini-Clan. Obwohl sie Verbrecher sind, suchen auch sie anscheinend nur Schutz, eine Familie… all das, was Victor ihnen bietet. Am Sonntag werde ich nicht von ihm geweckt. Er lässt mich ausschlafen, bis es zehn Uhr ist. Weil ich keine Spur von ihm finde, laufe ich zu seinem Arbeitszimmer. Doch gerade als ich anklopfen will, wird die Tür aufgezogen und jemand kommt mir entgegen. Es ist Hektor. Seine Augen weiten sich ein Stück, als wäre er erschrocken, eine Person zu treffen. In seiner Hand hält er einen dünnen Stapel Blätter. Doch bevor ich diesen weiter untersuchen kann, rämpelt mich Hektor einfach an und läuft weiter. Schluckend werfe ich einen Blick ins Zimmer, der meine Annahme bestätigt: Victor ist nicht hier. Ich habe ein schlechtes Gefühl, huscht es mir durch den Kopf. Der Typ ist nicht ganz sauber. Sollte ich Victor davon erzählen? Quatsch… da mische ich mich nicht ein. Oder? Heute ist der letzte Tag meines Urlaubs. Eigentlich müsste ich morgen wieder nach Hause und zur Arbeit gehen. Seufzend setze ich mich in Bewegung. Warum beschleicht mich die Ahnung, dass Victor mich nicht einfach gehen lassen wird? Er kann mich nicht für immer einsperren. Ich muss doch nach Hause. Weil Victor vom Erdboden verschluckt scheint, streife ich durch die Gänge der Villa, bis mir auf dem Boden in der unteren Etage eine leere Art Phiole auffällt. Nachdem ich sie aufgehoben und zwischen den Fingern gedreht habe, bin ich mir sicher, welcher Person das gehören müsste. Lessiko finde ich allerdings auch nirgendwo. Erst, als ich in einem der Besprechungsräume stehe, sehe ich die platinblonden Haare zwischen der geöffneten Tür hervorblitzen. Ich laufe dem jungen Arzt nach, allerdings ist er bereits durch eine offenstehende Tür am Ende des Ganges verschwunden. Als ich nähertrete, bemerke ich sofort das Sonnenlicht, das einen Spalt breit auf den Marmorboden leuchtet. Und als ich die Tür weiter öffne, atme ich tief durch. Tatsächlich stehe ich direkt an einem Ausgang zum mehr oder weniger gut angelegten Garten. Hier war ich noch nie gewesen, habe ich mich doch nie getraut, das Haus zu verlassen. In der Mitte des Gartens steht ein ausgeschalteter Springbrunnen, umrandet von einer niedrigen Hecke und einigen wettergegerbten Bänken. Dahinter liegt ein kleiner Schuppen, sowie ein Weg, der zum Haus von Adrian und Elliot führt. Langsam setze ich einzelne Schritte hinaus. Heute ist der Himmel wolkenlos, sodass ich in meinem langärmeligen Shirt nicht friere. Durch den recht verwahrlosten Garten laufend, merke ich immer wieder, wie weit wir uns im Wald, abseits des Lebens, befinden. Nicht nur Vögel haben es sich am Trinkbrunnen gemütlich gemacht, sogar Eichhörnchen und Hasen hoppeln hier herum. Als ich näherkomme, schrecken sie auf, laufen weit in den Wald hinein. Warum sieht dieser Teil des Grundstücks so ungepflegt aus?, frage ich mich, während ich zum Schuppen laufe. Die Villa selbst hat wahrscheinlich mehrere Vermögen gekostet. Der Garten passt nicht hierher. Ob Victor die Natur nicht mag? Wieso zieht man dann in einen Wald? Obwohl an der Tür des Schuppens ein Schloss hängt, ist es bereits geöffnet. Kurz stutze ich, doch dann betrete ich die wenigen Quadratmeter, in denen sich jemand befinden müsste. Doch niemand ist da. Ich bin bloß von Abstellkram, Schaufeln und einem alten Staubsauger umgeben – abgesehen von den etlichen Spinnweben, durch die ich mich kämpfe. Hinten an der Werkbank entdecke ich allerdings eine unnatürliche Lichtquelle unter dem Tisch. Als ich mich auf den Boden knie, erkenne ich auch dessen Ursprung. Versteckt unter der abgenutzten Arbeitsfläche ist sowas wie… eine Klappe? Aus Holz bestehend, nach oben aufgeschlagen und wahrscheinlich sonst mit dem Bierfass bedeckt, das gerade zur Seite gerückt wurde, leitet diese Klappe zu einem Durchgang nach unten. Wie ein Keller. Ich streiche meine feuchten Hände an der Hose ab, bevor ich meine Beine auf die erste Stufe nach unten schwinge. Die Treppe, welche spärlich von vergitterten Seitenlampen ausgeleuchtet wird, führt zu einem unbestimmten Ort unter der Erde. Gerade bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich hinunter soll. Was liegt dort versteckt, wenn sie diesen Ort derart geheimnisvoll verheimlichen müssen? Noch mehr Blut…? Noch mehr Tod…? Weil ich vom Zögern auch nichts erfahren würde, folge ich schließlich der Treppe nach unten ins Kellergewölbe. Der Schein von oben trügt. Dieser Keller mit kahlen Betonwänden und einfachem Steinboden ist größer als angenommen. Obwohl es nur einen Gang gibt, ist dieser länger, als dass ich auf die Schnelle alle Räume an den Seiten zählen kann. Die feucht-stickige Luft hier unten treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Um den Faden nicht zu verlieren, laufe ich zuerst zum einzigen Raum, der aufgeschlossen scheint. Je weiter ich mich nähere desto lauter werden Klimpergeräusche. Irgendjemand kramt darin an lauter Sachen herum, die gegeneinander schlagen. Zum ersten Mal bemerke ich den eigenartigen Aufbau dieser Türen. Im Gegensatz zu normalen Kellern, die meistens mit altmodischen Holztüren ausgestattet sind, kommt es mir plötzlich vor, als würde ich mich in einem Hochsicherheitsgebäude befinden. Das Material ist dicker Stahl. Im Gegensatz zum Schuppen, ist das Schloss keines, das man einfach irgendwo dranhängt. Stattdessen sind die Räume ohne Klinken, dafür aber mit einer Art Kartenlesegerät ausgestattet.  Das passt alles nicht zusammen…, schießt es mir durch den Kopf. Dann schleiche ich in den offenen Raum. Sofort klappt mein Kiefer staunend herunter. Ein riesiges Labor breitet sich vor mir aus. An den sterilen Metallwänden bahnen sich Reihen an Reihen von Regalen, mit allerlei wissenschaftlichen Kram, den ich gar nicht zu beschreiben weiß. Mikroskope, seltsamfarbene Proben, Bücher und Ordner mit Dokumentationen. Direkt in der Mitte stehen mehrere stählerne Arbeitsflächen, ausgestattet mit Waschbecken und eingebaute Geräten, die stürmisch blinken. An der hinteren Wand hängt zudem ein mehrere Meter breiter Bildschirm, Bilder von Bakterien anzeigend. Und natürlich befindet sich hier die einzige Person, welche wie die Faust aufs Auge passt. »Lessiko.« Angesprochener fährt heftig zusammen, lässt alles los, was er gerade in den Händen hält. Einige Notizbücher fallen dumpf zu Boden, einige Phiolen hingegen zerspringen scheppernd. Hastig wirbelt der junge Arzt herum. »J-Jesse…?« »Ich wollte dich nicht erschrecken«, erkläre ich, beginne damit aufzuheben, was Lessiko fallengelassen hat. Sofort hockt er sich zu mir herunter und hilft mir dabei. Erst als wir alles das nicht zerschellt ist auf dem Arbeitstisch bugsiert haben, können wir uns richtig in die Augen sehen. »Du hast hier unten ja eine richtige Basis«, scherze ich, drehe meinen Kopf in alle Richtungen, um mich genauer umzusehen. Lessiko spielt an den Nähten seiner Handschuhe. »V-Victor hat das für mich eingerichtet… Damit ich f-forschen kann…« »Tut mir leid, wegen den Phiolen.« Er schüttelt schnell den Kopf, findet erneut zu Boden, um die Glasscherben per Hand aufzusammeln. Als er wieder auftauchen will, stößt er sich mit einem schmerzhaft klingenden Rumpsen an der Kante des Tisches. Er stöhnt, rubbelt sich über die wohl pochende Stelle, nachdem er das Glas in einen nahen Eimer geworfen hat. Dann lacht er nervös. »Passiert mir immer… haha… Bin ein hoffnungsloser Fall…« »Übrigens, der Grund warum ich hier bin…« Ich halte Lessiko die Phiole hin, die ich in der Villa gefunden habe. »Du hast sie verloren.« Mit einem schiefen Grinsen nimmt der Arzt mir sein Werkzeug ab. »Wenn ich ehrlich bin… hab ich sie mit Absicht dorthin gelegt… haha…« »Hä?« »Naja, weißt du… I-Ich hätte dir gerne mal das Labor gezeigt, a-aber… ich hab mich nicht getraut, es dir zu sagen…«, erklärt Lessiko kleinlaut. »Das war seltsam von mir. I-Ich bin eben so seltsam…« »Ist doch nicht schlimm…« Ich winke ab, trete um den Tisch herum, um mich zu einigen blubbernden Substanzen zu beugen, an denen er wohl gerade gearbeitet hat. »D-Du bist wirklich verständnisvoll… Victor hätte mich längst geschellt und Hektor… nun, du hast es letztens ja mitbekommen…« »Aber ich bin Jesse«, sage ich schmunzelnd über die irgendwie liebenswürdige Art des Älteren. Dann konzentriere ich mich wieder auf die Experimente. »Sind das alles Drogen?« Ohne auf meine Frage zu antworten, tritt Lessiko neben mich und meint leise: »Und weil du Jesse bist, kann ich dir… naja, ich kann dir doch vertrauen. Oder?« »Klar«, sage ich spontan. Lessiko sieht angespannt zur Tür. Er entscheidet sich, diese zu schließen, bevor er zurückkommt. Dann beißt er sich etliche Male auf die Lippe. »V-Vielleicht… W-Was ich dir erzähle, ist sehr w-wichtig, weißt du… ha…« Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »Worum geht es?« »Victor. E-Er ist v-vielleicht in Gefahr.« Jetzt stelle ich mich aufrecht hin, sehe meinen Gegenüber direkt an. Dasselbe Bauchgefühl wie bei Victors Arbeitszimmer tritt ein. Obwohl ich mich besser nicht einmischen sollte, kann ich mich nicht zurückhalten zu fragen: »Hat es… etwas mit Hektor zu tun?« Die dämmrigen Augen des Arztes weiten sich. »Ja! W-Woher weißt du das? Hast du… etwa auch etwas bemerkt?« Also lag ich richtig. Irgendwas stimmt nicht mit Hektor, denke ich, balle die Fäuste. Trotzdem… Wenn ich mich zu viel einmische, komme ich vielleicht nicht mehr raus. Aber wenn es um Victor geht… wenn er in Gefahr ist… Ich mustere kurz den jungen Arzt. Seine verpeilte Art, lässt mich ein wenig aufatmen. Und ihm kann ich es doch erzählen. Er wird das sicherlich nicht gleich herumposaunen, wenn wir im Vertrauen reden. »Hektor war vorhin in Victors Arbeitszimmer«, beginne ich, lehne mich gegen den Tisch. »Aber Victor war nicht da. Das kam mir seltsam vor. Was hatte Hektor alleine in dessen Arbeitszimmer verloren? Und als er herauskam, hatte er auch noch Dokumente bei sich…« Lessiko stützt sich auf den Tisch, sodass sein Gesicht ganz nahe kommt. »Hast du gesehen, was auf den Dokumenten stand?« »Leider nicht. Er ist gleich danach weggegangen.« Lessikos Schultern sinken herab. »Dann ist es vielleicht noch schlimmer, als gedacht… nein, das ist unmöglich…« Unsicher lachend zieht er sich zurück, läuft durch den Raum. »Du musst sowieso schon denken… ha… dass ich verrückt bin und mir alles nur a-ausgedacht habe… Wenn ich jetzt noch meine Vermutung ä-äußere…« Er schlingt die Arme um den Körper, als würde er frösteln. Dabei dreht er mir den Rücken zu. Ich laufe zu ihm, lege meine Hand an seine Schulter. »Das denke ich nicht. Ich will deine Vermutung hören.« »Wirklich?« Lessikos Blick gleicht einem einsamen Welpen, als er sich umdreht. Dann nickt er entschlossen, eilt hinüber zu einem der Schränke. Dort kramt er etwas hervor, das ich als Schokoladenschachtel erkenne, als er es vor mir ausbreitet. »Der Abend, an dem Victor zusammengebrochen ist… wir haben uns erst kennengelernt, erinnerst du dich?« »Schon, ja… aber was hat das mit Hektor zu tun?« Die Schachtel ist wirklich exakt dieselbe, die ich Victor geschenkt habe. Und als Lessiko sie aufschlägt, fehlen die Pralinen, die Victor gegessen haben muss. »Ich habe ihm aus Versehen Schokolade mit Nüssen geschenkt, deshalb hatte er ja diesen Schock…« »Dachten wir.« Lessikos Augen blitzen auf einmal ganz wach zu mir auf. »Dass Victors Zusammenbruch an Nüssen lag, ist nicht bestreitbar. Doch niemals wurde festgestellt, dass es die Schokolade war, durch die Victor Nüsse zu sich genommen hat. Wir sind nur alle fälschlicherweise davon ausgegangen, weil es perfekt in die Situation gepasst hat.« Kurz bin ich erstaunt, wie gut Lessiko sprechen kann, wenn er in seinem Element ist. Doch dann konzentriere ich mich lieber auf die wichtigen Dinge. »Heißt das, Victor wurde vorsätzlich vergiftet?«, schlussfolgere ich. Lessiko fummelt eine Praline aus der Schachtel, hält sie ins Licht der Industrielampen an der Decke. »Auf den Warnhinweisen der Schokolade steht nichts von Nüssen. Natürlich habe ich das nochmals untersucht, immerhin können die Pralinen trotzdem Spuren enthalten. Aber negativ.« Er legt sie zurück in die Schachtel. »Du weißt, was das heißt, oder?« Ich schlucke. »Jemand hat Victor absichtlich Nüsse verabreicht und wollte es so aussehen lassen, als wäre die Schokolade Schuld.« Ein Schlucken rinnt meine Kehle hinab. »…Hektor?«  »Wegen den Sendern, die dir zugesteckt wurden…«, beginnt Lessiko, was mich kurz stutzen lässt. Anscheinend weiß jeder bereits über den Vorfall Bescheid. »Hast du eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?« Die Augen schließend, lege ich meinen Kopf nachdenklich zur Seite. Innerlich gehe ich den ganzen gestrigen Tag durch. »Keine Ahnung. Neben Victor und euch hatte ich sowieso keinen Kontakt, also… Naja, außer die ganzen Leute, neben denen ich kurz getanzt habe. Aber von denen könnte es jeder gewesen sein…« Plötzlich schießt eine Erinnerung durch meinen Kopf. Ich öffnen schnell meine Lieder und hebe den Zeigefinger angespannt hoch. »Warte! Auf dem Weg zur Tanzfläche bin ich in einen großen Mann mit einem auffälligen Gesicht hineingelaufen. Mir kam das gleich merkwürdig vor, weil ich überhaupt nicht mitbekommen habe, dass jemand vor mir lief…« »Hatte d-dieser Mann vielleicht eine Narbe, die sich bis zum Ansatz seiner Haare zog?« »Ja!«, rufe ich sofort aus. »Woher weißt du das?« Lessiko spielt nervös mit einer seiner hellblonden Strähnen. »Das war einer von Hektors wichtigen M-Männer. Ein wenig wie Adrian und Elliot untersteht dieser Hektor direkt.« »Aber das heißt ja…«, hauche ich sprachlos. Seufzend verstaut Lessiko die Schokolade wieder im Schrank. »Wir habe keine Beweise, lediglich Mutmaßungen.« Plötzlich fassen mich seine in dicken, weißen Handschuhen eingepackten Hände an den Oberarmen. Er fängt meinen Blick ein, bevor er nachdrücklich meint: »Deshalb bist du auch der Einzige, mit dem ich darüber sprechen kann.« Seine Hände gleiten hinab, bis sie meine eigenen halten. Er drückt sie fest, beinahe tut es schon weh. »Dir kann ich vertrauen, ha… Aber die anderen dürfen nichts davon erfahren!« »Ist es nicht besser, wenn wir alle über Hektors mögliche Pläne informieren?« Lessiko schüttelt energisch den Kopf. »Denkst du, sie glauben mir…?« »Aber wenn ich Victor…« »Nein«, unterbricht mich der junge Arzt. »Auch du kannst Victor nicht davon überzeugen, vertrau mir. Egal wie sehr er dich mag, die Familie wird für ihn immer an erster Stelle stehen. Und dazu gehört eben auch Hektor… haha… Wir sind die letzten aus der Blutlinie, sind zusammen aufgewachsen. Auch wenn die beiden sich oft am liebsten an die Kehle gehen würde, ist Hektor dennoch einer von Victors besten Männern überhaupt und sein Stellvertreter.… ha…« Lessiko fröstelt übertrieben, als würde ihm ein Schauer über den Rücken laufen. »Was denkst du, wird Hektor tun, wenn er weiß, dass wir ihm auf die Schliche kommen? Haha… Ich will es mir nicht vorstellen…« »Victor wird das nicht zulassen…«, beginne ich, frage mich aber gleichzeitig, warum das so schwach klingt. Als wäre ich von ihm abhängig. Deswegen reiße ich mich zusammen. Räuspernd nehme ich ein wenig Abstand. »Adrian und Elliot sind ja auch noch da. Und erstmal müsste Hektor überhaupt eine Gelegenheit bekommen, uns etwas anzutun.« Nervös lachend tritt Lessiko zur Tür, die er wieder öffnet. »Verstehe. Du vertraust mir nicht… Würde ich wahrscheinlich auch nicht, haha… Das Wichtigste ist, dass wir Hektor aufhalten. Wenn ich dafür mit meinem Leben bezahlen muss… soll es mir recht sein.« Dann lässt mich Lessiko stehen. Ich atme tief durch. Es wird immer komplizierter, habe ich recht? Jetzt werde ich nicht nur von einem Mafia-Boss festgehalten, sondern von einem potenziellen Verräter bedroht? Ich sollte Hektor aus dem Weg gehen und was Lessiko betrifft… Meine Lippe beginnt zu schmerzen, als ich fest auf sie beiße. Mit seinem Leben bezahlen? Sieht die Lage wirklich so ernst aus? Es wäre besser, wenn ich den anderen von Hektor erzähle, aber Lessiko scheint mehr zu wissen. Natürlich. Ich bin dumm, unerfahren. Was weiß ich schon von der Mafia? Meine rasenden Gedanken werden unterbrochen, als ich plötzlich einen leisen Schrei vernehme. Überrascht trete ich aus dem Raum und sehe den Gang nach rechts, woher ich den Schrei vermute. Doch Lessiko kann es nicht sein, ihn habe ich die Treppe nach oben laufen hören. Mein Magen zieht sich zusammen, als ich begreife, dass wir nicht allein hier unten waren. Kapitel 20 ---------- Zögerlich Richtung Ursprung des Schreis bewegend, bemerke ich nun, dass die Tür zum Labor nicht die einzige ist, die offensteht. Kaum sichtlich zeigen rote Leuchten an den Kartenlesegeräten die Versperrung der Türen im Flur an. Doch an einer blinkt grünes Licht, wie beim Labor zuvor. Deshalb stehe ich bald vor eben jener Tür. Ich versuche sie aufzuziehen – Tatsächlich schaffe ich das schwere Eisen zu bewegen. Doch drinnen ist es düster, kaum durch die flackernden Glühbirnen beleuchtet. Abermals rät mir mein Bauchgefühl davon ab weiterzumachen. Und wie immer ignoriere ich den gut gemeinten Rat meiner Instinkte. Also drücke ich die Tür ein weiteres Stück auf und stecke meinen Kopf in den Raum. Ein kalter, widerlicher Schauer krabbelt wie Kakerlaken und Ameisen meinen Rücken hinab. Das erste, was durch meinen Kopf schießt, ist: B-Blut…!  Mit weichen Knien und einer völlig steifen Hand am Türknauf zwinge ich mich weiter in den Raum. Meine Augen werden immer größer, im Unglaube, was ich vor mir sehe. Diese Sachen… Ich seh zu dem Rolltisch, der an der hinteren Wand des Raums steht. Für mich wirkt es wie eine Arbeitsfläche, die man in Krankenhäusern verwendet. Tatsächlich liegen darauf auch Gegenstände, die aussehen, als wären sie direkt aus einer Operation gekommen. Skalpelle, Nadeln, irgendwelche Zangen…  D-Das ist nicht wahr… Meine freie Hand verkrallt sich in meinen Haaren. Tosende Kopfschmerzen malträtieren meine Stirn. Eine Einbildung… Wieder eine Halluzination… Ist das… ein Horror-Film? Das ist nicht echt, nicht echt, nicht echt…Während ich gedanklich den letzten Satz wiederhole und wiederhole, sammeln sich Tränen in meinen Augen. Auf dem Tisch befinden sich noch mehr Werkzeuge, die wirken, als hätten sie sich erst vor kurzem durch lebendige Haut geschnitten. Als hätten sie… jemanden gefoltert. Ich kann es nicht lassen, mache einen Schritt vorwärts, drehe mich hinter die Tür… und flüchte panisch rückwärts, als sich plötzlich ein schreckliches Bild vor mir ausbreitet. Gleichgewicht habe ich bei meinen ruckartigen Bewegungen keines mehr, weshalb ich einfach auf meinen Hintern falle. Dann krabbele ich verstört nach hinten, schnappe laut nach Luft. W-Wieso… W-Was…? Dort… sitzt ein glatzköpfiger Mann in einen Holzstuhl. Doch sitzen ist falsch. Weil seine Gelenke an den Lehnen und Stuhlbeinen mit Panzertape festgebunden sind, ist er einfach mitsamt seinem Stuhl zur Seite gekippt. Aus seinen geschlossenen Augen müssen, den roten Rändern zufolge, Tränen gequollen sein, die über seinen abgeklebten Mund liefen, auf die dreckigen Sachen tropfen. Seine Kleidung ist zerrissen, vom Dreck des Kellers verschmutzt. An Armen, Gesicht und Hals prangen große, vereiterte Schnittwunden. »B-Bitte nicht…«, flehe ich zwecklos. Gleich darauf presse ich meine Hände auf den Mund. Zum Glück scheint er nicht auf mich aufmerksam geworden zu sein. Denn nun erkenne ich auch, wer dieser Mann ist. Es war der Anführer der Verräter, die mich auf Victors Yacht ertränken wollten. Das Bild seines betrunkenen Lachens und dieser mörderischen Augen werde ich niemals vergessen. Seltsamerweise beruhigt sich mein rasendes Herz bei dieser Erkenntnis. Allerdings lässt mich das nicht erleichtert ausatmen – ganz im Gegenteil – Auf einmal fürchte ich mich vor mir selbst. Warum binich erleichtert?, denke ich, ein nervöses Lachen ausstoßend. Ich rutsche mit dem Rücken zur Wand, ziehe die Beine an und schlinge meine Arme um die Knie. Victor ist ein grausamer Bastard… Meine Lippen zusammenpressend läuft mir eine einzelne Träne aus meinem Auge. Das kann nicht wahr sein… Er tötet Menschen, er foltert sie sogar… Scheiße, warum wünsche ich mir gerade in seinen beschützenden Armen zu liegen? Plötzlich klappert es im Flur. Danach ruft eine Stimme: »Jesse? Bist du noch hier unten?« Eilig wische ich mir über die Augen. Ich springe auf und flüchte aus dem Raum, bis ich im Labor ankomme. Lessiko tritt die Treppe hinab, während ich so tue, als würde ich gerade aus seiner kleinen Basis kommen. »Ach, da bist du. Ich hab dich einfach stehenlassen. Am besten du kommst wieder mit nach oben«, erklärt Lessiko mit einem Nicken in Richtung Luke. Meine zitternden Hände in die Hosentasche steckend, schlucke ich hart. Im Moment weiß ich nicht, ob es richtig wäre, die Wahrheit zu sagen. Im Moment bin ich überfordert. Also tue ich so, als hätte ich nie etwas gesehen und folge Lessiko nach oben. Von dort aus ziehe ich mich in mein Zimmer zurück. Ich stelle mich unter die Dusche. Minuten… Stunden vielleicht? Das heiße Wasser, das meine Haut rot werden lässt, spüre ich kaum. Ich drehe es wärmer, wärmer… noch heißer. Erst als ich mich verbrenne, scheint es genug zu sein. Der Schmerz lässt mich kurz vergessen, wie sich die Wunden in meinem Herzen anfühlen. Erst, als ich es nicht mehr aushalte, steige ich aus der Dusche und lege mich auf das Bett, in dem ich bisher noch nie geschlafen habe. Was soll ich tun…? Soll ich ihm helfen?, rasen meine Gedanken. Warum habe ich ihm nicht sofort geholfen?, ist die dringendste Frage, die meine Seele wie ein Presslufthammer malträtiert. Habe ich Angst, was Victor mit mir macht, wenn er es herausfindet? Seit wann fürchte ich mich vor ihm? Nein, vor ihm ist falsch… Bin ich froh, dass dieser Mann seine Strafe dafür bekommt, dass er mich töten wollte…? Was? Nein! Natürlich nicht! Was für ein Scheiß! Ich schließe meine Augen, rolle mich zusammen. Vielleicht… war ich nur ein winziges, winziges bisschen froh, dass es diesen Mann und nicht jemanden anderen getroffen hat. Warum dachte ich, dass ich das alles ohne Spuren durchhalten könnte? Ich habe mich verändert. Ich werde mehr wie sie… Abgebrühter, wie das heiße Wasser, das mich nicht mal mehr verletzen kann… Während ich so liege und grübele, packt mich die Erschöpfung. In meinen Träumen sehe ich ein Feld aus Raps, das sich weiter als der Horizont erstreckt. Der blaue Himmel ist mit einzelnen Wolken bestückt, sodass ich die Sonnenstrahlen auf meiner Haut kitzeln fühle. Ein seichter Wind weht über den Raps, der seine Hälse streckt und sich zur Seite wiegt. Weil ich nicht weiß wo ich mich befinde, laufe ich ein Stück. Egal wohin ich gehe – in meiner Sicht ist nichts außer das endlose Feld. Erst nachdem ich alle Richtungen einmal entlanggelaufen bin, zeichnet sich eine verschwommene schwarze Silhouette am scheinbaren Ende des Feldes ab. Mit unschuldiger Neugierde will ich zu dem Schwarz, das nicht in die Landschaft passt. Obwohl ich mich der Silhouette nicht nähere, egal wie lange ich laufe, wird sie immer weniger verschwommen. Bis ich erkenne, dass es Victor ist, der dort steht. Die Arme verschränkt, mit einem leichten Lächeln zu mir blickend. Meine Mundwinkel reichen mir bis zu den Ohren, als ich tief Luft hole und dann zu rennen beginne. Die Hälse des Rapses kitzeln mich an den Knöcheln und den Fingerspitzen, weil ich meine Hände über sie ausbreite. Es ist mir gleich, ob ich bei Victor ankomme, ob der endlose Weg tatsächlich endlos ist. Stur wie ich bin, renne ich bis meine Lungen zu zerbersten drohen. Ich beuge mich vor, stütze meine Fäuste auf die Knie und schnappe nach Luft.  Kaum bin ich zum Stehen gekommen, fällt mir ein einzelner Halm des Rapses auf – trocken, grau, tot. Auf einmal beginnt ein zweiter sich zu verfärben. Ein dritter, ein vierter. Es sieht unecht aus, wie pure Magie. Der gelb-leuchtende Raps um mich herum stirbt wie auf Knopfdruck ab. Ich stehe in einem Kreis aus leblosen Pflanzen. Als ich mich hastig umdrehe, muss ich feststellen, dass der gesamte Weg den ich gelaufen bin, ebenfalls abgestorben ist. Fast wie eine schreckliche Seuche, die ich mit mir herumtrage. Mein breites Grinsen verschwindet. »Victor…« Ich wende mich wieder meinem Ziel zu. Doch er ist nicht mehr da. Abermals beginne ich zu laufen. Der Tod um mich herum verzehrt den gesamten Raps wie eine überschwappende Welle. Blinzelnd schlage ich meine Augen auf. Wie spät ist es?, lautet mein erster Gedanke. Die Vorhänge sind noch offen, weshalb ich den Sichelmond sehen kann. Ich setze mich auf, wische mir durch mein Gesicht. Weil ich zwischendurch eingeschlafen bin, fühle ich mich jetzt nur noch zerschlagen. Am liebsten würde ich mich unter der Bettdecke verkriechen. Doch langsam wird mir klar, dass ich etwas wichtiges zu tun habe. Wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben. Darum schwinge ich mich aus dem Bett und laufe zu Victors Arbeitszimmer, in dem ich ihn vermute. »Ich kann das nicht mehr…«, flüstere ich, bevor ich an der Tür klopfe und hereingelassen werde. Der große Boss späht aus den Augenwinkeln zu mir, bevor er sich wieder den Unterlagen vor ihm widmet. Nebensächlich deutet er auf die Sessel an seinem Schreibtisch. »Setz dich.« Seine Aufforderung ein klitzekleines bisschen umgeändert, laufe ich zu ihm herum und lasse mich dreist auf den Blättern nieder, die Victor eigentlich bearbeitet. Dann stehle ich mir das Ende seiner Krawatte. Victors Augenbrauen wandern misstrauisch in die Höhe, während meine Finger an den Seiten der Krawatte bis zum Knoten hinauffahren, den ich kurzerhand öffne. »Du solltest keinen Anzug in deinem eigenen Zuhause tragen.« »Für einen Anzug fehlt die Jacke.« Victor lehnt sich zurück, lässt mich seine Krawatte von seinem Hals ziehen. »Du bist blass.« »Ach ja?«, stelle ich gedankenverloren fest. Meine Augen ruhen auf dem seidenen Stoff, der mich an die Augenbinde erinnert, die mir Victor vor einigen Tagen umgelegt hat. »Bald gibt es Abendessen. Ich will zusammen mit dir essen.« »Weißt du, was ich mich schon immer gefragt habe?« Ich lege den Kopf zur Seite, versuche meine Gedanken und Entscheidungen zu ordnen. »Wer kocht und putzt eigentlich in diesem Haus?« »Meine Haushälterin.« »Du hast eine Haushälterin?« »Hast du sie noch nie getroffen?« Langsam schüttelte ich den Kopf. Mein Blick legt sich direkt auf Victors. Jetzt, wenn ich bei ihm bin, schlägt mein Herz ruhig. Ich rieche sein Parfüm. Ich fühle seine Wärme an meinen Beinen, die seine berühren. Wenn ich wissen würde wer ich bin und was ich will, könnte ich es genießen bei ihm zu bleiben. Vielleicht für immer. Aber die Frage danach verzehrt mich. Im Moment stehe ich in der Mitte zweier Welten. Um in mein altes Leben zurückzukehren, habe ich zu viel gesehen. Aber um loszulassen bin ich noch nicht bereit. Es zerreißt mich innerlich. Deshalb kann es so nicht weitergehen. »Was geschieht morgen? Mein Urlaub ist vorbei. Ich muss zurück nach Hause.« Victors Hände gleiten über meine Schenkel. »Warum bleibst du nicht bei mir? Dir gefällt es hier. Ich gefalle dir.« »Ja«, gebe ich ganz direkt zu. Er schnaubt amüsiert. Dabei rutscht er mit seinem Sessel heran und streichelt meinen Rücken hinauf. »Dann gibt es also nichts mehr zu diskutieren?« »Habe ich jemals aufgehört zu diskutieren?« Victor erhebt sich genüsslich langsam. Seine Hand schleicht in meinen Nacken. Mit einem Ruck zieht er mich plötzlich heran, sodass ihm meine vollste Aufmerksamkeit gehört. »Du wirst wieder frech«, raunt seine tiefe, dunkle Stimme. Sofort überströmt mich Gänsehaut. Er beugt sich zu meinem Ohr herab. Seine Zähne finden an die zarte Haut. »Hast du etwa vergessen, dass du mir gehörst? Ich glaube, die letzten Tage war ich etwas zu nachsichtig. Dabei gehorchst du nur, wenn ich dich hart anpacke.« Bei seinen letzten Worten wird sein Griff in meinen Nacken fester, sodass er meinen Kopf nach hinten zieht. Aus Reflex hebe ich die Arme. Mein Atem beschleunigt sich bei den verheißungsvollen Worten. »Was ist…«, presse ich keuchend hervor. Ich beiße mir aufgrund meiner peinlich heiseren Stimme auf die Lippe. »…Was ist mit morgen…? Dir ist es vielleicht egal, aber ich habe auch ein Leben, klar? Vielleicht solltest du Ego-Modus mal für ne Minute ausstellen und meine Situation betrachten.« Auf einmal packt Victor mich am Arm. Er zieht mich stürmisch vom Tisch. Die Blätter flattern zu Boden und die Tastatur seines Computers fällt über die Tischkante, hängt nur noch am Kabel. Meine Augen weiten sich vor Überraschung, als mich Victor zum riesigen Fenster seines Büros zerrt. Ich kann die neue Situation noch gar nicht begreifen, da drückt er mich auch schon grob mit dem Oberkörper gegen das Glas. Ich keuche vor Schmerz und Überforderung. »Du vergisst, mit wem du sprichst.« Victor steht genau hinter mir, umschließt meine Handgelenke, die er unbarmherzig über meinem Kopf festhält. »Bisher hast du dich immer herauswinden können. Aber vielleicht sollte ich dir einmal zeigen, was ich mit Leuten mache, die denken, dass sie sich mit mir anlegen könnten.« »Ich denke es nicht, ich kann es.« Auf einmal zieht sich ein stechender Schmerz von meiner Schulter über meinen Rücken. Ich kneife automatisch die Augen zusammen. Dann drehe ich meinen Kopf nach links, um feststellen zu müssen, dass ein kleines Rinnsal Blut über mein Schlüsselbein läuft. »Du hast mich… gebissen?«, stelle ich mehr oder weniger mit einem Fiepen fest. Der große Körper hinter mir nährt sich weiter. »Du willst doch nicht sagen, dass das weh tat?« Victors Knie findest zwischen meine Beine. »Ich kann dir zeigen, was wahre Schmerzen sind.« Unwillkürlich muss ich sofort an die unterirdische Basis beim Schuppen denken. An den Mann in diesem Raum… Daran, dass Victors keinesfalls blufft, wenn er meint, dass er mir wahre Schmerzen zeigen könnte… »Ist das so?« Einmal versuche ich mich ruckelnd aus dem unnachgiebigen Griff des Mafiabosses zu lösen, vergebens. »Was willst du mir antun?«, reize ich ihn stattdessen weiter. Innerlich sehe ich seine pochende Wutader schon vor mir. »Warst du nicht derjenige, der in mich verliebt ist?« Das wird seinem angeknacksten Stolz den Rest geben, denke ich schmunzelnd. Aber ist mir schnuppe. Ich werde es mit erhobenen Hauptes beenden… »Wenn du dich so sehr nach mir verzehrst, warum machst du mir nicht einen Antrag? Oder wartest du darauf, dass ich den ersten Schritt mache? Heiße ich dann Jesse Lassini oder du Victor Carter…?«, säusele ich völlig unschuldig. Gerade will ich ihm meinen neuesten Einfall an den Kopf schmeißen, da vernehme ich seine Stimme neben meinem Ohr. »Ausziehen«, ist das einzigste was er sagt, doch so intensiv und scharf, dass ich mich nicht mehr traue Widerworte zu geben. Wenn ich jetzt einen Schritt weitergehe, wäre der Spaß wohl tatsächlich vorbei… »Was hast du zu sagen?« Victors Nägel kratzen über meinen glühenden Körper. »E-Eins… Meister…«, presse ich zwischen den Zähnen hervor, als sich der Schmerz meines Hinterns weiter ausbreitet. Victor lässt mir keine Zeit mich daran zu gewöhnen, bevor er mich ein zweites Mal mit der Reitergerte schlägt. Ich zucke zusammen, klammere mich an die metallischen Fesseln, die meine Handgelenke mit dem Ende des Tisches verbinden, auf welchem ich mit meinem Oberkörper liege. Gerade will ich mitzählen, wie Victor es mir vorher erklärt hat, da bin ich ihm wohl schon zu langsam. Ein drittes Mal schlägt er zu. Diesmal so fest, dass ich nur heiser nach Luft schnappen kann. Mein Körper erzittert. Victor greift in meine Haare und zieht meinen Kopf zu sich herum. Erste Tränen der Scham und des Schmerzes sammeln sich in meinen Augen. »Siehst du deinen Fehler ein?«, raunt er mir der Mann ins Ohr, der im Moment mein Meister ist. Der im Moment im vollen Besitz meines Körpers ist. Ich kann ihn nicht mehr kontrollieren. Obwohl mein Kopf noch kämpft, hat sein Körper Victor bereits unterworfen, in der Hoffnung mehr zu bekommen… intensiver… heißer… »J-Ja… M-Meister…« »Sicher?« Kaum spricht Victor aus, bekomme ich einen vierten Schlag, der mich keuchen lässt. Bestimmt ist mein Hintern bereits gerötet, so fest wie er zuschlägt.  »Vier… Meister…« »Gut«, lobt er mich. Seine Hand findet an meine Schultern, drückt mich fest auf den Tisch. Er schlägt mich erneut, woraufhin ich meinen Text artig weiterführe. Das Gleiche wiederholen wir zwei Male, bevor er mir etwas Zeit zum Durchatmen lässt. Seine Finger streichen langsam, fast schon zärtlich meine Wirbelsäule hinab. Ich spüre seine Fingerspitzen, die über die Striemen auf meinem Hintern streichen. Obwohl ich nach Luft schnappend auf dem Tisch liege, kann ich Victors bedrohlichen Blick spüren, als er scharf zischt: »Kleine Kätzchen sollten gut abwägen, welchen Tigern sie die Krallen zeigen.« Die lederne Reitgerte setzt auf meinem Hintern an, schleicht hinunter zu meinen Schenkeln. Es sind sanfte Berührungen, die auf ihrem Weg Stromstöße aussenden. Obwohl es so völlig anders als die Schläge zuvor ist, fühlt es sich nicht minder intensiv an. Ich kneife die Augen zusammen, als die Reitergerte weiter zwischen meine Beine hindurch rutscht. Mit der flachen Seite streicht sie meinen gesamten Schritt entlang. »Ich bin eine Nummer zu groß für dich, Baby.« Victors bloße Präsenz könnte mich im Moment um den Verstand bringen. Ich wünsche mir, ich könnte ihn sehen… Der Kragen weit geöffnet, einen guten Blick auf seine festen Muskeln bietend… Die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, dazu bereit nicht zimperlich anzupacken… Die schwarzen Haare durch die Anstrengung zerzaust… Hinter mir stehend, mit der Gerte in der Hand, mit jeglicher Macht über mich… sodass ich komplette seiner Laune ausgeliefert bin… Scheiße, warum macht mich das bloß so geil…? »Dieses Spiel beherrscht ich zu gut.« Victors streicht mit seiner Gerte mein erregtes Glied entlang. Die Aufregung und gleichzeitig Angst, er könnte nochmals zuschlagen, aber diesmal an dieser völlig sensiblen Stelle… Ja, dieses Spiel beherrscht er tatsächlich. »Und wenn du in diesem Spiel überleben willst, bleibt dir nur, dich mir hinzugeben. Also – sag mir, wem du gehörst.« Meine Lippe schmerzt schon, so fest habe ich auf ihr herumgekaut. Und auch diesmal muss sie herhalten, als ich schweige. Meine Strafe folgt augenblicklich. Victor holt leicht aus und schlägt mit der Gerte direkt in meinen Schritt. Alles in mir zieht sich zusammen, gleichzeitig kralle ich die Fingernägel ins Holz des Tisches. Erneut laufen mir Tränen aus den Augen. »Du hast deine Lektion nicht gelernt? Dann musst den Wunsch hegen, noch härter bestraft zu werden.« Noch härter?, schießt es mir durch den Kopf. Obwohl die Kraft die Victor bei seinem letzten Schlag benutzt hat, nicht im Gegensatz zu meinem Hintern war… Was muss es für ein Schmerz sein, wenn er noch fester… »T-Tut mir leid…« »Hm?« »M-Meister… e-es tut mir leid…« Da ich ihm allerdings vergessen habe, auf seine Frage zu antworten, bekomme ich die Rechnung mit einem weiteren Schlag in meinen Schritt. Keuchend krümme ich meinen Rücken. Die Fesseln klappern wild. »Wollte ich eine Entschuldigung?« Victors Finger greifen in meine Haare, ziehen meinen Kopf hoch, sodass ich ihm in die Augen sehen muss. »Einmal noch, Süßer. Ein einziges Mal. Wer ist dein Meister?« »I-Ihr… Ihr seid mein Meister…«, wimmere ich. »Also gehörst du…?« »Nur Euch. Ich gehöre nur Euch…« »Und das heißt?«, fragt er. Allerdings weiß ich diesmal nicht, was er meint. Deswegen wiederhole ich vorsichtig: »D-Das heißt…?« Victor leckt sich über seine Lippen. Seine strengen Augen mustern mich eindringlich. War er schon immer so sexy? »Das heißt, dass ich der einzigste Grund bin, warum du am Leben bist. Weil jedes deiner Härchen mir gehört, jeder deiner Blicke, jeder deiner Gedanken.« Ich schlucke hart. »Ja… N-Nur Euch…« »Das reicht für dein erstes Mal«, macht er mir klar. Das Geräusch beim Öffnen eines Reißverschlusses erklingt. Ich kann nicht schnell genug begreifen, was als nächstes passiert, da spüre ich bereits einen Finger an meinem Hintern. Während mich Victors dehnt, fällt seine Hose zu Boden und wenige Minuten später dringt er auch schon in mich ein. Meine Ellenbogen schürfen am Tisch auf, weil ich sie immer wieder fest gegen das Holz drücke. Ich ziehe an meinen Fesseln, die mich unnachgiebig an Ort und Stelle gefangen halten. Victors Stöße sind tief und langsam, sodass ich mein Stöhnen nicht unterdrücken kann. Er packt meine Hüfte, lässt mich jedes Mal erzittern, wenn sie auf sein Becken trifft. Schnell treibt er mich richtig Orgasmus. Doch so leicht lässt er es mir diesmal nicht. Victor befreit mich von meinen Fesseln, sodass ich mich aufrichten kann. Dann folge ich ihm zum Sofa, auf das er sich setzt und mich über sich zieht. Als er es mir mit stumm mit einem Nicken andeutet, lasse ich mich auf ihn senken und nehme sein Glied ganz in mich auf.  Ich lege meine Hände auf seinen Schultern. Daraufhin nimmt er sie wieder herunter und betrachtet die roten Stellen an den Gelenken. Wahrscheinlich sind sie durch mein hartes Ziehen entstanden. Meine eh schon vom Weinen und von der Scham geröteten Wangen werden nun knallrot. Denn Victor senkt seine Lippen und beginnt mich an den wunden Stellen zu küssen, sein Blick dabei die ganze Zeit auf mich gerichtet. Danach erst lässt er zu, dass ich meine Arme um seinen Hals schlinge. Ich beginne mich auf ihm zu bewegen, dort weiterzumachen, wo wir eben noch im Stehen aufgehört haben. Immer schneller, immer intensiver… Bis wir beide zum Orgasmus kommen. Nach dem Sex dauert es nicht lange, bis wir im Bett liegen. Das Licht ist aus. Ruhig atmend liege ich auf dem Rücken, drehe meinen Kopf zu Victor, der mir die kalte Schulter zeigt, wortwörtlich irgendwie.  Wenn es dich tatsächlich stört, warum sagst du nicht mal mehr etwas, wenn ich bei dir schlafe?, denke ich schmunzelnd. Immerhin habe ich die ganze letzte Woche neben Victor geschlafen. Obwohl er es nie kommentiert, wimmelt er mich auch nicht mehr ab, wenn ich meinen Kopf gegen ihn lehne. Was denkst du von mir? Ist es dir egal? Machst du es auf deine eigene Art mit dir aus?  Heute bleibe ich allerdings auf meiner Seite. Alles zieht mich herüber zu Victor. Gerne würde ich meine Augen schließen, den Duft seines Duschgels schnuppern und seine Wärme spüren. Doch ich bleibe wach. Ich warte zehn Minuten… dreißig Minuten… eine Stunde… so lange, bis ich mir absolut sicher bin, dass Victor schläft. Darauf bedacht ihn nicht zu wecken, schwinge ich meine Beine langsam aus dem Bett. Mit nackten Füßen tapse ich über das Parkett. Es ist so still, dass ich sogar das Rascheln von Victors Körper vernehme. »Du hörst mich nicht, richtig?«, flüsterte ich. Vorsichtig setze ich mich auf die Bettkante. Erst zögere ich, doch dann streiche ich dem Mafiaboss einige Haare hinters Ohr. Selbst wenn er schläft, sieht er nicht wirklich entspannt aus. Fast als würde er die ganze Nacht gegen etwas kämpfen.  »Kannst du mir nicht mehr von dir erzählen?« Ich seufze. »Wie war deine Vergangenheit? Warum holst du fremde Leute zu dir, um mit ihnen zu schlafen? Wieso bist du überhaupt der Boss einer Mafia-Gruppe? So viele Fragen… Gerne hätte ich vorher noch eine Antwort darauf erhalten.« Mein Blick findet zum Sternenhimmel, hinter den Fenstern. Die Vorhänge sind nicht zugezogen, weshalb ich einen guten Blick in die Dunkelheit habe. Intuitiv beginne ich damit, die Sterne zu zählen. »Du wirst mich dafür hassen. Am liebsten würde ich wegsehen – egoistisch werden. So egoistisch, dass es mir egal ist, über wie viele Leichen ich gehen muss, um glücklich zu sein.« Seufzend spiele ich an einige Falten in den Laken. »Aber ich kann noch nicht loslassen.« Die Zeit vergeht. Obwohl ich alles gesagt habe, kann ich mich nicht überwinden. Also bleibe ich weiter so sitzen, vor mich hingrübelnd. Bis mir einfällt, dass es doch noch etwas gibt, dass ich sagen muss… Mich vor das Bett hockend, streichele ich mit meinem Handrücken sanft über Victors Wange. Dann stehle ich mir einen flüchtigen Kuss. Gegen seine Lippen hauche ich traurig lächelnd: »Ich habe mich in dich verliebt.« Anschließend stehe ich hoch und gehe mit festen Schritten.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)