Boston Boys - Fragmente von Vampyrsoul (Kurzgeschichten zur Boston Boys Reihe) ================================================================================ Kapitel 1: James – August 1983 ------------------------------ Rene blieb nur kurz am Eingang stehen, sah sich um und kam zu mir herüber. Kumpelhaft klopfte er mir auf die Schulter, dann setzte er sich auf den freien Hocker neben mich. »Was gibt es denn so Wichtiges?« Bevor ich antwortete, schob ich ihm eines der beiden Pinnchen zu, die vor mir standen. Er würde es gleich brauchen. Er warf mir einen skeptischen Blick zu und ernsthafte Sorge zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Bis jetzt hatte er wohl gehofft, dass das, was ich ihm so dringend sagen wollte, etwas Erfreuliches war. »Lillian war vorhin bei mir. Sie ist schwanger.« Einen Moment starrte er mich an, als erwarte er, dass ich in Gelächter ausbräche und ihm erklärte, dass es nur ein Witz war. War es leider nicht. Als er das erkannte, griff er nach dem Pinnchen und stürzte es in einem Zug herunter. Ich tat es ihm gleich und beschwerte mich auch nicht, als er mit einem Fingerzeig zwei neue bestellte. Erst als auch die zweite Runde leer war, wandte er sich wieder mir zu. Seine Miene zeigte eine Mischung aus Wut, Verwunderung und Misstrauen. »Warum hat sie mir nichts davon erzählt?« »Sie wollte morgen mit dir reden. Aber erstmal wollte sie es nur mir erzählen.« Ich wusste, dass ich das Unausweichliche mit dieser Antwort nur hinauszögerte, aber ich wollte mir diese wenigen Sekunden erkaufen. Ich musste das doch selbst erst einmal verarbeiten. »Warum? Habe ich nicht genauso ein Recht, das zu erfahren?« Die Wut übernahm eindeutig die Führung. Er fühlte sich ausgeschlossen, und das zurecht. Deshalb hatte ich auch noch am Abend mit ihm reden wollen. Ich atmete tief durch. »Weil ich der Vater bin.« »Was macht dich so sicher? Verschweigt ihr mir etwas?« Verletzung und noch immer Misstrauen. Ich verstand ihn, hatte aber so gehofft, dass es nicht dazu kommen würde. Beruhigend schüttelte ich den Kopf. »Nein, wir verschweigen dir nichts. Glaub mir, das war sicher nicht beabsichtigt. Es war ... Wie hoch standen die Chancen, dass es bei nur einem Mal wirklich schief geht?« Seine Augenbrauen senkten sich skeptisch. »Auch davon habt ihr mir nichts erzählt.« Nun musste ich doch etwas lächeln. »Weil du dabei warst. Erinnerst du dich nicht mehr an Independence Day?« Er senkte den Kopf und wich meinem Blick aus. Natürlich erinnerte er sich. Wir hatten nach der Feier zusammen bei Em und Kas im Wohnzimmer auf der Matratze gepennt, weil wir zu stoned waren, um nach Hause zu gehen. Irgendwann in der Nacht war ich aufgewacht, Lillian lag nicht mehr bei uns, dafür hatte sich Rene dich an mich gedrängt. So dicht, dass ich spüren konnte, dass die Drogen nicht nur bei mir einen aufreizenden Nachklang hatten. Eine Weile wartete ich, hoffte, dass Lilly wiederkam und sich wieder zwischen uns legte, doch es war nichts von ihr zu hören. Ich vermutete, dass sie auf Toilette eingeschlafen war. Doch das ließ mich mit einem Problem zurück: Rene, der noch immer dicht an mich gedrängt lag und meine Lage durch seinen unruhigen Schlaf nicht gerade verbesserte. Irgendwann wurde es mir zu bunt und ich weckte ihn, indem ich ihm mit der Taschenlampe von neben dem Bett ins Gesicht blendete. Kaum hatte er ein Auge grummelnd geöffnet, drohte ich ihm: »Entweder lässt du dich von mir blasen oder du rutscht ein Stück weg!« Verständnislos blinzelte er mich eine Weile an, brauchte wohl etwas, bis meine Worte im richtigen Bereich seines Gehirns angekommen waren. Geduldig wartete ich darauf, dass er mich endlich losließ und rutschte, doch nach und nach mischte sich Neugierde in seinen Blick. Neugierde, die durch die Drogen noch genähert wurde. Sonst hätte er sie wohl nie so deutlich gezeigt. »Dein Ernst?« Ich lachte leise auf. Als hätte ich jemals Zweifel daran aufkommen lassen, dass ich ihn nicht ganz unterinteressant fand. Erst nachdem wir geklärt hatten, dass er keinerlei Ambitionen in der Richtung hatte, hatte ich das zurückgefahren. »Aye.« Mir war bewusst, dass seine Zustimmung zu meiner Drohung nichts an seiner Einstellung änderte und es reine Neugier war, aber warum hätte mich das abhalten sollen? Mich interessierte schließlich auch, was er Lilly zu bieten hatte. Und es ausschlagen, nur weil klar war, dass es keine Wiederholung gab und er es nicht erwidern würde? Unfug! Rene löste gerade seine Finger aus meinen Haaren und ich hatte noch seinen Geschmack auf der Zunge, als neben uns ein heller, tadelnder Schnalzlaut erklang. Ertappt sahen wir beide in die Richtung des Geräusches. Keiner von uns hatte darüber nachgedacht, was Lilly wohl davon halten würde. Doch sie verlor kein Wort darüber. Stattdessen kam sie näher, küsste erst Rene und dann mich. Ihre Finger, die über meine Schulter strichen und mir sanft bedeuteten, mich auf den Rücken zu drehen, waren feucht und sie verströmte einen verführerischen Duft. Wie lange hatte sie unser Treiben im Schein der Taschenlampe wohl schon beobachtet? Niemand von uns sprach ein Wort, Rene und ich hatten nur noch Augen für unsere wunderschöne Lilly, wie sie sich grazil über mir bewegte. Nur einen Augenblick zögerte sie, bevor sie sich auf mich nieder senkte. Mir war bewusst, dass es gegebenenfalls eine schlechte Idee war, aber das war mir in dem Moment egal. Niemand von uns hatte etwas zur Hand und wir wollten ganz sicher nicht den kleinen Ritter und seine Eltern wecken, indem wir die Wohnung verließen. Diese Zeit hätten sich auch weder Lilly noch ich nehmen wollen. Ich wusste nicht, wann Rene eingeschlafen war, eine Weile hatte er Lilly noch zärtlich gestreichelt, doch irgendwann hörte ich neben mir nur sein leises, gleichmäßiges Schnarchen. Leicht strich ich mit dem Daumen und den Fingerspitzen über Renes Hüfte. Nur eine kurze Berührung, doch sie ließ ihn wieder aufblicken. »Und wie geht es jetzt weiter?« »Ich werd mit Lillian Schluss machen ...« »Was?!« Rene sprang mit geballten Fäusten auf. Ich seufzte leise. Ich verstand, dass er wütend war. Deshalb hatte ich es auch ihm zuerst sagen wollen und Lillian um etwas Bedenkzeit gebeten. Ich hoffte, dass er es eher verstehen und mir beistehen würde. »Hör mir erstmal zu.« Sanft drückte ich ihn an der Schulter wieder auf den Hocker. Beschwichtigend sprach ich auf ihn ein. »Ich bin kein Familienmensch. Daraus hab ich nie ein Geheimnis gemacht. Ich wäre nie da, um ihr zu helfen. Ich bin doch ab nächster Woche schon wieder für zwei Monate unterwegs.« Erneut ballten sich seine Hände. »Und während du unterwegs bist, muss sie ihre Karriere opfern! Oder hoffst du, dass sie es dann ... wegmachen lässt?« »Nein! Hast du sie noch alle!« Niemals würde ich versuchen, dass sie das Kind loswurde! Es war unser Kind! Wenn sie sich von sich aus dafür entschied, dann würde ich die Entscheidung akzeptieren, aber nie würde ich sie in diese Richtung drängen. »Ich meine, wenn sie das so möchte ... Aber sie hat sich schon etwas darüber gefreut.« Rene nickte, schien aber nur teilweise zufrieden mit der Antwort. »Lillian muss ihre Karriere sowieso für eine Zeit hintanstellen. Wenn ich weitermache, kann ich ihr die richtigen Kontakte vermitteln, sobald sie wieder einsteigen kann.« Davon hatte sie deutlich mehr, als wenn ich versuchte, etwas für sie zu sein, was ich einfach nicht war. Ein Kind passte nicht in mein Leben. »Und wie stellst du dir das vor, wenn du sie allein lässt? Sie ...« Mein Lächeln ließ ihn verstummen, sodass ich ihn korrigieren konnte, bevor er noch mehr falsch verstand: »Ich lasse sie ja nicht allein.« Erst als ich ihm meine Hand auf die Schulter legte, verstand er. »Aber ... Das kann nicht dein Ernst sein!« »Warum nicht? Uns ist beiden klar, dass du der bessere Vater bist. Lillian hätte sich, wenn es geplant gewesen wäre, sowieso für dich entschieden. Und es braucht keine zwei von uns.« »Aber ...« Was auch immer er erwidern wollte, blieb ihm im Hals stecken. Ich wartete, ob nicht doch noch etwas kam, dann erklärte ich: »Ich habe nicht vor, dich und Lilly damit allein zu lassen. Ihr bekommt von mir alle Unterstützung, die ich euch bieten kann. Aber bitte, zwingt mich nicht, Vater zu werden.« »Stattdessen soll ich Vater werden?« Die Wut hatte nachgelassen und ich konnte in seinem Blick sehen, dass er zumindest ernsthaft über den Vorschlag nachdachte. »Du wolltest es doch sowieso werden, oder nicht?« »Ja, aber noch nicht jetzt!« Ein verzweifeltes Lachen entrang sich seiner Kehle. »Wie stellst du dir das vor? Lillian ist gerade erst mit der High-School fertig und mein Job reicht nicht für uns beide und ein Kind.« »Ich hab doch gesagt, dass ich euch helfe!« Frustriert seufzte ich. »Ja, mir ist klar, dass das auch nur bedingt hilft, aber es wäre doch auch nicht anders, wenn ich mich darum kümmere. Vielleicht sogar schlimmer.« Eine Weile schwiegen wir, bevor Rene mir direkt in die Augen sah. »Lass mir Zeit, darüber nachzudenken. Und wenn wir mit Lillian reden, solltest du ihr vielleicht erst sagen, was du dir vorstellst, statt sie direkt zu verlassen.« Er lächelte leicht und klopfte mir aufmunternd auf den Oberarm. »Ich verstehe nämlich immer noch nicht, warum du das unbedingt tun willst. Dem Kind ist es egal, was seine Mama und Onkel tun, wenn es nicht dabei ist.« Das brachte mich dann doch zum Lachen. »Nur bis zu einem gewissen Alter.« Er schmunzelte ebenfalls. »Bis dahin ist uns sicher etwas eingefallen. Na los, bezahl und dann schauen wir bei Lilly vorbei, ob sie noch wach ist.« Kapitel 2: Mat – Dezember 1984 ------------------------------ »Mir ist immer noch kalt.« Peter drängte sich zitternd dichter an mich. Es war sein erster Winter, er würde sich noch daran gewöhnen. »Wird gleich warm.« Selbst auf dieses Versprechen hoffend drückte ich mir den Inhalt der Spritze in den Arm. Oh, wie wenig wusste ich, dass sie nie wirklich Wärme brachten. Sie betäubten nur das Gefühl der Kälte, jedes Gefühl. Sie brachten mich in eine Traumwelt, weg von der bitteren Realität, die wir in unserer jugendlichen Naivität für Freiheit hielten. Doch was war das für eine Freiheit, in der wir von Tag zu Tag lebten, nie sicher, ob wir nicht doch eines Tages endeten wie Zed, der in seiner Ecke des Tunnels elendig krepierte. Nur eines der vielen Dinge, denen ich nur für eine kurze Zeit zu entkommen hoffte. Als ich Peter im Sommer aufgelesen hatte – diesem schmächtigen, so zerbrechlich wirkenden, aber durch seine androgynen Züge so anziehenden Jungen nicht einmal zwei Wochen gebend, bevor er wieder nach Hause rannte oder tot in einem Graben gefunden wurde – waren wir zu fünft gewesen. Fiend war, nur zwei Tage nachdem Peter sich uns angeschlossen hatte, an einer Überdosis draufgegangen. Niemand von uns hatte ihn wirklich betrauert. Bis wir es realisiert hatten, war es eh zu spät gewesen, und er trug seinen Namen nicht zu unrecht. Er war geduldet, aber wirklich gemocht hatte ihn niemand. Victor war, als es anfing kalt zu werden, eines Abends nicht mehr am Unterschlupf aufgetaucht. Wir vermuteten, dass er sich für ein paar Tage bei einem Freier aufhielt, doch was wirklich mit ihm geschah, sollten wir nie erfahren. Jedenfalls hatte niemand von uns ihn je wiedergesehen. Und Magnum, mit 16 der älteste von uns, war letztendlich im Herbst genauso elendig verreckt, wie Zed es früher oder später tun würde – tatsächlich schaffte er es noch fast eine Woche; deutlich länger als ich ihm in seinem Zustand gegeben hätte. Sie waren nicht die ersten und nicht die letzten, die wir so sterben sahen. Mehr, als es ihnen zu erleichtern, konnten wir nicht tun. Wie viele es im Endeffekt waren, kann ich nicht sagen. Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen. Nicht alle kannte ich beim Namen und bei denen ich ihn kannte, habe ich ihn im Laufe der Jahre vergessen. Doch es waren zu viele; manche nicht einmal als Zahl in irgendeiner Statistik verewigt. Es fing ganz langsam an. Freier, die ausgemergelt aussahen und irgendwann nicht mehr kamen, Gerüchte, dass ›Gottes gerechte Strafe‹ die ›Homoseuche‹ auslöschte, die ersten von uns, denen es immer schlechter ging. Und dennoch fühlten wir uns unbesiegbar. Uns konnte es nichts anhaben, wir waren keine Schwuchteln, wir taten das doch nur, um zu überleben – außer natürlich denen, die es doch erwischte. So viel Bullshit, doch was hatten wir für eine andere Wahl, als uns das einzureden? Ob ich das Virus zu diesem Zeitpunkt schon in mir trug, weiß ich nicht. Gut möglich. Peter ist bis heute der Meinung, es wäre die Spritze gewesen, die ich mir irgendwann später mit einem unserer Wegbegleiter teilte, doch ganz ehrlich: Es könnte zu jedem Zeitpunkt gewesen sein. Als wären wir in einer Position gewesen, etwas von den Freiern zu verlangen, von dem wir noch nicht einmal wussten, dass es uns geschützt hätte. Vielmehr ist es ein absolutes Glückspiel gewesen, wer von uns sich ansteckte und wer daran draufgeht. Peter hatte den Hauptpreis gezogen, ich die Niete. So war es nun einmal, daran ließ sich nichts ändern. Jedenfalls waren eine Woche später nur noch Peter und ich übrig. Zwei Jungen, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatten und dennoch jeden Tag darum kämpften. Als Zed endlich seinen letzten Atemzug tat und Peter und ich zusammengekauert vor Erleichterung und Trauer weinten, gab ich ihm das Versprechen, das mich bis heute an ihn bindet. Ich werde bei ihm bleiben und auf ihn aufpassen, solange ich lebe. Mit Zeds Tod hatten wir alles verloren, was uns geblieben war: unsere Freunde, gar Familie, den Schutz den so ein Zusammenschluss bietet und den Tunnelabschnitt, den wir das letzte halbe Jahr unser Zuhause genannt hatten. Am nächsten Tag würden wir ihn verlassen, einen anonymen Hinweis geben, wo Zed zu finden war, und uns etwas anderes suchen. Es gab nur noch Peter und mich und die Traumwelt in die wir uns flüchten konnten, wenn wir genug Geld auftrieben. Kapitel 3: Toby – April 2001 I ------------------------------ Die Bässe wummerten und mit jedem neuen Takt warf sich der Körper in eine neue Pose. Noch nie hatte ich jemanden sich so präzise bewegen sehen. Wie ein Uhrwerk. Und doch so mühelos. Er bewegte sich nicht um sich zu zeigen, nicht um jemanden zu imponieren. Doch gerade das war es, was meinen Blick auf sich zog. Nicht, dass er das bemerkt hätte. Er war in seiner ganz eigenen Welt, in der es nur noch die Musik gab. Ein anderer Tänzer unterbrach das Schauspiel, als sie gegeneinanderstießen und der süße Kerl aus seiner Trance gerissen wurde. Sie tauschten nur ein paar wenige Worte, dann verließ er die Tanzfläche, verschwand hinter einer Traube aus Menschen aus meinem Blickfeld. Einen Teil meiner Aufmerksamkeit richtete ich auf Laura, die an unseren Tisch kam, um mit uns zu quatschen, bevor es richtig voll wurde, und unsere leeren Gläser mitzunehmen. Dennoch konnte ich nicht davon ablassen, nach dem kleinen Schwarzhaarigen zu suchen. »Hey, na, alles klar bei euch?« Laura war fantastisch. Wenn sie Schicht hatte, schaffte sie es immer, mit allen Stammkunden wenigsten kurzen Smalltalk zu halten. »Super. Und dir? Ist heute schon echt voll, oder?«, antwortete ich ihr. Meine beiden Begleiter würden wohl noch einen Moment brauchen, bis sie sich von einander lösten. »Ja, selbst für einen Samstag ist es echt voll. Aber ist ganz angenehm, dass mal wieder etwas mehr los ist.« »Ich glaube, das findet Toby auch.« Joanna zwinkerte mir grinsend zu. Berry, ihr Freund, lachte leicht. »Zumindest hat er wohl wen ins Auge gefasst.« Ich zog skeptisch eine Augenbraue hoch und erwiderte scherzhaft: »Ist ja nicht so, als könnte man gerade viel mit euch reden, so wie ihr euch an den Lippen hängt.« Laura lachte und stapelte die Gläser. »Ich seh schon, bei euch ist alles beim Alten.« Ich bekam mit, dass Berry ihr etwas antwortete, doch ich hatte den Kleinen entdeckt und widmete mich lieber ihm. Jetzt, wo er saß, könnte ich ihn anders betrachten. Er wirkte jünger, weniger selbstsicher, als zuvor auf der Tanzfläche. Diese hatte er für sich eingenommen, sie dominiert, ohne es zu bemerken. Nach einigen Worten mit Ramon, dem zweiten Barkeeper an diesem Abend, sah er sich im Raum um. Obwohl er etwas unsicher wirkte, lag noch immer ein Hauch dieser einnehmenden Art in seiner Ausstrahlung. Erneut trafen sich für einen kurzen Moment unsere Blicke. Ich hatte eindeutig seine Aufmerksamkeit, war aber noch nicht sicher, ob sie gewollt war. Schließlich stürzte er eilig sein Getränk herunter und stürmte wieder auf die Tanzfläche. Noch für einen Moment sah ich zu ihm, dann lenkte mich Joanna ab, indem sie sich neben mich setzte und versuchte, meinem Blick zu folgen. Lachend half ich ihr: »Der Kleine mit dem Mantel und den langen, schwarzen Haaren.« Wieder einmal stellte ich fest, wie schwer es war, eine konkrete Person in einem Gothicclub zu beschreiben. Das hätte schließlich auf fast die Hälfte der Männer hier zutreffen können. »Da, auf der Tanzfläche.« »Der mit dem Pferdeschwanz? Echt?«, fragte sie verwundert, nachdem sie ihn wohl entdeckt hatte, und nun suchte auch Berry nach besagter Person. »Klar, warum nicht?« »Weil ... keine Ahnung, ich hätte nicht gedacht, dass so jemand dein Typ ist. Er ist sehr androgyn.« »Was soll ich sagen? Selbstsichere Twinks sind ziemlich hot.« Berry schüttelte skeptisch den Kopf und sah wieder zu uns. »Ich dachte ja eher, dein Typ wären breite Schränke wie du.« »Beides. Die Abwechslung macht’s.« Natürlich hatte Berry recht, meistens suchte ich mir durchtrainierte Männer in meiner Größe, aber ab und zu zogen eben auch mal andere meine Blicke auf sich. Joanna stand auf und setzte sich wieder auf ihren Stuhl neben Berry. »Und warum bist du dann noch hier und nicht auf der Tanzfläche?« »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er das wollen würde. Außerdem bin ich doch mit euch hier.« Solange ich nicht sicher war, würde ich ihn nicht anmachen. Und da er bisher nicht mehr meinen Blick gesucht hatte, ging ich eher davon aus, dass er kein Interesse hatte. »Hey, das ist deine Gelegenheit, rauszufinden, was der Twink möchte«, meinte Berry nach einer Weile, in der wir uns einfach unterhalten hatten, und deutete in Richtung der Toiletten. Tatsächlich stand dort der Schwarzhaarige und sah sich mal wieder um. Es war offensichtlich, dass er neu im ›Angel’s‹ war. Er hatte bis auf mit Roman, so weit ich das mitbekommen hatte, mit niemandem geredet. Auch wenn es Cliquen gab, so kannten sich die Stamm- und Gelegenheitsgäste doch untereinander und wirklich niemand musste den Abend allein verbringen. Ich beschloss, dass das, unabhängig davon ob er Interesse an mir hatte, auch auf ihn zutreffen sollte, rutschte etwas auf der Bank zur Seite und winkte ihm zu. Eher langsam und vorsichtig kam er zu uns an den Tisch. »Hallo. Ist da noch frei?« Oh, wohl doch nicht so selbstsicher? Oder hatten meine Blicke ihn doch verschreckt? »Klar, sonst hätte ich dir wohl kaum zugewunken. Ist wie jeden Samstag sehr voll. Aber man kennt sich hier, da ist es nicht schlimm sich neben jemanden anders setzen zu müssen. Nur dich kenn ich noch nicht. Bist du das erste Mal hier oder nur ein Gelegenheitsbesucher?« Ein wenig Smalltalk würde ihn hoffentlich auftauen. Er legte seinen Mantel ab. »Nein, ich bin das erste Mal hier. Hab den Club heute erst gefunden.« »Frischfleisch also. Willkommen«, grüßte Joanna ihn. Auch Berry musterte ihn nun genauer. »Sag mal, bist du nicht etwas jung für den Club?« »Ach quatsch, du kennst doch Miroslav. Der würde doch niemals Minderjährige hier reinlassen. Dafür ist er viel zu gewissenhaft.« Joanna schüttelte über ihren Freund den Kopf. »Und ein Bändchen hat er auch. Bist wohl ziemlich jung geblieben?« Ich fand es nicht gerade produktiv, dass meine Freunde in so empfingen. So verscheuchten sie ihn eher. Auch wenn Berry nicht ganz unrecht hatte. So aus der Nähe sah er ... Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Erst jetzt bemerkte ich, dass sein Make-up um die Augen komplett verlaufen war. Vermutlich war er unterwegs in den Regen geraten. »Ist das eigentlich ein ganz neuer Look, den du da trägst?« Auch Berry und Joanna stiegen ins Lachen ein, als ich mir auf die Augen deutete, um ihm zu verdeutlichen, was ich meinte. Beschämt stammelte er etwas vom Regen und eilte dann mit einem schwarzen Make-up-Stift, den Joanna ihm aus ihrer Tasche reichte, zurück zur Toilette. Als ich ihm nachsah, tat er mir doch etwas Leid. Hoffentlich hatte er nicht das Gefühl, ich wollte mich über ihn lustig machen. Nun, ich würde schon einen Weg finden, mich zu entschuldigen. »Ich geh mal Getränke holen. Besondere Wünsche oder wie immer?« Kapitel 4: Toby – April 2001 II ------------------------------- Laura sammelte unsere Gläser ein und zwinkerte Isaac, wie sich der süße Typ mittlerweile vorgestellt hatte, zu. Leicht schüchtern lächelte er sie an. Tja, schade. Aber das erklärte, was seine Blicke zu unserem Tisch geführt hatte. »Laura ist echt niedlich, oder?«, fragte Joanna und schmunzelte ihn schelmisch an, sobald Laura gegangen war. Ertappt starrte er sie einen Moment an, nahm dann einen Schluck von seinem Getränk und nickte schüchtern. »Tja, Toby, da hast du wohl Pech gehabt«, stichelte Berry. Ich hob die Hände und zuckte mit den Schultern. »Man kann halt nicht immer Glück haben.« »Warum?« Die unschuldige Frage ließ mich und das Pärchen schmunzeln. »Weil Toby dich heiß findet und dich beim Tanzen die ganze Zeit mit Blicken ausgezogen hat.« »Jetzt übertreibst du aber!« So schlimm war ich nun auch nicht. Ich hatte seinen Körper bewundert, aber nicht auf diese Art. Isaac richtete seinen Blick auf mich, die Unterlippe halb zwischen seinen Zähnen. »... heiß«, flüsterte er. »Was? Ich hab dich über die Musik nicht verstanden.« Ich beugte mich etwas dichter zu ihm. »Ich find dich auch heiß.« Seine Stimme zitterte etwas, doch sie hatte einen trotzigen Nachdruck, als glaubte er mir nicht, dass ich ihn nicht verstanden hatte. Mir entlockte es ein Schmunzeln. Forschend sah ich ihn an und legte meine Hand leicht seitlich gegen seinen Oberschenkel. Gerade genug, damit er spüren sollte, dass sie da war. »Ist das so, ja? Warum bist du dann vorhin meinem Blick ausgewichen?« »Ich war nicht sicher, ob du vielleicht Ärger suchst.« Er schluckte schwer und senkte den Blick auf meinen Oberarm. Nach einem kurzen Moment näherte er langsam seine Hand und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen darüber. Schalkhaft setzte er hinzu: »Ich hätte mich nicht mit dir anlegen wollen.« Joanna lachte hell auf. »Glaub mir, Toby würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Er sieht zwar aus wie ein Pitbull, aber in Wirklichkeit ist er ein zahmes Kälbchen.« Ihr Ernst? Das klang nicht gerade sexy. Wenn sie mir helfen wollte, war das der falsche Ansatz. »Komm, wir gehen noch eine Runde holen«, forderte Berry seine Freundin auf und rette mich damit vor ihrer ›Hilfe‹. »Mutig, dass du dich trotzdem hergetraut hast.« Meine Hand wanderte seinen Oberschenkel hinauf. Gut, er zuckte nicht zurück. Seine Augen funkelten amüsiert, fanden jedoch nicht mehr ganz den Fokus. »Ich hatte keine Wahl. Es war nichts anderes mehr frei. Und mir taten die Beine weh.« »Soso.« Nicht sehr schmeichelhaft, aber gut, mit der Aussage musste ich wohl leben. Da er etwas unsicher, Nähe aber nicht abgeneigt schien, legte ich meinen Arm um ihn, rutschte etwas näher und streichelte seinen Oberschenkel mit der anderen Hand. Für einen Moment wirkte es zu viel für ihn, doch er griff nur nach seinem Getränk, das Berry gerade vor ihm abstellen wollte, und lehnte sich damit in der Hand zurück. Aufmerksam beobachtete ich, wie er mit dem Strohhalm spielte und ihn zwischen seine Lippen wandern ließ. Keine Ahnung, ob er das absichtlich tat, aber es machte mich an. Ich wollte ihm andere Dinge zwischen die Lippen schieben; und zwar bald. Sonst war solche Schüchternheit gar nicht mein Ding, aber gepaart mit dem Nachklingen der Selbstsicherheit, die er auf der Tanzfläche gezeigt hatte, drängte es mich danach, seine Haut zu berühren und zu erfahren, ob er sich auch im horizontalen Tanz so aufreizend bewegte. Doch dazu musste ich ihm näherkommen und das ging am besten ohne Joannas und Berrys Anwesenheit. Ich sah fragend zu ihnen, strich Isaac für sie sichtbar über die Schulter und nickte in Richtung der Tanzfläche. Sie wussten schon, was ich wissen wollte. Berry sah Isaac etwas skeptisch an, dafür antwortete Joanna mit einem anzüglichen Grinsen: »Viel Spaß!« »Hä? Was?« Irritiert sah Isaac von seinem Getränk auf. »Wir beide gehen jetzt tanzen«, erklärte ich ihm mit einem auffordernden Blick und stand auf. Es gab nichts Besseres, um jemandem näherzukommen. Die Berührungen waren unverfänglich und man konnte sehen, wie gut man harmonierte. Außerdem war er dabei so unglaublich sexy! Ich wollte mehr davon sehen. »Okay?« Eilig schlürfte er einen großen Schluck auf dem Glas. Ich hob nur skeptisch die Augenbraue, ließ es aber unkommentiert. Er wusste schon, was er tat. »Ich muss los«, keuchte ich und trat einen Schritt von ihm zurück, sicherte ihn aber noch mit einer Hand an der Schulter, damit er stehenblieb. Scheiße, er hatte natürlich nicht gewusst, was er tat und zu viel getrunken. Beim Tanzen war er mit jedem Song mehr aus dem Takt geraten und hatte sich an mich gedrängt, um das Gleichgewicht zu wahren. Dennoch hatte ich der Versuchung nicht widerstehen können, als er aufdringlicher wurde, und ihn in eine dunklere Ecke geführt. Doch je mehr er sich in meine Berührungen fallen ließ, desto deutlicher wurde, dass ich nicht weitergehen sollte – durfte. Er war zu betrunken, um das mit meinem Gewissen zu vereinbaren. Zu schade. »Oh. Okay?« Er suchte das Gleichgewicht und fand es. Zumindest solange er stillstand. »Ich muss morgen arbeiten«, erklärte ich. Es war die Wahrheit und kam mir als Ausrede gerade gelegen. Auch wenn es mich wirklich ärgerte. Er schwankte leicht und ich hielt ihn wieder fest. »Soll ich dir vielleicht auch ein Taxi rufen?« Er schüttelte den Kopf und sofort füllten sich seine Augen mit Tränen. Verwirrt und angewidert ließ ich ihn los. Hatte er es echt so nötig, dass er dafür sogar auf die Tränendrüse drückte? Er suchte an der Wand Halt. »Ich kann nicht nach Hause.« Ich kämpfte mit mir. Ich hatte keine Lust, so ausgenutzt zu werden, und es machte mich wütend. Andererseits fühlte ich mich verantwortlich. Er hatte gesagt, er hätte kein Geld mehr für Drinks, also hatten Joanna, Berry und ich ihn eingeladen. Ohne uns wäre er nicht so betrunken. Ohne uns könnte er noch besser einschätzen, mit wem er mitging. Und wenn ich ihn nicht mitnahm, wer dann? Ich konnte es nicht mit mir vereinbaren, ihn stehenzulassen. Um mich zu beruhigen, massierte ich meine Nasenwurzel. »Gut, dann komm mit.« Mit beiden Armen fing ich ihn auf, als er zu schnell den Kopf in meine Richtung drehte. Scheiße, hoffentlich kotzte er mir nicht die Wohnung voll! »Danke«, murmelte er und ließ sich von mir zu Joanna und Berry zurückführen, die mittlerweile mit anderen Stammgästen zusammensaßen. Ich gab ihnen Bescheid, dass wir gingen, und wünschte ihnen einen schönen Abend. »Viel Spaß«, rief mir einer der anderen Gäste mit einer anzüglichen Geste hinterher. Ich ignorierte ihn, weil mich der Gedanke gerade nur frustrierte. Schön wäre es gewesen, doch daraus wurde nichts. Zumindest nicht, solange Isaac sich nicht wenigstens etwas ausgenüchtert hatte. Alles andere würde sich dann zeigen. Im Taxi schrieb ich Roger eine kurze Nachricht, dass ich den Kleinen mitbrachte und ihm das am nächsten Morgen erklärte, wenn er wieder zu Hause war. So zahlte es sich aus, dass ich meinen Freund schon vorher vorgewarnt hatte, dass sich spontan etwas ergeben hatte. Er würde nicht aus allen Wolken fallen, wenn er am Morgen aufwachte und die Nachricht las. Kapitel 5: Eloy – November 2013 I --------------------------------- Ich hatte gerade die Nachricht an Mat geschrieben, dass ich spontan mit meinen Kollegen in die Sportsbar fuhr, da kamen sie bereits an meinem Auto an und stiegen ein. »Danke fürs Fahren«, bedankte sich Stevenson, der sich nach vorne gesetzt hatte. Ich zuckte nur mit den Schultern. Ich fuhr doch sowieso immer, wenn ich mitkam – was in den letzten Monaten deutlich seltener geworden war, weil ich mich um Mat kümmerte. Doch dieser war sicher froh, mal etwas Ruhe vor mir zu haben. »Hey, Meléndez! Ich wusste ja gar nicht, dass du einen Lederfetisch hast«, rief Chang mit anzüglicher Stimme von der Rückbank. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er etwas hochhielt, und drehte mich neugierig um. Ich konnte mir nicht vorstellen, was er meinte. In der Hand hielt er etwas Ledernes an dem viele kleine, bunte Anstecker hingen. Mats Weste! Wann hatte er die im Auto vergessen? Er trug schon seit dem Herbst wieder seine Jacke. Ich lachte gezwungen über Changs Witz und nahm sie ihm ab. »Die gehört meinem Freund.« Stevenson zog skeptisch eine Augenbraue hoch, während ich die Weste im Staufach unter dem mittleren Vordersitz unterbrachte. Ich durfte sie später nicht vergessen, Mat würde sich sicher freuen, wenn ich sie ihm hochbrachte. »Dir hätte ich ja am wenigsten zugetraut, Freunde in der Rockerszene zu haben«, kommentierte Murphy lachend von hinten. Wieder zuckte ich nur mit den Schultern und startete den Wagen. Was sollte ich sagen? Ohne Mat hätte ich die sicher auch nicht gehabt. Gut, Mat war der einzige Punk, mit dem ich ›befreundet‹ war. Mit seinem Bruder verstand ich mich gezwungenermaßen. »Heißt das, du hast neben uns noch andere Freunde? Wie kannst du uns das antun?« Theatralisch schniefte Chang. »Ganz einfach: Sie sind nicht so nervig wie ihr.« »Wie gemein!« Chang schlug von hinten gegen meinen Sitz. »Hey! Lass mein Auto heil!« Ich wollte mich zu ihm umdrehen, doch Stevenson machte mir mit einer Geste klar, dass ich die Augen auf der Straße behalten sollte. Recht hatte er. »Aber du hast hier Freunde. Das heißt, du hast dich endlich in unserer schönen Stadt eingelebt«, freute sich Murphy für mich. »Na ja, schön ... El Paso ist immer noch schöner.« »Als ob! Da gibt es doch nichts außer Sand und Steine. Warst du schonmal hier am Strand?« Wenig ernst diskutierte ich mit den Dreien die Vorzüge von El Paso und Boston, während ich zur Sportsbar fuhr. Ich hatte gerade den Wagen in der Nähe der Bar geparkt, als Stevenson sich nach hinten umdrehte und verkündete: »Geht schon mal vor, wir kommen gleich nach.« »Okay«, antwortete Chang und stieg aus. Murphy dagegen sah mich fragend an, doch als ich kurz nickte, folgte er. »Was ist?«, wandte ich mich direkt an Stevenson. Ich konnte mir nicht vorstellen, was er mit mir bereden wollte. »Vielleicht solltest du dir deine Freunde etwas sorgfältiger aussuchen. Ich denke nicht, dass es dem Chief gefallen wird, dass du Watkins als deinen Freund bezeichnest«, rückte er direkt mit der Sprache raus. Ich kniff die Augen zusammen und sah ihn eindringlich an. Hoffentlich merkte er nicht, dass es mich vollkommen aus der Bahn warf, dass er die Weste erkannt hatte. War sie so unverkennbar? »Ich wüsste nicht, was es den Chief angeht.« »Du kennst die Regeln: Verbindungen zu zwielichtigen Personen führen zum Dienstausschluss. Und ich habe nicht vor, dir den Rücken in der Sache zu decken.« »Zwielichte Person?« Verächtlich lachte ich. »Warst du nicht einer von denen, die mir immer wieder gesagt haben, dass er harmlos ist und ich ihn in Ruhe lassen soll?« »Dass wir ihm nichts nachweisen können, heißt nicht, dass er keinen Dreck am Stecken hat! Du solltest dich von diesem Typen fernhalten. Früher oder später wird er bei einer krummen Sache erwischt werden und wenn rauskommt, dass ihr Freunde seid, wird er dich mit in den Abgrund reißen«, drohte Stevenson mir ernst. »Danke für die Warnung, aber das ist nicht nötig. Ich kann dir versichern, dass er keine krummen Dinger dreht.« Ich war mir da ziemlich sicher, auch wenn vieles, was die Jungs anging, am Rande der Legalität lief. Mein Kollege hob eine Augenbraue und schnaubte. »Was bekommst du dafür, dass du ihn deckst? Zahlt er gut? Oder besorgt er dir Drogen?« Er stockte kurz, dann lachte er humorlos. »Nicht ernsthaft! Dieses kleine Flittchen hält dir den Arsch hin! Du fickst die Schlampe!« Noch bevor er ausgesprochen hatte, landete meine Faust in seinem Gesicht. Niemand nannte Mat ein Flittchen! Die Beifahrertür wurde aufgerissen und jemand packte Stevenson unter den Armen und zog ihn aus meinem Wagen. Bevor ich es richtig realisierte, geschah mit mir dasselbe. Kaum hatte ich Boden unter den Füßen, wurde ich hart gegen meinen Wagen gedrückt und meine Hände auf den Rücken gedreht. Von der anderen Seite starrte mir mein Kontrahent wütend entgegen. »Wer von euch beiden erklärt uns, was mit euch los ist?«, fragte Murphy und drückte mich noch einmal fester gegen meinen Wagen, als ich mich abdrücken wollte. »Na los. Wenn du dir so sicher bist, dann sag ihnen doch, warum du mich schlägst«, fauchte Stevenson mir entgegen und spuckte etwas Blut auf den Boden. Zumindest hoffte ich für ihn, dass er nicht meinen Wagen erwischte! Mein Körper spannte sich an und ich rang mit mir. Nicht nur um Beherrschung, sondern auch um Worte. Gab es für mich einen Weg, das zu meinen Gunsten zu drehen? Ich könnte ihnen einfach sagen, dass Stevenson mir gedroht hatte, ihnen von den Unterstellungen berichten. Dann musste ich ihnen auch erklären, wie er darauf kam. Das barg die Gefahr, dass sie Schlüsse zogen, die mir nicht recht waren. Als Stevenson siegessicher schnaubte und mich höhnisch angrinste, fiel meine Entscheidung. Mit ein wenig Anstrengung befreite ich mich aus Murphys Griff und richtete mich auf. Als er mich wieder packen wollte, hielt ich ihn mit einer Handbewegung auf. »Ich hab mich wieder unter Kontrolle.« Er musterte mich skeptisch, trat dann aber einen Schritt zurück, ließ mir wieder etwas Raum für mich. Chang sah unserem Kollegen kurz ins Gesicht, dann ließ er ihn los und machte ebenfalls etwas Platz. »Was ist nun vorgefallen?«, fragte Murphy erneut nach. Dabei klang er fordernd und ernst, aber auch freundlich. Stevenson öffnete bereits mit einem höhnischen Grinsen den Mund, doch ich kam ihm zuvor: »Stevenson hat meinen Verlobten als Flittchen und Schlampe bezeichnet.« »Was?! Wiederhol das nochmal!«, forderte Chang mit fassungslosem Ton. »Er hat meinen Verlobten ein Flittchen und Schlampe genannt«, wiederholte ich betont langsam und ruhig. Sie sollten nicht merken, dass ich zitterte und wie schwer es mir fiel, diese Worte auszusprechen. Ich hatte nie vorgehabt, ihnen von Mat zu erzählen. Aber im Moment war die Flucht nach vorn deutlich angebrachter. Dass Stevensons Kinnlade bei meiner Aussage augenblicklich nach unten geklappt war, bestätigte mich darin. Dennoch hätte ich am liebsten die Augen geschlossen und alle um mich herum ausgeblendet. »Warum?«, wandte sich Murphy an Stevenson und schien als einziger nicht im Geringsten von meiner Aussage beeindruckt. »Weil sein angeblicher ›Verlobter‹ genau das ist.« Mein Kollege schien sich von meiner Offensive wieder erholt zu haben. Das ›Verlobter‹ schnaubte er verächtlich. Ich drängte mich an Murphy vorbei, sodass ich halb ins Fahrzeuginnere krabbeln konnte. Aus einem Fach in der Armatur holte ich den Verlobungsring und knallte ihn aufs Autodach. Nur weil ich ihn nicht auf der Arbeit trug, um keine Fragen aufzuwerfen, hieß das nicht, dass ich keinen besaß. »Was willst du uns damit beweisen? Selbst wenn ihr wirklich verlobt seid, ändert das nichts daran, dass er eine widerliche Schlampe ist!« Ich wollte gerade wieder auf ihn losstürmen, doch Murphy hielt mich zurück. »Meléndez! Reiß dich zusammen!« Die Beherrschung hielt nur kurz an. Stevenson legte sofort nach. »Oder bist du jetzt sein Zuhälter? Oh, das würde passen.« »Halt endlich die Klappe!«, fuhr Chang ihn an und verpasste ihm einen Stoß gegen den Torso. Doch es hielt Stevenson nicht davon ab, weiter zu giften. »Ihr steckt wohl alle mit Watkins unter einer Decke.« Zwei Augenpaare wanderten augenblicklich in meine Richtung, während ich mir den Ring von der Karosserie schnappte und an den Ringfinger steckte. Murphy fand als erster seine Stimme wieder. »Du bist mit Watkins verlobt? Dem Watkins? Der Watkins, den du vor ein paar Monaten noch unbedingt hinter Gitter bringen wolltest?« »Ich hab mich eben in ihm getäuscht«, erklärte ich ruhiger, als es in meinem Inneren aussah. Diese vorwurfsvollen Blicke, die klarmachten, was sie von Mat hielten, ließen mich innerlich brodeln. »Dir ist wohl klar geworden, wie viel Kohle man damit machen kann«, wurde ich weiter von der anderen Seite des Wagens verhöhnt. »Du musst es ja wissen«, schlug ich in Ermangelung einer besseren Idee zurück. »Okay, Schluss jetzt, ihr beiden«, mahnte Murphy und sah jeden einmal ernst an. »Schafft ihr es, euch wieder zu benehmen?« »Nur, wenn Stevenson die Beleidigungen zurücknimmt und sich entschuldigt!« »Welche Beleidigungen? Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Watkins ist ein kleiner, widerlicher Stricher!« Diesmal waren weder Murphy noch Chang schnell genug, um mich aufzuhalten. Blitzschnell war ich um den Wagen herum und hatte Stevensons Kopf gegen die Kante des Daches gehauen. »So, es reicht«, beschloss Murphy und zog mich weg, Chang kümmerte sich erneut um Stevenson. »Ich hab keine Lust, dich in eine Zelle stecken zu müssen. Ihr könnt das morgen gerne in einem geregelten Zweikampf klären, aber erstmal gehst du dich abkühlen. Fahr nach Hause!« Ich befreite mich mit einem Ruck aus seinem Griff und richtete meine Kleidung. »Dann nimm den pajero¹ von meinem Wagen!« Chang kam der Aufforderung nach und half dem etwas benommenen Stevenson auf die Beine. Ohne weiter auf die drei zu achten, ging ich zurück zur Fahrerseite. Gerade als ich die Tür zuziehen wollte, stand Murphy im Weg. »Fahr vorsichtig und versuch, dich zu beruhigen. Was auch immer in Stevenson gefahren ist, wir bekommen ihn schon wieder zur Vernunft.« Wenig überzeugt nickte ich und schlug die Tür zu, sobald Platz war. Ich startete den Wagen und verließ den Ort des Geschehens so schnell wie möglich. Ein paar Straßen weiter fuhr ich an den Straßenrand und schlug auf das Lenkrad. »¡Chale!«² Ich war am Arsch! Das hätte nie passieren dürfen! Sie hätten niemals herausfinden dürfen, dass ich mit Mat verlobt war. ›Stevenson in einem fairen Zweikampf schlagen.‹ Dass ich nicht lachte! Er war doch mein geringstes Problem. Morgen wüsste das gesamte Revier, dass ich mit einem Mann verlobt war. Dass ich ausgerechnet mit Mat verlobt war. Erneut schlug ich auf das Lenkrad und ließ mich dann im Sitz nach hinten sinken. Mit den Händen fuhr ich über mein Gesicht. »¡Me lleva la chingada!«³ Ich würde nicht noch einmal eine Gelegenheit bekommen, die Stelle zu wechseln. Das war es mit meiner Karriere. Im Grunde konnte ich mich gleich mit ihr begraben lassen. Niemand wollte eine Schwuchtel als Kollegen. Ich wusste doch, wie das lief. Erst sorgten sie dafür, nicht gleichzeitig mit mir in der Umkleide zu sein, dann wollte keiner mehr mit mir Schicht schieben und schon gar nicht am selben Fall arbeiten. Jeder würde eine Ausrede finden, so wenig wie möglich mit mir arbeiten zu müssen, bis es dem Chief zu viel wurde. Wenn er nicht sowieso gleich die erste Gelegenheit nutzte, mich loszuwerden. Noch einmal ließ ich die Armaturen meine Wut spüren, dann schrieb ich Mat, dass ich doch schon kam, und startete den Motor erneut. Sobald ich zu Hause war, würde ich mich nach einem neuen Job umsehen. So viel Würde war ich mir selbst schuldig. Lieber ging ich, als gegangen zu werden. Kapitel 6: Eloy – November 2013 II ---------------------------------- »Was ist passiert?«, fragte Mat und zupfte leicht an den feinen Locken in meinem Nacken. Noch einen Moment streichelte ich über die wenigen Haare auf seiner Brust und drängte mich näher an seinen nackten Körper. Wie schaffte er es nur, mich so schnell zu beruhigen? Ich war noch nicht einmal eine halbe Stunde zu Hause und dennoch fühlte sich alles, was nach dem Feierabend passiert war, an, als wäre es Jahre her. »Nichts.« »Eloy!« Er zog leicht an meinen Haaren, sodass ich ihm ins Gesicht sah. »Du hast mich gerade so hart gefickt, dass ich dich vermutlich noch morgen Abend spüre! Jetzt behaupte nicht, dass nichts wäre.« Ich seufzte. Ach ja, das war es, was er mit mir tat: Er schaffte es immer, meine Wut umzulenken, sie in sexuelle Energie umzuwandeln. Ich konnte meine Wut an ihm auslassen bis sie verrauchte. Erneut streichelte ich ihn sanft. »Tut mir leid. Hab ich dir wehgetan?« Er schnaufte und grinste dann anzüglich. »Alles gut, ich kann einiges ab.« Ich richtete mich etwas auf und sah ihn streng an. »Du sollst es nicht abkön...« Noch immer mit einem Grinsen im Gesicht legte er mir den Finger auf die Lippen. »Es war geil! Okay? Du hast mir nicht mehr wehgetan, als gut ist. Falls du es immer noch nicht bemerkt hast: Ich steh drauf, wenn du mich hart rannimmst und mich beschimpfst.« Ich seufzte und ließ mich zurück auf seine Brust fallen. Egal was er sagte: Ich wollte nicht, dass er ständig so meine Wut aushalten musste. Ich hatte Angst, ihm irgendwann richtig wehzutun. Seine Finger spielten weiter mit meinen Haaren. »So und jetzt sagst du mir endlich, was vorgefallen ist.« »Ein Kollege hat dich als Schlampe und Flittchen bezeichnet.« Ich spürte, wie die Wut erneut in mir hochkochte. Außerdem hatte ich vor lauter Ärger seine Weste im Auto vergessen. »Tust du doch auch.« »Das ist aber etwas anderes! Ich meine es halt nicht so, wie er es gemeint hat.« »Schon gut. Ich würde auch wütend werden, wenn mich jemand anders so nennt. Wie kam es dazu?« Ich erzählte Mat, was vorgefallen war, wobei er auch immer wütender wurde, je weiter ich kam. Er hörte irgendwann auf, mich zu streicheln, und richtete sich auf. Ich setzte mich daneben und konnte spüren, dass ich dennoch ruhiger war als zuvor. Es war immer wieder erstaunlich, welche Wirkung er auf mich hatte. Wovon ich ihm jedoch nichts erzählte, waren meine Befürchtungen im Hinblick auf meinen Job. Ich wollte ihn damit nicht belasten. Er hatte doch genug um die Ohren, nächste Woche stand die nächste Chemoeinheit an. »Das heißt, deine Kollegen wissen jetzt, dass wir verlobt sind?«, fragte Mat, als ich fertig war. Er schien darüber deutlich verunsichert. »Ja. Ich musste mich doch irgendwie erklären und bevor ich mich in die Defensive drängen lasse, geh ich lieber in die Vollen und stelle das gleich klar.« »Das war kein Vorwurf. Es ist nur noch immer irgendwie seltsam.« Er strich mit seiner Rechten über meine und lächelte. »Ja, ich versteh, was du meinst.« Mein Blick fiel auf die beiden Ringe und ich verschränkte meine Finger mit seinen. Es war noch immer komisch, anderen Menschen zu sagen, dass ich mit einem Mann liiert war, aber ich konnte mir nichts Besseres vorstellen, als ihn an meiner Seite zu haben. Mit einem Finger strich er über meine Wange. »Hilfst du mir beim Essenmachen oder willst du hier weiter rumheulen?« Mit einem leisen Grollen schob ich ihn von mir und wischte mir schnell über die Wange. »Was wollen wir machen?« Hämisch grinste er, stand dann aber auf und suchte seine Klamotten zusammen. »Eigentlich wollte ich für mich gleich einen Nudelauflauf machen, du hättest ja eh mit deinen Kollegen gegessen. Aber ich weiß nicht, ob das für uns beide reicht. Wir müssen vielleicht noch eben einkaufen gehen.« »Ich geh eben runter, vielleicht find ich dort noch was.« Sollten wir wirklich einkaufen gehen, musste ich sowieso auch meinen Kühlschrank wieder füllen. Da wir meistens recht spontan entschieden, wo wir uns trafen, verlor ich gern den Überblick, was wir wo verstauten. »Hey! Aufstehen!« Ich zog mir die Decke über die Ohren, damit Mat mir nicht erneut dagegen schnipsen konnte. »Sag mal, geht’s noch? Du musst raus!« »Leck mich!«, murrte ich. Hatte doch eh keinen Sinn. Über Nacht waren die schlechten Gedanken wiedergekommen, die ich am Abend hatte vertreiben können. Wenn ich zur Arbeit fuhr, erwarteten mich dort lediglich Spott und Hohn. Vielleicht lag ja die Kündigung schon auf meinem Schreibtisch? Dann wäre es wenigstens ein schnelles Ende. »Vergiss es!« Ich spürte, wie er sich hinter mir bewegte, dann wurde der Wecker abgestellt. »Ich geh jetzt Frühstück machen. Wenn du nicht aus dem Bett bist, bis ich fertig bin, dann prügel ich dich raus.« Meine Antwort bestand nur aus einem Schnauben. Als könnte er das je schaffen. Selbst wenn er gesund gewesen wäre, wäre ich noch immer deutlich stärker als er. Ich hörte, wie er seine Sachen zusammensammelte, dann verschwand er gemeinsam mit Chico aus dem Schlafzimmer. Wie immer hoffte der Hund, etwas abzubekommen. Vermutlich war diese Hoffnung nicht einmal unberechtigt. Mat verwöhnte ihn viel zu sehr. Die Geräusche aus der Küche drangen bis zu mir. Offenbar gab sich der Wichser alle Mühe, so laut wie möglich zu werkeln. Das Schlimme daran war jedoch: Es half. Irgendwann war ich von dem Gerumpel und seinem durchgehenden Gemecker, das sehr offensichtlich gegen mich ging, so genervt, dass ich aufstand. Da er gerade etwas auf den Tisch im Wohnzimmer stellte, entdeckte er mich sofort. »Ah, schön, du hast dich ja doch anders entschieden. Dann geh dich duschen und rasieren, ich mach das hier fertig.« »Bist du jetzt meine Mutter?«, brummte ich. »Nein, aber im Gegensatz zu dir versuche ich nicht, mich im Bett vor der Welt zu verstecken. Und so weit ich weiß, hast du gleich einen Gerichtstermin, ich gehe davon aus, du möchtest ordentlich dort erscheinen.« Ich murrte nur irgendwas Unzusammenhängendes in der Hoffnung, er würde es als Beleidigung verstehen, und verzog mich ins Bad. Es wäre schöner gewesen, hätte ich ihm widersprechen können, doch das war mir leider nicht vergönnt. Ich musste tatsächlich zum Gericht und dort eine Aussage für einen Fall machen. Nachdem ich wieder aus der Dusche kam, setzte ich mich zu ihm an den Wohnzimmertisch. Wie schon erwartet, hatte er einiges aufgefahren. Versuchte er etwa, meine Laune durch Essen zu verbessern? Mit seinen Worten gab er sich jedenfalls keine Mühe. »Schaffst du es dann nach dem Essen auch allein, dich anzuziehen, oder muss ich dir dabei helfen?« Ich warf ihm einen bösen Blick zu und stocherte dann in meinem Rührei herum. Er konnte mich heute Morgen echt mal kreuzweise! »Wenn du nicht möchtest, dass ich dich wie ein Kleinkind behandel, dann benimm dich auch nicht so!« Er zog den Teller unter meiner Gabel weg und stellte ihn erst wieder zurück, als ich erneut aufsah. »Du hast dich gestern mit deinen Kollegen gestritten, okay, das ist scheiße und du bist eindeutig zu weit gegangen, aber jetzt bock nicht rum, sondern steh dazu wie ein Mann!« Wütend schob ich den Teller von mir. Nun wollte ich es auch nicht mehr! »Du hast doch gar keine Ahnung! Es geht nicht einfach nur um einen Streit unter Kollegen. Aber wem erzähl ich das denn?! Einem Punk, der ein Lotterleben als Musiker führt!« Er erhob sich und schob das Ei, das bei meiner Aktion vom Teller gefallen war, wieder darauf. Dann sah er mir fest in die Augen. »Du gehst jetzt runter in deine Wohnung und wag es nicht, wieder hochzukommen, bevor du dich nicht wieder wie ein normaler Mensch benehmen kannst.« »Ach fick dich doch!« Ich stand auf und ging in Richtung Flur. Es war mir vollkommen egal, dass ich nur eine Unterhose trug. Das eine Stockwerk würde ich schon überwinden, ohne von jemandem gesehen zu werden. Tatsächlich schaffte ich es unbehelligt in meine Wohnung, wo ich mich anzog und dann auf den Weg zur Arbeit machte. Doch selbst als ich bereits im Auto saß, meckerte und fluchte ich noch immer über ihn. Kapitel 7: Eloy – November 2013 III ----------------------------------- »Ey, Meléndez! Du sollst sofort zum Captain. Er hat schon vor einer halben Stunde nach dir gefragt«, wurde ich von einem Kollegen informiert, sobald ich nach dem Gerichtstermin die Wache betrat. Ich bedankte mich und machte mich auf den Weg zum Büro des Captains. Na toll, war der Wichser auch noch gleich zum Captain gerannt! Ernsthaft, konnten wir das nicht einmal mehr unter Männern klären? Na immerhin, dann war es wenigstens gleich vorbei und ich musste nicht ewig bangen, wann es denn das ganze Team wusste. An der Bürotür klopfte ich und trat nach der Aufforderung ein. »Captain? Sie wollten mich sprechen?« »Ah, natürlich! Meléndez, kommen Sie doch rein. Wie ist die Verhandlung gelaufen? Ist Pittman endlich hinter Schloss und Riegel?« Zu meiner Verwunderung sah mein Chef nicht sonderlich wütend aus. Das brachte mich ein wenig aus dem Konzept. Ich hatte mich innerlich schon darauf vorbereitet, mich verteidigen zu müssen. »Die Geschworenen beraten sich noch.« Er gab einen unzufriedenen Laut von sich. Offenbar wollte er den Typen genauso dringend sitzen sehen wie ich. Nach einem Moment griff er jedoch nach einigen Akten, die auf dem Schreibtisch lagen, und blätterte darin herum. Dann schien er gefunden zu haben, was er suchte. »Stimmt es, dass sie in El Paso zehn Jahre bei der Drogenfahndung waren?« Ich brummte zustimmend und nickte. »Warum sind Sie von dort weg? Sie hätten eine ordentliche Pension erhalten.« Während ich noch überlegte, was ich darauf antworten sollte, schob er nach: »Verstehen Sie mich nicht falsch, Sie leisten hier gute Arbeit, aber dieser Wechsel war doch sicher für Sie mit starken finanziellen Einbußen verbunden. Was hat Sie zu einem solch drastischen Schritt veranlasst?« Ich haderte mehrere Minuten mit mir. Wie sollte ich ihm das erklären? Es gab so viel, was ich meinen Kollegen ganz sicher nicht erzählen würde. Aber mehr als klarzumachen, dass es private Gründe hatte, würde er sicher verlangen. Immerhin hatte ich genau das auch schon in unserem Vorgespräch am Telefon verdeutlicht, bevor ich nach Boston kam. »Schon gut, tut mir leid. Sie hatten ja schon einmal angedeutet, dass Sie private Gründe hatten. Ich denke, mehr geht mich auch gar nichts an. Ich hätte Sie nicht erneut fragen dürfen.« Er räusperte sich. »Darum geht es auch gar nicht. Eigentlich wollte ich ihnen nur mitteilen, dass Sie einen sehr guten Job machen und ich das gerne anerkennen würde. Zum Ersten nächsten Monats wird eine Stelle als Sergeant frei. Ich habe Sie für die Beförderung vorgeschlagen.« Mir blieb die Spucke weg. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es um eine Beförderung ging. Das kam wirklich überraschend. Einen Moment brauchte ich, bevor ich sprechen konnte, ohne zu stottern. »Danke. Das kommt jetzt etwas unerwartet.« »Wenn Sie etwas Zeit brauchen, um sich das zu überlegen, dann nehmen Sie sie sich. Es hängt immerhin eine Menge Verantwortung daran.« »Ja, ich denke, die sollte ich mir nehmen.« Ich war immerhin nicht sicher, ob ich sie noch immer erhalten würde, wenn herauskam, dass ich einen Mann heiratete. »Dann machen Sie sich mal auf zum Dienst. Ich erwarte Ihre Antwort morgen vor Dienstantritt.« Ich versicherte ihm, es mitzuteilen, und verschwand aus dem Büro. Das musste ich erst einmal verdauen. Ich hatte gehofft, zu meinem Dienstwagen zu kommen, ohne einem Kollegen zu begegnen, doch direkt vor der Tür des Captains stand Murphy. Ich tat, als hätte ich ihn nicht gesehen, und ging an ihm vorbei. »Meléndez! Warte mal.« Ich blieb stehen, bis er zu mir aufgeholt hatte, dann stampfte ich sofort weiter. Er hastete hinterher und hielt mit mir Schritt. Als wir auf dem Parkplatz angekommen waren und ich sicher war, dass niemand mehr zuhörte, blieb ich stehen und drehte mich zu ihm um. »Was gibt’s?« Breit grinste er mich an. »Und, nimmst du sie an?« »Was?« »Ob du die Beförderung annimmst.« Er stellte sich so, dass ich die Tür des Wagens nicht öffnen und dadurch flüchten konnte. Genauso verwundert wie zuvor den Captain sah ich nun meinen Kollegen an. Woher wusste er davon? Genau das formulierte ich auch nach einem Moment. »Stevenson hat es gestern zufällig mitbekommen, dass du vorgeschlagen wurdest.« Er machte eine kleine Pause. »Darum war er gestern auch so gereizt.« Ich seufzte. Gut, er fühlte sich übergangen, das konnte ich verstehen. Das entschuldigte ihn jedoch in keiner Weise. »Aha. Und das ist ein Grund, mich anzugreifen?« »Um genau zu sein, hast du ihn angegriffen«, verbesserte Murphy mich. Erneut wartete er einen Moment. Offenbar erwartete er eine Entschuldigung von mir. Die würde er jedoch nicht hören. Es gab keinen Grund. Stevenson hatte mich bewusst provoziert. Murphy schüttelte genervt den Kopf. »Wie auch immer. Du musst selbst zugeben, dass es ’ne scheiß Aktion von dir war. Rede doch nach Dienstschluss noch einmal mit ihm.« »Schon gut.« Ich winkte ab. »Die paar Schläge haben ihm sicher nicht geschadet. Und von mir aus kann er die Beförderung haben.« »Du willst sie nicht?« Er drehte leicht den Kopf, sah mich aber weiterhin direkt an. Ich zuckte mit den Schultern. »Ich denke nicht, dass ich noch lange hier bin. Das wäre Verschwendung.« »Wo willst du denn hin?« »Willst du mich verarschen? Wenn ihr jemandem hiervon«, ich hielt die rechte Hand nach oben. Da es eh egal war, hatte ich den Ring diesmal an meinem Finger gelassen, »erzählt, kann ich einpacken.« Mein Kollege sah mich zweifelnd an. »Warum? So weit ich weiß, liegt nichts gegen ihn vor, dich kann also niemand deshalb kündigen.« Ich schnaufte. Als wäre das mein Problem. »Wäre das meine Sorge, hätte ich den Antrag nicht angenommen.« »Warum sollte es dich sonst daran hindern, weiterhin mit uns zu arbeiten?« Er musterte eine ganze Weile mein Gesicht. Dann wanderten seine Augenbrauen plötzlich nach oben. »Du hast Angst, dass dir jemand blöd kommt, weil du einen Mann heiratest?!« »Ja! Natürlich!« Er lachte. »Das mag ja bei euch da unten in der Wüste stimmen, aber hey, du bist hier in Boston! Klar gibt es auch bei uns ein paar Gestrige, aber du musst dir deshalb wirklich keine Gedanken machen. Du kennst doch Officer Parkin, oder?« Ich musste wirklich überlegen, wer das war. Dann hatte ich das Gesicht des attraktiven, jüngeren Kollegen vor mir. Wenig enthusiastisch nickte ich. »Hast du jemals gehört, dass jemand irgendwie schlecht über ihn redet, weil er schwul ist?« Verwundert schüttelte ich den Kopf. Ich hatte nicht einmal davon gewusst. »Siehst du. Und er geht sogar ziemlich offen damit um, ständig in irgendwelchen Bars rumzuhängen. Ich bezweifel, dass sich groß jemand darum kümmert, wen du heiratest.« Wenig überzeugt brummte ich. »Danke. Kann ich dann losfahren?« »Einen Moment noch.« Murphy grinste nun wieder. »Du redest nach dem Dienst noch mit Stevenson?« »Ja, wenn’s denn sein muss«, winkte ich ab. »Gut. Und kommst du auch am Samstag mit deinem Verlobten bei mir zum Abendessen? Meine Frau möchte unbedingt ein anderes Ehepaar haben, mit dem wir etwas unternehmen können.« Verwirrt sah ich ihn an. Was sollte das für eine Einladung sein? »Ich weiß nicht. Ich glaub nicht, dass das klappt.« »Frag einfach mal deinen Schatz.« Murphy grinste noch einmal, dann drehte er sich um. »Dann lass ich dich mal arbeiten und mach mich auch auf den Weg. Bis nachher!« Wenig begeistert verabschiedete ich mich und stieg dann in den Wagen. Ich war mir schon sehr sicher, dass Mat darauf keine Lust hatte. Selbst wenn: So nett Murphy auch war, ich wollte ganz sicher nicht mit ihm auf dicke Freunde machen. Ich sah noch einmal kurz in den Spiegel und strich mir die Haare ein letztes Mal glatt, bevor ich erst das Bad, dann meine Wohnung verließ. Es war schon spät, aber ich war sicher, dass Mat noch wach war. Ich wollte nicht, dass unser Streit am Morgen eine ganz Nacht zwischen uns stand. Selbst wenn wir uns nicht vollständig aussprachen, wollte ich wenigstens für einen kurzen Moment mit ihm reden. Als ich oben angekommen war, klopfte ich an und wartete, bis mir geöffnet wurde. Es war lange her, dass ich nicht einfach in seine Wohnung gegangen war, aber im Moment wollte ich ihm die Möglichkeit lassen, mich nicht einzulassen, wenn er mich nicht sehen wollte. Schließlich hatte ich mich am Morgen wirklich daneben benommen. Es dauerte eine Weile, bis auf mein Klopfen und Chicos Lautmeldung reagiert wurde, dann öffnete Mat die Tür. Einen Augenblick sah er mich einfach nur an, das Fragezeichen stand groß und fett auf seiner Stirn. »Hi, komm rein.« »Danke.« Ich ging an ihm vorbei, als er einen Schritt zur Seite trat. »Seit wann klopfst du an?« Die Skepsis war kein bisschen aus seiner Miene gewichen. »Ich war nicht sicher, ob du mich sehen willst.« »Ich hab doch gesagt, du kannst ... Äh ... danke?« Ich hatte Mat bisher nie vollkommen aus der Fassung erlebt. Wenn ich gewusst hätte, dass es dafür nur einen Strauß Blumen benötigte, hätte ich das schon viel früher getan. Aber sicher nicht in einer Situation, in der mich seine Verunsicherung sofort ansteckte. Ich zog die Hand mit dem Grünzeug wieder zurück. »Tut mir leid, du hast recht, das war blöd. Es ist nur ... Ich wollte mich für heute Morgen entschuldigen.« Mat angelte nach meiner Hand, holte sie wieder hinter meinem Rücken hervor und nahm mir den Strauß ab. Er sah so dicht an meinem Gesicht vorbei, dass es kaum zu merken war. »Nein, das war nicht blöd. Ich hatte nur nicht damit gerechnet. Wirklich: Danke.« Auch wenn er versuchte, mir etwas Sicherheit zu geben, sah ich dennoch ein, dass es dumm war. Mat war keine Frau und auch nicht der Typ, der sich über Blumen freute. Darüber hatte ich nicht nachgedacht, sondern einfach welche geholt, so wie früher bei Maria, wenn ich mich entschuldigen musste oder ein schlechtes Gewissen hatte. Ich folgte Mat in die Küche, wo er ein großes Glas mit Wasser füllte und die Blumen hineinstellte. Natürlich besaß er nicht einmal eine Vase. Ich war so ein Idiot! Er blieb an der Spüle stehen, gut einen Meter von mir entfernt, und sah mir direkt ins Gesicht. »Was war denn heute Morgen los?« Ich zuckte leicht mit den Schultern, seufzte und erzählte ich dann ruhig, welche Befürchtungen mich am Morgen geplagt hatten. »Und nun? Wie ist es heute gelaufen? Gab es Sprüche?« Mat hatte mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen, doch nun nahm er sich selbst ein Glas und füllte es am Wasserhahn auf. Mit einer Geste in meine Richtung bot er mir ebenfalls eines an und ich nahm dankend an. »Nein, sie haben es wohl niemandem erzählt. Der Kollege war sauer, weil ich für eine Beförderung vorgeschlagen wurde, die seiner Meinung nach ihm zusteht, hat sich aber mittlerweile wieder etwas beruhigt und sich entschuldigt. Ich soll dir auch ausrichten, dass es nicht persönlich gemeint war.« »War es nicht?« Zweifelnd legte Mat den Kopf schief. »Doch, sicher. Wundert dich das?« Er schnaufte und schüttelte den Kopf, grinste dabei aber leicht. Es schien ihm nichts auszumachen. Dann wurde er wieder ernst. »Dein Kollege hat sich also einfach so damit abgefunden, dass du die Beförderung bekommst?« »Nein, sicher nicht. Er will sich beschweren, weil ich nicht lange genug dort bin, und besteht darauf, dass wir uns morgen im Dojo treffen.« »Hat er mit irgendwas davon eine Chance?« »Mit der Beschwerde vielleicht. Im Zweikampf niemals.« Siegessicher grinste ich Mat an. »Dann hoffe ich, dass die Wände dort stabiler sind als in meiner Wohnung.« Mat steckte mich mit seinem Lachen an. Als er an mir vorbeilief, packte ich ihn und zog ihn an mich. »Bist du mir noch böse?« Eher widerwillig lehnte er den Kopf an mich, daher ließ ich ihn direkt wieder los. »Nein, ist schon gut. Ich hab da heute Morgen nicht drüber nachgedacht, aber du hast schon recht, das wäre nicht mal unwahrscheinlich gewesen. Ich hoffe wirklich, dass niemand dir wegen unserer Beziehung Ärger macht. Und jetzt komm! Ich will noch eine Weile raus.« Kapitel 8: Mat – Dezember 2013 ------------------------------ Nein. Nein, kein Problem. Ich dachte nur, dass wir bis nach dem Essen noch beim Smalltalk bleiben müssten. Ist mir so aber auch lieber. Wenn du dabei schon nicht mit der Wahrheit klarkommst, seh ich keinen Sinn darin, dieses Treffen weiter auszudehnen. Ich bin nur nicht sicher, wie sehr du involviert wurdest und wüsste auch nicht, wo ich sonst anfangen soll, also starte ich wirklich ganz am Anfang. Ich möchte nicht, dass du mich unterbrichst. Du kannst danach fragen stellen, von mir aus deine Sicht der Ereignisse erklären, aber ich habe damit abgeschlossen. Ich will kein Mitleid, keine Entschuldigungen, keine Rechtfertigungen. Nichts davon ist notwendig oder ändert irgendetwas. Sind wir uns da einig? Gut! Hast du die Fletchers je kennengelernt? Erstaunlicherweise erinnere ich mich noch ziemlich gut an sie. Ein alter Airforce-Veteran und seine Frau. Ich vermute, dass es so ein ›die Army kümmert sich um ihre Kinder‹-Mist war, dass ich ausgerechnet dort gelandet bin. Sie haben sich wirklich bemüht, aber waren viel zu alt, um sich um ein kleines Kind zu kümmern. Sie wussten absolut nichts mit mir anzufangen. Außerhalb der Essenszeiten musste ich mich meist allein beschäftigen. Nur gelegentlich hat sich der Alte nach dem Abendessen hingesetzt und Kriegsgeschichten erzählt. Ansonsten musste ich danach immer direkt in mein kleines Zimmer auf dem Dachboden, das keinerlei elektrisches Licht hatte; lediglich ein kleines Dachlukenfenster. Im Sommer konnte ich mich mit den Büchern beschäftigen, die ich zuhauf hatte, und hab letztendlich auch selbst lesen gelernt. Aber besonders im Winter habe ich Granny vermisst, die mir jeden Abend erst eine kurze Geschichte erzählt und mir dann etwas vorgesungen hat. Sie saß immer so lange an meinem Bett, bis ich eingeschlafen war ... Gerade dann bin ich auch öfter mit Mr. Fletcher aneinandergeraten, weil er eine ganz andere Vorstellung von Disziplin hatte als sie. Wenn Granny mir etwas verboten hatte oder ich mich falsch verhielt, dann hatte sie es mir immer erklärt. Mr. Fletchers dagegen verlangte unbedingten Gehorsam, aber ich habe nicht wirklich verstanden, warum ich irgendetwas ohne eine Begründung tun sollte und für Androhungen von Strafen war ich zu stur; die Strafen selbst machten für mich genauso wenig Sinn wie die ursprünglichen Aufforderungen. Anfangs habe ich noch immer wieder nach Erklärungen gefragt, doch mittlerweile weiß ich, dass er es nur als Provokation aufgefasst hat. Provokation von einem Kleinkind ... Mrs. Fletcher war auch nicht sonderlich hilfreich. Die einzige Erklärung, die sie hatte, war, dass ich einfach nur gehorchen musste. Und sonst gab es keine Personen, die mir das hätten erklären können. Die einzigen anderen Menschen, mit denen ich bis zur Vorschule dort Kontakt hatte, waren ihre beiden Teenagersöhne, die jedoch auf irgendeine Akademie gingen und lediglich zu den Ferien da waren. Und die hätten einen Scheiß getan, mir irgendwas zu erklären. Ich weiß noch, wie ich mich beim ersten Mal gefreut habe, als es hieß, sie würden kommen. Endlich jemand zum Spielen! Mrs. Fletcher hat immer so stolz von ihnen erzählt, was für wunderbare Jungen das doch seien. In ihren Augen war das sicher auch richtig; für mich waren Ferien der Albtraum. Vielleicht ist es ganz gut, dass ich mich nicht mehr an alle Gemeinheiten erinnere, aber es war ein tägliches Versteckspiel, damit sie mich nicht fanden. Besonders ist mir dabei in Erinnerung geblieben, dass sie mich jedes Mal, wenn sie mich ärgerten, ›Jennifer‹ nannten. Anfänglich hat mich das irritiert, weil ich nicht verstanden habe, was sie daran so lustig fanden. Es war nun mal mein Zweitname. Bis ihr Vater einmal mitbekam, dass sie mich so nannten. Sie konnten danach tagelang nicht sitzen. Ich wusste danach zwar immer noch nicht warum, aber ich verstand: Etwas an diesem Namen war nicht okay. Kurz nach Beginn der Vorschule musste ich dann ins Wohnheim. Warum weiß ich gar nicht mehr so genau. Weil du ausgedient hattest? Und wieder war es dieser Name, der für Spot sorgte; bei den Betreuenden und Kindern. Aber es sollte ja nur eine Übergangslösung sein. Ich musste mich nur gedulden und das noch ein wenig aushalten – dachte ich zumindest. Es war das, was sie – du! – mir versprochen hattest: Nur so lange, bis alles geklärt war und ich wieder nach Hause konnte. Aber es zog sich und war das genaue Gegenteil zu vorher. Ich hatte kaum eine Minute für mich; lediglich an den Besuchswochenenden zu Hause und da wollte ich sie doch gar nicht. Immerhin freute ich mich doch, dich endlich mal wieder zu sehen. Letztendlich war der ständige Trubel wohl auch der Grund für die vielen Probleme im Heim und in der Schule. Ich wurde mit jedem Tag wütender, weil kein Ende in Sicht war, hatte kein Interesse, mich an deren Regeln zu halten oder mich ›in die Gemeinschaft einzufügen‹. Ich wollte nach Hause, verdammt nochmal! Aber statt das irgendwas passiert ist, war ich für alle nur das Kind, das nichts kapierte, in der Schule nicht mitkam und auch sonst einfach komisch war. Irgendjemand war dann wohl der Meinung, in einer Familie wäre ich besser aufgehoben. Ich meine, ich will das nicht ausschließen, aber es gab nur eine Familie, zu der ich wollte. Zumal sie die wohl schlimmste gewählt haben, die möglich war. Es war das pure Chaos. Gefühlt waren es sogar noch mehr Kinder als im Wohnheim, wobei ich nicht einmal sagen kann, wie viele deren eigene, welche adoptiert und welche nur zur Pflege dort waren. Immerhin hatte ich dort ausnahmsweise mal keine Probleme mit den Regeln; es gab schlichtweg keine. Niemand hat es gekümmert, was wir taten, ob wir uns stritten oder etwas kaputt machten. Gelegentlich wurde mal rumgemeckert, aber mehr Interesse an uns bestand auch nicht. Ich kann nicht mal sagen, wie viel die »Eltern« überhaupt mitbekommen haben. Hast du die jemals kennengelernt? Haben wir uns in der Zeit überhaupt gesehen? Ich kann mich nicht wirklich erinnern. Jedenfalls waren die eigentlich immer dicht; Schmerzmittel, Hasch, LSD, ich weiß nicht was noch. Ehrlich, es wundert mich, dass keines der Kinder daran draufgegangen ist. Es wäre für uns ein leichtes gewesen, da ranzukommen, einige der älteren Kinder haben sich auch durchaus heimlich etwas abgezwackt. Wie man das Zeug verwendet, haben wir ja jeden Tag gesehen. Als ich eines der Mädchen die Treppe der Veranda runterstieß, weil sie mich einfach nicht in Ruhe lassen wollte, und sie sich den Arm brach, wurde doch mal von den Ämtern reagiert. Ich weiß, dass die Familie überprüft wurde, hab aber keine Ahnung, was aus den anderen Kindern geworden ist. Ich jedenfalls durfte endlich gehen; wenn auch nur wieder in eine neue Familie: zu den Michaelis. Ich bin nicht sicher, wie lange ich bei ihnen war. Ein paar Jahre, ja, aber wie viele es genau waren, kann ich gar nicht mehr sagen. Aber ich mochte sie und ihre Kinder echt gern. Klar, meine Probleme haben sich nicht plötzlich in Luft aufgelöst, Schule fiel mir noch immer in allen Punkten schwer und die Eingewöhnung war für uns alle nicht einfach, aber sie haben dennoch einen Zugang zu mir gefunden und mir den Freiraum gegeben, den ich brauchte. Außerdem haben sie immer auf die Besuchstermine geachtet und mir jeden deiner Briefe weitergeleitet. So weit ich weiß, haben sie alles getan, damit ich vielleicht doch wieder nach Hause könnte. Daher war es auch ... als sie mir sagten, dass es vorerst keine Wochenendbesuche mehr geben würde, ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Ich hab es absolut nicht verstanden und sie wollten mir auch keinen Grund nennen. Sie wollten wohl nicht, dass ich erfahre, was passiert ist. Irgendwann beschloss ich, einfach nicht mehr an zu Hause zu denken. Warum auch? Es änderte ja nichts. Du hast ja nicht einmal mehr geschrieben! Es wurde zu einem Tabuthema, ich wollte nichts davon wissen, solange sie mir nicht sagten, dass ich wieder zu Besuch durfte. Als dann plötzlich diese andere Familie vor der Tür stand und mir eröffnete, dass ich in ein paar Wochen zu ihnen ziehen sollte, weil sie mich adoptieren wollten, fiel ich aus allen Wolken. Ich war so wütend, fühlte mich verraten; von dir, von den Michaelis. Was war aus dem Versprechen geworden, dass ich irgendwann wieder nach Hause durfte? Mein Zuhause war bei dir, nicht bei einer wildfremden Familie, die nicht mehr von mir kannte als eine verfickte Akte! Ich hab mich an diesem Abend so daneben benommen ... Nicht nur gegenüber der anderen Familie, sondern auch den Michaelis gegenüber. Wir hatten tagelang Streit deswegen. Mich wundert, dass sie mich nicht einfach rausgeschmissen haben, sondern wirklich versucht haben, mir das verständlich zu machen. Aber ich wollte nichts davon hören. Mein Leben lang hab ich dafür gekämpft, wieder nach Hause zu dürfen, und dann sollte das alles umsonst gewesen sein? Ich weiß nicht, vielleicht wäre es alles anders gelaufen, wenn die Michaelis mich einfach adoptiert hätten. Nach der dritten Familie, die es sich anders überlegt hat, haben sie tatsächlich darüber nachgedacht und ich war ein wenig versöhnt. Aber aus irgendeinem Grund durften sie nicht. Und ab da ging es eigentlich nur immer weiter bergab ... Nachdem ich noch ein paar Interessenten vergrault hatte, musste ich bei den Michaelis ausziehen. Die dachten wirklich, sie würden mich manipulieren, damit sie mich vielleicht doch noch adoptieren könnten. So ein Bullshit! Ich bin sicher, nicht einmal die wollten mich mehr. Es verging quasi kein Tag, an dem wir nicht miteinander stritten. Die nächste Familie war ... anstrengend. Religiöse Fanatiker. Nicht, dass die Michaelis nicht auch auf ihren Sonntagskirchenbesuch bestanden hätten, aber das war ein völlig anderes Niveau. Jeden Abend Bibelstunden, morgendliches Gebet und dieser ganze Unsinn. Nur ihre Weltsicht und Erziehungsmethoden waren noch älter als ihr Lieblingsbuch. Das einzig Gute, was sie für mich getan haben, war diesen verfluchten Zweitnamen streichen zu lassen. Ehrlich, was hast du dir dabei gedacht? Da natürlich der ganze Unfug, den ich zuvor verbockt hatte, in meiner Adoptionsakte stand, fanden sich partout keine Familien mehr, die mich kennenlernen wollten. Etwa ein halbes Jahr hatte ich Ruhe – soweit das mit diesen Tyrannen überhaupt möglich war – dann haben sie mich auf diese ätzenden Adoptionspicknicks geschleppt. Damit ich die Chance hätte, mich von meiner ›guten Seite‹ zu zeigen, mich zu präsentieren, einen unvoreingenommen Start zu haben, die Familien persönlich kennenzulernen, zu erkennen, dass ich mit ihnen gut auskommen könnte ... Was weiß ich, was sie nicht alles erzählt haben, in der Hoffnung, ich würde mich auch nur halbwegs benehmen. Letztendlich war es so eine Veranstaltung, auf der ich das erste Mal verschwand. Ich hatte keine Lust mehr. Noch am Abend zuvor hatte man mir eingeprügelt, ich sollte mich benehmen, doch schon nach einer halben Stunde war klar: Mich erwartete am Abend dasselbe noch einmal. Warum? Weil ich mich mit einem Buch an den Rand gesetzt hatte, weil ich keinen Bock auf den Scheiß hatte. War den Herrschaften natürlich nicht recht. Also nutzte ich die nächste Gelegenheit, um mich aus dem Staub zu machen. Weit kam ich nicht. Schon am Abend fand man mich. Gut, ich hatte mir auch ehrlich nicht viel Mühe gegeben, nicht gefunden zu werden. Und gebracht hatte es mir auch nichts. Dennoch wurde es zu einer Art Angewohnheit. Warum auch nicht? Ob ich mich nun dort danebenbenahm oder den Tag für mich nutzte, die Konsequenzen waren dieselben. Und ich wurde immer besser. Wann ich mich entschloss, gar nicht mehr zurückzugehen? Das war eines Abends am Strand. Wir waren weit gefahren. Vielleicht hofften sie, ich würde mich in einer vollkommen fremden Umgebung nicht trauen, abzuhauen, vielleicht gaben sie die Hoffnung auf, dass es überhaupt noch eine adoptionswillige Familie in der Nähe gab. Jedenfalls waren wir ganz nah an der Küste und während ich mich am Tag wegen der vielen Leute nicht getraut hatte, den Strand zu betreten, war ich doch dazu gezwungen, als ich eine Streife ganz in meiner Nähe bemerkte. Ich war mir sicher, ich war bereits als vermisst gemeldet, da waren die immer sehr schnell mit. Also tat ich das Einzige, was mir in diesem Moment einfiel: Ich rannte. Blindlings, ohne Ziel, einfach immer weiter. Dabei war ich nicht einmal sicher, ob sie mich verfolgten. Irgendwann stolperte ich vor Erschöpfung und blieb liegen. Ich lag einfach nur da und beobachtete das Meer und die Sonne, die langsam darin versank. Klingt das albern, wenn ich sage, dass ich mich von ihr verstanden gefühlt habe? Ich wollte nichts anderes: Einfach untergehen, für eine Weile vergessen werden, und wieder auftauchen als wäre ich ein neuer Tag mit vollkommen neuen Möglichkeiten. Obwohl es bereits Herbst war, blieb ich die ganze Nacht dort, sah dem Meer dabei zu, wie es sich zurückzog, und wachte am nächsten Morgen mit seiner Rückkehr auf. Weißt du, was nach den unzähligen Möwen das Erste war, was ich gesehen und gehört habe? Delphine. Sie waren ein ganzes Stück weiter draußen und doch so deutlich zu erkennen, wie sie da spielten. Eigentlich machte ich mich auf den Weg, um einen Ort zu finden, an dem ich sie besser beobachten konnte, doch irgendwann waren sie nicht mehr zu sehen. Also ging ich weiter, hoffte, noch weitere zu sehen. Ich folgte der Küste, vermied dabei, so gut es ging, die Touristen. Erst am Abend fiel mir auf, dass mein Plan ein Problem hatte: Ich hatte weder etwas zu essen noch zu trinken. Ich war gescheitert. Niemand würde einem Zwölfjährigen etwas geben ohne Fragen zu stellen und hinterher zur Polizei zu schleppen. So dachte ich zumindest ... Also konnte ich das auch selbst erledigen und es ein anderes Mal erneut versuchen. Dann mit deutlich mehr Vorbereitung. Sobald ich das nächste Mal ein Polizeiauto entdeckte, ging ich direkt darauf zu. Der Herr war ... nett, als ich ihm erzählte, was mich zu ihm führte, und hatte – zum Glück? – anderes im Sinn als seiner Arbeit nachzugehen. Er versprach, dass ich nur eine Kleinigkeit für ihn tun musste, dann würde er mir etwas zu Essen und Trinken besorgen und so tun, als hätte er mich nie gesehen. Ich nahm das Angebot an. Einmal, zweimal, dreimal. Für Essen, einen Schlafsack, Rucksack und ein paar Wechselklamotten. Bis er mir den Tipp gab, dass ich in einer größeren Stadt mehr Chancen hätte und besser über die Runden käme. Ich müsste ihm nur einen größeren Gefallen tun, dann würde er mich dorthin bringen. Und so kam ich in Boston an. Mit allem, was ich für mein Überleben dort wissen musste. Kapitel 9: Eloy – April 2014 ---------------------------- »Hey, da bist du ja endlich! Du wolltest doch schon vor einer halben Stunde hier sein.« Ich ging zu Mat und nahm ihm reichlich verwundert die Einkaufstüte ab. »Sorry, ich war noch einkaufen.« »Ja, seh ich. Aber du sollst doch nicht ... Wo ist Chico?« Erst jetzt merkte ich, dass unser Hund nicht hinter ihm in die Wohnung kam. »Hier«, erklärte er, doch mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde sein Ausdruck unsicherer. Schließlich rief er in die Wohnung: »Chico?!« »Scheiße, willst du mich verarschen?! Du warst mit Chico draußen!« Fluchend drückte ich ihm den Einkauf wieder in die Hand und griff nach meiner Jacke. Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Eloy, es tut mir leid. Ich ... Warte, ich helfe dir.« »Nein! Du bleibst hier!« Demonstrativ zog ich die Wohnungstür mit einem lauten Rumms zu. Noch immer fluchend ging ich vorsichtshalber in meine eigene Wohnung. Doch natürlich war Chico nicht dort. In dem Versuch, mich wenigstens etwas zu beruhigen, stieß ich jedes Schimpfwort aus, das mir einfiel. Wie oft hatte ich ihm gesagt, er sollte nicht mit Chico einkaufen? Tausende Male. Er konnte den Hund nicht einfach anbinden und hoffen, dass ihn schon niemand mitnahm! Verdammt, Chico müsste man nicht einmal anfüttern! Und dann merkte dieser tarado noch nicht einmal, dass mein Hund weg war! Dieser ... ARGH! Okay, durchatmen! Sicher war Mat beim Supermarkt in der Straße gewesen. Das waren knapp fünf Minuten Fußweg. Wenn Chico sich losgerissen hatte, würde er den Weg problemlos selbst finden, alles andere würde ich sowieso beim Markt selbst erfragen müssen. Noch während ich das Haus verließ, suchte ich deren Telefonnummer online heraus und rief an. »Guten Abend, mein Partner war gerade bei Ihnen einkaufen. Er hatte unseren Hund dabei, schwarz, ohne Fell, und hat ihn sicher vor dem Laden angebunden. Können sie mir sagen, ob er noch da ist?«, erklärte ich der freundlichen Stimme am anderen Ende. »Sie meinen den netten Herrn mit der Glatze, der öfter mit dem Hund hier ist? Der ist gerade raus. Sah ziemlich durch den Wind aus. Moment, ich schau gerade mal ... Oh! Ja, der Hund ist auf dem Parkplatz. Wie ...« Erleichtert atmete ich auf. Wenigstens hatte Mat ihn nicht auf der Seite der Hauptstraße angebunden. »Danke! Können sie vielleicht ein Auge auf ihn haben? Ich bin in ein paar Minuten da und hole ihn ab.« Ich beschleunigte meinen Schritt, nachdem mir bestätigt wurde, dass sie Chico über die Überwachungskamera im Auge behalten und nur mir übergeben würden. Ich war noch nicht ganz wieder zur Tür rein, da kam Mat in den Flur gestürmt. Für mich hatte er nur einen kurzen Blick übrig, bevor er sich auf Chico stürzte und ihn umklammerte. Der Hund, der die überschwängliche Freude kaum verstand, erwiderte sie dennoch und schleckte ihm das Gesicht ab. Ich strich Mat zärtlich über den Kopf. Meine Wut war Erleichterung gewichen und die Erklärung gegenüber der Kassiererin war zum Glück auch angenommen worden. Es hatte gereicht, ihr zu sagen, dass Mat einen schlechten Tag und beim Rausgehen einfach nicht an Chico gedacht hatte. Mit roten, verquollenen Augen sah Mat auf. »Es tut mir leid.« Ich ging ebenfalls auf die Knie und nahm ihn in den Arm. Dafür erhielt ich von Chico einen Schmatzer auf die Wange. »Ist schon gut. Du hast es nicht mit Absicht gemacht. Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien hab. Das hätte nicht passieren dürfen.« Mat schüttelte den Kopf und schniefte. »Nein, du hast ja recht. Ich hätte Chico nicht mitnehmen dürfen. Du hast jedes Recht, mich anzuschreien.« »Nein, habe ich nicht.« Ich küsste ihn auf den Kopf. »Du kannst nichts dafür.« »Aber es ist so frustrierend!« Er gab einen kläglichen Schrei von sich. Ich seufzte. Ja, war es. Jedes Mal, wenn mein Handy klingelte, wenn er zu spät dran war, befürchtete ich einen Anruf meiner Kollegen oder des Krankenhauses, dass man Mat orientierungslos aufgefunden hatte. Noch vertraute ich darauf, dass er lange genug in der Wohnung wohnte, um automatisch hierherzukommen, aber lange würde es nicht mehr funktionieren. Einmal war er bereits bei seinem Bruder aufgeschlagen. »Als ich letzte Woche etwas für die Kids unterschreiben musste, hab ich mit meinem alten Namen unterschrieben. Erst als man mich darauf hingewiesen hat, hab ich mich daran erinnert, dass wir geheiratet haben«, gestand Mat leise. Ich nahm ihn fester in den Arm. Für ihn musste das noch viel schlimmer sein. Noch bekam er mit, was ihm nicht mehr gelang, und er schämte sich dafür. Mein einst so stolzer Ehemann zerbrach an seinem viel zu schnell nachlassenden Körper und Geist. »Ich bin für dich da.« Er schluchzte und lachte gleichzeitig. »Auch noch, wenn ich nur noch in der Lage bin zu brabbeln, keine Ahnung mehr habe, wer du bist, und mir in die Hose mache? Wenn nicht meine Lunge früher aufgibt.« Er stupste die kleine Tasche mit der Sauerstoffversorgung an. »Auch dann noch.« Ich küsste ihn zärtlich. »Ich wusste, worauf ich mich einlasse und ich werde das Versprechen«, ich drehte leicht an seinem Ring, »nicht brechen. Ich bleibe bis zum Schluss bei dir.« »Danke.« Er ließ sich gegen mich sinken und brachte mich damit ins Schwanken. Ich landete auf dem Hintern, ließ mich davon aber nicht irritieren, sondern hielt ihn weiter an mich gedrückt. Bis er sich entschied zu gehen, würde ich an seiner Seite bleiben. Kapitel 10: Eloy – Juli 2014 ---------------------------- Nervös sah ich mich auf der kleinen Wiese um. Nach dem offiziellen Teil schien sich die Anspannung bei allen außer mir langsam zu legen. Sogar Maxime hatte sich beruhigt und lachte sogar ehrlich über einen Witz von Walter, obwohl Peter nicht im Geringsten von der skeptischen Miene abwich, mit der er Mats Vater auch bei ihrem letzten Zusammentreffen begegnet war. Auch die restliche Trauergemeinde stand in kleineren Grüppchen zusammen, wobei sich unerwartete Kombinationen ergaben. Wie Tobys und Rogers Begleitung, die sich zu Mats übrigen Bandmitgliedern gesellt hatte. Oder Toby selbst, der sich mit Mats Anwalt wie mit einem alten Bekannten unterhielt, während sein Mann etwas abwesend daneben stand und den Blick immer wieder zwischen Peter und ihrer Begleitung hin und her gleiten ließ. Sehr offensichtlich hatte nicht nur ich sehr deutliche Instruktionen von Mat erhalten. Nicht nur hatte ich die Person, die er als »Loverboy« in seinem Handy eingespeichert hatte – und die sich mir dann im Gespräch als Isaac vorgestellt hatte – zu seiner Beerdigung einladen sollen, sowohl über einen Anruf als auch zur Sicherheit noch einmal über Toby und Roger, sondern er hatte auch immer wieder sehr nachdrücklich wiederholt, sollte er die Einladung annehmen, niemals, unter gar keinen Umständen Peter mit ihm allein zu lassen. Doch so beharrlich Mat mit dieser Forderung auch war, zu den Gründen schwieg er sich aus. Und ich kannte ihn gut genug, nicht mehr als einmal danach zu fragen. Roger schien die Aufgabe sogar noch direkter zu nehmen als ich, denn als sich Peter von Walter abwandte und in die Richtung seiner Band bewegte, stieß er seinen Partner mit dem Ellenbogen an. Sofort schaltete dieser und gemeinsam gingen sie zu ihrem Begleiter. »Eloy? Wie geht es dir?« Darauf hoffend, dass Toby und Roger auch weiterhin ihren Freund im Blick hatten, erlaubte ich es mir, meine Aufmerksamkeit voll auf Walter zu richten. Erschöpft seufzte ich und fuhr mir mit der Hand über die Augen, während ich mich ihm zuwandte. Ich hatte keinen Grund, meinen Schwiegervater anzulügen. »Erschöpft. Die letzten Tage waren etwas ... viel.« Verstehend nickte er und griff kurz tröstend an meinen Unterarm. »Verständlich. Egal wie gut ihr alles vorbereitet habt, es blieb sicher noch vieles, was sich erst hinterher regeln ließ. Aber eigentlich wollte ich wissen, wie es dir emotional geht.« »Es geht. Ich hatte es schlimmer erwartet. Aber ich wusste ja auch, dass es kommen würde.« Mitleidig lächelte er. »Du musst dich nicht zusammenreißen, Junge.« Überfordert lachte ich. Manchmal war es zu offensichtlich, woher Mat seine gute Menschenkenntnis hatte. »Ich weiß, Walt. Aber im Moment geht es wirklich. Erfahrungsgemäß kommt der wirklich harte Schlag, wenn der erste Stress vorbei ist.« Von unten herauf sah mich Walter skeptisch an. »Erfahrungsgemäß?« »Mat ist nicht mein erster ... Partner, den ich beerdigen muss.« Für einen kurzen Moment schweiften meine Gedanken ab, doch ich holte sie schnell wieder zurück. Jetzt gerade war nicht die Zeit dafür. »Nur diesmal darf ich auch zeigen, wie wichtig er für mich war.« Walter lächelte nachsichtig und tätschelte mir noch einmal den Unterarm. Für einen Moment schwiegen wir und ich nutzte die Gelegenheit, nach den anderen Gästen zu sehen. Peter unterhielt sich mit Mr. Bowser und Carla, während ihr Mann Maxime bespaßte. Caroline war zu Hause bei ihrer Mutter, deren Anwesenheit bei seiner Beerdigung Mat nachdrücklich untersagt hatte. Toby und Roger standen mit dem Rücken zu den anderen und schirmten damit Isaac ab. Dass Walter seinen Rollstuhl etwas drehte und nun direkt auf Mats Grab sah, lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn, noch bevor er erneut sprach. »Ich bin nicht sicher, ob das der richtige Zeitpunkt ist, aber, nun, wann sonst: Mat hatte gesagt, er hätte seinen Zweitnamen streichen lassen ...« »Ah, hm, ja.« Ich konnte mir ein trauriges Schmunzeln nicht verkneifen. Mat hatte wie immer getan, was er für richtig hielt, ohne die Notwendigkeit zu sehen, andere davon zu unterrichten. »Hatte er ursprünglich auch. Aber nachdem ihr euch das erste Mal getroffen hattet, hat er sich sofort dran gemacht, herauszufinden, ob und wie er ihn wieder eintragen lassen kann. Ihr habt wohl darüber geredet und er war der Meinung, der Name sei dir wichtig gewesen. Zumindest meine Vermutung. Er hat es mir nicht erklärt. Ehrlich gesagt hab ich aber auch nicht wirklich nachgefragt.« Diesmal war es Walter, dessen Blick etwas abwesend wirkte. Nach einem Moment fragte er: »War er immer so?« »So was? Eigensinnig? Ja, sehr.« »Auf andere bedacht. Ich habe ihn nie darum gebeten, den Namen wieder anzunehmen, oder habe ihm das Streichen übelgenommen. Er war mir wichtig, aber ich hatte auch vollstes Verständnis, dass er ihn wegen seiner Erfahrungen nicht wollte. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er ihn wieder annehmen würde oder auch nur mit dem Gedanken spielt. Ich kann es mir nur so erklären, dass er es für mich gemacht hat.« Mit einem schweren Seufzen nickte ich. »Ja, so war Mat. Immer. Ich kannte ihn nicht anders. Er hat andere immer über sich selbst gestellt. Dein Sohn war ein großartiger, viel zu guter Mensch.« Walter lachte bitter. »Nur, dass ich nicht viel dazu beigetragen habe.« Um keine unangenehme Stille aufkommen zu lassen, fragte ich: »Warum war es dir so wichtig, dass Mat den Namen trägt? Ich finde ihn ehrlich gesagt auch nicht so gut gewählt. Es ist ... ein Mädchenname.« Die Frage bewirkte genau das Gegenteil dessen, was ich erreichen wollte. Walter sah für eine ganze Weile mit weit entferntem Blick auf das Grab seines Sohnes. Dann ließ er den Kopf hängen und sah auf seine Hände. »Mat ist nicht mein erstes Kind, das ich überlebe. Jennifer war der Name, den seine Mutter und ich für seine Schwester ausgesucht hatten. Weil sie ihn nicht tragen konnte, habe ich mich entschieden, dass Mat ihn ebenfalls tragen sollte. Sie hat kein Grab, es gibt keine Aufzeichnungen über sie, das war damals bei Neugeborenen nicht üblich – ich weiß nicht einmal, was mit ihrer Leiche geschehen ist – also sollte er das lebende Andenken an seine Zwillingsschwester sein. Und ich hab es bis letztes Jahr nicht einmal geschafft, ihm von ihr zu erzählen. Ich hab ihn immer für zu jung gehalten und dann ...« Ich legte dem alten Mann, der seine gesamte Familie überlebt hatte, eine Hand auf die Schulter. »Jetzt hat sie ein Grab.« Ich war sicher, das war Mats Intention gewesen. Nicht einmal Totsein erlaubte er sich nur für sich selbst. Kapitel 11: Samsa - November 2014 I ----------------------------------- Mit einem leisen Seufzen ließ ich den Kopf nach hinten sinken, streckte meinen Unterkörper dabei dem Mann vor mir entgegen. Heiße Lippen legten sich gleichzeitig auf meine Schulter und das Schlüsselbein, arbeiteten sich küssend meinen Hals hinauf, bis ein Paar meinen Mund fand. Das zweite liebkoste mein Ohrläppchen. Meine Hände strichen am Oberkörper des Mannes vor mir hinauf, legten sich in seinen Nacken und zogen ihn dichter. Knabbernd und stupsend forderte ich ihn auf, seine Lippen zu öffnen. Nur Sekunden später glitt meine Zunge dazwischen, forderte seine zu einem wilden Spiel heraus. Ein leises Lachen drang an mein Ohr, als mein Kopf ruckartig nach vorne gezogen wurde, während sich der Kuss intensivierte. Die Hände, die dicht über meiner Hüfte gelegen hatten, wanderten den Beckenknochen entlang nach unten, fanden den Weg zwischen meine Schenkel und zogen sie sacht auseinander. Stöhnend unterbrach ich den Kuss, als Finger über meine Eier wanderten und sie zu massieren begannen. »Hiergeblieben!« Mein Kinn wurde grob gepackt. Gleichzeitig drückte er sein Becken hart gegen meines. Es kostete mich alle Mühe, den Kuss zu erwidern und nicht wieder angetan aufzustöhnen. Dafür ließ ich mein Becken kreisen, um ihn ebenfalls aus der Fassung zu bringen. Dass die Hand von meinem Hoden zu seinem gewandert war, unterstützte mein Unterfangen. Diesmal war er es, der sich von mir lösen musste. Schwer atmend sah er auf mich hinab. Seine braunen Augen leuchteten warm und sein Gesicht nahm einen zärtlichen Ausdruck an. Sanft lächelte er. Mein Blickfeld verengte sich auf das Gesicht und ganz automatisch spiegelte ich die Miene. Es war, als bliebe die Zeit stehen. Eine unerwartete Berührung durchbrach den Focus. Es war nur ein Paar Lippen, das sich auf meine Halsbeuge legte, doch es reichte, um mich in die Realität zurückzuholen. Das Gefühl, das sich in meinem Magen zusammengebraut hatte, kippte. Es war kein angenehmes Flattern mehr, sondern ein schwerer, nicht zu verdauender Stein. Je länger ich in das Gesicht vor mir sah, desto enger wurde es in meiner Brust. Schnell schloss ich die Augen. Erneut wurde mein Kinn umfasst, doch diesmal war es anders. Sanft, nachgiebig. »Isaac, was ist los?« Ich nahm allen Mut zusammen, schluckte das letzte Kribbeln herunter und öffnete die Augen. Der zärtliche Ausdruck hatte sich in echte Sorge gewandelt. Natürlich hatte er sofort bemerkt, dass etwas nicht stimmte. »Ich kann das nicht mehr.« Die Worte kamen nur geflüstert über meine Lippen. Ein sanfter Kuss traf meine Schulter. »Was kannst du nicht mehr?« »Das hier. Alles davon.« Ich löste mich von den beiden Körpern und deutete mit einer ausschweifenden Geste durch das Schlafzimmer, das sich in den letzten Jahren kaum verändert hatte, und auf uns. Während das Gesicht vor mir nur absolutes Unverständnis zeigte, ertönte hinter mir ein wissendes Seufzen. »Lass uns ins Wohnzimmer gehen.« Langsam schüttelte ich den Kopf und stand auf. Das hatte doch keinen Sinn. »Warum?«, fragte Toby, als ich nach meiner Boxershorts griff. Er klang getroffen und ich konnte es ihm nicht verübeln. Ich hatte es schon wieder vermasselt. »Warum lässt du uns nicht mit dir reden?« »Weil es nichts bringt. Es ist doch eh egal, was ich sage.« Ich konnte ihn nicht ansehen. Er sollte nicht sehen, dass mir Tränen in den Augen standen. Ich wollte nicht, aber ich musste die Notbremse ziehen. Jetzt und hier. »Das ist nicht wahr! Und das weißt du ganz genau.« Im Gegensatz zu seinem Mann verbarg Roger seinen Schmerz hinter der rauen, lauten Stimme. Erneut schüttelte ich den Kopf und wischte mir unauffällig mit dem Arm übers Gesicht. Natürlich war es ihnen nicht egal, aber das machte keinen Unterschied. Letztendlich würden wir wieder an derselben Stelle landen, egal wie oft wir das durchspielten. Wie oft hatten wir das schon durch? Dreimal? Viermal? Es würde sich nicht ändern. Dabei war mir bewusst, dass sie das nicht absichtlich taten. Sie bemühten sich. Wirklich. Aber diese elenden Gefühle machten alles zunichte! Irgendwann rissen sie uns doch wieder mit, sorgten dafür, dass ich immer mehr die Grenzen verschob, bis es nicht mehr ging, bis sie mir wieder so nah waren, dass ich sie zwangsweise verletzten musste, weil sie sich Hoffnungen auf etwas machten, was ich ihnen nicht geben konnte. Ich hatte meine Sachen zusammen und zog noch das Shirt über, als das Bett leise knarrte. »Wenn du jetzt gehst, ohne mit uns zu reden, brauchst du nicht wiederkommen.« Für einen Moment sah ich die Badtür ungläubig an, die sich hinter Toby schloss, dann zwang mich der Kloß in meinem Hals, das Zimmer zu verlassen, bevor Roger das Schluchzen hören konnte. Fassungslos stand ich ihm Flur. War das sein Ernst? Von Roger hätte ich so ein Ultimatum erwartet, jedoch nicht von Toby. Bisher hatte er mir immer gut zugesprochen, wenn es mir zu viel wurde und ich Abstand brauchte. Hatte ich diesmal zu lange gezögert? Waren die Gefühle diesmal so stark geworden, dass er den Abstand nicht zulassen konnte? Was es auch war, für mich war es nur noch mehr Grund, zu gehen. Wenn er so verzweifelt war, mich derart unter Druck zu setzen, wollte ich nicht wissen, was er sonst noch unternahm. Ich schob mich an dem hässlichen, nackten Köter, den die beiden adoptiert hatten, vorbei zur Wohnungstür. Dass dieser sich seine Leine von der Kommode fischte, während ich in meine Schuhe schlüpfte, und sie mir auffordernd entgegenhielt, ignorierte ich. Die Verantwortung hatten sie sich aufgehalst. Mit der Hand auf der Türklinke zögerte ich. Sie hatten so viel für mich getan und aus Tobys Stimme war mir klar, dass er es absolut ernst meinte. Ich würde sie definitiv verlieren. Dabei waren sie mir doch wichtig. Tat ich ihnen Unrecht, indem ich ihnen keine Chance mehr gab, dass es doch noch klappte? Sie konnten schließlich nichts dafür, dass ich mit diesen Gefühlen nicht klarkam. Und doch drängten sie sich mir immer wieder auf. Sie ließen mir doch keine andere Wahl, als ihnen immer wieder wehzutun, indem ich sie zurückstieß. Ich wollte das nicht mehr! Langsam drückte ich die Türklinke nach unten. Kapitel 12: Samsa - November 2014 II ------------------------------------ »Verdammt, nimm endlich ab und sag dem Arschloch, es soll Ruhe geben!« Tino beugte sich über die Bettkante und angelte nach meiner Hose. Als er mein Handy nicht beim ersten Versuch fand, warf er mir das Kleidungsstück neben den Kopf, wobei ich der Gürtelschnalle gerade noch ausweichen konnte. Murrend zog ich das Handy aus der Tasche. »Was?!«, brüllte ich hinein. »Scheiße, endlich gehst du ran!« Es war Lance. Natürlich war es Lance. Was hatte ich auch erwartet. Nur er rief so lange und ausdauernd an. »Was willst du?« »Wo bist du?« »Geht dich nichts an. Du störst!« Er musste Tinos angestrengtes Keuchen doch hören. Und wenn nicht das, dann doch wenigstens meinen eigenen, viel zu unruhigen Atem. »Ja, merk ich«, antwortete er lakonisch. Dann wurde er laut: »Sag mal, hast du sie eigentlich noch alle?! Behandelst du jetzt alle deine Freunde, wie den letzten Dreck, ja? Fühlst du dich mal wieder wie etwas Besseres? Oder hast du dir jetzt endgültig die letzten Hirnzellen rausgesoffen? Alter, ich habe keinen Bock mehr auf deinen Scheiß! Entweder du tauchst bis morgen Abend hier auf und hast eine wirklich gute Erklärung parat, warum ich dich drei Tage lang nicht erreiche und Toby und Roger mich verzweifelt anrufen, dass ich nach dir sehen soll, oder ich schmeiße hin. Ich muss mir das nicht mehr geben. Bekomm dich auf die Reihe, auf welchem Trip auch immer du gerade schon wieder bist!« Wütend warf ich das Handy von mir, nachdem er einfach aufgelegt hatte. Dieser Flachwichser konnte mir gestohlen bleiben! Ich war ihm gar nichts schuldig! Wenn er sich von den beiden Vollpfosten einlullen ließ, dann war das sein Problem! Scheiße, ich brauchte dringend Alkohol! Lance’ Anruf hatte mir die Stimmung versaut. Es brauchte nur eine kurze Handbewegung von mir, damit Tino sich aus mir zurückzog. »Ist alles in Ordnung?« »Sieht es so aus?« Ich richtete mich auf und suchte in den Flaschen auf dem Nachttisch nach dem Wodka. Alle leer. Natürlich! »Moment.« Tino stand auf und wankte unsicher aus dem Zimmer. Nach einigen Minuten kam er wieder, die Arme bis oben hin voll mit Knabberkram und in der Hand eine Wodkapulle. Er ließ die Tüten neben mir fallen und schmiss sich dann schwungvoll ins Bett. »Das ist der Rest.« Er öffnete den Wodka und trank, bevor er ihn mir reichte. Ich nahm ebenfalls einen großen Schluck, bevor ich mich über die Cheeseball-Tüte hermachte. Sie waren nicht mein Favorit, aber scheiße, ich hatte Hunger! Schweigend teilten Tino und ich uns die letzten Vorräte. Sobald sich einer von uns dazu bequemen konnte, sich anzuziehen, sollten wir für Nachschub sorgen. Aber das konnte warten. Warum konnte Lance nicht so sein und mich einfach in Ruhe lassen? Ich brauchte seine Moralpredigten nicht. Die letzten – was hatte Lance gesagt? Mir war das Zeitgefühl völlig abhandengekommen – drei Tage hatten alles, was ich brauchte: geilen Sex, reichlich Alkohol und gelegentlich ein Joint. Absolute Freiheit. Niemand, der mir ins Gewissen redete, keine unnötigen Gefühlsduseleien, und erst recht keine Ultimaten! Wenn er meinte, mir so kommen zu müssen, konnte er mir gestohlen bleiben! »Hey, es wird alles gut. Ich bin sicher, das regelt sich schon irgendwie.« Tino legte mir seine Hand in den Nacken und zog mich an sich. Scheiße, was war das?! Mir rannen die Tränen unaufhaltsam über die Wangen. Fuck! So sehr ich es auch versuchte, sie ließen sich nicht aufhalten. Elendig flennend lag ich in Tinos Armen, bis ich irgendwann einfach einschlief. Ich wurde von einem übelkeitserregenden Piepen geweckt. Ich war nicht einmal in der Lage, Worte zu formen, weshalb ich nur knurrend darauf reagierte. Scheiße, was sollte der Mist?! Zum Glück endete das Piepen und Tino drängte sich dichter an mich. Er küsste meinen Nacken und flüsterte: »Sorry. Aber ich muss los.« Urks. Hätte er mich nicht am Abend davor warnen können? Ich bekam nicht einmal die Augen auf, so sehr waren sie verquollen. Hatte ich überhaupt länger als eine Stunde geschlafen? Er schien den Kampf mit meinem Körper zu bemerken. »Du kannst dich gern ausschlafen.« Erleichtert wich alle Körperspannung. Das ließ ich mir sicher nicht zweimal sagen. »Ich versteh das Mal als Ja.« Er lachte leise und zog mir die Decke über den Kopf, bevor er aufstand. Da es hinter meinen Augenlidern heller wurde, vermutete ich, dass er das Licht angeschaltet hatte, doch viel bekam ich nicht mit. Fast sofort dämmerte ich wieder weg. Nur ab und zu hörte ich ihn im Raum, offenbar räumte er noch etwas auf. Irgendwann wurde es wieder dunkler. »Wenn du später gehen magst, zieh einfach die Tür hinter dir zu. Ansonsten sehen wir uns nachher«, hörte ich ihn noch von ganz weit weg, war aber kaum in der Lage, den Worten einen Sinn zu geben. Als die zwei Wasserflaschen, die Tino mir neben das Bett gestellt hatte, leer waren, entschied ich, endgültig aufzustehen. Bisher hatte ich es nur mit Mühe und Not bis auf Toilette geschafft, aber der Brand erinnerte mich daran, dass ich die Wohnung verlassen sollte. Ernüchtert stellte ich fest, dass Tino offenbar besser mit dem Aufstehen nach unserem Gelage klarkam als ich. Nicht nur hatte er mir Wasser und Aspirin ins Schlafzimmer, sondern auch ein Handtuch im Bad bereitgelegt. Davon, dass alle Fenster abgedeckt waren und ich mich daher nicht mit stechendem Licht rumärgern musste, wollte ich gar nicht erst anfangen. Ich wäre unter Garantie nicht zu dieser Denkleistung fähig gewesen. Die Dusche klärte meinen Kopf. Langsam kamen wieder Gedanken durch den dichten Nebel. Dabei auch die schmerzhafte Erkenntnis: Ich musste mich bei Lance entschuldigen. Im Gegensatz zu Toby und Roger, die mir keine andere Wahl mehr ließen, hatte Lance es nicht verdient, dass ich ihn so behandelte. Dann wusste ich wenigstens, wohin ich gehen würde. Zu Hause, fürchtete ich, würde mir die Decke auf den Kopf fallen. Schmunzelnd bemerkte ich die noch verpackte Zahnbürste auf dem Waschbecken, als ich mich abtrocknete. Tino machte das wohl wirklich nicht zum ersten Mal. Beim Anziehen warf ich einen kurzen Blick auf mein Handy, ob Lance noch einmal versucht hatte, mich zu erreichen, und erschrak: Es war bereits später Abend. Durch die dunkle Wohnung hatte ich absolut kein Zeitgefühl gehabt. Fuck! Ich kannte Lance gut genug, um zu wissen, dass er seine Drohung nicht direkt wahrmachen würde, aber ich jede Gelegenheit auf eine halbwegs einfache Entschuldigung verspielt hatte. Das hatte ich absolut verbockt! Lance hatte jedes Recht, mich dafür zum Teufel zu schicken. Ob er mich heute trotzdem noch anhören würde? Ich würde immerhin fast zwei Stunden zu ihm brauchen. Aber mit einem Anruf war es jetzt auf jeden Fall nicht mehr getan. Seufzend setzte ich mich aufs Bett, um ihm wenigstens eine Nachricht zu tippen. Kapitel 13: Samsa - November 2014 III ------------------------------------- »Soll ich hier warten?« Verwundert sah ich Tino an, doch es hatte nur den Effekt, dass es mich noch mehr verwirrte. Seitdem er von der Arbeit gekommen war, während ich gerade auf dem Bett die Nachricht schrieb, tat ich mich schwer, ihn anzusehen. Es war einfach ... So typisch ich. Natürlich hatte ich mir, nachdem ich bei Toby und Roger abgehauen war, einen Typen gesucht, der ihnen ähnelte: groß, Oberarme von der Größe meiner Oberschenkel, ein verschmitztes Lächeln und natürlich überführsorglich. Scheiße, wer bot seinem One- – nein, Three! – Night-Stand an, ihn zu seinem besten Freund zu fahren und dann auch noch zu warten? Ganz offenbar er ... »Ich kann auch wieder fahren. Ich dachte nur, weil auch nicht mehr so lange etwas fährt ...«, reagierte er auf mein resigniertes Seufzen. »Schon gut, ich kann von hier aus nach Hause laufen.« Es waren zehn Minuten. Davon würde ich nicht umkommen. Ganz im Gegenteil, es konnte mir gut den Kopf klären. »Ich weiß auch gar nicht, wie lange das dauert.« Skeptisch sah er sich um. Es war eindeutig, was er dachte: Seiner Meinung nach würde ich umkommen. »Es macht mir nichts aus.« Unruhig rutschte ich hin und her. Langsam wurde er mir zu aufdringlich. Auch das hatte er also mit Toby und Roger gemeinsam. Er seufzte. »Was hältst du davon: Ich warte und wenn du wirklich nicht gefahren werden willst, dann ignorierst du mich einfach, okay? Ich mache mir nur ein wenig Gedanken, weil du noch nicht ganz nüchtern wirkst und das mit deinem Freund scheint dir ziemlich zuzusetzen ...« »Okay, von mir aus. Wenn du unbedingt willst, dann warte hier.« Zufrieden nickte er. »Ich wünsche dir alles Gute.« Brummelnd stieg ich aus. Das Glück würde ich brauchen. Lance hatte nicht auf meine Nachricht geantwortet, ich wusste also nicht, ob er sie gelesen hatte und ignorierte oder ob er sogar schlief. Notfalls würde ich ihn aus dem Schlaf klingeln. Schlimmer konnte ich es eh nicht mehr machen. Bereits nach dem ersten Klingeln wurde der Türsummer betätigt. Lance wusste also, dass ich es war. Freude über meinen Besuch sah jedoch anders aus. Er hatte sich im Türrahmen aufgebaut und versperrte mir den Zugang zu seiner Wohnung. »Es tut mir leid, ich hab mich im Ton vergriffen. Es war total unnötig, dich so anzugehen.« Er sollte ruhig direkt wissen, dass ich nicht hier war, um mich erneut mit ihm zu streiten. »Ich wäre gern früher gekommen, aber ...« »Vögeln war wichtiger, ich versteh schon.« Nichts an seiner Position veränderte sich. Ich schluckte. So wütend hatte ich ihn nicht erwartet. »Jain. Ich hab verschlafen. ... Können wir vielleicht reingehen?« Nach einem schreiend ruhigen Moment trat er zurück und ließ mich ein. Im Vorbeigehen deutete er auf aus dem Wohnzimmerfenster. »Ich dachte nur, du willst eh sofort wieder gehen.« Vom Fenster aus konnte man hinunter auf Tinos Auto sehen. Lance hatte mich also schon dort gesehen. »Er besteht darauf, zu warten, damit ich nicht nach Hause laufen muss.« Lance schnaufte. »›Er‹ ... Ich wette, du weißt nicht einmal, wie ›er‹ heißt.« »Tino.« Dennoch fühlte ich mich ertappt. Es war absoluter Zufall, dass ich es mir gemerkt hatte. Spätestens in zwei Tagen wusste ich es sicher nicht mehr. Die Antwort brachte ihn aus dem Konzept. Sein Blick änderte sich, wurde weicher. »Du warst die letzten Tage bei ihm?« Ich nickte und sah weiter aus dem Fenster. Tino bemerkte nicht einmal, dass ich ihn beobachtete. Vermutlich kam ihm nicht einmal in den Sinn, dass man ihn sehen könnte. Er war vollkommen in ein Buch vertieft. »Und er ist der Grund, warum du mit Toby und Roger Schluss machst, ohne mit ihnen zu reden?« »Ich habe nicht ›Schluss gemacht‹. Wir waren nie zusammen; so sehr sie sich das auch wünschen.« Den letzten Teil flüsterte ich eher zu mir. Lance’ Kopfschütteln war fast zu hören. »Du weißt genau, was ich meine. Was ist passiert? Ist er der Grund?« »Nein. Es ist ... dasselbe wie immer. Sie versuchen schon wieder, mich in eine Beziehung zu drängen.« Genervt stöhnte Lance. Wie immer glaubte er mir nicht. »Wie denn diesmal? Haben sie dir wieder etwas geschenkt, dass du absolut überinterpretierst? Wollten sie mit dir irgendwohin fahren? Solltest du auf den Hund aufpassen?« Ich knurrte. Für ihn war das vielleicht lächerlich, für mich aber nicht! »Wir hatten Sex im Schlafzimmer.« »Was?! Du willst mich veraschen!« Ich drehte mich um und starrte ihn wütend an. Das war kein Witz! »Okay, erklär es mir«, lenkte er ein. Ich ließ mich auf dem Sofa fallen und erklärte ihm, welche Regeln ich mit Toby und Roger vereinbart hatte und wie sie diese immer weiter verschoben hatten. Erst hatten wir gemeinsam oben im Schlafzimmer geschlafen, dann waren wir immer öfter gemeinsam im Wohnzimmer eingeschlafen, hinterher sogar bei ihnen im Schlafzimmer. Selbst wenn ich als Freund dort war, hatten sie immer mehr meine Nähe gesucht, mich geküsst und mich berührt. Zuerst war es mir nicht aufgefallen, ich hatte es gemocht, doch es führte nur dazu, dass die Grenzen immer weiter verschwammen, dass nicht mehr deutlich war, warum ich dort war. Dann waren die Blicke gekommen. Sie hatten deutlich gezeigt, dass sie von mir nicht nur als einen Freund und eine Affäre dachten. Ich hatte nichts dagegen, die Regeln etwas aufzuweichen, doch das war zu viel. Mehrmals hatten wir sie komplett zurücksetzen und den Kontakt einschränken müssen, damit es wieder klappte. Dazu kamen die von Lance geschilderten Situationen; außer der Sache mit dem Hund, das war vollkommen übertrieben. Doch diesmal waren sie eindeutig zu weit gegangen: Sie hatten es geschafft, dass ich alles ignorierte und mich von ihnen in ihrem Schlafzimmer verführen ließ. Auch nach der Erklärung schüttelte Lance ratlos den Kopf. »Aber es gefällt dir? Oder nicht?« »Ja klar.« »Dann erklär mir eins: Warum ist es ihre Schuld? Du machst genauso mit. Du könntest ihnen auch sagen, dass du das nicht möchtest, statt einfach zu gehen. Oder endlich akzeptieren, dass ihr eine Beziehung führt. Ziemlich verquer und für mich nicht verständlich, aber genau das.« Ich sprang auf. »Wir sind nicht zusammen!« Lance grollte. »Okay, ist mir egal, wie du es nennst. Aber du hast ihnen wehgetan! Sie lieben dich! Und so sehr du es auch leugnest: Du liebst sie auch. Du kannst nicht einfach gehen und dich in die Arme des nächstbesten Typen schmeißen.« »Doch kann ich! Genau das kann ich tun. Weißt du warum? Weil wir keine fucking Beziehung führen! Ich kann gehen wann und wohin ich will und ich kann ficken mit wem ich will!« »Isaac! Hörst du dich eigentlich selbst reden? Alter, du klingst wie ein scheiß verfickter, bockiger Teeny! Du bist fucking 30! 30, nicht 13. Fang endlich an, Verantwortung zu übernehmen! Du möchtest keine Beziehung? Okay, schön, aber dann mach richtig mit ihnen Schluss! Das bist du ihnen schuldig, nachdem sie sich jahrelang den Arsch für dich aufgerissen haben! Du kannst sie nicht ewig ausnutzen!« »Ich nutze sie nicht aus!« Lance’ Gesicht gefror zu Stein, seine Stimme nahm eine eisige Kälte an. »Doch! Genau das tust du. Du rennst jedes Mal zu ihnen, sobald dir etwas nicht in den Kragen passt und wegen jedem Scheißdreck, der dich an Peter erinnert, aber sobald ... Nein, Isaac, hör auf zu flennen! Du bekommst von mir kein Mitleid. Reiß dich endlich zusammen! Genau das meine ich: Sie ziehen dich ständig aus dem Dreck, aber du arbeitest kein Stück mit, sondern hängst dich an dieser Sache fest. Und zum Dank bekommen sie jedes Mal einen Arschtritt von dir! An ihrer Stelle hätte ich dich schon längst zur Hölle geschickt! Du hast es absolut nicht verdient, dass sie dir nach alldem noch helfen.« Ich zog die Beine an und legte den Kopf darauf ab. Lance hatte doch keine Ahnung! Glaubte er wirklich, ich würde es nicht versuchen? Aber es ging nicht. Ich hielt die Nähe nicht aus. Es fühlte sich nicht gut an, nicht wie andere es behaupteten. Es war einfach nur beengend. Immer wenn sie mir Gefühle zeigten, hatte ich den Druck, es zu erwidern, ihnen entgegenzukommen, selbst wenn ich das nicht wollte. Mit jedem Mal, das sie mir etwas von ihrer Liebe entgegenbrachten, war von meiner weniger übrig. Als würden sie sie ersticken, ihr den Platz zum Leben nehmen. Warum konnte das niemand verstehen? »Was ist? Hast du dazu nichts mehr zu sagen? Glaubst du, es hilft, rumzuflennen?« »Lance, bitte. Hör auf.« Nur mühsam bekam ich das zwischen dem Schluchzen heraus. Der undefinierte Laut von ihm machte deutlich, dass er durchaus noch etwas zu sagen hatte, doch er schwieg. Kapitel 14: Samsa - November 2014 IV ------------------------------------ »Isaac.« Lance legte mir vorsichtig die Hand auf die Schulter. »Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe, oder? Tut mir leid, ich bin über das Ziel hinausgeschossen.« Zitternd atmete ich zwischen den letzten Tränen ein. »Ja, ich weiß. Aber du hast recht.« »Und jetzt? Willst du ihnen endlich sagen, was du für sie fühlst?« Langsam schüttelte ich den Kopf und wischte mir die Tränen mit dem Ärmel ab. »Keine Ahnung, vielleicht. Das meinte ich auch nicht. Ich meine, ich fühle etwas für sie, ja. Keine Ahnung, ob es Liebe ist. Aber ich ... Ich will keine Beziehung mit ihnen.« Lance seufzte laut und stand auf, um Taschentücher zu holen. Bevor er etwas sagen konnte, sprach ich weiter: »Sie erdrücken mich. Ich weiß, sie meinen es gut und dass sie mir helfen wollen, dass sie mich lieben. Aber das ist mir zu viel. Ich kann es als Freund ertragen, weil es da immer noch eine gewisse Barriere gibt, aber als Partner ... Ich weiß, wie das für dich klingen muss. Sie geben sich gegenseitig so viel Raum. Wenn es allerdings um mich geht, ist das irgendwie anders. Ich war nie ... gleichberechtigt. Eher so eine Art Spielgefährte, der immer hinter ihrer Beziehung zurücktreten musste. Entscheidungen haben sie immer erst für sich zu zweit getroffen, dann erst mit mir. Solche Dinge eben. Und ich habe nicht das Gefühl, dass sich das ändern würde. Für das, was wir bisher hatten, ist das für mich in Ordnung, aber kannst du dir das in einer Beziehung vorstellen?« Lance reichte mir die Taschentücher. »Nein, kann ich nicht. Ich denke, ich versteh, was du meinst.« »Aber es kann auch nicht so bleiben, oder? Du hast recht, ich habe sie verletzt. Toby hat ... er war echt sauer.« Ich musste tief durchatmen, bevor ich weiterreden konnte. Tobys Ultimatum hallte in meinem Kopf. »Ich möchte ihnen nicht nochmehr wehtun. Aber ich muss, oder? Wenn sie überhaupt mit mir reden, nur damit ich ihnen sagen kann, dass ich sie nicht möchte ... Also nur noch als Freund-Freund. Ohne Sex. Ich ... ich glaube nicht, dass wir es mit Sex irgendwann, irgendwie schaffen, da rauszukommen.« »Bist du dir sicher?« Er wirkte skeptisch. »Wenn du ihnen das sagst, dann musst du das auch durchhalten. Das ist dir hoffentlich klar. Du kannst dann nicht ständig deine Meinung ändern.« »Du hast es doch gerade gesagt: Ich muss endlich Verantwortung übernehmen.« Ich lächelte ihn schief an. Er erwiderte es mit einem Schmunzeln. »Also Toby und Roger als Freunde, hm? Wenn du dir sicher bist, dass es funktioniert: Go for it.« Noch einmal atmete ich tief durch, bevor ich aufstand und in die Küche ging. Es war gut, zu wissen, dass Lance im Nebenzimmer war und mich in meiner Entscheidung unterstützte. Es war merkwürdig, diesmal Tobys Nummer zu wählen, weil er es war, bei dem ich mich entschuldigen musste, nicht weil Roger nicht abnahm. Es klingelte lange und ich befürchtete bereits, dass Toby seine Drohung wahr machte, als doch endlich das Tuten endete. Ich ließ ihm nicht einmal Zeit, sich zu melden. »Es tut mir leid. Ich hätte nicht einfach gehen dürfen. Ich ... war überfordert. Es tut mir leid.« Von der anderen Seite der Leitung erklang ein erleichtertes Ausatmen. »Isaac ... Schön, von dir zu hören.« Da ich mit einer anderen Reaktion gerechnet hatte, Wut oder Vergebung, entstand ein unangenehmes Schweigen. Ich wusste nicht, wie ich nun auf das Thema kommen sollte, das ich eigentlich ansprechen wollte. Letztendlich entschied ich, dass es mit der Entschuldigung nicht getan war. »Ist Roger da und kannst du ihn mir geben oder besser laut stellen?« »Er ist direkt neben mir.« Es raschelte, dann änderte sich der Sound. »Und hört dich jetzt auch.« Die Worte waren schwer, doch ich bemühte mich, sie ohne Tränen auszusprechen. »Es tut mir leid, dass ich gegangen bin, ohne mit euch zu reden. Ich war komplett überfordert und hatte Angst, dass ihr mich doch überreden könntet, dass es okay ist, die Grenzen so weit zu verschieben. Es war für mich ... Ich hatte das Gefühl, dass es die einzige Möglichkeit für mich ist, mich nicht einlullen zu lassen.« So gut es ging, erklärte ich ihnen das, was ich zuvor Lance versucht hatte deutlich zu machen. Dass ich mich von ihren Gefühlen erdrückt fühlte, wie ich unser bisheriges Verhältnis sah und ich mir nicht vorstellen konnte, je einen gleichberechtigten Platz in ihrer Beziehung zu haben. Zum Glück ließen sie mich einfach reden, ohne mich zu unterbrechen. Nur ab und zu waren leise Geräusche zu hören, die verdeutlichten, dass sie mir noch immer zuhörten. »Ich mag euch, ihr seid mir wichtig und ich bin euch für alles dankbar, was ihr für mich getan habt, aber ich würde gern nur noch mit euch befreundet sein. Also wenn ihr das überhaupt noch irgendwie wollt ...« Zum Schluss hatte mich nun also doch die Sicherheit verlassen. Was ich tun würde, wenn sie gar keinen Kontakt mehr wollten? Ich hatte keine Ahnung. Auf der anderen Seite der Leitung war es totenstill. Ich wusste nicht, ob sie mit dieser Aussage gerechnet hatten oder etwas ganz anderes erwarteten. Ob sie überhaupt verstanden hatten, wie ich mich fühlte? »Das ist dir wirklich wichtig, oder?«, fragte letztendlich Roger. »Ja.« Ich hatte bei dieser Entscheidung trotz allem ein gutes Gefühl. Es fühlte sich wirklich richtig an. Schon es ihnen gegenüber ausgesprochen zu haben, war unglaublich erleichternd. »Gut. Aber ich möchte, wenn wir uns das nächste Mal sehen, mit dir darüber reden. Du hast gerade einige Sachen gesagt, die sehr verletzend sind, und die ich vollkommen anders sehe.« Mein erster Impuls war, mich zu entschuldigen, doch ich schluckte es herunter. Ich wollte mich nicht für meine Gefühle entschuldigen. Wenn sich bei dem Gespräch herausstellte, dass ich wirklich etwas gesagt hatte, was komplett daneben war, konnte ich das dann immer noch tun. »Ja, gern.« »Wir haben dich lieb, Kleiner. Wenn es dir dann besser geht und du nicht mehr so einen Scheiß baust, dann ist das für mich in Ordnung.« Im Gegensatz zu seinem Mann klang Toby wirklich ruhig. Aber vielleicht sparte er sich seine Kritik auch für die Aussprache auf. »Danke. Ich weiß, dass es euch gegenüber nicht fair war, einfach zu gehen.« Da ich ihnen im Moment nichts mehr zu sagen hatte und sie ruhig blieben, verabschiedete ich mich von ihnen. Als ich aus der Küche kam, stand Lance direkt von der Couch auf und nahm mich kommentarlos in eine Umarmung. Er klopfte mir auf den Rücken, dann schob er mich fort und lächelte. »Das wird.« »Ja, ich weiß. Danke, dass du mir mal wieder den Kopf gewaschen hast.« »Jederzeit wieder.« Ich erwiderte das Lächeln. »Ich geh mal Tino erlösen, okay? Wir sehen uns Dienstag bei der Probe.« Noch einmal klopfte mir Lance freundschaftlich auf die Schulter, dann brachte er mich zur Tür. Als ich wieder auf der Straße stand, sah ich zu Tinos Auto hinüber und zögerte. Sollte ich ... Ach, warum nicht. Ich hatte eine wichtige, schmerzhafte Entscheidung getroffen. Darauf durfte ich mir etwas Gutes gönnen, oder? Ich ließ mich auf den Beifahrersitz fallen und fragte: »Können wir etwas zu essen holen und dann zu dir?« Tino schnaufte amüsiert und startete den Wagen. »Sicher.« Kapitel 15: Samsa - Dezember 2014 --------------------------------- »Nein, lass mich los! Verpiss dich!« Ich trat und schlug nach der Gestalt, die mich packte. Das hier war vorbei! Das sollte nie wieder passieren. Doch es war eine andere Gestalt. Nicht der grünäugige Dämon, der mich noch immer verfolgte. Sie war größer, nicht so schlaksig, stärker! Gegen sie hätte ich keine Chance, ich könnte mich noch so wehren. »Tino, nicht! Lass mich in Ruhe!« Vielleicht half es, ihren Namen zu rufen. Bei ihm hatte es manchmal geholfen. Manchmal ... Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, während mir aus den dunklen, fast schwarzen Augen vor mir Wut entgegensprang. »Ich will nicht. Bitte, Tino.« Ich hatte doch nichts falsch gemacht.   »Hey, Samsa. Samsa! Wach auf!« Die Bilder verblassten, die Gefühle blieben. In meiner Brust war es eng, die Luft reichte nicht, obwohl ich so schnell atmete. »Samsa, mach die Augen auf. Sieh mich an.« Einer der letzten klaren Gedanken, die ich fassen konnte, sagte mir, dass ich der Aufforderung nachkommen sollte, dass dort der Ausweg zu finden war. Die dunklen Augen aus meinem Traum waren direkt vor meinem Gesicht. Ich schrie. Unartikuliert. Laut. Magenerschütternd. Nein! Nein! Das Gesicht verschwand, doch die Stimme, die aus weiter Entfernung meinen Namen sprach und auf mich einredete, blieb. Ich konnte ausmachen, dass sie mich beruhigen wollte, doch allein ihr Klang hatte den gegenteiligen Effekt. Ich versuchte, mich an dem wenigen, was ich zwischen den Tränen und im Halbdunkel erkennen konnte, festzuhalten. Ich durfte nicht weiter abgleiten. Schlafzimmer. Tinos Schlafzimmer. Tinos Stimme. Die es gerade schlimmer machte. »Sei still! Geh raus!« Die Gestalt bewegte sich von mir weg, zur Tür hinaus. Ich bin allein. Ich bin allein. Ich bin allein. Ich fand langsam wieder vollständig ins Zimmer zurück, konnte meine Umgebung wahrnehmen. Das Kopfkissen unter meinem Kopf, die Bettdecke über meinem Körper, das Bettlaken unter mir. Durch das Fenster wehte ein kühler Wind über meine Hand. Es war so still, dass man ihn hören konnte. Und Tinos Fußschritte vor der Tür. Die Lichtquelle bestand aus Tinos Handy auf dem Nachttisch. Daneben eine Wasserflasche, mein eigenes Handy. Ich griff danach und rief die App auf, die ich so lange nicht mehr gebraucht hatte. Das Schlimmste war langsam überstanden, aber ich spürte, dass es noch immer am Rande meines Bewusstseins lauerte. Die Panikattacke konnte ich aushalten, aber ich durfte nicht erneut in diese Traumrealität abrutschen. Sanft leitete mich die Stimme aus dem Handy, half mir, mich wieder zu sammeln, die Vergangenheit von der Realität und den Traum von der Wirklichkeit zu trennen. Diesmal hatte mein Hirn sich richtig verstrickt.   Als es überstanden war, war ich fertig. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauerte, aber lange. Länger als sonst. Ich musste ... Ich schrieb Toby und Roger eine Nachricht, dass sie sich melden sollten, wenn sie wach waren. Zwar hätte ich auch Lance schreiben können, aber es war noch immer so ein Reflex. Es kostete mich viel Kraft, aufzustehen und zur Tür zu gehen. Noch immer traute ich meinen Sinnen nicht, mir nicht doch wieder einen Streich zu spielen. Doch ich musste mit Tino reden. Ich wusste, dass er sich Sorgen machte. Er saß auf dem Sofa, den Blick starr auf die Tür gerichtet, und sprang auf, sobald ich ins Zimmer kam. »Ist alles in Ordnung? Was war los?« Mit einer Handbewegung hielt ich ihn auf, bevor er mich in den Arm nehmen konnte. »Bitte, gerade nicht. Kann ich dir das morgen erklären? Ich bin fertig und wollte dir nur kurz Bescheid sagen, dass es wieder geht.« »Ja sicher. Kann ich etwas für dich tun?« »Nein, nicht wirklich. Wobei ... würde es dir etwas ausmachen, im Wohnzimmer zu schlafen? Oder ich. Ich glaub, ich halte die Nähe gerade nicht aus.« »Kein Problem, ich schlafe hier. Geh wieder ins Bett, okay?« Hilflos lächelte er mich an. Es war offensichtlich, dass er noch weniger damit umgehen konnte als ich. »Ja. Danke.«   Mein Handy weckte mich am nächsten Morgen. Ich nahm ab, ohne nachzusehen. Ich war sicher, dass der Anruf von Roger oder Toby kam. »Hey, Kleiner«, erklang Rogers sanfte Stimme. »Wie geht es dir?« »Mies. Aber besser als gestern.« »Das ist gut. Was ist passiert?« Ich atmete tief durch und versuchte, die Nacht zu rekonstruieren, ohne die Gefühle zu nah an mich heranzulassen. »Ich hatte wieder Albträume. Von damals. Aber diesmal war es anders. Es war nicht er ... es war Tino.« »Was?! Wieso?« Bevor ich Roger antworten konnte, klopfte es an der Tür. Vorsichtig steckte Tino den Kopf herein. »Morgen. Ehm, ich will nicht lauschen, aber ich hör dich hier im Wohnzimmer. Ist es okay, wenn ich reinkomme? Sonst geh ich in die Küche oder so?« Ich zögerte. Er ließ mir die Wahl. Wie eigentlich immer. Er hatte mich nie in eine Richtung gedrängt. Und wenn das mit uns weitergehen sollte, musste ich mit ihm darüber reden. Ich konnte nicht verhindern, dass es vielleicht wieder passierte. Warum also nicht gleich? »Komm rein. Roger, ich stell dich mal laut.« Tino setzte sich aufs Bett, streckte schon eine Hand nach mir aus, zog sie dann aber doch zurück. Ich rutschte zu ihm und legte meinen Kopf in seinen Schoß. »Ist schon okay.« Er seufzte erleichtert und fuhr mit einer Hand durch meine Haare. Mit der anderen deutete er auf das erleuchtete Display meines Handys. »Du hast das Bild geändert.« »Ja. Es war Zeit.« Nun zeigte das Kontaktbild nur noch Toby und Roger, wie sie sich kurz vor einem Kuss anlächelten. Ein anderes hatte ich gestern nicht gefunden. Aber das Wichtigste war: Sie waren angezogen und nur zu zweit. »Und du schienst das andere nicht zu mögen.« »So würde ich das nicht sagen. Ich fand es nur für Freunde etwas sehr intim. Das hat mich etwas irritiert.« »Was hattest du denn für ein Bild?«, meldete sich Roger wieder zu Wort, den ich fast vergessen hatte. Ich spürte das Blut in meinen Wangen. »Du erinnerst dich noch an den einen Abend, irgendwann letztes Jahr, als ihr unbedingt ein neues Bild von mir wolltet und wir dann mit den Handykameras rumgespielt haben. Das von uns drei.« »Oh«, kam es von Roger. Dann lachte er. »Immerhin zeigt es unsere Vorzüge.« Auch Tino lachte, wenn auch nicht ganz so heiter. »Auf eine Art, die ich so nicht erwartet habe, ja.« »Es tut mir leid. Ich bin an das Bild gewöhnt und einfach nicht auf die Idee gekommen, es zu ändern.« Eindringlich sprach ich auf ihn ein: »Aber glaub mir: Wir sind wirklich nur noch Freunde.« »Ja. Ja, ich weiß.« Tino lächelte leicht. »Aber gestern ...« »Sagt mal, braucht ihr mich wirklich noch?«, fragte Roger dazwischen. »Das klingt mir doch eher nach Privatgesprächen zwischen euch. Du kannst uns auch später noch schreiben.« Ich sah kurz versichernd zu Tino. Ja, wir würden schon allein schaffen, das zu besprechen. »Okay, ich meld mich nachher. Oder wenn ich dich doch nochmal brauche.« »Kein Problem. Bis dann.« Mein Display wurde schwarz. »So. Was ist mit gestern? Hatte das etwas mit deinem Albtraum zu tun?« Sanft strich er mir durch die Haare. »Ich hatte das Gefühl, dass du eifersüchtig bist, als du das Bild gesehen hast. Und mir nicht glaubst, dass wir nur noch Freunde ohne Extras sind.« Er seufzte. »Nicht wirklich eifersüchtig. Ich meine, was ich sage: Es ist für mich absolut egal, wie viele andere Menschen du neben mir hast, aber sei bitte ehrlich. Und du hast immer gesagt, dass es sonst nur ONS gibt. Als ich das Bild gesehen hab, war ich wütend, weil es eben nicht für deine Ehrlichkeit sprach. Aber du hast es mir erklärt und spätestens, als ich sie gestern kennengelernt habe, habe ich dir geglaubt.« Ich richtete mich etwas auf. »Aber du hast die ganze Zeit im Rainbow noch wütend gewirkt.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nur nicht so gern dort. Ich bin nur mitgekommen, weil ich deine Freunde kennenlernen wollte. Sonst bekommen mich dort keine zehn Pferde rein. Glaub mir, das war der einzige Grund, warum ich so schlecht gelaunt war. Tut mir leid, wenn ich dir damit die Stimmung kaputt gemacht habe.« »Okay. Dann gehen wir das nächste Mal woanders hin«, beschloss ich. »Ich glaub nämlich, auch Toby und Roger waren nicht so begeistert von dir. Ich möchte gern, dass sie dich richtig kennenlernen.« Er lächelte und küsste mich. »Gut, machen wir.« Ich kuschelte mich wieder an ihn. Ich wusste, was folgen würde, wollte es aber nicht selbst ansprechen. »Magst du mir dann sagen, was gestern Nacht los war? Und wie ich dir helfen kann?« Er sah wirklich besorgt aus. »Es ist nämlich echt nicht angenehm, aufzuwachen, weil du mich im Traum anflehst, dir nichts zu tun, und dann rausgeschickt zu werden. Du hattest wirklich Angst vor mir, oder?« Verdammt, ich hatte auch noch im Schlaf geschrien? Die Nacht musste für ihn mindestens genauso schlimm gewesen sein wie für mich. »Ja, ich ... Es ist echt schwer für mich, darüber zu reden. Ich mag wirklich nicht ins Detail gehen. Nicht im Moment.« Tino bestätigte mit einem Nicken, dass es für ihn in Ordnung war. »Mein erster Freund ... er war sehr eifersüchtig und besitzergreifend. Besonders, wenn es um Toby und Roger ging. Manchmal ist er ... er ...« »Hey«, Tino zog mich dichter an sich. »Ich denke, ich habe heute Nacht genug gehört, um mir ein Bild machen zu können. Du musst es nicht aussprechen, wenn du nicht kannst.« »Danke.« Egal wie lange es her war, es wurde kaum leichter, darüber zu reden. Er küsste mich auf die Stirn. »Und weil du dachtest, ich sei eifersüchtig, hast du geträumt, dass ich an seiner Stelle wäre?« »Ja. Als du mich dann aufgeweckt hast, hab ich mich erschreckt und kam nicht ganz aus dem Traum raus. Deine Stimme ... Ich wusste, dass du mich beruhigen willst, aber sie hat es schlimmer gemacht. Ich musste allein mit der Panik kämpfen.« »Also für den Fall, dass es nochmal passiert, soll ich dich allein lassen?« »Nein! Normalerweise wäre es gut, wenn du sicherstellst, dass ich in der Realität bleibe. Rede mit mir. Über das Hier und Jetzt. Stell mir Fragen und bestehe auf Antworten. Also sowas wie: Wo bist du? Was siehst du? Wenn ich Unsinn erzähle, berichtige mich. Erinnere mich daran, wo ich wirklich bin und was passiert. Wenn ich nicht antworten kann, dann erzähle mir solche Dinge. Sobald ich wieder in der Realität bin, komm ich notfalls auch allein klar, aber so lange bin ich auf deine Hilfe angewiesen.« Ich lächelte ihn schief an. Er wirkte wenig überzeugt. »Auch wenn du hyperventilierst? Ich hatte da ziemlich Angst um dich.« »Ja. Am besten gibst du mir dann mein Handy. Ich hab da eine App drauf, die mir beim Runterkommen hilft.« Ohne ihm meinen Entsperrcode zu zeigen, rief ich die App auf, um ihm zu verdeutlichen, wie sie aufgebaut war. »Im Regelfall bin ich dann aber auch in der Lage, auszudrücken, was ich brauche.« Er griff nach seinem eigenen Handy und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass er die App herunterlud. »Nur für den Fall«, erklärte er mit einem schiefen Lächeln. »Danke, dass du dich um mich sorgst.« Ich schmiegte mich fester an ihn. »Selbstverständlich. Ich bin froh, wenn ich weiß, was ich für dich tun kann. Hilflos daneben stehen, fühlt sich echt scheiße an.« Zärtlich streichelte er über meine Haare, bis ich mich aufrichtete und damit verdeutlichte, dass ich aufstehen wollte. Wenn ich nicht langsam aufstand, duschen ging und an etwas anderes dachte, würde es mir den ganzen Tag nachhängen. Mein Versprechen, später noch mit Roger zu telefonieren würde ich natürlich halten, aber erst nach ein wenig Ablenkung. Kapitel 16: Samsa – Februar 2015 -------------------------------- »Nein, lass mich los! Verpiss dich!« Ich trat und schlug nach der Gestalt, die mich packte. Das hier war vorbei! Das sollte nie wieder passieren. Doch es war eine andere Gestalt. Nicht der grünäugige Dämon, der mich noch immer verfolgte. Sie war größer, nicht so schlaksig, stärker! Gegen sie hätte ich keine Chance, ich könnte mich noch so wehren. »Tino, nicht! Lass mich in Ruhe!« Vielleicht half es, ihren Namen zu rufen. Bei ihm hatte es manchmal geholfen. Manchmal ... Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, während mir aus den dunklen, fast schwarzen Augen vor mir Wut entgegensprang. »Ich will nicht. Bitte, Tino.« Ich hatte doch nichts falsch gemacht.   »Hey, Samsa. Samsa! Wach auf!« Die Bilder verblassten, die Gefühle blieben. In meiner Brust war es eng, die Luft reichte nicht, obwohl ich so schnell atmete. »Samsa, mach die Augen auf. Sieh mich an.« Einer der letzten klaren Gedanken, die ich fassen konnte, sagte mir, dass ich der Aufforderung nachkommen sollte, dass dort der Ausweg zu finden war. Die dunklen Augen aus meinem Traum waren direkt vor meinem Gesicht. Ich schrie. Unartikuliert. Laut. Magenerschütternd. Nein! Nein! Das Gesicht verschwand, doch die Stimme, die aus weiter Entfernung meinen Namen sprach und auf mich einredete, blieb. Ich konnte ausmachen, dass sie mich beruhigen wollte, doch allein ihr Klang hatte den gegenteiligen Effekt. Ich versuchte, mich an dem wenigen, was ich zwischen den Tränen und im Halbdunkel erkennen konnte, festzuhalten. Ich durfte nicht weiter abgleiten. Schlafzimmer. Tinos Schlafzimmer. Tinos Stimme. Die es gerade schlimmer machte. »Sei still! Geh raus!« Die Gestalt bewegte sich von mir weg, zur Tür hinaus. Ich bin allein. Ich bin allein. Ich bin allein. Ich fand langsam wieder vollständig ins Zimmer zurück, konnte meine Umgebung wahrnehmen. Das Kopfkissen unter meinem Kopf, die Bettdecke über meinem Körper, das Bettlaken unter mir. Durch das Fenster wehte ein kühler Wind über meine Hand. Es war so still, dass man ihn hören konnte. Und Tinos Fußschritte vor der Tür. Die Lichtquelle bestand aus Tinos Handy auf dem Nachttisch. Daneben eine Wasserflasche, mein eigenes Handy. Ich griff danach und rief die App auf, die ich so lange nicht mehr gebraucht hatte. Das Schlimmste war langsam überstanden, aber ich spürte, dass es noch immer am Rande meines Bewusstseins lauerte. Die Panikattacke konnte ich aushalten, aber ich durfte nicht erneut in diese Traumrealität abrutschen. Sanft leitete mich die Stimme aus dem Handy, half mir, mich wieder zu sammeln, die Vergangenheit von der Realität und den Traum von der Wirklichkeit zu trennen. Diesmal hatte mein Hirn sich richtig verstrickt.   Als es überstanden war, war ich fertig. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauerte, aber lange. Länger als sonst. Ich musste ... Ich schrieb Toby und Roger eine Nachricht, dass sie sich melden sollten, wenn sie wach waren. Zwar hätte ich auch Lance schreiben können, aber es war noch immer so ein Reflex. Es kostete mich viel Kraft, aufzustehen und zur Tür zu gehen. Noch immer traute ich meinen Sinnen nicht, mir nicht doch wieder einen Streich zu spielen. Doch ich musste mit Tino reden. Ich wusste, dass er sich Sorgen machte. Er saß auf dem Sofa, den Blick starr auf die Tür gerichtet, und sprang auf, sobald ich ins Zimmer kam. »Ist alles in Ordnung? Was war los?« Mit einer Handbewegung hielt ich ihn auf, bevor er mich in den Arm nehmen konnte. »Bitte, gerade nicht. Kann ich dir das morgen erklären? Ich bin fertig und wollte dir nur kurz Bescheid sagen, dass es wieder geht.« »Ja sicher. Kann ich etwas für dich tun?« »Nein, nicht wirklich. Wobei ... würde es dir etwas ausmachen, im Wohnzimmer zu schlafen? Oder ich. Ich glaub, ich halte die Nähe gerade nicht aus.« »Kein Problem, ich schlafe hier. Geh wieder ins Bett, okay?« Hilflos lächelte er mich an. Es war offensichtlich, dass er noch weniger damit umgehen konnte als ich. »Ja. Danke.«   Mein Handy weckte mich am nächsten Morgen. Ich nahm ab, ohne nachzusehen. Ich war sicher, dass der Anruf von Roger oder Toby kam. »Hey, Kleiner«, erklang Rogers sanfte Stimme. »Wie geht es dir?« »Mies. Aber besser als gestern.« »Das ist gut. Was ist passiert?« Ich atmete tief durch und versuchte, die Nacht zu rekonstruieren, ohne die Gefühle zu nah an mich heranzulassen. »Ich hatte wieder Albträume. Von damals. Aber diesmal war es anders. Es war nicht er ... es war Tino.« »Was?! Wieso?«»Ich ... Als ihr gestern angerufen habt, hat er Tobys Kontaktbild gesehen. Du weißt schon, das von uns dreien, als wir den einen Abend mit den Handykameras rumgespielt haben. Natürlich hat er Fragen gestellt und ich glaub, er hat mir nicht ganz geglaubt, dass wir nur noch Freunde sind. Und als wir gestern Abend weg waren, war er auch die ganze Zeit so komisch drauf. Ich glaube, er ist echt eifersüchtig.« Ich rieb mit der Hand über meinen Arm, um einen Reiz zu erzeugen, der mich davon abhielt, zu sehr in die Vergangenheit abzurutschen. Nur zur Sicherheit. »Und damals ... es war immer besonders schlimm, wenn es um euch ging. Scheinbar ist da einiges durcheinandergeraten in meinem Kopf. Ich hab nur keine Ahnung, wie ich jetzt mit ihm umgehen soll. Ich hab ihn panisch angeschrien, weil ich nicht aus meiner Traumwelt rauskam.« Bevor ich Roger antworten konnte, klopfte es an der Tür. Vorsichtig steckte Tino den Kopf herein. »Morgen. Ehm, ich will nicht lauschen, aber ich hör dich hier im Wohnzimmer. Ist es okay, wenn ich reinkomme? Sonst geh ich in die Küche oder so?« Ich zögerte. Er ließ mir die Wahl. Wie eigentlich immer. Er hatte mich nie in eine Richtung gedrängt. Und wenn das mit uns weitergehen sollte, musste ich mit ihm darüber reden. Ich konnte nicht verhindern, dass es vielleicht wieder passierte. Warum also nicht gleich? »Komm rein. Roger, ich stell dich mal laut.« Tino setzte sich aufs Bett, streckte schon eine Hand nach mir aus, zog sie dann aber doch zurück. Ich rutschte zu ihm und legte meinen Kopf in seinen Schoß. »Ist schon okay.« Er seufzte erleichtert und fuhr mit einer Hand durch meine Haare. Mit der anderen deutete er auf das erleuchtete Display meines Handys. »Du hast das Bild geändert.« »Ja. Es war Zeit.« Nun zeigte das Kontaktbild nur noch Toby und Roger, wie sie sich kurz vor einem Kuss anlächelten. Ein anderes hatte ich gestern nicht gefunden. Aber das Wichtigste war: Sie waren angezogen und nur zu zweit. »Und du schienst das andere nicht zu mögen.« »So würde ich das nicht sagen. Ich fand es nur für Freunde etwas sehr intim. Das hat mich etwas irritiert.« »Was hattest du denn für ein Bild?«, meldete sich Roger wieder zu Wort, den ich fast vergessen hatte. Ich spürte das Blut in meinen Wangen. »Du erinnerst dich noch an den einen Abend, irgendwann letztes Jahr, als ihr unbedingt ein neues Bild von mir wolltet und wir dann mit den Handykameras rumgespielt haben. Das von uns drei.« »Oh«, kam es von Roger. Dann lachte er. »Immerhin zeigt es unsere Vorzüge.« Auch Tino lachte, wenn auch nicht ganz so heiter. »Auf eine Art, die ich so nicht erwartet habe, ja.« »Es tut mir leid. Ich bin an das Bild gewöhnt und einfach nicht auf die Idee gekommen, es zu ändern.« Eindringlich sprach ich auf ihn ein: »Aber glaub mir: Wir sind wirklich nur noch Freunde.« »Ja. Ja, ich weiß.« Tino lächelte leicht. »Aber gestern ...« »Sagt mal, braucht ihr mich wirklich noch?«, fragte Roger dazwischen. »Das klingt mir doch eher nach Privatgesprächen zwischen euch. Du kannst uns auch später noch schreiben.« Ich sah kurz versichernd zu Tino. Ja, wir würden schon allein schaffen, das zu besprechen. »Okay, ich meld mich nachher. Oder wenn ich dich doch nochmal brauche.« »Kein Problem. Bis dann.« Mein Display wurde schwarz. »So. Was ist mit gestern? Hatte das etwas mit deinem Albtraum zu tun?« Sanft strich er mir durch die Haare. »Ich hatte das Gefühl, dass du eifersüchtig bist, als du das Bild gesehen hast. Und mir nicht glaubst, dass wir nur noch Freunde ohne Extras sind.« Er seufzte. »Nicht wirklich eifersüchtig. Ich meine, was ich sage: Es ist für mich absolut egal, wie viele andere Menschen du neben mir hast, aber sei bitte ehrlich. Und du hast immer gesagt, dass es sonst nur ONS gibt. Als ich das Bild gesehen hab, war ich wütend, weil es eben nicht für deine Ehrlichkeit sprach. Aber du hast es mir erklärt und spätestens, als ich sie gestern kennengelernt habe, habe ich dir geglaubt.« Ich richtete mich etwas auf. »Aber du hast die ganze Zeit im Rainbow noch wütend gewirkt.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nur nicht so gern dort. Ich bin nur mitgekommen, weil ich deine Freunde kennenlernen wollte. Sonst bekommen mich dort keine zehn Pferde rein. Glaub mir, das war der einzige Grund, warum ich so schlecht gelaunt war. Tut mir leid, wenn ich dir damit die Stimmung kaputt gemacht habe.« »Okay. Dann gehen wir das nächste Mal woanders hin«, beschloss ich. »Ich glaub nämlich, auch Toby und Roger waren nicht so begeistert von dir. Ich möchte gern, dass sie dich richtig kennenlernen.« Er lächelte und küsste mich. »Gut, machen wir.« Ich kuschelte mich wieder an ihn. Ich wusste, was folgen würde, wollte es aber nicht selbst ansprechen. »Magst du mir dann sagen, was gestern Nacht los war? Und wie ich dir helfen kann?« Er sah wirklich besorgt aus. »Es ist nämlich echt nicht angenehm, aufzuwachen, weil du mich im Traum anflehst, dir nichts zu tun, und dann rausgeschickt zu werden. Du hattest wirklich Angst vor mir, oder?« Verdammt, ich hatte auch noch im Schlaf geschrien? Die Nacht musste für ihn mindestens genauso schlimm gewesen sein wie für mich. »Ja, ich ... Es ist echt schwer für mich, darüber zu reden. Ich mag wirklich nicht ins Detail gehen. Nicht im Moment.« Tino bestätigte mit einem Nicken, dass es für ihn in Ordnung war. »Mein erster Freund ... er war sehr eifersüchtig und besitzergreifend. Besonders, wenn es um Toby und Roger ging. Manchmal ist er ... er ...« »Hey«, Tino zog mich dichter an sich. »Ich denke, ich habe heute Nacht genug gehört, um mir ein Bild machen zu können. Du musst es nicht aussprechen, wenn du nicht kannst.« »Danke.« Egal wie lange es her war, es wurde kaum leichter, darüber zu reden. Er küsste mich auf die Stirn. »Und weil du dachtest, ich sei eifersüchtig, hast du geträumt, dass ich an seiner Stelle wäre?« »Ja. Als du mich dann aufgeweckt hast, hab ich mich erschreckt und kam nicht ganz aus dem Traum raus. Deine Stimme ... Ich wusste, dass du mich beruhigen willst, aber sie hat es schlimmer gemacht. Ich musste allein mit der Panik kämpfen.« »Also für den Fall, dass es nochmal passiert, soll ich dich allein lassen?« »Nein! Normalerweise wäre es gut, wenn du sicherstellst, dass ich in der Realität bleibe. Rede mit mir. Über das Hier und Jetzt. Stell mir Fragen und bestehe auf Antworten. Also sowas wie: Wo bist du? Was siehst du? Wenn ich Unsinn erzähle, berichtige mich. Erinnere mich daran, wo ich wirklich bin und was passiert. Wenn ich nicht antworten kann, dann erzähle mir solche Dinge. Sobald ich wieder in der Realität bin, komm ich notfalls auch allein klar, aber so lange bin ich auf deine Hilfe angewiesen.« Ich lächelte ihn schief an. Er wirkte wenig überzeugt. »Auch wenn du hyperventilierst? Ich hatte da ziemlich Angst um dich.« »Ja. Am besten gibst du mir dann mein Handy. Ich hab da eine App drauf, die mir beim Runterkommen hilft.« Ohne ihm meinen Entsperrcode zu zeigen, rief ich die App auf, um ihm zu verdeutlichen, wie sie aufgebaut war. »Im Regelfall bin ich dann aber auch in der Lage, auszudrücken, was ich brauche.« Er griff nach seinem eigenen Handy und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass er die App herunterlud. »Nur für den Fall«, erklärte er mit einem schiefen Lächeln. »Danke, dass du dich um mich sorgst.« Ich schmiegte mich fester an ihn. »Selbstverständlich. Ich bin froh, wenn ich weiß, was ich für dich tun kann. Hilflos daneben stehen, fühlt sich echt scheiße an.« Zärtlich streichelte er über meine Haare, bis ich mich aufrichtete und damit verdeutlichte, dass ich aufstehen wollte. Wenn ich nicht langsam aufstand, duschen ging und an etwas anderes dachte, würde es mir den ganzen Tag nachhängen. Mein Versprechen, später noch mit Roger zu telefonieren würde ich natürlich halten, aber erst nach ein wenig Ablenkung. Kapitel 17: Samsa – April 2015 ------------------------------ Ich kroch zu Tino unter die Decke. Da es in den letzten Tagen wieder kühler geworden war und er nicht mit mir gerechnet hatte, trug er einen Schlafanzug. Dennoch strahlte er mächtig Hitze ab und sorgte dafür, dass mir schnell warm wurde. Zufrieden seufzte ich gegen seinen Nacken. Jetzt war mein Tag perfekt. Nicht, dass ich einen schlechten Tag gehabt hätte. Wir hatten bei der Bandprobe einiges geschafft und waren danach etwas Trinken gegangen. Ich hatte eine wirklich beeindruckende Frau kennengelernt und mit ihr Spaß gehabt. Und dennoch hatte etwas gefehlt. Hatte ich mir erträumt oder gar erhofft, dass es jemals so sein würde? Nein, sicher nicht. War es gut? Auf jeden Fall! Tino murmelte im Schlaf und drehte sich zu mir um. Er wurde nicht einmal wirklich wach, küsste mich aber und nahm mich in den Arm. Zufrieden lehnte ich mich an ihn. Bei ihm fühlte ich mich sicher. Er erwartete nichts, erzwang nichts und erdrückte mich nicht. Und dennoch war ich ihm nicht egal. Ich wusste, dass er sich morgen früh glücklich an mich drücken würde, wenn er mich sah, dass er nach meinem Abend fragen und sich für mich freuen, aber auch keine Antwort erzwingen würde. Er ließ mir so viel Freiraum, wie ich benötigte. Nicht einmal, als ich mich eine Woche lang nicht bei ihm gemeldet hatte, war er wütend oder drängend geworden. Er hatte lediglich nachgefragt, ob ich mal wieder Lust hätte, ihn zu treffen, und wann ich Zeit hätte. Kein Groll, keine Vorwürfe. Einfach nur die Erinnerung, dass er mich gern sehen wollte. Hätte ich darauf nicht geantwortet, hätte er es vermutlich nicht noch einmal versucht. Letztendlich war das für mich der ausschlaggebende Punkt gewesen, sein Angebot, seinen Ersatzschlüssel zu bekommen und jederzeit bei ihm aufzuschlagen, anzunehmen. Es war eindeutig, dass er damit keine Erwartungen setzte, nicht davon ausging, dass ich immer zu ihm kam. Wenn er mich unbedingt sehen wollte, dann fragte er, ob ich vorbeikam, und akzeptierte ein Nein. Manchmal fragte ich mich, was ich tun würde, wenn eines Nachts jemand neben ihm lag, wenn ich ankam. Immerhin hatte auch er One-Night-Stands und Kurzzeitaffären. Wenn er nicht eh davon erzählte, merkte ich es an Kleinigkeiten. Die Bettwäsche war dann gewechselt, die Wohnung etwas ordentlicher und es roch anders, nicht mehr nur nach ihm. Doch genau wie er erwartete ich nichts anderes, als dass er nicht log. Ich strich über seinen Oberarm, genoss die warme, weiche Haut. Er seufzte leise und drückte das Gesicht in meine Halsbeuge. Unweigerlich lächelte ich. Wenn ich bei ihm war, fühlte ich mich absolut sicher. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Natürlich waren die Albträume nicht magisch verschwunden, natürlich hatte ich ab und zu Panikattacken, aber alles in allem gab er mir Ruhe und Schutz; auch vor mir selbst. Bei ihm fühlte ich mich sogar so sicher, dass ich kurz vor meinem Geburtstag von mir aus noch einmal das Gespräch über meine Vergangenheit gesucht hatte. Er wusste nach wie vor nicht, wer mein Ex war, doch das tat nichts zur Sache. Wichtiger war, dass er ein ziemlich vollständiges Bild von dem hatte, was passiert war, und meine Grenzen ohne Diskussion akzeptierte. Scheiße, ich fühlte mich mit ihm sogar so sicher, dass ich ihm gestanden hatte, in ihn verliebt zu sein, weil ich mir absolut sicher war, dass er daraus keine Verpflichtungen ableiteten würde. Im ersten Moment war es fast schon niedlich gewesen, wie sehr es ihn verunsicherte, bis er verstanden hatte, dass ich darauf nichts von ihm erwartete; keine Erwiderung, keine Konsequenzen. Ich hatte es ihm einfach nur sagen wollen. Weil es fair war. Wenn es für ihn ein Grund gewesen wäre, mich nicht mehr sehen zu wollen, dann hätte ich das so akzeptiert. Nach einer Nacht darüber schlafen, konnte er es zum Glück annehmen. Ob wir zusammen waren? Keiner von uns hätte es so genannt, wir hatten keinerlei Verpflichtungen füreinander, aber ich für meinen Teil hätte wohl auch niemand berichtigt. Kapitel 18: Samsa – August 2015 I --------------------------------- »Hey, aufwachen.« Tino rüttelte mich an der Schulter, bis ich brummend die Augen öffnete. »Was ist los?« Er drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Ich muss dich leider rausschmeißen. Ich bin zum Frühstück verabredet.« Ich gab einen unwilligen Laut von mir – ich war erst spät ins Bett gekommen und hatte sicher nicht lange geschlafen –, streckte mich und drückte mich dann an seine Brust. »Wie lange hab ich noch?« »Etwa eine viertel Stunde, dann solltest du weg sein.« Genervt brummte ich. Wirklich, er erwartete, dass ich in einer viertel Stunde so weit war? »Sorry. Ich hab nicht mitbekommen, dass du gestern noch hergekommen bist. Sonst hätte ich dich vorgewarnt.« »Schon gut.« War es nicht, aber ändern ließ es sich nicht. Langsam erhob ich mich. »Ich geh kurz duschen.« »Schaffst du das denn?«, fragte Tino skeptisch nach und stand ebenfalls auf. »Ja. Nur kurz zum Wachwerden.« Bittend sah ich über die Schulter zu ihm. Ich hatte noch nicht auf die Uhr gesehen, aber ich hatte vielleicht was – drei Stunden? – geschlafen. Wenigstens etwas kaltes Wasser, damit ich nicht ganz wie eine wandelnde Leiche durch die Stadt fuhr. »Na gut, aber beeil dich wirklich!« Streng sah er zurück. »Ich wollte eh gleich Kaffee kochen, willst du dir einen mitnehmen?« »Das wäre echt lieb! Danke.« Zügig begab ich mich ins Bad. Langsam drehte ich die Dusche immer kälter. Dabei brummelte ich meinen Unmut heraus. Ich war nicht böse, dass Tino mich rausschmiss, das war sein gutes Recht, aber es störte mich, dass es so kurzfristig war. Wer lud sich jemand zum Frühstück ein und stand erst 15 Minuten vorher auf? Und dann auch noch so unglaublich früh! Es war Sonntag, verdammt nochmal! Ich hielt mir den Wasserstrahl über den Kopf und brummte danach noch lauter. Ach Scheiße! Toll, jetzt durfte ich mir auch noch die Haare waschen. Wenn ich es nicht tat, sobald sie einmal nass waren, sah ich aus wie ein Wischmob. Nicht mein Morgen. Ganz eindeutig nicht mein Morgen. Seufzend ergab ich mich in mein Schicksal. »Mach hin, Samsa! Deine Zeit läuft ab!«, rief Tino von draußen, als ich mir das Shampoo gerade wieder ausspülte. Moment, hatte ich so lange gebraucht? Ja, vermutlich ... Ich war höllisch müde, genervt und hatte Kopfschmerzen, sicher hatte ich wieder erst minutenlang unter der Dusche gestanden und vor mich hingestarrt, bevor ich in der Lage gewesen war, irgendwas zu tun. »Ich bin gleich so weit«, rief ich zurück. Ich machte, dass ich aus dem Bad und in meine Klamotten kam, auch wenn das nicht so schnell ging, wie ich das gern gehabt hätte. Ich war unkoordiniert und verhedderte mich in meinen Klamotten. Zu früh! Zu wenig Schlaf! Der Stress verschlimmerte meinen Zustand nur noch. Als ich endlich in die Küche trat, klingelte es bereits an der Tür. Wütend funkelte Tino mir entgegen, nahm den Thermobecher vom Tisch und drückte ihn mir so heftig gegen die Brust, dass er mich mit dem gesamten heißen Kaffee überschüttet hätte, wäre es kein geschlossenes Behältnis gewesen. »Bist du jetzt zufrieden, ja? Mach, dass du rauskommst! Und werf den Schlüssel in den Briefkasten, wenn du das nächste Mal in der Nähe bist.« Für einen Moment starrte ich ihn nur an, dann packte ich den Becher, nickte und bedankte mich knapp dafür. Ich hatte so viel ihm Kopf, was ich ihm darauf entgegnen wollte, doch stattdessen presste ich die Lippen aufeinander und ging. Wortlos lief ich an der Person vorbei, die unten an der Tür stand, bedeutete ihr aber, dass sie rein konnte. Kurzentschlossen ließ ich den Schlüssel gleich im Briefkasten. »Ich versteh’s wirklich nicht, Toby! Was hab ich falsch gemacht?« Wie immer, wenn ich in zwischenmenschlichen Dingen nicht weiterkam, war ich, nachdem ich noch etwas geschlafen hatte, ins Fitnessstudio gegangen und hatte Toby um seine Pause im nahegelegenen Café gebeten. Toby zuckte mit den Schultern. »Aus deiner Sicht: Gar nichts. Aus seiner Sicht: Ich weiß es nicht. Vielleicht denkt er, du hättest extra getrödelt, um ihm das Date zu versauen? Ich meine, was hast du nochmal gesagt, hat er gesagt, als er dich rausgeschmissen hat?« »Ob ich zufrieden sei, dass ich gehen und den Schlüssel in den Briefkasten werfen soll.« Wenn man von der Erklärung ausging, dann machte der erste Satz durchaus Sinn. Nicht, dass ich verstand, wie Tino auf so etwas kam. Ich hatte keinen Grund, ihm das Date versauen zu wollen. Ich war ja nicht einmal sicher, ob es ein Date war. Er konnte sich mit sonst wem zum Frühstück treffen. »Und du bist einfach gegangen, ohne etwas zu sagen?« Ungläubig starrte Toby mich an. »Was hätte ich denn sagen sollen? Er hat vorher gesagt, dass ich mich beeilen soll. Wenn ich noch diskutiert hätte, hätte es nur noch länger gedauert.« »Zum Beispiel dass er so nicht mit dir reden kann?« Aufgebracht schüttelte Toby den Kopf. »Warum bist du denn jetzt wütend auf ihn?« Warum regte er sich auf? Ich wollte doch nur verstehen, welchen Fehler ich gemacht hatte. Tobys Wut flaute nicht ab. »Weil er dich ohne eine Erklärung rausgeschmissen hat!« »Es ist seine Wohnung. Toby, wirklich, deine Wut hilft mir gerade nicht.« Er seufzte. »Bist du überhaupt nicht sauer auf ihn? Ich dachte, du wärst in ihn verliebt. Er hat quasi mit dir Schluss gemacht. Verstehst du das nicht?« »Doch. Aber es ist okay.« Das hieß nicht, dass ich nicht enttäuscht war oder es nicht wehtat, aber es war eben trotzdem okay. »Er hat keine Verpflichtungen mir gegenüber. Wenn er mich nicht mehr sehen will, dann akzeptiere ich das. Toby, ich wollte wirklich nur verstehen, was da schiefgelaufen ist. Nicht mehr.« Skeptisch zog Toby die Augenbrauen zusammen. »Bist du sicher? Also, dass es okay ist?« »Ja.« Versichernd lächelte ich ihn an. »Vielleicht ändert sich das noch, keine Ahnung, vielleicht kommt das erst später und ich brauch noch etwas, es zu verstehen, aber im Moment ist das in Ordnung. Außerdem ... Ich überlege, ob ich ihm nachher schreibe. Wenn es wirklich so ein Missverständnis war, dann will ich das wenigstens kurz klären. Schließlich wollte er nur den Schlüssel zurück. Keine Ahnung, ich hab auch schonmal darüber nachgedacht, dass das schief laufen könnte, weil ich eben nicht weiß, wann er verabredet ist. Vielleicht ist das alles, was er wollte, und eigentlich will er weitermachen wie bisher?« Toby seufzte tief und legte mir die Hand auf den Unterarm. Vorsichtig lächelte er. »Pass bitte auf dich auf, okay? Das, was du da gerade sagst ... Ich mache mir ein wenig Sorgen um dich. Ich sage nicht, dass ich Tino das zutraue, ich fand ihn bisher echt nett, aber ich habe Angst, dass du dich auf ungesunde Art an ihn bindest. Er behandelt dich mies und du willst ihm hinterherrennen und hoffst darauf, dass er doch nicht Schluss gemacht hat ... Das kann schiefgehen.« Ich griff ebenfalls nach seinem Unterarm, strich mit dem Daumen darüber und nickte nachdenklich. Vielleicht hatte Toby recht. Vielleicht aber auch nicht. Dennoch hatte ich das Bedürfnis, das zu klären. Ich glaubte eher daran, dass Tino auf den Erklärungsversuch antwortete, dass er gar nichts mehr mit mir zutun haben wollte, als dass er mich ausnutzte. Andererseits hatte ich das schon einmal geglaubt ... »Danke, dass du dir Sorgen machst, aber ich hab das im Griff. Glaub ich.« Das Lächeln geriet etwas schief. »Was hältst du davon: Ich halte dich die nächsten Tage auf dem Laufenden und wenn du das Gefühl hast, da geht etwas schief, dann schnappst du dir Roger und Lance und ihr wascht mir den Kopf. Ich bin mir sicher, zusammen bekommt ihr mich zur Vernunft.« Toby lächelte. »Ist gut. Ich vertraut dir, dass du uns sagst, wenn etwas passiert.« »Tu ich.« Diesmal gelang mir das Lächeln ehrlich und ich lehnte mich über den Tisch, um ihn auf die Wange zu küssen. »Ich schreib dir, sobald ich etwas von ihm höre.« Toby erwiderte die Geste. »Ich drück dir die Daumen.« Kapitel 19: Samsa – August 2015 II ---------------------------------- ›Es tut mir leid. Ich wollte dir dein Date nicht vermiesen. War’s das jetzt mit uns oder willst du mich noch immer treffen?‹ Ich seufzte und legte mein Handy weg. Egal wie oft ich auf die Nachricht starrte, es änderte sich nichts daran, dass sie zwar gelesen, aber nicht beantwortet wurde. Vermutlich sollte ich einen Haken darunter setzten. Frustriert ließ ich mich ins Kissen sinken und starrte an die Decke. Ich hätte wissen sollen, dass es irgendwann so endete. Niemand außer mir wollte auf Dauer nur eine Fickfreundschaft. Vermutlich hatte er schon lange einen Grund gesucht, das zu beenden, ohne mir auf die Füße zu treten. Dabei wäre es sehr einfach gewesen: ›Samsa, ich möchte dich nicht mehr sehen.‹ Damit wäre es erledigt gewesen. Aber so ... Es war frustrierend, weil es sich offenbar wirklich nur um ein Missverständnis handelte. Mein Handy vibrierte, als eine Nachricht ankam. Obwohl ich wusste, dass ich mich albern benahm, sprang ich auf und entsperrte schnell den Bildschirm. ›Bist du noch wach? Kann ich dich anrufen?‹ Ich schickte ihm nur ein Daumen-hoch-Smiley als Antwort und wartete dann gespannt. Ich hatte wirklich die Hoffnung aufgegeben. »Bist du wirklich noch wach oder habe ich dich geweckt?«, begrüßte mich Tino, nachdem ich abgenommen hatte. »Ich bin noch wach ... Konnte nicht schlafen.« Auf der anderen Seite war ein Seufzen zu hören. »Geht mir auch so.« Gerade wollte ich das folgende, peinliche Schweigen unterbrechen, als er das für uns übernahm. »Magst du herkommen?« Mein erster Impuls war es, sofort zuzusagen, doch Tobys Worte hallten in meinem Kopf wider. Ich sollte es Tino nicht so einfach machen. »Ich bin nicht sicher. Ich glaub, ich würde gerne erst die Sache von heute Morgen klären.« »Ich auch. Aber nicht so gern über Telefon.« »O-Okay, ich komm rum.« »Danke.« »Oh, heiß! Warum hast du mich nicht vorgewarnt?« Tino klang nicht so fröhlich, wie er es gern gehabt hätte, und auch sein Grinsen misslang. »Ich wusste nicht, dass du Motorrad fährst.« »Meistens bin ich zu betrunken, wenn ich herkomme. Außerdem hab ich keine Lust auf den Stadtverkehr.« Ich holte seinen Becher aus meiner Tasche und reichte ihm den. Achtlos stellte er ihn auf den Küchentisch, wo auch mein Schlüssel lag, dann ging er vor ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen. Ich ließ zumindest Helm, Schuhe und Jacke im Flur, die Hose behielt ich erstmal an. Wer wusste schon, ob ich nicht sowieso gleich wieder gehen sollte. »Was sollte das heute Morgen?«, kam Tino direkt auf den Punkt. »Ich dachte, wir waren uns einig, dass Eifersuchtsszenen daneben sind?« Ein wenig musste ich schmunzeln. Toby lag wohl richtig. Aber er hatte damit auch deutlich mehr Erfahrung als ich. »Glaub mir, das hatte nichts mit Eifersucht zu tun. Ich bin gestern, beziehungsweise heute Morgen, erst kurz vor fünf hier angekommen. Du hast mich absolut kalt erwischt. Ja, ich hätte direkt gehen sollen, das Duschen war ein Fehler, aber ich hatte das Gefühl, sonst nicht einmal bei der Bahn anzukommen.« »Du hast also nicht extra getrödelt, um mein Date zu verschrecken?« Ganz überzeugt schien er noch nicht, noch immer waren die Augenbrauen skeptisch zusammengezogen. »Nein, auf keinen Fall. Ich war langsam, ja, aber nicht absichtlich. Ich war so müde, ich hab es selbst nicht bemerkt, wie lange ich wirklich unter der Dusche stand. Wie gesagt, das war mein Fehler. Ich hoffe, es hat trotzdem mit euch geklappt?« Toni schnaufte und schüttelte den Kopf. »Erinner mich nicht daran. They ist nicht mal hochgekommen.« »Das tut mir leid.« Ich stellte mit einem Blickkontakt sicher, dass es in Ordnung war, und legte ihm meine Hand auf den Oberschenkel. Er nahm sie und zog mich daran vorsichtig dichter zu sich. Als mein Kopf an seiner Brust lag, legte er den Arm um mich. »Schon gut. Es wäre erst unser zweites Treffen gewesen. Vermutlich ist they mit wem anders besser dran, wenn schon deine Anwesenheit ein Problem darstellt.« Ich schmiegte mich an ihn, streckte die Beine auf der Couch aus. »Trotzdem ist es passiert und das tut mir leid.« Er strich mir durch die Haare und gab einen Kuss darauf. »Mach dir darüber keine Gedanken mehr, okay? Ich hab auch nicht richtig reagiert. Ich hätte nicht einfach annehmen dürfen, dass du es mit Absicht machst. Es tut mir auch leid.« Da ich dazu nichts mehr zu sagen wusste, drehte ich mein Gesicht einfach nur zu ihm und wartete, ob er das Angebot annahm. Doch erst als ich ihm sanft durch den Dreitagebart strich, verstand er es und küsste mich. Seine Hand wanderte von meiner Flanke über die Hüfte zum Oberschenkel und über meinen Hintern wieder nach oben. »Das ist echt sexy«, raunte er gegen meine Lippen. »Es lässt deine Beine länger wirken.« Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch. »Soll mich das daran erinnern, dass ich klein bin, oder ein Kompliment sein?« »Glaub mir, im Moment hab ich keine anderen Intentionen, als dir Komplimente zu machen.« Er suchte wieder meine Lippen und knabberte diesmal leicht daran. Einladend öffnete ich den Mund und kam seiner Zunge entgegen. Seine Hand legte sich in meinen Schritt und strich hart genug darüber, damit ich es durch die feste Hose spürte. »Weißt du, was das einzig Gute an der Situation ist? Geiler Versöhnungssex!« »Du weißt aber schon, dass ich dazu die Hose ausziehen muss?« Prompt machte er sich an dem Verschluss zu schaffen. »Damit kann ich leben«. Mit jeder Bewegung strich mein Schwanz über seinen Bauch und die Innenfläche seiner Hand. Die andere umklammerte angenehm fest meine Hüfte. Doch das Geilste war sein Mund, der meinen Hals liebkoste. Kleine Küsse, sanfte Bisse an den richtigen Stellen und seine Zunge, die die Schweißtropfen wegleckte. Plötzlich packten mich beide Hände an der Hüfte, drängten mich in einen härteren Takt. »Beweg dich schneller! Ich kümmer mich gleich um dich.« Ich folgte der Aufforderung, genoss nicht nur, wie sich sein Schwanz hart in mich drängte, sondern sich auch seine Finger immer fester in meine Haut gruben. Es spornte mich an, ließ mich immer wieder langsamer werden, um es noch eine Weile länger genießen zu können. »Fuck!«, raunte er irgendwann, als ich ihn wieder hinhielt. Er entzog sich mir. »Das wirst du bereuen.« So schnell, wie ich mit dem Rücken auf der Couch lag, konnte ich gar nicht reagieren. Für einen Moment erschreckte es mich, dennoch grinste ich ihn schelmisch an, als er sich mit einem Blick versicherte, dass alles in Ordnung war. Ich vertraute ihm genug, damit er seine körperliche Überlegenheit ab und zu auch ausspielen durfte. Er verstand das Grinsen, brachte mich in Position und drang erbarmungslos wieder in mich ein. Mit wenigen harten Stößen holte er sich seine Befriedigung. Tino lag hinter mir und hatte den Arm locker um mich geschlungen. Doch das reichte mir nicht, ich wollte mehr von ihm spüren, und rutschte noch dichter an ihn, suchte eine Position, in der ich ihn möglichst großflächig berührte. »Wirklich? Schon wieder?«, fragte ich halb erstaunt, halb scherzhaft, als sein steifer Penis gegen meinen Hintern drückte. Er lachte leise und hauchte mir einen Kuss in den Nacken. »Wenn du mir deinen Hintern so entgegen drückst, wirst du wohl damit leben müssen.« »Ugh, bitte nicht.« Dreimal! Dreimal hatte er mich noch benutzt – erst meinen Arsch, bis ich sicher war, nicht mehr laufen zu können, dann meinen Mund – bevor ich endlich kommen durfte. Durch seinen Mund und den größten Plug, den er auf die Schnelle hatte finden können. Er wollte sichergehen, dass ich ihn so schnell nicht wieder ärgerte. Und wusste doch, dass es nur ein paar Tage anhalten würde. Doch für diesen Tag war ich absolut erledigt. Er wuschelte mir durch die vom Duschen noch feuchten Haare. »Keine Sorge, ich will dich ja nicht kaputt machen. Sonst kannst du mich ja gar nicht mehr überraschen, indem du morgens neben mir liegst.« »Kann ich auch so nicht. Ich hab ja keinen Schlüssel mehr.« Sobald ich es ausgesprochen hatte, bemerkte ich, dass die Aussage absolut falsch klang. Ich drehte mich zu ihm um. »Ehm, so meinte ich das nicht ... Es sollte nicht heißen, dass du mir den wieder geben sollst. Es war nur eine Feststellung. Ich meine, ich kann dich immer noch damit überraschen, vor der Tür zu stehen, wenn das okay ist.« »Ja ... nein ... Mir wäre es schon lieb, wenn es so eine Situation nicht nochmal gäbe.« Murmelnd stimmte ich ihm zu. »Aber ich mag es auch, wenn du spontan hier auftauchst.« Das wurde wirklich schwierig, miteinander zu vereinbaren. Mir fiel nur eine Möglichkeit ein: »Du könntest mir schreiben, wenn du Besuch erwartest, dass ich nicht kommen soll. Aber ... Ich fühl mich damit ehrlich gesagt nicht so wohl.« Das fühlte sich an, als wäre er mir gegenüber verpflichtet, offenzulegen, was er tat. Und das hatten wir beide von Anfang an nicht gewollt. Wir wollten keine Verpflichtungen dem jeweils anderen Gegenüber. Er nickte. »Ich find den Gedanken auch nicht so prickelnd.« Sanft küsste ich ihn. »Dann keine Spontanbesuche mehr und ich meld mich vorher, wenn ich vorbeikommen möchte. Das geht ja auch recht spontan, bevor ich losfahre.« »Ja.« Tino seufzte und klang dabei nicht gerade überzeugt. Doch ihm war genauso wie mir bewusst, dass es keine Alternative gab, so sehr er auch genoss, wenn ich ihn mit meiner Anwesenheit überraschte. »Hast du morgen etwas vor?«, fragte er nach einem Moment. »Ja, ich bin am Nachmittag mit meinem kleinen Bruder verabredet. Aber ich glaub auch nicht, dass ich morgen zu mehr als kuscheln zu gebrauchen bin.« Er streichelte über meinen Rücken und küsste meine Schulter. »Wäre auch okay. Magst du danach wiederkommen?« »Ich ... Ich überleg es mir und sag es dir vorher oder meld mich dann von unterwegs.« Ja, mir war bewusst, dass wir nun vorher darüber sprechen mussten, wann wir uns sahen, aber gerade war es mir zu viel, mich direkt festzulegen. Außerdem war Toby gegenüber meiner sehr kurzen Kurzzusammenfassung, die ich ihm geschrieben hatte, recht skeptisch gewesen. Ich hatte ihm versprochen, ihn am nächsten Tag noch einmal anzurufen und es genauer zu erklären. Vielleicht sah er etwas, das ich im Moment nicht erkennen konnte? »Ich würde mich sehr freuen. Aber wenn du nicht magst, bin ich dir auch nicht böse.« »Gut. Dann schlaf gut.« Ich gab ihm einen Kuss, drehte mich um und kuschelte mich dann wieder in seine Arme. Kapitel 20: Samsa – August 2015 III ----------------------------------- »Tino!«, ich schlug bewusst einen scharfen Ton an, als ich die Wohnung betrat und die Tür hinter mir schloss. »Oh, du bist doch hergekommen?« Er kam aus dem Wohnzimmer und begrüßte mich im Flur. »Ja, um dir deinen Schlüssel wiederzugeben.« Ich drückte ihm den in die Hand. Als ich ihn bei meinem Treffen mit Dave in der Tasche meiner Motorradjacke gefunden hatte, war ich wirklich wütend geworden. Das war nicht, was wir abgemacht hatten! »Schon gut, behalt ihn.« Er lächelte, als er ihn mir wieder entgegenhielt. Zornig zog ich die Augenbrauen zusammen. »Wir haben gestern festgestellt, dass das nicht geht, wenn ich dich nicht aus Versehen bei Dates überraschen soll. Und ich möchte nicht, dass du mir Bescheid sagen musst.« »Ja. Ja ich weiß. Aber ich hab darüber nachgedacht und es ist mir das Risiko wert. Ich meine, seitdem du den Schlüssel hast, bin ich eh dann meistens eher woanders hingegangen und dich schien es nicht zu stören, im Notfall auch allein hier zu sein. Ich find es zu schön, mich von dir überraschen zu lassen. Da kann ich mit leben, dass es auch mal schiefgeht.« »Aber das kannst du nicht allein entscheiden!« Sein Blick wurde schuldbewusst und er strich sich durch die kurzen Locken. »Tut mir leid. Ich hatte das Gefühl, du würdest ihn gern wiederhaben.« »Ja, aber nicht so ...« Erschöpft seufzte ich. Ja, ich fand es auch schön, wie es die letzten Monate gelaufen war, aber das war dennoch etwas, was er nicht einfach so zu entscheiden hatte. »Wie sonst?« Die Frage klang ehrlich. »Du hättest mit mir reden sollen, ob das Risiko auch für mich in Ordnung ist. Weil ganz ehrlich: Ist es nicht. Zumindest nicht so wie gestern. Ich hab mich nach deinem Rauswurf schlecht gefühlt und wusste noch nicht einmal, was ich falsch gemacht habe. Und jetzt hängt mir ein Freund, den ich heute Morgen erst beruhigen konnte, in den Ohren, dass ich aufpassen soll, dass du nicht künstlich Drama machst, damit wir uns danach wieder ›versöhnen‹ können. Scheiße, Tino! Ich hab das schon einmal hinter mir, mich emotional manipulieren zu lassen und dass solche Entscheidungen für mich getroffen werden. Ich hab keine Lust, das nochmal mitzumachen!« Tino sah mich besorgt an und legte seine Hand auf meine Schulter. Sanft führte er mich in die Küche, wo er den Schlüssel auf den Tisch legte und Kaffee aufsetzte. »Tut mir leid. Mir war nicht bewusst, dass ich da etwas über deinen Kopf hinweg entscheide. Ich dachte, ich mache dir damit eine Freude. Aber du hast recht, ich hätte noch einmal mit dir reden sollen, nachdem wir gestern etwas anderes besprochen haben. Und was den Rest betrifft: Ich verstehe, woher die Sorge deines Freundes kommt, aber es war wirklich keine Absicht.« Ich legte den Kopf in die Hände und fuhr mir durch die Haare. Ich wollte ihm glauben, er hatte mir bisher keinen Grund gegeben, ihm nicht zu glauben, doch das hatte ich schon einmal gedacht. Damals hatte ich mit niemandem darüber gesprochen und hätte auch auf Warnungen nicht gehört. Diesen Fehler wollte ich nicht erneut machen. »Darf ich?« Er kniete sich neben mich, um auf Augenhöhe zu sein, deutete an, mich anzufassen, und legte mir die Hand sanft in den Nacken, nachdem ich genickt hatte. »Ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll. Vermutlich kann man mir jede Versicherung, dass dein Freund falsch liegt, und jeden Trost als Manipulation auslegen. Ich kann dir nur anbieten, mir anzuhören, was deine Sorgen sind, wenn du den Schlüssel wieder nimmst, und vielleicht finden wir ja doch eine Lösung mit der wir uns beide anfreunden können? Wollen wir das versuchen? Oder lieber im Moment nicht?« »Doch, bitte.« Ich griff nach seiner Hand und küsste sie. Ehrlich lächelnd stand er auf. »Schön. Dann zieh mal deine Jacke und so aus und ich mach den Kaffee fertig, dann reden wir.«   Tino setzte sich auf den Stuhl neben mir und drehte sich so, dass wir uns gegenübersaßen, ohne die Tischplatte zwischen uns zu haben. Eine der Tassen schob er vor mich, von der anderen nahm er einen Schluck, bevor er den Schlüssel bis auf Armeslänge an mich heranschob. »Magst du erzählen, was du zu dem Thema denkst, und dann erzähl ich, was ich darüber denke, und am Ende sehen wir, ob wir uns irgendwo treffen können?« Es war komisch, dass ich zuerst erzählen sollte. Es machte mich nervös, weil ich das Gefühl hatte, ich könnte etwas Falsches sagen. Doch es fühlte es sich auch richtig an. Als wollte er meine Meinung wirklich erfahren. Ich atmete tief durch, sortierte meine Gedanken. Ich schaffte das! »Ich komme gern spontan zu dir. Nicht nur, weil ich einfach gern hier bin, sondern auch, weil ich genau weiß, dass du dich darüber freust.« Dass er keinerlei Miene verzog, sondern mich weiterhin auffordernd neutral ansah, nahm mir ein wenig den Wind aus den Segeln. Ich hatte gehofft, ihm wenigstens ein Lächeln entlocken zu können, irgendetwas, was mir zeigte, was er hören wollte. Doch nichts. »Ich hab mich schon vorher mal gefragt, was wäre, wenn du gerade Besuch hast, wenn ich ankomme, aber es dann doch weggeschoben, mir gedacht, ich entscheide dann, wenn es so weit ist. Nur gestern früh ... Ich weiß es nicht, ich hab damit gerechnet, dass du mit so einer Situation lockerer umgehen würdest? Und dann warst du gestern so harsch, dass ich nicht mehr weiß, ob ich mir vorstellen könnte, das Risiko nochmal einzugehen. Ich bin an der Situation nicht unschuldig gewesen, aber ich wüsste auch nicht, was ich anders machen könnte, weil so verschlafen würde ich vermutlich genau dasselbe wieder machen. Und so ohne Erklärung, ohne Ahnung, ob es das nun endgültig war, rausgeschmissen zu werden und dann lange nichts von dir zu hören, war für mich ... schwierig. Weder habe ich Lust, mir solche Vorwürfe nochmal anzutun noch so harsch von dir angegangen zu werden.« Einen Moment sah er mich an, wartete wohl, ob ich noch etwas zu ergänzen hatte, doch als ich einen Schluck von meinem Kaffee nahm, ergriff er das Wort: »Ich weiß, ich hab mich gestern schon entschuldigt, aber ich tu es nochmal: Es tut mir wirklich leid, ich hätte dich nicht so rauswerfen dürfen. Mir war nicht bewusst, dass es dich so sehr treffen würde und ehrlich gesagt ist mir das mit dem Schlüssel auch eher so rausgerutscht. Ich hab nicht darüber nachgedacht, dass es genauso gut bedeuten könnte, dass ich dich nicht mehr sehen will. Im Nachhinein sehe ich das natürlich. Es wäre etwas anderes gewesen, wenn ich dir ruhig gesagt hätte, dass das nicht funktioniert, ich bin mir sicher, dann wärst du nicht auf die Idee gekommen, aber das war die falsche Art. Wirklich, es tut mir leid. Aber das scheint dieses Wochenende allgemein so ein Problem von mir zu sein, dass ich einfach tue, aber nicht mit dir rede ...« Diesmal war es an mir, ihn neutral zu betrachten. Es war gut, dass er sich entschuldigte, aber das allein brachte uns keine Lösung. Doch er kam auch auf den Punkt: »Du sagst, dass du das Gefühl hast, an deinem Verhalten von gestern nichts ändern zu können, und das kann ich nachvollziehen, aber vielleicht kann ich etwas an meinen verändern? Ich hab dich absolut scheiße behandelt, nicht nur beim Rauswurf, dabei hab ich mich eigentlich gefreut, dass du da warst.« Er lachte freudlos und schüttelte den Kopf. »Ich war nervös und unsicher und dann werde ich oft harsch, wenn etwas nicht läuft, wie ich es möchte. Ich kann dir nicht mal versprechen, dass es nicht wieder vorkommt. Aber das Problem war vor allem, dass du gar nicht so schnell fertig sein konntest, oder? Ich meine, wenn ich mitbekommen hätte, dass du ins Schlafzimmer kommst, dann hätte ich es dir gesagt, das hatten wir ja schonmal und da war es okay, du bist dann entsprechend früh aufgestanden. Es würde dementsprechend schon reichen, wenn ich einfach früher aufstehe, wenn ich morgens verabredet bin, oder nicht? Oder ich leg vorsichtshalber einen Zettel auf den Küchentisch, falls du vorbeikommst.« Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Ja klar, so einfach könnte die Lösung sein. Und doch klang sie zu einfach, um keinen Haken zu haben. »Das mit dem Zettel ... dann könntest du auch genauso gut schreiben. Und bist du dann bei beidem nicht enttäuscht, wenn ich dann doch nicht da bin?« Er lächelte zärtlich. »Das bin ich immer, wenn du morgens nicht hier bist.« Hart schüttelte er den Kopf, als hätte er Angst, ich wollte etwas dazu sagen, dabei blieb mir einfach nur die Spucke weg. »Aber das ist nicht dein Problem, sondern meines. Damit muss ich klarkommen. Du hast es selbst schon gesagt, ich freue mich jedes Mal, neben dir aufzuwachen, manchmal wünsche ich auch, es wäre noch viel öfter, und doch weiß ich, dass es mir zu viel wäre, wenn du jeden Tag hier wärst. Das wäre mir zu eng, zu bedrängt. Und ich weiß, dass es dir genauso gehen würde. Deshalb freue ich mich umso mehr, wenn du da bist: Du entscheidest dich ganz bewusst für meine Nähe. Das ist das, worüber ich mich freue. Und wenn ich dafür die paar Male, wo es vorkommt, eine Stunde früher aufstehen muss, dann kann ich ehrlich gesagt damit leben.« Ich schluckte. Das war so ... unerwartet romantisch, dass mir Tränen in die Augen stiegen und ich lachen musste. Ich konnte damit gerade absolut nicht umgehen. Schmunzelnd betrachtete mich Tino. »Sagst du mir, wenn du fertig bist?« Ich schluckte das Lachen herunter. »Ja, bin ich. Wenn du keine Erwiderung erwartest.« »Ich würde zumindest gerne wissen, ob das so für dich einen Versuch wert ist.« »Jain. Es löst nur das Problem, wenn du morgens Besuch bekommst – dahingehend wäre es einen Versuch wert – aber nicht, wenn du abends schon Besuch hast.« »Was würdest du denn tun? Also angenommen, du kommst hier an und merkst, dass bereits eine andere Person hier ist, was würdest du machen? Du hast gesagt, dass du schonmal darüber nachgedacht hast. Ich bin mir sicher, dass dir etwas dazu eingefallen ist, auch wenn es nur ein kurzer Gedanke war.« Abwartend sah er mich an. Dabei war ich nicht sicher, ob es die gute oder schlechte Art abwartend war. Ratlos zuckte ich mit den Schultern. »Spontan hätte ich, je nachdem wie müde ich gewesen wäre, mich vermutlich einfach auf die Couch gelegt und dort geschlafen oder wäre nach Hause gefahren.« »Und was hält dich davon ab, das jetzt genauso zu machen?« »Wie gesagt, ich dachte da noch, du würdest lockerer damit umgehen, wenn das passiert. Jetzt hätte ich Angst, dass du dann sauer wirst, wenn ich auf der Couch liege, wenn du aufwachst und Besuch hast.« Ich atmete tief durch. Das war der einfachere Teil. Über das andere hatte ich nie mit ihm gesprochen und es war mir peinlich. »Und nach Hause fahren ... Eigentlich kann ich mir das nicht leisten.« Nachdenklich nickte Tino. Dann sprach er langsam. »Ich hätte eine Idee, aber da ich es die letzten Tage nicht schaffe, die Dinge richtig anzugehen, muss ich kurz darüber nachdenken, wie ich das anbringe, ohne dir aus Versehen auf die Füße zu treten. ... Erstmal: Es wäre für mich in Ordnung, wenn du dann auf der Couch schläfst. Auch wenn ich dich in dem Fall bitten würde, dass du mir eine kurze Nachricht aufs Handy schickst, damit ich die andere Person darauf vorbereiten kann, bevor sie über dich stolpert. Wäre das in Ordnung?« »Ja klar.« Ich fürchtete eher das, was noch kam. Es war klar, dass mir das nicht gefallen würde. »Das andere ... Wenn du möchtest, kann ich etwas Geld hier in der Küche deponieren. Du könntest es dir einfach rausnehmen, wenn du es spontan brauchst. Es wäre mir egal, ob du es mir zurückzahlst oder nicht. Und ich weiß, dass es dir nicht leichtfällt, das anzunehmen, weil es dir peinlich ist und weil du Angst hättest, dass du mir etwas schuldest, aber glaub mir: Das musst du nicht. Mir ist es wichtiger, dass du gehen kannst, wenn du nicht hier sein möchtest, als irgendwelches Geld oder wie auch immer geartete Schulden. Und weil ich mittlerweile weiß, wie du tickst: Ich werde mich bemühen, dich deswegen nicht häufiger als vorher einzuladen oder Ähnliches. Nicht, wenn du es nicht von dir aus möchtest. Ich meine, ich kann es nicht versprechen, ich möchte immerhin, dass es dir gut geht, aber ich werd mich wirklich zusammenreißen.« Verlegen lächelte ich. »Du bist doof.« Er grinste zurück und kam zu mir. »Ich weiß und du stehst darauf.« Als er die Arme um mich legte, ließ ich mich einfach hineinfallen. Ja, er wusste wirklich zu gut, wie ich tickte. Aber seine Aussage gab mir die Zuversicht, ihn notfalls auch darauf ansprechen zu können, wenn er es übertrieb. »Dann nochmal die Frage: Möchtest du es unter den Bedingungen nochmal versuchen mit dem Schlüssel?« An ihn gekuschelt nickte ich. Erfreut drückte er mich enger an sich, küsste mich aber nach einem Moment auf den Scheitel und ließ los. »Ich vermute, du möchtest dann ein paar Minuten allein haben für einen Anruf? Oder kommst du mit ins Wohnzimmer? Nur kuscheln!« »Gilt das Angebot auch in Kombination? Im Wohnzimmer kuscheln und dabei telefonieren?« »Natürlich auch das!« Kapitel 21: Tino – September 2015 --------------------------------- Er seufzte leise, drehte sich in meinem Arm um und kuschelte sich dichter an meine Brust. Langsam ließ ich meine Finger durch seine weichen Haare wandern und lächelte. Er war so niedlich, wenn er schlief. »Ich muss bald aufstehen, oder?«, grummelte er und zog sich die Decke noch weiter über die Ohren. Jedoch nicht so weit, dass ich ihn nicht weiter streicheln konnte. Leise erklärte ich: »Du kannst auch liegenbleiben. Aber ja, ich muss gleich aufstehen.« Auch wenn ich das ein wenig bereute. Ich hätte zu gern noch weiter mit ihm gekuschelt. »Was ist mit deinem Besuch?« Er grub sich etwas aus der Decke und sah verschlafen zu mir auf. Ich nutzte die Gelegenheit, um ihn zu küssen. Gleichzeitig ließ ich meine Hand an seinem Rücken nach unten wandern. »Es ist nur Nick. Du störst wirklich nicht, wenn du liegenbleibst. Schlaf dich aus.« Ich hatte zwar mitbekommen, dass er sich zu mir ins Bett gelegt hatte, aber ich wusste nicht, wann genau das gewesen war. Jedenfalls wieder sehr spät. »Und wenn du magst, kannst du dann dazukommen.« Unschlüssig brummte er. »Ich weiß nicht ...« »Du kannst es dir ja noch überlegen.« Hoffentlich zögerte er nicht, weil er und Nick eine gemeinsame Vergangenheit hatten. Ich hätte mich zumindest gefreut, wenn sie sich verstehen würden. Letztendlich entschied ich mich, ihm zumindest zu sagen, dass ich mich über seine Anwesenheit freuen würde. »Ich überleg’s mir«, versprach er. Ich zog ihn noch einmal fester an mich und küsste seine Schläfe. »Das ist alles, was ich möchte.« Dann stand ich auf und machte mich so weit fertig, wie es für den Besuch meines besten Freundes notwendig war. Nick warf einen skeptischen Blick auf Samsas Schuhe, die neben der Tür standen, als er diese zuzog. »Du hast noch Besuch?« Bevor ich irgendeine Frage beantwortete, zog ich ihn erstmal in eine kräftige Umarmung und gab einen Kuss auf seine Wange. Er erwiderte beides, drängt dann aber mit einem hochgezogener Augenbraue auf eine Antwort. »Ja. Samsa schläft noch, ich hab ihm aber angeboten, sich später zu uns zu setzen, wenn er mag. Ich hoffe, das ist für dich okay?« Mit einem Blick machte ich klar, dass ich sein Einverständnis erwartete. Andernfalls würde er mir eine gute Erklärung geben müssen. Seine Miene zeigte mir, dass er nicht begeistert war, und er kratzte sich am Hals. »Wenn es denn sein muss.« »Gibt es einen Grund, warum nicht?« Ich ging vor ihm her in die Küche und stellte die Kanne mit dem Kaffee, die gerade fertig wurde, auf den Tisch. Seufzend warf er die Tüte mit Bageln daneben und sank auf den Stuhl mir gegenüber. »Ich bin einfach nur nicht so begeistert von ihm. Weißt du denn nicht, dass er sich durch etliche Bars und Clubs vögelt?« Eigentlich hatte ich ihm gerade eingießen wollen, hielt jedoch in der Bewegung inne. »Ist ja nicht so, als hättest du ihn nicht ebenfalls auf die Art kennengelernt.« »Und das ist der Grund, warum ich skeptisch bin. Er hat mich einfach geghostet!« Kommentarlos goss ich das braune Gold in seine Tasse, dann füllte ich meine eigene. Er wusste, was ich davon hielt. Es war ein One-Night-Stand gewesen. Ja, Samsa hätte es vielleicht deutlicher machen sollen, aber sich nicht mehr zu melden, wenn er Nick nicht noch einmal sehen wollte, war sein gutes Recht. »Tino, ich mach mir doch nur Sorgen, dass er dich verletzt, wenn er einfach aus deinem Blickfeld verschwindet, weil er jemand besseres findet. Du wirkst sehr in ihn investiert.« Nicks Blick machte deutlich, dass die Aussage auch eine Frage beinhaltete: ›In welcher Beziehung steht ihr?‹. Ruhig trank ich einen Schluck. »Nach zehn Monaten eher unwahrscheinlich, dass das so plötzlich passiert, meinst du nicht? Und selbst wenn: Samsa ist frei, jederzeit zu gehen. Wir haben keine Verbindlichkeiten.« »Es wäre dir also vollkommen egal? Genauso wie es dir egal ist, dass er sich durch die halbe Stadt hurt?« Noch immer machte Nick keinerlei Anstalten, sich am Essen zu bedienen. »Ich habe nicht gesagt, dass mir irgendetwas davon egal ist. Es würde mich verletzen und ich würde hoffen, dass ich ihm zumindest eine Erklärung wert bin, wenn er nichts mehr von mir wissen wollen würde. Das ist für mich zumindest ein Teil von Ehrlichkeit. Und das ist die einzige Bedingung, die wir aneinander stellen.« »Okay, lass es mich umformulieren:«, Nicks Stimme nahm eine gewisse Schärfe an, »Was willst du von einem Mann wie ihm?« »Ich möchte von ihm genau das, was wir miteinander haben.« Da er noch immer nicht anfing, bediente ich mich als erstes und suchte mir einen Bagel mit Erdnussbutter, Banane und Honig. »Ich hab keine Ahnung, was du von mir hören willst. Ich bin absolut zufrieden, wie es zwischen uns läuft.« Ungläubig schüttelte er den Kopf. Er musste das wohl erstmal verarbeiten und kramte nun auch in der Tüte. Rasch zog er ein ›Green Monster‹ heraus. »Du willst mir ernsthaft erzählen, dass es dich glücklich macht, wenn er ständig mit anderen schläft und du keine Ahnung hast, wann du ihn das nächste Mal siehst?« »Wenn ich ihn sehen will, dann frag ich, ob er herkommt. Dasselbe gilt, wenn ich wissen möchte, mit wem er sonst noch schläft: Ich frage einfach nach. Er übrigens auch.« Bevor ich weitersprach, stillte ich den ersten Hunger mit einem großen Bissen. »Ich weiß wirklich nicht, was du daraus für ein Drama machst. Ich brauche dieses große Paket, das mit den meisten Beziehungen einhergeht, nicht. Ich suche mir das raus, was ich möchte. Und genau das bekomme ich von Samsa.« »Und das wäre?« Die Schärfe war schon eine Weile aus seiner Stimme gewichen, doch er war sehr offensichtlich noch immer skeptisch. Offenbar hatte nicht nur Samsa Freunde, die ein kritisches Auge auf unsere Beziehung hatten. Ich nahm mir die Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Ich wollte Nick nicht alles unüberlegt vor die Füße werfen. Bevor ich jedoch antworten konnte, öffnete sich die Schlafzimmertür und wenig später kam Samsa in die Küche. Er murmelte einen Gruß, zog sich den Hocker, den ich für die wenigen Male mit mehr Besuch unter der Spüle hatte, an den Tisch und setzte sich mit einer Tasse zu uns. Schmunzelnd goss ich ihm ein. »Schon wach?« »Zu dünne Wände. Ich höre euch reden.« »Das tut mir leid. Möchtest auch etwas?« Fragend schob ich die Bageltüte in seine Richtung und stand auf, um ihm Geschirr hinzustellen. Samsa sah nur kurz zu Nick, dann schüttelte er den Kopf. »Erstmal nicht, danke.« »Wenn du es dir anders überlegst, bedien dich einfach.« Dann wandte ich mich wieder meinem besten Freund zu. Ich war ihm schließlich noch eine Antwort schuldig. »Einen echt sexy Kerl, mit dem ich nicht nur im Bett Spaß haben kann, weil wir einen ähnlichen Humor haben. Außerdem haben wir ähnliche Grundwerte und unsere Erwartungen und Bedürfnisse an Nähe und Distanz überschneiden sich. Wir können gut miteinander kommunizieren, wenn uns etwas zu weit geht oder wir etwas brauchen. Ich finde, da sind wir deutlich weiter, als es viele Menschen in klassischen Beziehungen sind. Außerdem bewundere ich seine Entschlossenheit.« Samsa, der, während ich sprach, immer weiter hinter seiner Tasse verschwunden war, fragte leise: »Soll ich lieber ins Wohnzimmer gehen?« »Von mir aus musst du nicht. Ich glaub nicht, dass wir irgendwas besprechen, dass du nicht hören solltest.« Und das sagte ich nicht, um Nick eins reinzuwürgen. Samsa durfte ruhig wissen, was ich zu unserer Beziehung dachte. Nick zuckte als Antwort nur mit den Schultern, bevor er wieder mich ansah. »Das ist ja alles schön und gut, aber was ist mit gemeinsamen Interessen?« »Mal abgesehen davon, dass ich nicht behaupten würde, dass wir keine gemeinsamen Interessen hätten, erwarte ich nicht von einer Person, alles mit mir gemeinsam zu machen oder alle meine Bedürfnisse zu erfüllen.« Genervt stöhnte Nick. »So meinte ich das nicht!« »Ja, ich auch nicht.« Wie kam er darauf, dass ich das nur aufs Sexuelle bezog? »Während ich mit dir gut Baseball schauen und spielen oder über Gefühle und Politik reden kann, brauch ich dich nicht nach Langlauf zu fragen und nehm dafür andere mit. Warum sollte das in irgendeinem Bereich anders sein?« Die Falte auf seiner Stirn vertiefte sich. Ein untrügliches Zeichen, dass ihm die Argumente ausgingen, er aber mit dem Ausgang der Diskussion nicht zufrieden war. »Für eine Beziehung sollten aber mehr Gemeinsamkeiten da sein als Lust auf Sex.« Kopfschüttelnd verdrehte ich die Augen, während ich wartete, dass Samsa sich einen Bagel ausgesucht hatte, um mir selbst einen Lachsbagel zu angeln. »Erstens: Niemand hat behauptet, dass das unsere einzigen gemeinsamen Interessen sind. Zweitens: Wer legt das fest? Selbst wenn es so wäre, wer verbietet das? Es gibt so viele Beziehungen, die gefühlt keine andere Basis haben und dann nach einer Weile genau deshalb auseinanderbrechen. Und dann sind die Beteiligten hinterher enttäuscht, weil nicht vorher darüber geredet wurde, was die Beziehung vielleicht sogar hätte retten können. Sorry, aber lieber kommuniziere ich gleich deutlich, was wir uns von der gemeinsamen Zeit erhoffen, und teile meine Zeit auf die Leute auf, die an den jeweiligen Aspekten Interesse haben, als sie einer Person aufzuzwingen oder Aspekte aus meinem Leben zu streichen, nur weil es irgendwelche gesellschaftlichen Konventionen so wollen.« »Und trotzdem frage ich dich, ob du mit einer Person, die du liebst und die dich liebt, nicht besser dran wärst als das aus rein rationalen Gesichtspunkten zu sehen.« Lächelnd legte ich Samsa, der stur auf seinen Bagel starrte und mit wütenden Bewegungen Frischkäse darauf verteilte, meine Hand in den Nacken und streichelte sanft darüber. Ich verstand, dass Nicks Art bei ihm nicht gut ankam, aber es war wirklich nicht böse gemeint. »Nichts von dem, was ich gesagt habe, schließt irgendeine Art von Gefühlen aus.« Samsas Wangen färbten sich zart rosa und es schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen, auch wenn er den Kopf nicht hob. Mein bester Freund, der es hasste, wenn ich mich in seinen Augen kryptisch ausdrückte, knurrte dagegen nur. »Was soll das heißen? Bist du nun in ihn verliebt?« Ich zuckte einfach nur lächelnd mit den Schultern, wohl wissend, dass es meinem besten Freund fuchsig machen würde. Doch das war keine Frage, die ich zu beantworten bereit war. Nur eine Person hatte ein Recht auf diese Antwort und ich war mir sicher, er kannte sie bereits. Kapitel 22: Samsa – November 2015 I ----------------------------------- Ein zärtliches Lächeln huschte über meine Lippen, als ich mich seufzend an den warmen Körper neben mir kuschelte. Er wollte doch hoffentlich nicht direkt aufstehen. »Du bist ja schon wieder hier«, flüsterte er leise und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Ich konnte mir das genervte Stöhnen nicht verkneifen. Dennoch richtete ich mich auf und stieg aus dem Bett. Ich hatte verstanden. »Schon gut, ich gehe. Kann ich noch kurz duschen?« »Ja, sicher.« Tino stand ebenfalls auf und stellte sich mir halb in den Weg. Sanft umfasste er mein Gesicht und küsste mich. »Tut mir leid, so meinte ich das nicht. Ich wollte dich nicht rauswerfen. Wir können auch gern noch zusammen frühstücken, aber ich brauche wirklich ein paar Tage Pause.« Reumütig nickte ich. Er hatte ja recht. Ich war in letzter Zeit viel zu häufig bei ihm – wann war ich das letzte Mal über Nacht zu Hause gewesen? Vor zwei Wochen? – obwohl er bereits deutlich gemacht hatte, dass ihm zu häufige Besuche nicht recht waren. »Ich hab das schon so verstanden. Keine Sorge, ich bin nicht wütend.« Ich schmiegte mich kurz an seine Brust, bevor ich mich auf den Weg ins Bad machte. »Und ich bleib gern noch zum Frühstück.« »Samsa?« Mit einem tiefen Seufzen sah ich von meinem Sandwich auf. Der Ton machte deutlich, dass Tino etwas Ernstes von mir wollte. War ich ihm so sehr auf die Nerven gegangen, dass er mir nun sagen wollte, dass ich gar nicht mehr kommen sollte? »Magst du darüber reden?« »Worüber genau?« Keine Ahnung, was er meinte, immerhin hatten wir bis auf Höflichkeitsfloskeln kein Wort gesprochen, seitdem er aus dem Bad gekommen war. Er sah mir direkt in die Augen und legte den Kopf etwas schief. »Was auch immer dir auf dem Herzen liegt. Oder warum du in letzter Zeit so oft hier bist. Oder warum dein Drogenkonsum im Moment ziemlich durch die Decke geht. Such es dir aus.« Erneut rang sich ein tiefes Seufzen aus meiner Kehle. War jetzt auch nicht besser ... Tino strich über meine Hand. »Du musst nicht, wenn du nicht willst. Das ist nur ein Angebot.« Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern. »Um ehrlich zu sein, mache ich mir ziemliche Sorgen um dich. Wenn du nicht für dich darüber redest, dann vielleicht wenigstens, um mich etwas zu beruhigen?« »Ist okay.« Ich kniff die Finger der Hand zusammen, über die er streichelte, und hielt damit seine Finger zwischen meinen gefangen, mit der anderen Hand massierte ich meinen Nasenrücken. Ich wollte nicht, dass er sich Sorgen machte, aber toll fand ich das Thema dennoch nicht. »Aber vorher brauch ich noch einen Kaffee.« Er goss mir Kaffee nach und wartete dann geduldig, bis ich bereit war, zu reden. »Ich weiß gar nicht so genau, was ich erzählen soll ...« Oder wollte. Noch immer hielt ich mich mit privaten Angelegenheiten ihm gegenüber zurück. Die Erfahrung, dass es schnell dazu führte, dass sich andere mehr erhofften, als ich bereit war zu geben, saß zu tief. Gleichzeitig wollte ich mit ihm reden. Zum einen verdiente er eine Antwort, warum ich ihm in letzter Zeit so oft auf die Nerven ging, zum anderen ... vertraute ich ihm. Tatsächlich glaubte ich ihm, was er vor einigen Monaten zu Nick gesagt hatte. Seitdem war ich immer wieder versucht, auch über meine Angelegenheiten mit ihm zu reden. Vielleicht war jetzt der beste Zeitpunkt, damit anzufangen. »Ich weiß nicht, wie viel du davon mitbekommst, aber bei meiner Band läuft es im Moment beschissen. Wir bekommen kaum Aufträge, unsere Drummerin ist schwanger und erstmal ausgestiegen, ich stecke haushoch in einem Kreatief und zu allem Überfluss hab ich mich wegen all dem mit meinem besten Freund, unserem Gitarristen und Keyboarder, gestritten.« Ich ließ Tinos Hand los und massierte meine Schläfen. Abwartend sah er mich über den Rand seiner Tasse an, während er trank. Als von mir nichts mehr kam, sagte er: »Klingt, als bräuchtest du dringend eine Auszeit.« Ich schnaufte daraufhin nur. Ihm zu sagen, dass ich die bei ihm fand und deshalb so häufig bei ihm war, klang nicht nur albern, sondern auch aufdringlich. »Ich würde dir gern helfen, aber um ehrlich zu sein, weiß ich nicht wirklich, wie.« Argh, er machte es mir aber auch nicht wirklich leichter ... Na schön. »Versteh das bitte nicht falsch – ich möchte dir wirklich die Zeit lassen, die du für dich brauchst – aber am meisten hilfst du mir, wenn ich bei dir sein kann. Es beruhigt mich, wenn ich weiß, dass ich hierherkommen und abschalten kann.« Verlegen lächelte er und wich meinem Blick aus. Sein Glück, dass man kaum sah, wenn er rot wurde. »Außer du kennst jemand, der Emilys Platz einnehmen könnte oder uns Aufträge vermittelt.« Ich wollte gar nicht, dass er sich allzulange über meine vorherige Aussage Gedanken machte. »Nein, leider nicht. Aber ich kann zumindest die Ohren offenhalten.« Dankbar lächelte ich ihn an. Das Angebot war wirklich lieb, auch wenn ich nicht viel Hoffnung darin setzte. Wenn Latisha, die megagut vernetzt war, schon nichts fand, dann er wohl auch nicht. »Kann ich dir vielleicht mit deinem besten Freund helfen?« »Nein, nicht nötig. Wir haben das schon geklärt. Ich bin nur noch immer etwas sauer auf ihn, weil ich das Gefühl habe, dass er mich absichtlich falsch verstehen wollte. Aber das passt schon. Wir wären nicht seit über 30 Jahren befreundet, wenn uns das jetzt plötzlich auseinanderbringen würde.« Diesmal kam das Lächeln wirklich aus dem Herzen und diente nicht nur dazu, ihn zu beruhigen. Erneut schwieg Tino eine ganze Weile, knabberte an seinem Sandwich und schlürfte seinen Kaffee, bevor er sich räusperte. »Ich wollte nächstes Wochenende mit Justine nach Maine zum Wandern oder, wenn das Wetter passt, Langlauf. Sie hat gestern abgesagt. Möchtest du mitkommen? Vielleicht hilft es dir, mal rauszukommen? Und ansonsten sitzt du ein ganzes Wochenende in der Pampa fest. Manchmal soll das bei kreativen Ausfällen ja helfen. ... Und ich möchte nichts darüber hören, dass du dir das nicht leisten kannst! Es ist alles bezahlt.« Überrumpelt schluckte ich erstmal. Ich sollte mit ihm ein Wochenende in der Pampa verbringen? Das klang abschreckend und aufregend zugleich. So viel Zeit zusammen und wir hatten keine Chance, sie vorzeitig zu beenden ... »Nimm dir ruhig etwas Zeit, dir das zu überlegen. Ich fahr auf jeden Fall, du kannst es also auch kurzfristig entscheiden.« Zärtlich lächelte er mich an, wurde aber direkt wieder ernster: »Und wenn ich mir etwas wünschen darf: Versuch, bis dahin auf Alk und Hash zu verzichten. Ich versteh, dass es erstmal hilft, aber na ja ... Ich glaub, du weißt es selbst, oder?« Ich seufzte. »Ja, ich weiß. Ich versuche es.« Kapitel 23: Samsa – November 2015 II ------------------------------------ Verträumt sah ich mich im Zimmer um. Das hier sah alles so extra aus, als käme es aus einem Hollywoodfilm; Holzvertäfelungen, verspielte kleine Elemente, ein riesiges Himmelbett und ein eigener Kamin im Zimmer. Wenn ich daran dachte, dass Tino eigentlich mit Justine hierher fahren wollte, machte sich eine gewisse Eifersucht in mir breit. Hätte er mir je so ein Angebot gemacht, wenn sie nicht abgesagt hätte? Tino brummte leise an meinem Bauch, sodass ich zu ihm nach unten sah. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er aufgewacht war. Er war direkt nach unserer Ankunft Langlaufen gegangen und ziemlich erschöpft zurückgekommen. Innerhalb weniger Minuten war er mit dem Kopf auf meinem Bauch eingeschlafen. Zärtlich ließ ich meine Fingernägel über seinen Nacken wandern, worauf sich die kleinen Härchen aufstellten. »Woran denkst du?«, fragte er mit vom Schlaf rauer Stimme und drängte sich dichter an mich. »Ich hab gerade darüber nachgedacht, ob ich dich wecken oder es mal schlafend probieren sollte«, wich ich aus. Er brauchte nicht wissen, welche unnötigen Gedanken mir wirklich durch den Kopf gingen. Er lachte leicht und zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. »Ja, sicher. Gerade du.« »Glaubst du mir etwa nicht?« Ich ließ meine Stimme fester klingen, umgriff seinen Nacken und drückte meinen Unterschenkel in seinen Schritt. Dabei sah ich ihm starr in die Augen. Nicht, dass ich sowas je getan hätte – weder fand ich den Gedanken interessant, noch war etwas in der Art mit ihm abgesprochen – aber Tino durfte ruhig merken, dass er offenbar ein falsches Bild von mir hatte, wenn er glaubte, dass ich es nicht könnte. Für einen Moment riss Tino die Augen überrascht auf, dann trat ein Blick in seine dunklen Augen, der mich fast augenblicklich steif werden ließ. Er schlug die Lider nieder und flüsterte in einem besänftigenden Ton: »Tut mir leid.« Mein Mund wurde trocken, ließ mich schlucken, während mein Herz zu rasen begann. Bisher hatte ich über diese Möglichkeit nie nachgedacht, aber Tino schien ihr nicht abgeneigt. Testweise drückte ich seinen Kopf tiefer. Ich vertraute darauf, dass er kommunizierte, wenn er etwas nicht wollte. Diesmal musste ich nicht bewusst auf meine Stimme achten, um sie hart klingen zu lassen: »Statt große Reden zu schwingen, könntest du auch einfach beweisen, dass es dir leidtut.« Auch wenn ein wenig Amüsement in seiner Stimme lag, bemühte sich Tino doch um einen unterwürfen Ton. »Ja, natürlich! Was soll ich tun?« Ich ließ mich in den Kuss fallen und spürte dem Daumen nach, der zärtlich über meine Halsschlagader auf und ab wanderte. Meine Hand hatte ich auf seine gelegt und kuschelte meinen Kopf gegen seine Brust, sobald er den Kuss löste. Das raue Lachen ließ seinen Körper beben. »Wie? Jetzt machst du wieder einen auf zahmes Kätzchen?« Ich schmunzelte. »Du hast halt deutlich mehr Körper, an den man sich ankuscheln kann. Oder darf ich jetzt plötzlich nicht mehr das kleine Löffelchen sein?« »Du darfst jederzeit mein kleines Löffelchen sein«, raunte er mit dieser Stimme, die mir zuverlässig angenehme Schauer durch den Körper jagte, und küsste meine Schläfe. »Ich frage mich nur, ob das nur ein einmaliger spontaner Einfall von dir war oder ob wir das jetzt öfter machen.« »Beides? Also wenn du letzteres auch möchtest.« Auch wenn ich es nach wie vor liebte, von starken Händen gehalten zu werden, ihn zu dominieren hatte wirklich Spaß gemacht. Ich hatte durchaus einige Ideen, was ich noch ausprobieren wollte, ob es ihm gefiel. Er zog die Hand von meinem Hals und küsste die Stelle, die er gestreichelt hatte. Dann biss er leicht in mein Ohrläppchen. »Sehr gern. Auch wenn ich mich frage, wo du das die ganze Zeit vor mir versteckt hast.« Da ich nur umständlich an seine Hand gekommen wäre, legte ich meine auf seine Brust und fuhr die Konturen nach. »Keine Ahnung, bisher bin ich nicht auf die Idee gekommen, es mit dir auszuprobieren.« »Das war aber nicht das erste Mal, dass du das gemacht hast, oder?« »Nein.« »Schade. Ich hatte etwas gehofft, eine ganz besondere Seite von dir gesehen zu haben.« Auch wenn ein wenig der Schalk in seiner Stimme mitschwang, war dennoch deutlich, dass er es ehrlich meinte. »Tust du doch sonst häufig«, antwortete ich daher ehrlich und drückte schüchtern das Gesicht gegen seine Haut, sog seinen angenehm-herben Geruch ein, der nach dem Sex noch viel intensiver war. Mit einem fragenden Laut bat er um eine genauere Erklärung, die ich ihm nach kurzem Zögern lieferte: »Ich hab Schwierigkeiten, anderen zu vertrauen – falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte. Mir fällt es daher schwer, mich fallen zu lassen, wenn ich nicht gerade richtig dicht bin. Von dem her ... Es gibt wenige, die mich dominieren dürfen. Daher war bisher auch nicht der Gedanke, es bei dir zu versuchen. Ich bin froh, dass ich bei dir auch mal den anderen Teil ausleben kann.« »Gut zu wissen.« Seine Hand auf meinem Rücken fühlte sich beschützend an. In seinem Kuss auf meine Schläfe war kein Nachklang des Verlangens mehr zu spüren, wie noch vor wenigen Augenblicken, sondern nur noch Zärtlichkeit. Seine Neugier konnte er dennoch nicht unterdrücken: »Aber das klingt, als gäbe es noch andere, bei denen du auch unterwürfig wärst? Oder hab ich das falsch interpretiert?« »Bis letztes Jahr noch Toby und Roger.« War das wirklich schon ein Jahr her? War mir nicht so vorgekommen. »Aber im Moment niemand.« »Ich hätte es mir fast denken können.« Zu meiner Erleichterung lag in seiner Stimme kein Vorwurf oder Eifersucht, sondern nur die Einsicht, dass der Gedanke ihm auch selbst hätte kommen können. »Magst du mir jetzt, wo du nicht mehr mit Sex ablenken kannst, sagen, was dir vorhin wirklich durch den Kopf gegangen ist?«, fragte er nach einer Weile, die wir einfach nur gekuschelt hatten. Unwillig brummte ich, antwortete dann aber ehrlich: »Ich hab daran gedacht, dass du eigentlich mit Justine hierher fahren wolltest, und war für einen Moment eifersüchtig, dass du mit ihr hier übernachtet hättest. Also komplett albern.« Sanft schob er seine Hand unter mein Kinn, damit ich ihn ansah. »Das ist nicht albern. Wenn du deshalb eifersüchtig bist, ist das vollkommen in Ordnung, du suchst dir das nicht aus. Aber es wäre schön, wenn du mit mir offen darüber reden würdest. Wenn du es für dich anstaust, entstehen daraus nur unschöne Gefühle.« »Und was bringt das? Ich will nicht, dass du dich für mich irgendwie einschränkst oder auch nur glaubst, dass ich das wollen könnte.« »Aber nur so können wir herausfinden, woher die Eifersucht kommt. Die Eifersucht nur zu unterdrücken erfüllt dir auch nicht das, bei dem du das Gefühl hast, zu kurz zu kommen.« In seiner Miene lag keinerlei Ärger, lediglich ehrliches Interesse. Sollte ich das wirklich glauben? Eifersucht war für mich immer ein schlechtes Gefühl gewesen, nichts, was ich wollte und einfach nur verdrängte. Immerhin war er mir doch nichts schuldig. »Worauf genau warst du jetzt eifersüchtig? Weil ich mit ihr das Wochenende verbringen wollte?« Ohne schlechtes Gewissen konnte ich sofort den Kopf schütteln. »Nein. Die Zeit, die wir zusammen haben, ist mehr als genug. Ich könnte ja auch mit Wandern – oder Skifahren – nichts anfangen. Es ist eher das Zimmer. Es ist so klischeehaft, es schreit geradezu nach Pärchen, Hochzeit oder Verlobung. Ich kenn sowas nur aus Filmen und ... mir ist nur zu bewusst, dass ich nur hier bin, weil sie abgesagt hat und du mich sonst nie zu sowas eingeladen hättest.« Er schwieg eine Weile, öffnete nur kurz den Mund, um dann den Kopf zu schüttelt. Es war nur zu deutlich, dass er gedanklich mehrere Antwortmöglichkeiten durchging. »Ich hoffe, ich vergesse gerade keinen wichtigen Gedanken ... Zunächst: Das Zimmer hat nichts mit Justine zu tun. Wenn ich wegfahre, dann mache ich mir auch eine angenehme Zeit. Ich hätte auch allein so ein Zimmer gebucht. Aber verstehe ich das richtig, dass du den Wunsch danach hast, mehr ... klassische Paarzeit miteinander zu verbringen?« »Ich ...« Gerade noch rechtzeitig hielt ich mich selbst davon ab, ganz automatisch zu protestieren, weil ich mir solche Gedanken bisher vehement verboten hatte. Schließlich wollte ich keine derartige Beziehung. Auch nicht mit ihm. Dennoch zwang ich mich, darüber nachzudenken. Ich wusste, dass mir, selbst wenn ich das wollte, daraus keine Verpflichtungen entstanden, dass sich lediglich dieser Aspekt an unsere Bedürfnisse anpassen würde. Dennoch fiel es mir noch schwer, den Gedanken zuzulassen. »Ja, vielleicht? Ich bin nicht sicher. Vielleicht bin ich auch nur neidisch, weil ich mir das nicht leisten könnte?« »Hm. Was hältst du davon, wenn wir es einfach ausprobieren? Ich wäre dafür durchaus offen, solange es nicht zu oft ist.« Es auszuprobieren konnte nicht schaden, oder? Wenn es nicht das war, was ich wollte, dann mussten wir es nicht wiederholen. Ich zuckte mit den Schultern. »Okay.« Er schmunzelte. »Du bist noch nicht so überzeugt, hm? Keine Sorge, ich überlasse dir die Entscheidung für das erste Date. Überleg dir, was du gern tun würdest. Es darf so freundschaftlich oder romantisch sein, wie du möchtest und du dich wohl fühlst.« »Sicher?« Ich tat mich schwer damit, dass ich das entscheiden sollte. Was, wenn es in irgendeine Richtung zu viel oder zu wenig für seine Vorstellungen war? Zärtlich lächelte er und küsste mich. »Sicher. Glaub mir, es ist wirklich in Ordnung. Und wenn du dir doch unsicher bist, dann sagst du mir, was du dir vorstellst und ich sage dir, was ich davon halte.« Eine kleine Stimme in mir sträubte sich noch, doch ich wusste genau, woher die kam, und ignorierte sie. »Okay!« »Gut.« Er grinste schelmisch und hielt mir seinen kleinen Finger hin. »Und wenn wir das wiederholen wollen, dann suche ich ... schlage ich vor, was wir machen.« Schnell nickte ich und hakte meinen Finger in seinen ein. Scheiße! Für einen Moment war mein Herz echt in die Hose gerutscht. Ich sollte wirklich daran arbeiten, ihm mehr zu vertrauen. Natürlich hätte ich auch ohne die Umformulierung ein Vetorecht gehabt. Logisch wusste ich das und dennoch war es gut, dass er es deutlich gemacht hatte. »Schön.« Gierig küsste er mich und rollte mich auf den Rücken, bis er über mir lag. »Ich freu mich auf unser Date, Samsa.« »Isaac. Mein Name ist Isaac.« Auch wenn ich zitterte und meine Stimme brach, diese Worte mussten raus. Ich hatte so oft darüber nachgedacht, ihm das zu sagen, aber immer wieder einen Rückzieher gemacht. Aber ich wollte ihm vertrauen. Sichtlich irritiert rückte er etwas von mir ab und blinzelte. »Äh, okay? ... Wäre es dir lieber, wenn ich dich Isaac nenne?« »Nein. ... Also mir ist es egal, ob du mich Samsa oder Isaac nennst. Ich wollte nur ... Ich wollte nur, dass du es weißt, weil auch Toby und Roger ... Alle meine engen Freunde nennen sich Isaac und es fühlt sich falsch an, wenn du nicht die Wahl hast.« Außerdem mochte er mich zwar als Samsa kennengelernt haben, aber um ehrlich zu sein, fühlte ich mich bei ihm nicht wie Samsa. Aber das konnte ich ihm nicht erklären. Ich bezweifelte, dass er das verstehen würde. »Gut, dann Isaac.« Er lächelte, beugte sich wieder über mich und raunte dann in mein Ohr: »Das lässt sich auch viel besser stöhnen. Isaac.« Für einen Moment fürchtete ich, von den altbekannten Bildern überrollt zu werden, doch nichts geschah. Lediglich ein erregender Schauer lief über meinen Rücken und entlockte mir ein ungewolltes Stöhnen. Tino gab einen zufriedenen Laut von sich und ließ seine Hände mit sanftem Druck über meinen Oberkörper wandern. »Was hältst du von noch einer kurzen Runde, bevor wir uns um Abendessen kümmern, hm? Isaac?« »Übertreib’s nicht!«, warnte ich lachend, bog mich aber bereits seinen Händen entgegen. Kapitel 24: Tino – November 2015 III ------------------------------------ Nach dem Essen schlug ich vor, noch etwas spazieren zu gehen. Natürlich hätten wir die Zeit auch im Hotelzimmer rumbekommen, uns wäre sicher nicht langweilig geworden, aber so konnten wir, sobald wir zurück waren, die große Badewanne voll ausnutzen und uns später vor den Kamin kuscheln. Ich hoffte zumindest, dass Isaac dazu Lust hätte. Wir waren nicht einmal zehn Minuten gelaufen, da rieb er die Hände aneinander und hauchte sich in die Handflächen. »Sollen wir eben zurückgehen, deine Handschuhe holen?« Wenn er jetzt schon fror, kamen wir nicht weit. Dabei wusste ich genau, wo ich ihn hinführen wollte. Wieder rieb er die Hände aneinander, vergrub sie in den Taschen seines Mantels. »Ich hab vergessen, welche einzupacken.« »Du fährst Ende November nach Maine und packst keine Handschuhe ein?« Er zuckte die Schultern und zog diese niedliche, beleidigte Grimasse, die er so gut beherrschte. »Ich dachte nicht, dass es schon so kalt ist.« Er hätte ja nur mal einen Blick auf den Wetterbericht werfen müssen ... Gut, vermutlich hatte er das einfach mit dem ganzen Stress verplant. Kam vor. Kurzentschlossen zog ich meinen linken Handschuh aus und hielt ihm den entgegen: »Hier.« Er zog ihn über, behielt aber die tiefe Skepsisfalte auf seiner Stirn. Er brachte nur ein halbes Lächeln zustande. »Du meinst, dann friert uns wenigstens jeweils nur eine Hand ab?« Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf und griff nach seiner rechten Hand, verschränkte unsere Finger ineinander und schob dann beide Hände in meine Jackentasche. »Nein, so haben wir beide warme Hände.« Er biss sich auf die Unterlippe, seine Nasenspitze und die Bäckchen färbten sich noch roter, als sie es durch die Kälte eh schon waren. Als ich losging, drängte er sich noch dichter an mich als zuvor, lehnte für einen kurzen Moment seinen Kopf gegen meinen Oberarm. Verträumt sah ich zu ihm herunter. Er war so süß und ich genoss diese kleinen Momente der Nähe. Ich war wirklich froh, dass er von sich aus angesprochen hatte, dass er gern mehr Zweisamkeit hätte. Ich selbst hätte nicht gewusst, wie ich das ansprechen sollte. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich auf so etwas einließ, und an sich hatte ich wirklich kein Problem den Wunsch danach zu kommunizieren, aber mit ihm war das alles etwas komplizierter. Bei ihm hatte ich immer das Gefühl, vorsichtig sein zu müssen, wie nah ich ihm kam, weil er sonst zurückschreckte. Und dann gab es Momente wie diesen, bei denen er scheinbar völlig vergaß, wie nahe er mir war. Vor einigen Wochen hatte ich Isaacs – Es war wirklich eine Überraschung, dass er mir seinen ›richtigen‹ Namen gesagt hatte. Sehr schnell war mir bewusst geworden, wie viel Vertrauen er damit in mich setzte und das ihm das wirklich etwas bedeutete, auch wenn ich nicht genau verstand, was. Aber das war egal. Er hatte sich dazu durchgerungen und ich würde ihn hoffentlich nicht enttäuschen. Jedenfalls hatte ich Isaacs Freunde, Roger und Toby, vor einigen Wochen zufällig in einem Club getroffen. Wir hatten uns einfach nur etwas unterhalten und irgendwann hatten sie vorsichtig ausgelotet, wie ich zu Isaac stand. Für einen Moment hatte ich das mitgespielt, ihnen dann aber recht schnell gesagt, was Sache war. Weil ich neugierig war, stellte ich ihnen die Gegenfrage. Während Toby etwas gelächelt hatte und es bei der Aussage, sie hätten eine Affäre mit ihm gehabt, beließ, war sein Mann da deutlich offener gewesen. Er hatte erzählt, dass sie beide in ihn verliebt gewesen waren und durchaus gedacht hatten, sie wären in einer Art festen Beziehung mit ihm. Ziemlich frei heraus erzählten sie, was zwischen ihnen vorgefallen war und unter welchen Umständen ich Isaac kennengelernt hatte. Das schloss zumindest bei mir ein paar Lücken. Außerdem bestätigten mich ihre Erzählungen noch viel mehr in meiner Angst, ihn durch zu viel Nähe zurückzustoßen. Da ich es eh bevorzugte, offen zu kommunizieren, musste ich mir zumindest keine Gedanken machen, dass so ein Missverständnis wie mit ihnen aufkam. Isaac und ich hatten beide deutlich gemacht, welche Aspekte wir in unserer Beziehung zueinander wollten, auch wenn es mich kurz aus der Bahn geworfen hatte, als er mir gestand, dass er in mich verliebt war. Vermutlich war ich gar nicht so anders: Auch ich hatte kurz darüber nachgedacht, ob ich ihn deshalb zurückweisen musste. Im Nachhinein war ich wirklich froh, dass er es mir gesagt hatte. Sonst hätte ich ab einem gewissen Punkt ständig darüber gegrübelt. Dabei war das für unsere Beziehung nicht einmal relevant. Egal, wie es sich zwischen uns entwickelte: Ich hatte kein Interesse an einer traditionellen, romantischen Beziehung. Mir wurde bewusst, dass Isaac mich von unten herauf ansah und ich suchte seinen Blick. Er lächelte mich kurz an und senkte dann den Kopf, sah auf den Boden vor sich. »Alles in Ordnung?« Er nickte. »Ja. Du sahst nur so nachdenklich aus.« »Bin ich auch etwas. Das kommt beim Spazierengehen.« Ich drückte seine Hand etwas fester. »Stört dich das?« Er erwiderte den Druck. »Nein, gar nicht. Ich find das grad sehr angenehm.« Recht hatte er. Gemeinsam schweigen zu können war wirklich schön. Ob er ähnliche Gedanken hatte oder sich um das sorgte, was in Boston auf ihn wartete? Ich würde es wohl nicht erfahren. Zumindest würde ich nicht nachfragen, wenn er es nicht von sich aus ansprach. Dafür waren mir meine eigenen Gedanken zu intim, um auf eine Gegenfrage antworten zu wollen. Als wir an meinem Ziel ankamen, blieb Isaac von ganz allein stehen. Für einen Moment befürchtete ich aufgrund seines Blicks, er würde mir eine Standpauke halten wollen, doch dann zog er mich etwas dichter an den Rand des Abhangs, von dem aus man einen guten Blick auf die kleine Stadt hatte, in der auch unsere Unterkunft lag. Die Lichter bildeten einen schönen Anblick. Es waren durchaus noch andere Menschen hier, doch nicht allzu viele kannten den Weg hier hinauf und legten ihn um diese Zeit zurück. Nachdem er eine Weile schweigend den Ausblick genossen hatte, wandte er sich in meine Richtung, zog zweifelnd die Stirn kraus. »Du wusstest, wo du hinwillst, oder?« Gespielt unschuldig lächelte ich. »Ich hab diesen Ort entdeckt, als ich zum ersten Mal hier war. Ich hatte gehofft, dass es dir hier auch gefallen könnte.« Er nickte, lächelte nur leicht zurück, warf noch einmal einen Blick auf die Stadt. »Wärst du ohne unser Gespräch vorhin auch mit mir hier raufgekommen?« Ich machte einen halben Schritt auf ihn zu, stand nun direkt vor ihm und senkte etwas meinen Kopf. Mit der Hand, die bisher seine gehalten hatte, streichelte ich leicht über seine Wange. »Wenn dann erst morgen. Ich wäre nicht sicher gewesen, ob es für dich in Ordnung wäre. Ich hoffe, das ist okay?« Für einen Moment senkte er wieder den Blick, dachte wirklich für einen Moment nach. Gerade als ich meine Hand wieder zurückziehen und ihm etwas Platz geben wollte, sah er mir wieder in die Augen, legte seine Hand auf meine und streckte sich etwas. Zärtlich legte ich meinen Lippen auf seine, bewegte sie nur leicht. Mit dem zweiten Arm zog ich ihn dichter an mich. Mein Herz klopfte wie wild. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er intime, öffentliche Zärtlichkeiten so lange zulassen und sich auch noch dicht an mich drücken würde. Vielmehr hatte ich mit dem Gegenteil gerechnet. Dennoch kam es mir viel zu früh vor, als er etwas Spannung aus seinem Körper nahm und ich somit nicht nur seinen Körper nicht mehr an meinem spürte, sondern auch nicht mehr an seine Lippen kam. Trotzdem lächelte er und behielt auch meine Hand in seiner, auch wenn er sie von seiner Wange nahm. Eilig suchte er den Weg zurück in meine Jackentasche. Unsicher, wie es weitergehen sollte, sah ich ihn an. War das wirklich in Ordnung gewesen oder würde er es gleich bereuen, mir sagen, dass nie wieder zu tun. Unruhig schluckte ich. Isaac musste meine Unsicherheit bemerkt haben, denn sein Lächeln wurde breiter und er zog mich an dem Arm, der noch immer um seinen Oberkörper lag, etwas zu sich herunter und küsste mich noch einmal. Nur leicht, nur ganz flüchtig, aber genug, damit mein Herz wieder wild tanzte. »Danke. Es ist wirklich schön hier.« Erleichtert entließ ich die angestaute Luft aus meinen Lungen. Es war alles gut. Er drückte kurz meine Hand, dann bildete sich eine leichte Sorgenfalte auf seiner Stirn. »Außer du möchtest mir jetzt gestehen, dass du einen Dreier mit mir geplant hast.« »Was?! Nein.« Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Wie kam er darauf? Mal abgesehen davon, dass ich kein Interesse an Sex mit mehr als einer Person gleichzeitig hatte, kam mir dieser Gedanke absolut willkürlich vor. An so einem Ort hätte man sicher viel gestehen können, dass er ausgerechnet darauf kam, war merkwürdig. »Dann ist gut.« Er senkte den Blick, machte einen kleinen Schritt von mir weg. »Lass uns zurückgehen, es ist kalt.« Ich hielt seine Hand fest und kam auch seiner Aufforderung nicht nach. Etwas war los und ich wollte klären, was nach diesem schönen Moment so plötzlich zwischen uns stand. »Was meintest du? Wie kommst du darauf? Würdest du dir das wünschen, oder was? Ich ...« Mir fehlten die Worte, zu unerwartet kam dieser Stimmungswechsel. »Nein.« Er konnte mich noch immer nicht ansehen, dennoch klang seine Antwort ehrlich. Er druckste etwas herum, machte aber keine Anstalten, sich weiter von mir zu entfernen. Dann seufzte er. »Sorry, ich hab alles kaputt gemacht.« Vorsichtig deutete ich an, ihn in den Arm zu nehmen, und er nahm das Angebot an, indem er sich gegen mich drückte. »Ich musste nur plötzlich an meinen Ex denken und hatte das Gefühl, du könntest Hintergedanken haben, mit mir herzukommen, und die Situation ausnutzen wollen.« Ich drückte ihn fester an mich, hauchte einen Kuss auf seine Mütze, auch wenn er das sicher nicht bemerkte. »Wie kommst du da ausgerechnet auf einen Dreier?« Isaac flüsterte gegen meine Brust: »Weil er mir bei unserem ersten Spaziergang auch plötzlich gestanden hat, dass er einen Dreier für den nächsten Tag angeleiert hat und dabei angeblich nicht vorher darüber nachgedacht hat, ob das für mich überhaupt in Ordnung ist. Es war ... Es hat da auch geschneit und muss etwa um dieselbe Zeit gewesen sein.« Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Jedes Mal, wenn er von dem Typen erzählte, wurde es für mich unverständlicher. Ich musste mir aktiv in Erinnerung rufen, dass es sicher auch gute Zeiten zwischen ihnen gegeben hatte, sonst hätte Isaac sich nicht auf ihn eingelassen, aber solche Sachen machten mich fassungslos. Wie manipulativ war dieser Mensch gewesen? Da ich anders nicht damit umgehen konnte und die Stimmung nicht weiter kippen wollte, ließ ich meine Stimme sanft und etwas scherzhaft klingen, sagte aber dennoch die Wahrheit: »Keine Sorge, mein einziger Hintergedanke war, dich danach in die Badewanne und dann unter meine Decke vor den Kamin zu locken, um dich aufzuwärmen.« Er hob den Kopf, lächelte und küsste mich erneut leicht. »Das klingt gut. Schließt du mich dann auch so in deine Arme?« »Aber sicher. So oft du willst.« Ich ließ ihn los. »Dann lass uns mal zurückgehen, bevor du mir noch ganz erfrierst. Und mach dir keinen Kopf: Du hast gar nichts kaputt gemacht. Ich fand es immer noch schön, mit dir hier hochzukommen.« Kapitel 25: Tino – November 2015 IV ----------------------------------- Nachdem wir die Finger in der Badewanne nicht voneinander hatten lassen können, hatte ich schon fast vermutet, dass es den Rest des Abends so werden würde, doch tatsächlich hatten wir uns gemeinsam in Bademantel auf der Couch gemütlich gemacht, er mit dem Rücken gegen meine Brust gelehnt. Während der Kamin knisterte, las ich ein Buch über Lagerwirtschaft – die einzige arbeitsbezogene Sache, die ich mir für das Wochenende erlaubte – und Isaac schrieb in dem kleinen Heft, das er immer bei sich zu führen schien. Obwohl ich ihn öfter damit sah, wenn wir gemeinsam einen ruhigen Abend verbrachten, wusste ich nicht, was darin stand. Er hatte anfänglich deutlich darauf geachtet, dass ich keinen Blick hineinwerfen konnte, daher hatte ich es später auch nie getan, selbst wenn sich mir wie jetzt die Gelegenheit geboten hätte. Wenn er es mir zeigen wollte, würde er es tun. Plötzlich seufzte Isaac leise und drehte den Kopf, so weit es ging, zu mir. »Tino?« Ich klemmte meinen Daumen zwischen die Seiten und schlug das Buch zu, um ihm zu zeigen, dass ich ihm zuhörte. Außerdem gab ich einen fragenden Laut von mir. Er tat dasselbe mit seinem Notizbuch, wobei er den Stift als Markierung nutzte. »Ist das hier wirklich okay für dich?« »Was meinst du?« Wohl kaum das Kuscheln auf der Couch, denn das taten wir auch in Boston oft. Den Urlaub? Aber den hatte ich ihm doch von mir aus angeboten. Er strich mit den Fingerspitzen über den Einband seines Hefts. Nur langsam drangen die Worte aus seinem Mund. »Das hier zwischen uns und die Richtung, in die es läuft. Ich frage mich, ob das für dich wirklich okay ist oder ob du das nur tust, weil du glaubst, mir etwas Gutes tun zu müssen oder so. Weil das musst du nicht.« Ich zog meine Hand unter seinem Mantel hervor und suchte nach meinem Lesezeichen. Das klang nach etwas, was ich in aller Ruhe mit ihm besprechen wollte. Nachdem ich das Buch vollständig zur Seite gelegt hatte, rutschte ich so, dass er eher seitlich mit der Schulter an meiner Brust lehnte und ich ihm halbwegs ins Gesicht sehen konnte. »Mach dir keine Gedanken. Ich genieße, was wir miteinander haben.« Unruhig wich er meinem Blick aus. »Sicher? Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir keine Beziehung wollen, und das meine ich noch immer so. Aber ich hab Angst, dass du dich durch meinen Wunsch nach Dates und meine häufige Anwesenheit bei dir in diese Richtung gedrängt fühlst. Ich weiß, wie scheiße sich sowas anfühlt, und will sichergehen, dass das tatsächlich in Ordnung ist. Ich will dir nicht meine Gefühle aufdrängen.« Ich strich leicht über seinen Rücken und ließ mir Zeit, meine Antwort zu überdenken. Ich wollte nichts sagen, was ihn erschreckte, aber gleichzeitig meinen Standpunkt so deutlich wie möglich machen. »Du drängst mir nichts auf. Nach vorhin freue ich mich umso mehr auf das, was du dir für das Date überlegst. Ich fand es wirklich schön, so Zeit mit dir zu verbringen.« »Und du hast nicht das Gefühl, dass es in eine Richtung geht, die wir eigentlich nicht wollen?« Der Gedanke, was Isaacs Frage im Umkehrschluss bedeuten konnte und welche Konsequenzen das hätte, stach in meiner Magengegend. Daher wollte ich diese Möglichkeit direkt aus dem Weg schaffen, bevor wir weitersprachen: »Hast du denn das Gefühl?« Er atmete mehrmals tief ein, zuckte dann mit den Schultern, schüttelte aber gleichzeitig mit dem Kopf. »Nein. Aber das verwirrt mich auch. Ich meine ... Dates? Romantische Spaziergänge? Das ist ... Sollte es mich nicht eigentlich stören, wenn wir doch keine Beziehung wollen, sondern Freunde bleiben? Aber es fühlt sich nicht so beengend und beängstigend an, wie es bei Toby und Roger war. Nicht, als würdest du ... mehr als das wollen.« Ich legte meine Hand in seinen Nacken und strich mit dem Daumen darüber. »Ich möchte auch nicht ›mehr‹, was auch immer das heißen soll. Es ist eher ... Wie erklär ich das ... Wie gesagt, ich genieße sehr, was wir haben. Alles davon, aber besonders, dass es mit dir so ... leicht ist. Wir waren uns von Anfang an einig und trotz der Gefühle gab es nie Probleme und das finde ich wirklich schön. Das mag egoistisch klingen – und vielleicht ist es das auch, keine Ahnung – aber ich will diese Gefühle. Ich will all das auskosten, weil es schön ist. Aber ich will nicht die Verantwortung, die mit verbindlichen, romantischen Beziehungen kommen. Ich freue mich über das, was wir haben, so lange wir das beide wollen und bin sicher traurig, wenn es irgendwann nicht mehr so ist, aber ich möchte im Moment weder mit dir zusammenleben, noch den Zwang haben, für dich da sein oder mit dir Zeit verbringen zu müssen, ich will keine gemeinsamen Anschaffungen machen oder gar mit dir ›alt werden‹. Versteh mich nicht falsch: Wenn sich irgendwas davon jemals für uns beide gut anfühlen sollte, dann bin ich gern dazu bereit. Aber im Moment ist es gut, wie es ist. Wir haben jeder unser eigenes Leben und lassen den jeweils anderen nur so weit hinein, wie wir es möchten.« Für einen Moment sah mich Isaac einfach nur überrascht an, bevor sich ein Lächeln auf seinen Lippen und Tränen in seinen Augen bildeten. Er schniefte, wischte sich mit der freien Hand über die Augen und vergrub dann sein Gesicht an meiner Brust. Etwas überfordert streichelte ich über seinen Rücken. War das jetzt eine gute oder schlechte Reaktion? War er wirklich so erleichtert? »Danke. Das habe ich wirklich gebraucht«, beantwortete er die Frage, ohne dass ich sie ausgesprochen hatte. »Ich hätte nicht gewusst, wie ich es ausdrücken sollte, aber ja, das hier ist genau das, was ich möchte.« Ich küsste Isaacs Stirn und drückte ihn dichter an mich. Vermutlich war es ihm nicht klar, aber es war beruhigend, dass es für solche Dinge das Gespräch mit mir suchte. Es brauchte viel Vertrauen, schließlich hätte ihn meine Antwort auch verletzen oder gar unser ganzes Verhältnis ändern können. Dennoch machte mich seine Antwort misstrauisch. Er wollte genau dasselbe ... Nicht, dass ich glaubte, dass er bewusst log, aber es fiel mir schwer, zu glauben, dass es so exakt übereinstimmte. Ich hatte viele solcher Beziehungen (gehabt). Nie, nicht ein einziges Mal, war so eine pauschale Aussage richtig gewesen, sondern immer ein Versuch, sich unterzuordnen, aus Angst, die eigenen Bedürfnisse könnten zu viel sein. Doch noch immer wusste ich nicht, wie ich damit am besten umging. Es erstmal so akzeptieren oder es direkt ansprechen? Vermutlich gab es darauf keine allgemeingültige Antwort und in Isaacs Fall ließ ich es so stehen. Eine Konfrontation hätte sicher zur Folge, dass er sich zurückzog. Bisher hatte es immer gut geklappt, ihn auf mich zukommen zu lassen. Es gab da jedoch eine Sache ... »Was meinst du mit beängstigend?« »Hm?« Er rutschte etwas von mir weg und sah mich direkt an. Den Kopf legte er dabei leicht schief und zog die Augenbrauen zusammen. »Was?« »Du sagtest, mit mir würde es sich nicht so beängstigend anfühlen wie mit Toby und Roger. Wie meinst du das?« Wenn es jemals eine gute Gelegenheit gab, von ihm zu erfahren, warum er sie zurückgestoßen hatte, dann jetzt. Zumal es mich alarmierte, dass er es als beängstigend beschrieb. Ich sah noch, wie er überlegend die Unterlippe zur Seite schob, bevor er sich wieder an mich lehnte. Ich ließ ihm die Zeit, die er offenbar brauchte, um erklärende Worte zu finden. »Ich habe Toby und Roger immer gesagt, was ich von ihnen möchte. Nicht so ausführlich wie mit dir, aber eben doch, dass ich keine feste Beziehung zu ihnen möchte. Ich weiß nicht, ob sie es nicht verstanden haben oder es ihnen nicht so ganz bewusst war, aber sie haben mich dennoch immer wieder in Situationen gebracht, in denen ich mich nicht mehr wohlgefühlt habe, die mir deutlich aufgedrückt haben, dass sie genau das aber von mir wollen. Ich glaub, sie haben gedacht, sie könnten mir so zeigen, dass es nicht so schlimm ist und ich das doch schon irgendwann wollen würde. Sie wollten mir nie etwas Schlechtes – das weiß ich – aber ich habe mich dennoch von ihrer Liebe erdrückt gefühlt. Irgendwann habe ich mich auch nicht mehr so wirklich getraut, ihnen meine zu zeigen, zumindest nicht absichtlich, weil ich Angst hatte, ihnen Hoffnungen zu machen. Darum bin ich auch ›weggerannt‹. Ich wusste irgendwann nicht mehr anders, wie ich aus diesem Kreislauf ausbrechen soll. Bei dir ist das anders. Nicht nur jetzt, wo ich weiß, dass du auch nicht mehr willst. Ich hab das Gefühl, dass dir meine Grenzen genauso wichtig sind wie deine; nicht nur beim Sex, sondern auch bei allem anderen. Ja klar, auch du hast schon Fehler gemacht – und ich auch – aber wir drehen uns dabei nicht im Kreis, du änderst wirklich etwas und machst nicht dasselbe wieder.« Zumindest versuchte ich das. Auch wenn es nicht immer so mühelos war, wie er es wahrzunehmen schien. Viel wichtiger war für mich jedoch die vollkommen neue Sicht auf das, was zwischen ihm und Toby und Roger geschehen war. Hatte ich mir zu viele Sorgen gemacht, ihm näherzukommen? Wie es schien, war das nicht ihr Problem gewesen, sondern dass sie seine Grenzen überschritten hatten. Ob das bewusst geschehen war oder nicht, spielte dabei keine Rolle. So sehr ich die Art, wie er sich von ihnen entfernt hatte, auch nicht gut hieß: Wenn ich bedachte, was er zuvor erlebt hatte, war es ein großer Schritt für ihn gewesen, seine Grenzen so zu verteidigen. »Ich weiß nicht, wie es genau bei euch drei war – und will mich da auch nicht einmischen – aber du machst es gut, mir zu sagen, wenn du etwas nicht möchtest oder ich zu weit gehe.« Isaac bog den Kopf nach hinten, um mich anzusehen. Ein schüchternes Grinsen lag auf seinen Lippen. Bevor er sich abwenden konnte, hauchte ich ihm einen Kuss darauf. Er sah dabei so süß aus, zumal sich seine Wangen leicht rot färbten. Er schlang einen Arm um meinen Hals und hinderte mich, mich zu schnell wieder zu entfernen. Aus dem kurzen, gestohlenen Kuss wurde eine längere, zärtliche Geste, nach der er sich zufrieden dichter an mich kuschelte. Trotz der folgenden, längeren Pause spürte ich, dass das Thema für ihn noch nicht ganz beendet war. Daher überraschte es mich auch nicht, als er wieder zu sprechen begann: »Darf ich dich noch etwas fragen?« Sanft strich ich mit den Fingern durch seine Haare. Er hatte sie nach dem Baden nicht gestylt, da war es ausnahmsweise okay. »Sicher. Solange du akzeptierst, wenn ich sie nicht beantworten möchte.« »Ja! Ja, natürlich«, beeilte er sich, zu sagen. »Dann frag«, forderte ich ihn freundlich auf. »Warum kannst du keine Beziehung führen?« Ich schmunzelte. »Ich habe nie gesagt, dass ich keine Beziehung führen könnte, sondern dass ich es nicht möchte. Und auch nicht gar keine Beziehung, sondern eine bestimmte Art von Beziehung: amatonormative, verbindliche romantische Beziehungen. Ich möchte mein Leben nicht einer Person – oder auch mehreren – verpflichten. Für mich funktioniert es nun mal mehr, jede zwischenmenschliche Beziehung einzeln zu definieren, als sie in ein Schema F zu drücken.« Isaac sah skeptisch zu mir auf. »Ja, aber ich meine, wie du dazu gekommen bist. Ich meine, du hast doch sicher nicht irgendwann gedacht: ›Hey, ich hab da keinen Bock drauf, ich mach was komplett anderes‹.« »Doch, eigentlich schon.« Ich verstand, dass es aus seiner Sicht einen bestimmten Auslöser gegeben haben musste, aber den gab es nun mal nicht. »Also mehr oder weniger. Ich hab früh gemerkt, dass Paarbeziehungen so für mich nicht funktionieren, und dachte dann auch, dass ich einfach nicht in der Lage wäre ›richtig‹ zu lieben. Weil ich das nicht so wirklich wahrhaben wollte und auch beim Auseinandersetzen damit, dass ich pan bin, bin ich dann darauf gestoßen, dass es eben nicht nur eine Möglichkeit gibt, menschliche Beziehungen zu definieren, und ich sehr wohl romantisch lieben kann. Mir liegt nur nicht die Art, von der andere gern hätten, dass ich es zeige.« Leise seufzend sackte Isaac etwas in sich zusammen und nickte. Ich konnte mir schon fast denken, was er dachte, dennoch fragte ich vorsichtig nach: »Was ist los?« »Denkst du auch, dass ich krank bin, weil ich es wirklich nicht kann?« Er sah nicht einmal auf. Ich atmete tief durch. Die Antwort darauf war nicht so einfach, wie er es sich vielleicht erhoffte. »Ich glaube nicht, dass du krank bist; außer du verstehst ›traumatisiert‹ als ›krank‹. Du hast wirklich schlimme Erfahrungen gemacht und die kannst du nicht einfach vergessen. Es ist normal, dass du alles dafür tust, sie nicht noch einmal zu machen. Wenn es sich für dich sicherer anfühlt, keine feste Partnerschaft einzugehen, dann bin ich der Letzte, der das verurteilt. Das heißt aber nicht, dass ich jede Art, wie du damit umgehst, gutheißen oder für gesund halten muss. Dennoch bist du selbst dafür verantwortlich. Wenn Drogen und durchzechte Nächte mit schnellen Bekanntschaften der Weg sind, den du gehen möchtest, dann kann ich dich nicht aufhalten. Aber ich werde dir auch nicht beim Untergehen zusehen.« Er zog die Beine an seinen Körper und schlang die Arme darum. Dabei rutschte er unbewusst etwas von mir weg. Ich wollte ihm über den Rücken streicheln, ließ es aber. Es wirkte nicht, als würde er das gerade wollen. »Ich will auch nicht den Moralapostel spielen. Du weißt selbst, dass ich nichts gegen spontane, sexuelle Begegnungen und Gras und Alkohol habe und beides gern konsumiere, wenn ich richtig abschalten will. Aber in einem Rahmen, den ich kontrollieren kann und der sich nicht auf mein restliches Leben auswirkt.« Isaac schwieg und da ich alles gesagt hatte, was ich dazu zu sagen hatte, wartete ich. Wenn er etwas dazu sagen wollte, dann würde er das tun, und wenn nicht, dann würde er anderweitig zeigen, dass er das Thema beenden wollte. »Ich weiß nicht, ob ich das mit dem Alkohol noch unter Kontrolle habe«, murmelte er nach einer Weile und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Der Inhalt seiner Aussage überraschte mich nur wenig, dafür umso mehr, dass er es sich – und vor allem auch mir – eingestand. Ich wollte mich ihm nicht aufdrängen, daher hielt ich ihm meine Hand symbolisch offen hin. »Wenn du etwas daran ändern möchtest und ich dir helfen kann, werd ich das tun.« Einen Moment sah er die Hand verwundert an, dann nahm er sie an und drückte sich wenig später wieder an mich. »Danke.« Zärtlich schlang ich die Arme um ihn. Ich hatte nicht die Hoffnung, dass sich direkt etwas änderte, aber wenn er es wollte, würde ich ihm helfen. »Ich will die Nähe, aber ich hab Angst vor dem, was da sonst noch mit reinkommt«, murmelte er nach einem Moment gegen meine Brust. Sanft strich ich über seinen Rücken. »Ich weiß. Es ist okay. Wir bekommen das zusammen so hin, dass du dich sicher fühlen kannst.« Nur leicht spürte ich das zögernde Nicken und quittierte es mit einem sanften Kuss auf den Kopf. Solange wir es weiterhin hinbekamen, über solche Dinge zu reden, war ich mir sicher, dass es irgendwie ging. Ich wollte ihm zeigen, dass es möglich war, zu lieben, ohne sich in vorgegebene Muster pressen zu lassen. Eine ganze Weile atmete er nur ruhig in meinen Armen und ich vermutete schon fast, dass er einfach eingeschlafen war, doch dann richtete er sich auf, drückte mir lächelnd einen Kuss auf die Lippen und widmete sich dann wieder seinem Heft. Ich setzte mich so hin, dass er sich wie vorher anlehnen konnte, und nahm selbst mein Buch wieder zur Hand. Lange würde ich nicht mehr machen, aber etwas wollte ich den Abend noch genießen. Kapitel 26: Samsa – Dezember 2015 I ----------------------------------- Unruhig stieg ich von einem Fuß auf den anderen, blies immer wieder warme Luft in meine Hände. Es war nicht wirklich kalt – der Winter ließ sich dieses Jahr sehr viel Zeit und bescherte noch einmal ein paar warme Tage – dennoch fühlten sich meine Hände an, als würden sie erfrieren. Dabei gab es nicht einmal einen Grund, so nervös zu sein. Ich traf mich doch nur mit Tino. Es würde sein wie immer. Nichts, weshalb ich mich aufregen müsste. Egal, wie oft ich mir das selbst erzählte: Es ändere nichts. Wie auch, es war schließlich unser erstes, offizielles Date. Ich konnte noch so sehr daran glauben, dass es vollkommen egal war, ob es uns gefiel oder nicht, dass es nichts ändern würde, die Angst davor blieb. Erleichtert atmete ich aus, als Tino endlich auf der anderen Straßenseite erschien. Er hatte sich nur minimal schick gemacht, nichts, was übertrieben war und mir noch mehr Angst gemacht hätte. Viel hatten wir ja auch immerhin nicht vor. Nur ein vollkommen unromantischer Kinofilm, irgendwo etwas essen, wenn wir einen Platz ergattern konnten, und danach weitersehen. Ganz klassisch, nichts Extravagantes. Und doch machte mir alles um uns herum klar, was die Welt von uns erwartete: Kein profanes, tollpatschiges erstes Date, nicht diese vollkommen undefinierte Beziehung in der wir alles und nichts waren, sondern stichfeste Romantik, den Willen eine eigene Familie zu gründen, wenn wir es denn schon wagten, den heutigen Tag nicht mit denen zu verbringen, die uns eine hätten sein sollen. Die Luft war erfüllt von Kitsch, überall klingelte und klimperte es, aus jeder Ecke schrie es nach Romantik und Familienglück. Wir hätten das nicht tun sollen, wir hätten einen anderen Tag finden müssen. Auch wenn Tino versichert hatte, dass es für ihn ebenfalls keinen anderen Ort gab, an dem er hätte sein sollen oder wollen, das war nicht der Tag, den er mit mir – einer unbedeutenden Affäre, einem nicht so wirklich Freund, einem undefinierten Etwas – verbringen sollte, nur weil dieser nicht wusste ... »Hey.« Tino hauchte mir einen Kuss auf die Wange. »Du hättest ruhig schon reingehen können, statt hier draußen zu frieren.« Ich nahm seine Hand, die sich warm um meine Finger schloss und mir sofort etwas Selbstvertrauen verlieh. »Ich wollte dir einen Grund geben, mich zu wärmen.« Weich lächelte er mich an, eine angenehme Wärme in seinen dunklen Augen. Dann wurde der Ausdruck frecher. »Für richtig intensives Wärmen hättest du dir aber einen anderen Ort suchen sollen.« Lachend stieß ich gegen seinen Oberarm und lehnte dann meinen Kopf dagegen. Ich wurde das Grinsen nicht los. Es tat so gut, etwas mit ihm zu unternehmen. Es war so ... leicht. Er stellte keine Erwartungen an mich. »Wünsche, wo wir sitzen?« Diesmal war es an mir, frech zu sein: »Lass uns hinten sitzen, falls der Film langweilig ist.« Skeptisch hob Tino eine Augenbraue. »Dann können wir den Besuch auch sein lassen oder etwas anderes sehen, wenn du meinst, dass es langweilig wird.« Schnell schüttelte ich den Kopf. Wirklich interessiert war ich an Star Wars nicht, aber ich ging zumindest davon aus, dass man sich den Film ansehen konnte. Wenn ich mich schon an ein Date wagte, dann wenigstens etwas ganz klassisches, das nicht zu kitschig war. »Okay, dann hinten. Magst du uns Snacks besorgen, während ich die Karten hole? Dann müssen wir nicht zweimal anstehen.« »Klar. Was willst du?« »Bringst du mir ein großes Nachomenü mit?« Ich nickte und war auf dem Weg, noch bevor er sein Portemonnaie aus der Hosentasche ziehen konnte. Wenn er die Karten zahlte, wollte ich die Snacks übernehmen. Ich hatte mir in den letzten Wochen extra etwas zur Seite gelegt, um bei unserem Date nicht auf ihn angewiesen zu sein. Die Schlange an der Snackbar war sehr kurz, die meisten hatten wohl schon ausgiebig gegessen oder wollten sich vor dem großen Mahl nicht zu sehr vollstopfen. Daher hatte ich auch Zeit, noch kurz mit der Verkaufsperson zu flirten, bevor Tino mit den Karten am Durchgang zu den Sälen stand und wartend zu mir sah. Zügig verabschiedete ich mich, sammelte unsere Sachen ein und ging zu ihm. Lächelnd sah er mir entgegen und legte den Arm um mich, sobald ich bei ihm angekommen war. Wohlig schmiegte ich mich an ihn. »So, sprich, was möchtest du essen? Mit dir spaziergehen ist zwar wunderschön und wir können das gern öfter machen, aber so langsam hab ich echt Hunger.« Tino beugte sich zu mir herunter, hauchte einen Kuss gegen meinen Kopf und strich mit dem Daumen sanft über meinen Handrücken. Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern. Keine Ahnung, ich hatte nicht wirklich Hunger und wusste noch nicht einmal, was überhaupt offen hatte. »Ist mir egal, irgendwas, was offen hat. Und wenn es das goldene M ist.« Angewidert verzog er das Gesicht und gab damit zumindest seine Antwort auf diesen Vorschlag. Er fischte sein Handy aus dem kleinen Rucksack auf seinem Rücken. »Lass mal sehen, was es in der Nähe gibt.« Nach einer Weile scrollen sah er kurz zu mir und drückte mir einen kurzen Kuss auf die Wange. »Du weißt schon, dass es eigentlich deine Aufgabe bei der Planung gewesen wäre?« Ich schnaufte wenig ernsthaft. Ja, irgendwie schon, schließlich hatten wir ausgemacht, dass ich das planen sollte, womit ich mich wohlfühlte. Aber mir war nicht wichtig gewesen, wo wir aßen. Es war nur eine Notwendigkeit in der Planung. Ich konnte nun mal nicht kochen und wollte auch ihn nicht dazu verpflichten. Er lächelte. »Wäre es in Ordnung, wenn ich dir nicht sage, wo wir hingehen, und dich einlade?« Noch bevor ich wirklich darüber nachgedacht hatte, schüttelte ich den Kopf. Mir gefiel beides nicht. Aber ich wollte mich zumindest auf einen Kompromiss einlassen. »Nur eines von beiden.« »Es ist in Ordnung, wenn du beides ablehnst.« Wieder schüttelte ich den Kopf, sah ihm direkt in die Augen. »Eines von beidem.« »Okay.« Er erwiderte den Blick und nickte bestimmt. »Dann lade ich dich ein. Weil ich weiß, dass es das von beidem ist, was dich am meisten ärgert.« Ich sah ihn an, spürte plötzlich die kühle Luft durch meine Kleidung dringen. Hatte er mich absichtlich in eine Falle gelockt? Halb unbewusst wartete ich. So ganz sicher war ich nicht, worauf, aber als er mich nach einer Weile noch immer ansah, spürte ich es sehr genau. Da er es wohl nicht eilig hatte, konzentrierte ich mich auf dieses Gefühl. Was genau befürchtete ich gerade eigentlich? Peter ... Er hatte mich in solche Fallen gelockt, wenn er wollte, dass ich etwas tat, was ich sonst nicht tun würde. Er hätte mich glauben lassen, einen Kompromiss zu machen, und daher von vornherein mehr gefordert, als er wollte. Aber Tino hatte mir deutlich gemacht, dass ich auch beides ablehnen durfte. Reichte das? Nein. Nein, Peter hätte das auch getan. Damit ich nicht misstrauisch wurde. Er hätte nur nie zugegeben, aus welchen Gründen er was wählte. Aber das erklärte nicht, worauf ich gerade unbewusst wartete ... Die Ablenkung! Peter hätte mir keine Zeit gelassen, es mir anders zu überlegen. Er hätte sofort gesagt, wo er hinwollte, wäre vielleicht sogar direkt losgelaufen. Er hätte alles getan, damit ich nicht auf die Idee kam, noch einmal darüber nachzudenken. Niemals hätte er mich nach so einer Finte einfach abwartend angesehen. Langsam nickte ich. Ich glaubte Tino, dass es nicht geplant war, und er mich nur freundlich ärgern wollte. Sein Lächeln wurde breiter, er schien sich wirklich darüber zu freuen, dass ich es annahm. Er hielt mir sein Handy hin. »Was hältst du davon, wenn wir die Idee mit den Burgern aufgreifen und dort essen gehen? Das sind knapp zehn Minuten Fußweg und wenn wir dort zu lange warten müssten, gibt es noch andere Möglichkeiten in der Nähe. Außerdem mag ich den Milchshake probieren.« Ich nahm das Handy an mich. Im Browser sah ich das Bild eines Milchshakes namens ›S’More than you can handle‹ mit Crackern, Marshmallows und viel Schokolade, für den eine regionale Burgerkette bekannt war, bei der ich schon gelegentlich gegessen hatte, wenn auch nicht in der nächstgelegenen Fiale. »Ja, klingt gut.« Er hielt mir seine Hand hin und als ich sie ergriff, kehrte die Wärme wieder in meinen Körper zurück. Ich musste mir bei Tino keine Sorgen machen. Er war nicht wie Peter! Doch warum verstand ich das auch nach über einem Jahr noch nicht wirklich? Kapitel 27: Samsa – Dezember 2015 II ------------------------------------ Fasziniert sah ich zu Tino auf. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, den Mund leicht geöffnet, die Augen geschlossen und atmete schwer. Der Anblick war so wunderschön, dass ich in der Bewegung stoppte, mich lieber auf meine Hand konzentrierte, die sich von seiner Hüfte erst nach unten bewegte, dann langsam hoch. Über die leicht zitternden Oberschenkel, den strafen Hintern, die Beckenknochen, hoch über die Flanken und die Brust. Er senkte etwas den Oberkörper, öffnete die Augen nur so weit, dass er mich sehen und anlächeln konnte. Meine Hand wanderte weiter über seine Schulter, den Hals, verweilte dann an seiner stoppeligen Wange. Mit dem Daumen strich ich über seine leicht spröden Lippen. Er küsste die Fingerkuppe, nahm sie ganz sanft zwischen seine Zähne. Gerade als er sie wieder losließ, stieß ich mit der Hüfte zu, beobachtete hingerissen, wie er Kopf und Körper wieder zurückwarf, er einen langgezogenen Laut ausstieß und sich sein Penis wieder aufrichtete. »Mehr!«, hauchte er, vollkommen unabhängig davon, dass ich wusste, dass er es hinterher bereuen würde. Ich richtete mich auf, drückte ihn dadurch dichter an mich, entlockte ihm einen weiteren Laut. Sanft küsste ich über seine Brust, sah dann zu ihm auf. »Bist du sicher?« »Ja. Gib mir alles.« »Wer will jetzt mehr, als er vertragen kann, hm? Und das schon zum zweiten Mal an diesem Abend?« Ich krallte meine Hände in seinen Rücken, zog ihn zu mir herunter und küsste ihn, ohne eine Antwort abzuwarten. Erst nach einigen Stößen, die unweigerlich das Sperma, welches er zuvor auf meinen Bauch hinterlassen hatte, zwischen uns verteilten, ließ ich ihn wieder los, damit er sich aufrichten und ich ihn wieder in seiner ganzen Pracht sehen konnte. Er war so, so wunderschön, wenn er sich mir hingab. Ich würde mir richtig viel Zeit mit ihm lassen, egal wie oft er sich vorher noch auf mir entladen würde. Frisch geduscht drängte ich mich an Tinos warmen Körper, der ebenfalls nach Seife roch. »Und du brauchst wirklich nichts?« »Ich hab Wasser und dich. Das reicht erstmal bis morgen früh.« Vor Verlegenheit stieß ich gegen seine Schulter. »Hör auf sowas zu sagen.« Er drehte sich schwerfällig herum und brummte wohlig, als er mich in seine Arme nahm. »Weil du es nicht magst oder weil du es nicht annehmen kannst?« »Macht es einen Unterschied?« Ich suchte mir eine bequeme Position, in der ich ihm ins Gesicht sehen konnte und trotzdem möglichst viel Körperkontakt hatte. Seine Finger fuhren in meinem Nacken streichelnd über den Haaransatz. »Bei dem einen nehme ich die Aufforderung ernst und sage sowas nicht mehr, bei dem anderen seh ich es als meine Aufgabe, dich daran zu gewöhnen.« Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. Hatte ich wirklich geglaubt, er hätte nicht vorher darüber nachgedacht, was er sagte? Nein, das passte nicht wirklich zu ihm. Solche total komplexen Dinge tat er ständig, scheinbar völlig mühelos. »Es ist in Ordnung, wenn du sowas sagst. Übertreib es nur nicht.« »Gut.« Er hauchte einen Kuss auf meinen Scheitel. »Dann noch eines für heute Abend, dann ist Schluss: Danke dir für diesen wunderschönen Abend. Ich kann mir kein besseres Weihnachtsdate vorstellen.« »Das waren zwei Sätze«, beschwerte ich mich halb schmollend. Es war gemein, sowas zu sagen, wenn ich nichts zu erwidern wusste, außer dass ich es auch toll fand. »Aber nur ein Kompliment.« Seine Hand legte sich auf meine Wange und er forderte sanft einen Kuss. Nachdem unsere Lippen mehrmals behutsam übereinandergestrichen hatten, erwiderte ich: »Ich fand es auch schön. Danke. Wenn du auch möchtest, würde ich mich über ein Zweites freuen.« Seine Augen leuchteten vor Freude. »Ich würde mich auch sehr freuen.« Ich schmiegte meinen Kopf gegen seine Brust und genoss, dass er mir den Nacken kraulte. Dabei hatte ich eigentlich vorgehabt, mich um ihn zu kümmern, nachdem er sich so verausgabt hatte. Langsam döste ich weg. »Isaac, bist du noch wach?« Tinos Stimme kam von irgendwo direkt neben mir, dennoch wirkte sie sehr weit weg. »Hm?«, brummte ich und drehte mein Gesicht in die Richtung, in der ich seines vermutete. »Was ist?« »Nichts. Schon gut, schlaf weiter. Sorry, ich wollte dich nicht wecken.« Sein Daumen strich wieder langsam über meinen Haaransatz. »Das hat auch noch bis morgen Zeit.« Ich richtete mich etwas auf und rieb mir über die Augen. »Schon okay, ich bin wach. Was ist los?« Betrübt sah er mich von unten herauf an. »Tut mir leid, ich hätte bis morgen warten sollen. Mir ist nur beim Einschlafen eingefallen, dass ich vergessen habe, das im Nachtkästchen noch etwas für dich liegt. Es ist wirklich nicht wichtig.« Noch immer schlaftrunken streckte ich mich in die Richtung und zog die Schublade auf. Darin lag neben ganz viel Krimskrams auch ein kleines Kästchen, das in weihnachtliches Geschenkpapier eingeschlagen war. »Bevor du meckerst: Es war nicht teuer und ich hab es gesehen und musste dabei an dich denken. Bitte sei nicht böse. Ich erwarte dafür auch keine Gegenleistung.« Vehement schlug ich die Schublade zu und schüttelte den Kopf. »Ich will es nicht!« »Äh ... okay. Willst du nicht erst sehen, was es ist?« Auch Tino richtete sich auf und sah vollkommen bedröppelt zu mir. Erneut schüttelte ich den Kopf. »Nein.« Ich wollte nicht schon wieder Schmuck geschenkt bekommen. Das war bisher nie gut ausgegangen. Nicht bei Peter, nicht bei Toby und Roger. Letztere hatten ebenso behauptet, keine Gegenleistung zu wollen und doch hatten sie sich immer eine erhofft. Noch einmal würde ich das nicht mitmachen. Sichtlich überfordert mit der unerwarteten Ablehnung sah mich Tino an. Dann nickte er leicht und stand mit einem tiefen Durchatmen auf. »Tut mir leid. Ich hätte fragen sollen, ob es in Ordnung ist, dir etwas zu schenken. ... Ich hab nicht erwartet, dass das so schlimm für dich ist.« Vor Schmerzen verzog er das Gesicht, während er um das Bett herumging und die Schublade wieder öffnete. »Tino, was hast du vor?«, fragte ich gleichermaßen erschrocken wie besorgt, als er auf die Schlafzimmertür zu schlürfte. Er wollte doch nicht unter Schmerzen noch weiter laufen? Und warum überhaupt? »Ich bring es erstmal in die Küche.« Zur Verdeutlichung, dass er das Kästchen meinte, zeigte er es in meine Richtung. »Es fühlt sich gerade ungut an, es in der Nähe zu haben. Morgen entscheide ich, was ich dann damit mache.« »Hey.« Ich stand auf, ging zu ihm und nahm es ihm ab. Sanft legte ich den Arm um ihn. »Dir tut alles weh. Du solltest wirklich nicht rumlaufen. Schon gar nicht wegen so einem Unsinn. Komm, leg dich wieder hin. Wenn du es wirklich unbedingt weg haben willst, bring ich es weg, aber ich hab auch kein Problem, wenn es erstmal hierbleibt.« »Bist du sicher? Du scheinst dich damit sehr unwohl zu fühlen.« Er ließ sich von mir zum Bett führen und kuschelte sich wieder in die Decke, sobald er lag. Ich legte das Päckchen auf dem Nachttisch ab und setzte mich im Schneidersitz zu ihm. Zögerlich legte er den Kopf auf meinen Oberschenkel, wo diesmal ich seinen Nacken kraulte. »Ja. Ich gehe nicht davon aus, dass es mich über Nacht anfällt.« Er lächelte leicht. »Sicher? So wirkte deine Reaktion aber gerade.« Gedankenverloren nickte ich. Ja, vielleicht hatte die Reaktion nach außen etwas übertrieben gewirkt. Aber ich konnte das wirklich nicht. Wortlos abwartend, aber ohne Forderung, strich seine Hand über meinen Oberschenkel. Eine Weile erlaubte ich mir, meinen Gedanken nachzuhängen, über den Ring nachzudenken, den mir Toby und Roger geschenkt hatten, kurz bevor sie sich verlobten. Es hatte sich immer so angefühlt, als hätten sie mir ebenfalls einen Antrag gemacht. Doch ich war so naiv gewesen, ihn anzunehmen, ihnen zu glauben, dass daran keine Erwartungen hingen. Dennoch hatte es sich immer schlecht angefühlt, ihn zu tragen, wie ein brennendes Versprechen, das ich nie gedachte einzuhalten. Nach nicht einmal einem Jahr war er bei einem Pfandverleih gelandet und ich hatte mich nie getraut, es ihnen zu sagen. Außerdem dachte ich an das Armband, das ich so oft hatte entsorgen wollen und das noch immer irgendwo in den Tiefen meines Nachttischs ruhte. Ich hatte es so lange nicht mehr gesehen, geschweige denn angefasst, dass ich mir dessen nicht einmal mehr sicher war. Es hatte nichts von seiner mahnenden Wirkung verloren, doch ich musste es nicht mehr sehen. Sollte ich ...? Ja, vermutlich war es nur fair. »Bist du mir böse?« Tino schnaufte leise. »Nein, überhaupt nicht. Es war mein Fehler. Ich hätte dich vorher fragen müssen, ob es für dich in Ordnung ist, wenn ich dir eine Kleinigkeit schenke. Ich bin eher ›böse‹ auf mich selbst, weil ich nicht darüber nachgedacht hab, wie es für dich ist.« Oh Gott, jetzt tat er mir fast schon leid. So schlimm, wie er sich das gerade auszumalen schien, war es doch gar nicht. »Wenn du mir etwas schenken möchtest, dann freue ich mich, solange es nichts Megateures ist. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du dir dabei wirklich Gedanken machen und es auch nicht übertreiben würdest. Aber ... ich kann keinen Schmuck annehmen. Das fühlt sich nicht gut an. Bisher hingen da immer Erwartungen dran, die ich nicht erfüllen konnte.« Tino, der schon bei meinem Aber leise gelacht hatte, schüttelte sich nun, da ich fertig war mit reden, vor lachen. Zwischen den Lachern presste er hervor: »Sorry! Ich hab’s gleich wieder ...« Es dauerte wirklich einen Moment, bis er fertig war, und er wischte sich eine Träne aus dem Auge. Nach Entschuldigung heischend sah er zu mir auf. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht auslachen. Danke, dass du mir das erzählt hast.« Er richtete sich mit einem leicht schmerzhaften Stöhnen auf und küsste mich. »Ich weiß, dass das für dich nicht leicht ist. Und jetzt weiß ich, dass ich nie versuchen werde, dir Schmuck zu schenken. Beruhigt es dich zu wissen, dass ich dem Geschenk kein Schmuck ist?« Skeptisch sah ich zu ihm hinüber. Es fiel mir schwer, das zu glauben, auch wenn ich nicht dachte, dass er log. Aber die Schachtel sah dem Geschenk, was mir Peter zu unserem ersten Weihnachten gemacht hatte, viel zu ähnlich. Oh! Wie Schuppen fiel es mir von den Augen, was mein eigentliches Problem war. Wieder einmal hatte mein Gehirn zu viele Assoziationen miteinander verbunden, die mir gar nicht bewusst aufgefallen waren. Im Nachhinein fiel mir auf, wie ähnlich die Situation insgesamt war. Dass ich bereits früher am Abend an meinen Exfreund hatte denken müssen, machte es nicht besser. Nun musste auch ich lachen. Ähnlich wie zuvor wohl bei Tino war es ein erleichtertes Lachen. Mit Tränen in den Augen nickte ich. »Ja, sehr.« Er setzte sich ganz auf und nahm mich in den Arm, wartete geduldig, bis ich mich beruhigt hatte. »Darf ich mich noch umentscheiden?«, fragte ich schniefend, während ich mir die Tränen abwischte. Er streckte sich, um eine Packung Taschentücher zu angeln, und hielt sie mir hin. Zärtlich streichelte er über meine Wange. »Natürlich! Aber bitte fühl dich nicht dazu verpflichtet.« »Nein, tu ich nicht. Aber du weißt ja ...« Ohne den Satz zu beenden, tippte ich mit dem Finger leicht gegen meinen Kopf. »Du kannst gar nichts dafür.« Er küsste mich auf die Stelle, an die ich getippt hatte. »Dass du es jetzt doch annehmen willst, ändert nichts daran, dass ich hätte fragen sollen. Dann wäre es auch nicht zu dem Missverständnis gekommen. Und du hast ja recht: Es kann auch ein Schmuckkästchen sein. Also ist es sogar, aber es ist kein Schmuck drin. Das verspreche ich dir.« Nun doch sehr neugierig geworden, griff ich nach dem Geschenk und wickelte es schnell, aber vorsichtig aus. Zum Vorschein kam wirklich eine kleine Schachtel, ähnlich der, in der das Armband damals gelegen hatte. Mit leicht zitternden Fingern, aber dem Vertrauen, dass mich Tino nicht anlog, öffnete ich sie. Zum Vorschein kam der Torso einer winzigen E-Gitarre aus Holz, auf das nicht nur die Details gebrannt waren, sondern auch der Schriftzug »Samsa«. Ich nahm sie heraus und stellte dabei auch gleich fest, dass sich das Oberteil abnehmen ließ. Vorsichtig nahm ich sie auseinander und entdeckte im Inneren drei Aussparungen für Picks, sowie drei hölzerne Picks, die darin lagen. In das Erste war »Blutlaster«, in das Zweite unser Logo gebrannt. Für das Dritte war Tino doch etwas kitschig geworden und hatte neben »Isaac« auch ein Herz einbrennen lassen. »Ich weiß, du hast sicher hunderte von den Dingern rumliegen, aber ich fand es ziemlich niedlich, als ich das gesehen hab, und dachte, dass wenigstens die Box auch nicht schaden kann, weil ja noch ein paar mehr reinpassen«, erklärte er. Seine Wangen hatten vor Verlegenheit eine etwas dunklere Farbe angenommen. »Das ist wirklich sehr süß! Danke dir!« Ich küsste ihn herzlich. Und meine Freude war nicht gespielt. Er hatte sich Gedanken gemacht, auch wenn ich die Picks vermutlich nie nutzen würde, weil ich Angst hatte, sie direkt zu zerbrechen. Aber die Box würde ich sicher nutzen. Was mir bei den Aufschriften vor allem auffiel: Sie waren auf mich zentriert, nicht auf unsere ... Verbindung. Natürlich war das Herz unter meinem Namen kitschig, aber eben doch echt unaufdringlich. »Und keine Sorge, Picks kann ich kaum genug haben. Die gehen ständig verloren und nutzen sich ab.« Er lachte. »Dass du mein Geschenk verlieren wirst, ist jetzt nicht so aufbauend, wie du vielleicht meinst.« Ich schmiegte mich an ihn und küsste seine Wange. »Nein, die werde ich nicht verlieren. Sie bekommen einen ganz besonderen Platz.« Den Arm um mich gelegt, rutschte Tino langsam nach unten, bis wir wieder lagen. Er küsste mich auf die Stirn, nahm mir die Box ab und legte sie zurück auf den Nachttisch, bevor er uns beide zudeckte. Seine große Hand strich über meine Wange, seine dunklen Augen hielten meine gefangen. »Ich liebe dich, Isaac«, flüsterte er. Kurz befürchtete ich eine Panikattacke, doch dann wurde mir klar, dass mein Herz vor Freude schneller schlug. Verlegen lächelte ich. »Ich dich auch.« Kapitel 28: Samsa – Januar 2016 ------------------------------- Die hämmernden, dröhnenden Kopfschmerzen und der schale Geschmack auf meiner Zunge rieten mir davon ab, die Augen zu öffnen. Allerdings war es so auch schwerer, herauszufinden, wo ich mich befand. Dass ich es auf Anhieb nicht mehr wusste, überraschte mich in Anbetracht dieser Umstände jedoch nicht. Wie war es überhaupt dazu gekommen? Ich hatte doch ... Die ersten Bilder einer Party, blinkende Lichter und der Eindruck von schwitzenden, tanzenden Menschen bildeten sich in meinem Kopf. Alles wogte und drehte sich. Der Schwindel breitete sich bis in meinen Magen aus. Bevor die Säure die Speiseröhre hinaufstieg, riss ich die Augen auf. Zum Glück hatte jemand mitgedacht und einen Eimer gut sichtbar in meine Nähe gestellt. Sobald sich mein Magen etwas beruhigt hatte, setzte ich mich an den Rand der ausgelegenen Matratze, auf der ich geschlafen hatte. Im abgedunkelten Raum konnte ich die Gestalt von zwei, vielleicht auch drei weiteren Personen ausmachen, die ebenfalls auf diversen auf dem Boden liegenden Schlafgelegenheiten lagen. Der Geruch meines Erbrochenen fügte sich wunderbar in die abgestandene Luft und ich war ehrlich dankbar, dass ich kaum etwas erkennen konnte. Ich war nicht einmal sicher, ob sich in einer der Ecken, in denen undefinierbare Haufen von Zeug lagen, nicht gerade etwas bewegt hatte. So konnte ich wenigstens nur raten, dass der Bezug der Matratze, sowie Decke und Kopfkissen in einem dunklen Ton gehalten waren. Wie war ich an diesem neuerlichen Tiefpunkt gekommen? Ich hatte doch das genaue Gegenteil erreichen wollen ... Ich konzentrierte mich wieder auf den Vorabend, schaffte es nach einer weiteren Welle der Übelkeit, das Bild in meinem Kopf zu stabilisieren. Es dauerte, bis ich die Bilder einem Club zuordnen konnte. Den Namen hatte ich vergessen, aber es war ein queerer Spot, den Tino mir empfohlen hatte, sollte ich mal keine Lust auf das Rainbow haben. Tino ... Ach fuck! Ich stöhnte schmerzvoll auf und fuhr mir mit der Hand durchs Gesicht. Tino war schuld an meiner momentanen Situation! Nein, falsch. Ich war selbst schuld. Tino war lediglich der Grund für eine ganze Reihe unüberlegter Entscheidungen. Das Knarzen des Bodens, als sich eine der anderen Personen im Raum umdrehte, riss mich aus meiner Versenkung. Bevor ich noch länger nachgrübelte, wollte ich mir erstmal einen angenehmeren Ort suchen. Ich wusste zwar nicht, wer die anderen Menschen waren, aber ich legte auch keinen Wert darauf, es von ihnen zu erfahren. So leise es im Dämmerlicht ging, suchte ich meine Sachen zusammen und zog mich an, wurde dann schneller, als sich eine der Gestalten immer mehr regte und irgendwann die Augen aufschlug. Ihren Geräuschen entsprechend schob ich ihr den Eimer entgegen und machte mich aus dem Staub, solange sie beschäftigt war. Den Ausgang zu finden, war nicht schwer. Ich musste nur dem Türdurchgang folgen, durch den das wenige Licht ins Zimmer fiel und stand in einem Flur, von dem eine gefährlich knarzende Treppe nach unten führte. Im Erdgeschoss waren nicht alle Fenster dicht verrammelt und ich konnte sehen, dass es draußen gerade erst hell wurde. Das Chaos, das ich im schwachen Licht erkennen konnte, überzeugte mich vollends davon, dass nicht alle Geräusche im Haus von zweibeinigen Lebewesen verursacht wurden. Glassplitter knirschten unter meinen Stiefeln, als ich mich zur Haustür vorarbeitete, die leicht schief in den Angeln hing. Als ich endlich auf der anderen Seite stand, atmete ich tief durch. Der erste frische Atemzug erinnerte meinen Körper daran, dass er einiges an Giftstoffen loswerden wollte. Ich bezweifelte, dass es die toten Büsche unter den halb eingeschlagenen Fenstern interessierte, womit sie gegossen wurden. Ich sah mich um, doch die Gegend sagte mir absolut nichts. Dafür erkannte ich hinter den Fenstern der benachbarten Häuser die ersten Silhouetten erwachender Menschen. Bevor mich jemand entdeckte, entschied ich mich für eine zufällige Richtung und machte mich eilig auf den Weg. Irgendwann würde ich schon einen Ort erreichen, von dem aus ich den Weg nach Hause fand. Nach der Dusche ging es mir schon deutlich besser. Ich fühlte mich nicht mehr so dreckig und der Nebel in meinem Kopf hatte sich etwas gelichtet. Auch die Erinnerung an den Abend wurde dadurch klarer und obwohl ich mich nicht mehr genau an alles erinnerte, wurde doch eines deutlich: Ich hatte es versaut. So richtig versaut! Mal wieder. Ein Teil von mir wollte Tino die Schuld daran geben. Er hatte mich im Stich gelassen. Es war ihm vollkommen egal gewesen, was mit mir passierte. Er hatte einfach zugesehen. Doch ich wusste, dass ich von ihm etwas verlangte, das er mir nie versprochen hatte. Dennoch kam mir alles, was er über seine Gefühle für mich gesagt hatte, wie eine große Lüge vor. Wie konnte er behaupten, mich zu lieben, wenn ich ihm doch offensichtlich egal war? Ich riss mich aus der Starre, mit der ich seit sicher zwanzig Minuten vor dem offenen Schrank stand. Diese Gedanken brachten mich nicht weiter! Am besten setzte ich einen gewaltigen roten Haken unter die Sache, bevor es mich richtig in den Abgrund riss. Ich zog Klamotten aus dem Schrank und machte mich auf die Suche nach meinem Handy. Hoffentlich hatte Lance Zeit, mich etwas abzulenken. Bei der Gelegenheit könnten wir nach einem Geburtstagsgeschenk für Dave suchen, ich war schon wieder viel zu spät dran. Und je älter er wurde, desto schwerer wurde es, etwas Passendes zu finden. Mit jeder Tasche, die ich nach meinem Handy absuchte, wurde ich panischer. Es war nirgendwo zu finden und blieb auch nach einem zweiten Durchgang meiner Klamotten vom Vortag verschwunden. Dabei wusste ich ganz genau, dass ich es im Club noch gehabt hatte, weil ich Lance von dort eine Nachricht geschrieben hatte. Also musste es in dem Haus liegen. Fuck! Unruhig lief ich in der Wohnung auf und ab. Doch so sehr ich es auch drehte und wendete: Selbst wenn ich mich dazu entschließen konnte, noch einmal zu diesem Haus gehen, ich würde es nicht mehr finden. Ich war einfach in irgendeine Richtung losgegangen und so lange gelaufen, bis ich eine Bushaltestelle gefunden hatte. Daher konnte ich nur sagen, dass es sich irgendwo in Dorchester befand. Verdammte Scheiße! Mir ein neues Handy besorgen zu müssen, passte mir gerade gar nicht in den Plan. Hoffentlich konnte Lance mir etwas Geld leihen. Großartig! Während ich genervt das Haus verließ – in der Hoffnung, Lance zu Hause anzutreffen – konnte ich mich wenigstens davon überzeugen, dass ein neues Handy und eine neue Nummer mir den Schlussstrich unter Tino erleichtern würden. Kapitel 29: Samsa – Februar 2016 I ---------------------------------- »Samsa!« Die Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken und ließ mich erstarren. Nein, nicht er! Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mich in Luft aufgelöst. Die Schritte auf dem Gras verstummten mit etwas Abstand hinter mir. »Hi.« Da ich Lance aus den Augenwinkeln nicken sah, war das wohl nicht an mich, sondern an ihn gerichtet gewesen. Doch ignorieren half nicht, damit er mich nicht bemerkte. Wie auch, er hatte mich ja zuerst entdeckt. Nach dem ersten Wort wurde seine Stimme sanft und beruhigend. Ich konnte mir vorstellen, dass er sogar in die Hocke ging. »Keine Sorge, Isaac, ich hab deine Nachricht gelesen und will gar nicht mit dir darüber diskutieren. Ich akzeptiere deine Entscheidung. Ich würde dich auch gar nicht ansprechen, wenn ich nicht glauben würde, dass du dein Handy dringend zurück bräuchtest.« Noch immer war ich nicht in der Lage, mich willentlich zu bewegen, doch meine Augen weiteten sich dennoch. Was hatte er mit meinem Handy zu tun? »Andererseits ... vielleicht hast du auch schon ein Neues?« Jetzt war da doch Unsicherheit zu hören. Dass ich ihn nicht ansah, machte es sicher nicht einfacher. »Aber wenn du es noch brauchst: Es ist bei mir gelandet und du kannst es dir jederzeit abholen oder ich bring es dir irgendwohin. Wie es dir lieber ist. Hätte ich geahnt, dass du hier bist, hätte ich es auch mit ...« Er seufzte. Da ich seine Gestik gut genug kannte, war ich sicher, dass er sich unterm Kinn kratzte. Er ließ mir Zeit, zu reagieren, aber das war auch egal, da ich eh kein Wort herausbrachte. Ich hatte genauso wenig damit gerechnet, ihn zu sehen. Der Schock lähmte mich und gleichzeitig hatte ich das dringende Bedürfnis, mich umzudrehen, ihm in die Arme zu fallen und ihm zu erklären, wie daneben ich mich benommen hatte und wie sehr ich es bereute; und hätte es mir doch selbst nicht geglaubt. Stoff raschelte und ich kniff in Erwartung der Schritte auf Gras die Augen zusammen. Ich wollte, dass er ging; und doch auch nicht. Wenn er nur lange genug blieb, konnte ich mich sicher irgendwann aus der Starre reißen. Doch die Schritte kamen nicht. Dafür streckte Lance neben mir seine Hand aus und hatte wenig später ein Stück Papier in der Hand. »Wenn es dir lieber ist, kann auch jemand anders das Handy holen. Dann müsste ich das aber wissen ... Ich lass dir meine Nummer hier, gib einfach irgendwie Bescheid, ob und wie du es haben willst. Ich wünsch dir alles Gute.« Flüchtig, und vielleicht nur eingebildet, berührte er mich an der Schulter, bevor sich seine Schritte nun wirklich entfernten. Der ungewollte Laut, der mir entwich, war eine Mischung aus Schreck und Bitte, es noch einmal zu tun; mich am besten einfach nur in den Arm zu nehmen und mir zu sagen, dass er mir verzieh. Doch noch im selben Moment war mir klar, dass er den Laut als abwehrendes Verhalten verstehen würde. Nachdem die Schritte verklungen waren, sah mich Lance eine ganze Weile einfach nur an. Er wartete, dass ich ihm die Situation erklärte. Und mir war bewusst, dass ich nicht darum herum kommen würde. Tino hatte mich vor meinem besten Freund ›Isaac‹ genannt. Lance wusste daher genau, dass es nicht nur eine flüchtige Bekanntschaft sein konnte. Irgendwann wurde ihm die Zeit wohl doch zu lang und er lächelte leicht, während er mir die Visitenkarte entgegenhielt. »Dann ist ja gut, dass du noch kein neues Handy hast.« »Ja«, murmelte ich. Dennoch fragte ich mich, wie das Handy bei Tino gelandet war. »Und wer war das nun? Sollte ich eifersüchtig werden, weil er dich Isaac nennen darf?« Das entlockte mir doch ein Schmunzeln. Als würde er deshalb wirklich eifersüchtig werden. So ungewöhnlich war das nun auch nicht. Es gab schließlich ein paar Menschen, die das durften. Fünf oder so ... »Tino.« Lance zog skeptisch eine Augenbraue hoch. »Alter, wirklich? Glaubst du immer noch, ich würde mir bei dir irgendwelche Namen merken?« Nein. Schließlich hatte ich Lance keinen Grund gegeben, sich den Namen zu merken. Ich hatte den richtigen Zeitpunkt, ihm von Tino zu erzählen, verpasst. Zuerst hatte es keinen Grund gegeben und dann war es so schnell gegangen ... »Er hat mich mal zu dir gefahren.« Lance’ Gesichtsausdruck machte deutlich, dass das noch immer viel zu wenig war. »Als ich das mit Toby und Roger beendet habe und wir uns so gestritten haben. Ich war das Wochenende bei ihm.« Mein bester Freund überlegte, fing dann an, etwas an den Fingern nachzurechnen. Die Falte auf seiner Stirn wurde immer tiefer. »Aber das ist ... über ein Jahr her.« Verzweifelt fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare. Ich hätte es ihm wirklich irgendwann sagen sollen. »Ja. Ich hatte ihn danach nicht nochmal sehen wollen, aber er war so verständnisvoll und ... ich wusste nicht, wie ich dir von ihm erzählen sollte, ohne dass du falsche Schlüsse ziehst. Wir haben uns seitdem regelmäßig getroffen. Also bis ich letzten Monat mein Handy verloren habe.« Lance ließ sich nicht anmerken, ob er mir böse war, weil ich nicht von Tino erzählt hatte. Aber vielleicht war ihm auch einfach nicht bewusst, wie tief das zwischen uns gewesen war. »Und warum dann nicht mehr?« »Am Abend vorher ... wir hatten eine Meinungsverschiedenheit. Deshalb hab ich das Handy überhaupt erst verloren. Weil ich ohne für ihn eh nicht erreichbar war, hab ich ihm einen Brief geschrieben, dass ich ihn nicht mehr sehen möchte und ihm in den Briefkasten geworfen. Es hätte eh nicht mehr funktioniert.« Zu meiner Überraschung nickte Lance bekräftigend. »Ja, das war sicher besser.« »Was?!« Er hatte mir bei solchen Themen noch nie Recht gegeben. Übertrieben verdrehte er die Augen. »Natürlich hast du es nicht gemerkt ... Ich hab ihn gerade mal ein paar Minuten gesehen, und sorry, aber der Typ ist vollkommen in dich verknallt.« »Ich weiß.« Nun war es an Lance, überrascht zu sein. »Du hast das echt bemerkt?« Ich stöhnte genervt. Ich hasste es, wenn er glaubte, ich würde nichts von den Gefühlen der Menschen um mich rum mitbekommen. »Er hat es mir gesagt; Ende letzten Jahres. Aber ich wusste es schon vorher. Kurz nachdem ich ihm gesagt hab, dass ich mich in ihn verliebt hab.« »Du warst in ihn verliebt?!« Nun riss mir doch die Hutschnur. »Ja, verdammt! Im Gegensatz zu dem, was du von mir denkst, bin ich kein gefühlloses Arschloch, das andere nur ausnutzt! Dass ich sie anders zeige, heißt nicht, dass ich keine Gefühle habe oder andere sie nicht so annehmen könnten! Im Gegensatz zu dir macht er sich die Mühe, zu versuchen, mich zu verstehen.« Er schnaufte. »Na so groß kann deine Liebe ja auch nicht sein, wenn er sofort keine Ahnung mehr hat, wie er dich erreichen kann, sobald du kein Handy mehr hast.« Wütend biss ich die Zähne aufeinander. Das war nicht fair! Lance wusste ganz genau, dass ich meine Fickbekanntschaften nicht mit zu mir nach Hause brachte. Und auch wenn Tino schon lange nicht mehr nur das war, so hatte es nie einen Grund dafür gegeben. Dennoch nagte sofort der Zweifel an mir, ob ich das dennoch hätte tun sollen. Wäre es das Richtige gewesen, es ihm wenigstens mal anzubieten? Oder zumindest zu fragen, ob er das wollte? Aber nur, weil ich es nicht getan hatte, liebte ich ihn doch nicht weniger ... Lance’ Blick sagte deutlich, dass er glaubte, mich damit erwischt zu haben. »Du hast doch gar keine Ahnung, was zwischen uns war!« »Nee. Woher auch? Du hast es ja auch nicht für nötig gehalten, mir irgendwas davon zu erzählen. So wichtig war es also ...« »Lance!« Verdammt, machte er mir jetzt wirklich deshalb eine Szene? Hilflos fuhr ich mir mit der Hand durchs Gesicht. »Es tut mir leid. Ja, ich hab’s versaut. Aber ich wusste echt nicht, wie ich dir davon erzählen sollte. Weil ich genau wusste, dass dann sowas kommt. Du hättest nicht einfach akzeptieren können, dass ich – Tino und ich – dass wir glücklich miteinander sind, ohne ›zusammen zu sein‹. Du hättest mir reingeredet, bis ich dir glaube, dass es ihm gegenüber nicht fair wäre und er das nur für mich behauptet. Aber glaub es oder nicht: Ich habe da selbst oft genug drüber nachgedacht, ob das so sein könnte. Und weißt du was: Ich glaube wirklich, dass ich mit Tino jemand gefunden habe, der mich versteht und ehrlich dasselbe möchte wie ich. Das lasse ich mir nicht von dir kaputt machen!« Wut sprühte mir aus Lance’ Augen entgegen. »Ich muss da gar nichts kaputt machen. Das hast du ja offensichtlich schon allein geschafft.« Was?! Das ... Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Fassungslos starrte ich ihn an, während mir die ersten Tränen in die Augen stiegen. Wütend wischte ich sie weg und erhob mich. Ich nahm mir nicht mal die Zeit, meine Gitarre in den Koffer zu packen, sondern nahm jeweils eines in jede Hand und ging. Kapitel 30: Lance – Februar 2016 II ----------------------------------- Das hatte mir gerade noch gefehlt ... Ich parkte neben James’ Auto und ließ die Tür hinter mir lautstark zuknallen. Kurz kam mir der Gedanke, doch woanders hinzufahren, aber ich wusste genau, dass er auch noch am späten Abend da wäre. Ich würde ihm nicht entkommen. Und ich hätte eh nicht gewusst, wohin ich sollte. »Abend!«, rief ich, als ich in die Wohnung kam. Vielleicht schaffte ich es in mein Zimmer, bevor mich jemand aufhielt. »Oh, hallo Schatz. Schon wieder zurück?« Wie konnte ich auch sowas hoffen, wenn Mum daheim war ... Auch wenn es scherzhaft von ihr gemeint war, hätte ich auf Latisha hören sollen: Es war keine gute Idee, zu den Eltern zurückzuziehen, war man einmal ausgezogen. Nur noch ein paar Monate, dann konnte ich mir wieder etwas Eigenes leisten ... »Es wurde uns zu kalt und es lief heute eh nicht so gut.« »Ach, wie schade. Magst du dich mit zu uns setzen?« »Ja, sicher. Ich zieh mich nur kurz um.« Ich hatte keinen Nerv dafür, aber ich durfte mir nichts anmerken lassen. Auf die Fragerei, wenn sie mitbekamen, dass etwas nicht in Ordnung war, hatte ich keine Lust. »Natürlich, komm erstmal richtig an.« Lächelnd küsste sie mich auf die Wange und ging zurück zu James und Dad ins Wohnzimmer. Es dauerte keine drei Sätze, da begann James nach Isaac zu fragen. Ich versuchte – versuchte es wirklich! – ihm ruhig und neutral zu antworten, doch er hörte einfach nicht auf. Immer wieder kamen neue Fragen. Dabei wollte ich gerade wirklich nicht über Isaac reden. Irgendwann platzte mir der Kragen: »Warum fragst du ihn nicht einfach selbst, was er so macht? Vielleicht erzählt er es dir ja. Ich habe nämlich keine Ahnung.« James blinzelte ein paar Mal verwirrt, bevor er langsam nickte. »Habt ihr euch gestritten? Bist du deshalb so schlecht drauf?«, zog Dad sofort die richtigen Schlüsse. Noch bevor ich auf seine Fragen antworten konnte, setzte Mum besorgt nach: »Was ist denn passiert?« Ja, ganz klasse! Genau darum hatte ich schon keine Lust mehr auf zu Hause gehabt, sobald ich James’ Auto sah. Wäre er nicht gewesen, hätte ich gute Chancen gehabt, dass meine Eltern nicht mitbekamen, dass etwas vorgefallen war. Zumindest so lange, bis ich von mir aus bereit war, mit ihnen darüber zu reden. »Scheinbar vertraut Isaac mir nicht mehr. Zumindest nicht genug, um mir zu sagen, dass er sich seit über einem Jahr mit jemandem trifft und verliebt ist.« Moment, war das ... Ach verdammt! Jetzt war es raus und ich konnte es auch nicht mehr zurücknehmen. »Lieber soll ich das ganz zufällig herausfinden, indem ich ihm über den Weg laufe.« »Isaac hat einen neuen Freund, von dem er dir nichts erzählt hat?«, fragte Mum noch einmal verwundert nach, ob sie mich richtig verstanden hatte. »Nee. Scheinbar hat Isaac einseitig Schluss gemacht. Und sie waren wohl auch nicht zusammen, aber ineinander verliebt und wussten das auch, aber eben trotzdem nicht zusammen und ... keine Ahnung, was dieser Scheiß schon wieder heißen soll!« James warf mir diesen Blick zu, den ich viel zu gut kannte und hasste: Ihm gefiel etwas, was ich gesagt hatte nicht, aber er würde es nicht direkt sagen, sondern darum herum schwafeln. »Hat er denn gesagt, dass er nicht weiß, wie er es nennen soll? Oder ist das deine Interpretation?« »Er hat gar nichts gesagt!«, fuhr ich stellvertretend James an. »Lieber hat er mir vorgeworfen, dass ich es ja eh wie immer nicht verstehen würde und ihn zu irgendwelchen Sachen drängen würde. Aber was kann ich denn dafür, dass er immer nur um den heißen Brei herumredet, statt zu erklären, was er meint?« »Ich fand jetzt nicht, dass Isaac jemals unklar gewesen wäre, was seine Beziehungen angeht«, warf Dad ein, schwächte es jedoch sofort wieder ab. »Aber du hast da sicher mehr mit ihm drüber geredet als ich.« »Ich muss da Lance zustimmen, Isaac ist manchmal etwas ... Zwischen dem, was er will, dem, was er glaubt zu wollen, und dem, was er denkt wollen zu müssen, verliert er scheinbar oft selbst den Überblick«, sprang James mir trotz meines Aussetzers bei. »Ich bin mir auch nicht immer ganz sicher, was genau in ihm vorgeht. Aber das muss ich auch nicht unbedingt. Und eigentlich dachte ich, dass du ihn unterstützt, auch wenn er nicht der Typ für konventionelle Beziehungen ist.« »Ja, natürlich! Mir ist doch egal, was er mit seinen Betthasen macht! Hauptsache alle kommen da gut wieder raus.« Was war das denn für eine Unterstellung?! »Dafür hast du aber ziemlich abfällig darüber geredet ...« »Was? Nein! Soll er doch machen, wenn es ihn glücklich macht!« Ich atmete tief durch und beruhigte mich etwas. »Ich will nur nicht, dass er sich wieder unbedacht in etwas verrennt, weil er nicht merkt, dass andere sein Verhalten komplett fehlinterpretieren. Außerdem dachte ich bisher, dass er mir die Menschen vorstellt, die ihm wichtig sind. Es fühlt sich scheiße an, dass er das plötzlich nicht mehr macht. Als würde etwas nicht so gut laufen, wie er behauptet.« Vor allem, wenn er offenbar komplett den Kontakt abbrach. Auch wenn der Mann nett gewirkt hatte, konnte ich das ungute Gefühl nicht abstellen, Isaac wäre wieder in eine scheiß Beziehung hineingestolpert, über die er sich nicht traute zu sprechen. Dabei hatte ich mir doch geschworen, besser auf ihn aufzupassen ... Nun klang James etwas alarmiert. »Wie meinst du das?« Ich rang den Ärger nieder. Wie konnte dieser Mann nur noch immer so ahnungslos sein, was Isaacs Vergangenheit anging? Selbst meinen Eltern war mittlerweile bewusst, dass etwas so richtig schiefgelaufen war zwischen ihm und Peter, akzeptierten jedoch, dass er nicht darüber sprechen wollte. Doch James tat immer so, als interessiere ihn Isaacs Leben, schien diesen Aspekt jedoch schon fast absichtlich zu ignorieren. Da es mir nicht zustand, ihn darüber aufzuklären, ging ich auf den anderen Teil ein: »Isaac hatte schon mehrmals Leute, die dachten, er wäre mit ihnen fest zusammen, hat es aber nicht bemerkt. Und dann gab es natürlich Drama. Ich würde gern wenigstens für ihn da sein können, wenn es ihm deshalb wieder schlecht geht, wenn er schon nicht vorher mit mir darüber redet.« »Du weißt, dass du ihn nicht dazu zwingen kannst, mit dir zu reden«, erklärte meine Mutter ruhig. »Ja, ich weiß ...« »Es kann trotzdem nicht schaden, ihm zu sagen, wie du dich dabei fühlst und welche Sorgen du dir machst. Dann weiß er wenigstens, dass er mit dir darüber reden kann.« Aufmunternd lächelte James mich an. Ich schnaufte leicht amüsiert. Als hätte ich das Isaac nicht schon so oft gesagt. »Ja, vermutlich sollte ich das mal wieder tun ...« »Ich bin sicher, Isaac hatte einen Grund, dir nichts von seiner Bekanntschaft zu erzählen. Vielleicht tut er es ja doch noch, wenn er sicher ist, dass du dich wirklich dafür interessierst und ihn nicht für seine Entscheidung verurteilst.« Prüfend sah ich James einen Moment an, bevor ich ungläubig den Kopf schüttelte und aufstand. »Ich bin dann mal telefonieren.« Was er sagte, klang vernünftig, doch gleichzeitig fragte ich mich, ob es sinnvoll war, auf einen Mann zu hören, dessen engerer Kreis seit Jahrzehnten ausschließlich aus meinen Eltern – und vielleicht noch Isaac – zu bestehen schien. So weit schien es mit seinen sozialen Kompetenzen also auch nicht her zu sein. Andererseits war wohl ich der Letzte, der da die Klappe aufreißen sollte ... »Bestell Isaac schöne Grüße von uns«, bat mein Vater mich noch im Hinausgehen. Isaac nahm recht schnell ab. »Hi.« Ich kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass die knappe Antwort kalt wirken sollte, er jedoch, wenn er wirklich abweisend war, ganz anders reagierte. »Hi Isaac. Können wir uns darauf einigen, dass wir beide Dinge gesagt haben, die wir nicht hätten sagen sollen, die Entschuldigungen überspringen und gleich zu den wichtigen Sachen kommen?« Erleichtert lachte er. »Ja, bitte.« »Hast du wirklich geglaubt, dass du mir nicht von – Toni? – erzählen kannst?« »Tino. Und ja. Also zumindest teilweise.« Bevor ich fragen musste, erklärte er: »Ich weiß, dass du dich gefreut hättest, aber du hättest auch wieder versucht, mich zu überreden, dass es eine Beziehung werden muss. Du versucht, mich zu verstehen, das weiß ich, aber es war auch bei Toby und Roger so. Du hast erst ganz zum Schluss eingesehen, dass es nicht funktionieren würde. Aber bis dahin hab ich es auch immer wieder deshalb versucht, weil du mir dazu geraten hast – und weil ich eben dachte, es muss funktionieren und ich bin es ihnen schuldig. Ich wollte nicht, dass es bei Tino auch passiert. Ich wollte nicht, dass ich irgendwann keinen anderen Ausweg mehr sehe, weil ich denke, es muss auf eine bestimmte Weise funktionieren. Und ich wollte nicht, dass er es beendet, weil ich zu sehr darauf dränge. Aber vor allem wusste ich nicht, wie ich es dir erzählen soll. Ich dachte immer wieder, ich erzähle es dir, wenn ›etwas Wichtiges‹ passiert, ohne zu wissen, was genau das sein sollte. Und als ich mit ihm übers Wochenende weggefahren bin und wir dann zu Weihnachten unser erstes wirkliches Date hatten, da fühlte es sich zu spät an ... Was sollte ich denn sagen: ›Hey, Lance, es gibt da einen Mann, mit dem treffe ich mich seit einem Jahr regelmäßig, und irgendwie läuft da was, aber auch nicht so wirklich, aber ich bin verdammt glücklich damit, also bitte quatsch mir da nicht rein‹?« Ich musste mir aktiv ins Gedächtnis rufen, dass Isaac mir mit der Aussage nicht an den Karren pissen, sondern nur seine Grenzen verdeutlichen wollte, doch so von ihm gesagt zu bekommen, was er von mir dachte, machte mich wütend. Ich wollte doch auch nur, dass er glücklich war. War das denn so falsch? »Er hat dir also wirklich nichts getan?« »Was?! Wie kommst du darauf?« Isaacs Überraschung und Irritation klangen glücklichweise ehrlich. Erleichtert atmete ich durch. »Du bist fast erstarrt, als er nach dir gerufen hat. Ich hatte Angst, dass du mir nicht von ihm erzählt hast, weil es nicht gut zwischen euch läuft – er dir vielleicht sogar etwas antut – und du dachtest, du kannst damit nicht zu mir kommen.« »Lance, nein! Ich ...« Merklich nach Worten ringend brach Isaac den Satz ab und begann nach einem Moment neu. »Danke, dass du auf mich aufpasst, aber das war wirklich nicht der Fall. Ich hab aus der Sache mit Peter gelernt und würde zu dir kommen, wenn wieder so etwas passiert. Versprochen.« »Okay. Das ist beruhigend zu hören. Oder noch besser: Wenn wieder so eine Scheiße passiert, dann lauf diesmal direkt weg.« Er lachte leicht. »Mach ich.« »Aber warum hast du dann ...? Du hast mit ihm Schluss gemacht, oder? Warum, wenn es doch so gut war?« Leise seufzte er, dann erzählte er mir alles, was er über ein Jahr für sich behalten hatte: Was passiert war, nachdem er die Sache mit Toby und Roger geklärt hatte, wie sie sich verliebt hatten, von ihrem Urlaub in Maine und dem romantischen Spaziergang, von dem Date an Weihnachten, für das er die Einladung meiner Familie ausgeschlagen hatte, aber auch, warum er sich entschieden hatte, Tino nicht mehr zu treffen. »Isaac ... Du bist ein Vollpfosten!«, erklärte ich ihm, als er fertig war. Niedergeschlagen stöhnte er. »Ich weiß.« Ich wartete eine Weile, ob er selbst noch etwas dazu sagen wollte, dann fragte ich: »Was machst du jetzt wegen deinem Handy?« »Mir bleibt ja nicht viel anderes übrig, als es bei ihm abzuholen.« Am liebsten wollte ich ihm sagen, dass er sich dann auch gleich mit Tino vertragen sollte, doch ich ließ es. Wenn Isaac nicht von mir hören wollte, was gut für ihn war, dann halt nicht. Dann hoffte ich eben, dass er selbst darauf kam. »Soll ich mitkommen?« »Nein, brauchst du nicht. Ich schaffe das auch allein.« Notgedrungen glaubte ich ihm, auch wenn er selbst nicht so sicher klang. »Na gut.« »Aber kannst du morgen vorbeikommen, damit wir ihm schreiben können wegen einem Termin?« »Ja klar.« Er wollte also doch noch meine Hilfe. Das war irgendwie beruhigend. »Wann soll ich da sein?« Kapitel 31: Tino – Februar 2016 III ----------------------------------- Eher beiläufig warf ich noch einen Blick in den Spiegel. Es war vermutlich absolut egal, wie ich aussah, aber es gab mir wenigstens etwas Kontrolle über diese Situation, von der ich so gar nicht wusste, wie sie verlaufen würde. Nur eine Kleinigkeit, die ich noch tun konnte. Der andere Punkt war gewesen, Cátia im Vorfeld zu informieren, dass ich eventuell später anrufen würde, um mich aufbauen zu lassen, auch wenn ich nicht sicher war, ob ich es brauchen würde. Aber nach der letzten Begegnung mit Isaac – Samsa? Ich war mir nicht einmal sicher, ob es für ihn in Ordnung war, wenn ich ihn noch so nannte – hatte ich es definitiv gebraucht. Wenn er sich denn überhaupt traute, zu klingeln. Ich hatte ihn vom Wohnzimmerfenster aus gesehen, wie er aufs Haus zugegangen war, aber das war sicher schon zwei Minuten her. Unweigerlich lächelte ich bei der Vorstellung, wie er vor der Tür stand, mindestens genauso unsicher wie ich, und mit sich rang, ob es nicht besser war, einfach wieder zu gehen. Bräuchte er nicht sein Handy zurück, wäre er sicher nie wieder hergekommen. Und ich fühlte mich schlecht, diesen Umstand irgendwie auch auszunutzen. Dabei hatte ich es nie geplant. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber selbst das Läuten der Glocke klang zögerlich. Sofort drückte ich auf den Öffner. Mir war es egal, ob er merkte, dass ich nervös gewartet hatte. Ich musste das nicht verheimlichen. Außerdem war er vermutlich eh viel zu beschäftigt mit sich, um einen Gedanken daran zu verschwenden. Sobald er mich sah, blieb er auf der Treppenstufe stehen. Für einen kurzen Augenblick konnte ich in seine Augen sehen, dann senkte er den Kopf und kam bis auf den Absatz hoch, wobei er noch immer so viel Abstand wie möglich hielt. Dieser Blick in seine Augen war so viel mehr, als bei unserem letzten Treffen, als ich nur seinen Hinterkopf sehen konnte. Er sah nicht gut aus, und doch war er einfach nur schön. »Hi. Hier.« Ich hielt ihm das Handy hin und er griff sofort danach. »Danke.« Er warf nur einen kurzen Blick darauf, wie um sicherzugehen, dass es wirklich seines war, dann steckte er es in seine Manteltasche. Seiner ganzen Haltung war anzusehen, dass er am liebsten direkt wieder rausgestürmt wäre. Dennoch rang er sich weitere Worte ab: »Wieso ist es bei dir?« »Ich wollte dich am Morgen nach der Party anrufen, um mit dir zu reden. Da ist aber eine vollkommen fremde Person rangegangen und hat mir erzählt, dass du bei ihnen geschlafen hast, am Morgen aber weg warst und dein Handy vergessen hast. Ich konnte sie überreden, es mir zu geben, damit ich es dir zurückgeben kann.« »Und warum hast du es nicht?« Verständlicherweise mischte sich etwas Wut in seine Stimme. Dennoch sah er noch immer mit hängenden Schultern zu Boden, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. »Weil ich nicht wusste, wie. Als ich es holen gefahren bin, hab ich gehofft, es dir geben zu können, wenn du in den nächsten Tagen wieder zu mir kommst. Da konnte ich noch nicht ahnen, dass ich beim Zurückkommen einen Brief von dir im Briefkasten finden würde.« Zu gern hätte ich gehabt, dass er mir ins Gesicht sah und erkannte, wie sehr er mich damit verletzt hatte. Doch er tat es nicht. Ob aus Angst genau davor, aus Scham oder Selbstschutz, konnte ich nicht sagen. »Es hat eine Weile gedauert, bis ich wieder klar genug denken konnte, um auf die Idee zu kommen, ausnahmsweise zu nutzen, dass ich deinen Sperrcode kenne, und Toby oder Roger anzurufen, damit sie oder du das Handy bei mir abholen können. Aber der Akku war da schon tot und deine PIN kenn ich eben doch nicht. Glaub mir, wenn ich gekonnt hätte, hätte ich es dir irgendwie gegeben, ich hab sogar gesucht, ob ich irgendwo deine E-Mail-Adresse rausfinde, hab aber nur die von der Band gefunden und die kam wohl nicht durch. Ich hätte nicht gewusst, wie ich dich sonst noch erreichen sollte.« Für einen Moment hatte ich sogar darüber nachgedacht, zu einem seiner Konzerte zu gehen und es dort der Security zu geben oder so. Aber das hatte sich zu falsch angefühlt. Ich hatte genau gespürt, dass bei dieser Idee auch der Wunsch mitgespielt hatte, ihn wiederzusehen. Also hatte ich sie verworfen. Ich wollte ihm keine Angst machen, falls er mich im Publikum sah. Stattdessen hatte ich es jedes Mal mitgenommen, wenn ich ausgegangen war, in der Hoffnung, er lief mir zufällig über den Weg. »Ah. Ja, hast recht. Trotzdem danke.« Unbeholfen pendelte sein Kopf nach links und dann rechts, blickte kurz die Treppe hinab. »Dann Tschüss. Wir ... laufen uns sicher irgendwann über den Weg.« Er machte einen Schritt auf die Treppe zu und ich machte einen großen hinterher. Dann hatte ich mich wieder unter Kontrolle und blieb stehen. Dennoch musste ich fragen: »Isaac, bist du dir sicher? Willst du mich wirklich nicht mehr sehen?« Er blieb ebenfalls stehen. Für einen winzigen Augenblick hoben sich seine Schultern, sanken dann genauso schnell wieder nach unten. »Von mir aus musst du nicht gehen. Wir können auch darüber reden.« Keine Reaktion. Aber wenigstens lief er nicht weg. Ich atmete tief durch. »Wenn du möchtest, kannst du reinkommen, und wir reden über das, was passiert ist. Ich glaube, da gibt es einiges zu reden.« »Okay. Vorher lässt du mich eh nicht gehen.« Es war das lauteste, was ich heute von ihm gehört hatte. Mit wenigen Schritten war er fast an mir vorbei zur Tür herein. »Stopp!« Ich legte meine Hand gegen seine Brust, hielt ihn zurück. Nun sah er mich doch an. Angst, Unschlüssigkeit und Traurigkeit zeichneten sich in seinem Gesicht ab. Ruhig erklärte ich: »Du kannst jederzeit gehen. Ich werde dich nicht aufhalten. Weder jetzt noch später. Und ich werde dir auch nicht die Tür vor der Nase zuschlagen, wenn du es dir zu einem späteren Zeitpunkt doch anders überlegst.« Sein Blick wanderte auf meine Hand und kurz dachte ich daran, sie zurückzuziehen, doch er wirkte nicht, als würde sie ihn gerade stören. Leicht schüttelte er den Kopf. »Warum tust du das? Wie oft muss ich es noch vermasseln, bis du endlich merkst, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin und dir nicht guttue?« Jetzt sah er mich wieder an, wurde lauter. »Du kannst mir nicht eine Chance nach der anderen geben, egal wie sehr ich dich verletze! Du kannst nicht ständig für jeden Scheiß verständnisvoll sein, während ich dir einen Dreck zurückgebe!« Ich legte den Finger vor meinen Mund, um ihm zu bedeuten, leiser zu sein oder noch besser, kurz ganz innezuhalten. »Wenn du mich anschreien möchtest, kannst du das bitte in meiner Wohnung tun?« Er setzte sich in Bewegung, ging nicht weiter in die Wohnung hinein, als dass ich gerade so an ihm vorbeikam und die Tür schließen konnte. »Ich ... weiß gerade nicht, wo ich anfangen soll.« Mit einem leichten Kopfschütteln sah ich zu ihm runter. Vorsichtig legte ich beide Hände auf seine Oberarme. »Isaac, ich weiß, dass du dich nur negativ sehen kannst, aber du gibst mir genug zurück. Ich bin glücklich, wenn ich mit dir Zeit verbringe.« Er schnaufte abfällig. »Ja, ganz besonders, wenn ich dir mal wieder sage, dass ich dich nicht mehr sehen möchte. Oder wieder Stress mache wegen nichts.« »Wenn ich mich richtig erinnere, dann habe ich dich auch bereits rausgeworfen.« Ich rang mir ein Lächen ab, um ihm klar zu machen, dass ich das nicht böse meinte. »Missverständnisse passieren und vielleicht reagieren wir beide manchmal etwas heftiger als angemessen. Aber das sehe ich nicht als Grund, warum du mir angeblich nichts zurückgibst. Und ganz ehrlich: Wir haben uns jetzt das zweite Mal gestritten. Das ist echt nicht viel. Und lieber streite ich mich mit dir über etwas, was uns wirklich wichtig ist, als zum Beispiel über das Abendessen.« Zweifelnd zog er die Augenbrauen zusammen. »Es ist nicht nur, dass wir heftiger reagieren ...« »Was ist es sonst?« Ich konnte mir keinen Reim auf alles das machen. Aber ich hatte bisher auch geglaubt, dass er ebenfalls glücklich mit dem war, was wir hatten. »Ich mache alles kompliziert ...« Er stieß einen verzweifelten Laut aus und drehte sich von mir weg. »Du machst es vor allem kompliziert, indem du mir nicht sagst, was los ist.« Ich musste mich zurückhalten, ihm nicht liebevoll über die Wange zu streicheln. »Was ist passiert? Warum wolltest du mich nicht mehr sehen?« Er zuckte mit den Schultern. »Ist doch egal. Es ändert nichts, dass es nicht funktioniert. Ich kann dir trotzdem nichts zurückgeben und bleibe kompliziert.« Seufzend sah ich auf ihn hinab. »Isaac ... ich würde dir wirklich gern helfen, aber das funktioniert nur, wenn du mit mir redest. Und so langsam bin ich wirklich überfragt, wie ich dir begreiflich machen kann, dass ich das hier möchte. Egal wie kompliziert du meinst, zu sein. Ob mir das, was du zurückgibst, genug ist, ist ganz allein meine Entscheidung.« Wieder zeigte sich deutlicher Zweifel in seinem Gesicht. »Wie kannst du dir so sicher sein?« Diesmal war das Lächeln absolut ehrlich und nicht nur zur Beruhigung. »Weil ich dich mittlerweile schon ein wenig kenne und weiß, wie du tickst. Ich weiß wie du bist, wenn alles in Ordnung ist, aber auch, wie du bist, wenn es dir nicht gut geht. Ich kann mit beidem und allem dazwischen umgehen. Ja, vielleicht ist es manchmal kompliziert, herauszufinden, wie du reagieren wirst. Aber das macht mir nichts aus.« Er atmete tief ein, lächelte gezwungen, nickte und machte dann einen Schritt nach hinten. »Aber ich bin mir nicht sicher.« »Nicht schlimm. Du kannst dir alle Zeit der Welt nehmen, dir das zu überlegen.« Wieder nickte er und sein Blick wanderte wortlos in Richtung der Tür, doch er bewegte sich nicht. Vorsichtig machte ich noch einen Schritt weg von der Tür, auch wenn er bereits vorher locker an mir vorbeigekommen wäre. »Du darfst jederzeit gehen, wenn du willst. Ich halte dich nicht auf.« »Ich will.« Langsam drehte er sich zur Tür, blieb jedoch weiterhin stehen. Eine Weile stand er nur steif da, bis er den Kopf senkte. Seine Stimme zeigte deutlich, dass ihm Tränen in den Augen standen. »Aber ich will auch, dass du mich in den Arm nimmst und mir sagst, dass alles gut wird.« Zum Glück sah er nicht, dass ich darüber schmunzeln musste. Sanft griff ich nach seiner Schulter und drehte ihn daran zu mir. Den anderen Arm legte ich um ihn. »Ich kann dir nichts versprechen, aber wir werden es versuchen.« Kapitel 32: Samsa – Februar 2016 IV ----------------------------------- Tino hielt mich eine ganze Weile einfach wort- und regungslos im Arm. Das einzige Geräusch, das ich wahrnehmen konnte, war das Schlagen seines Herzens, das mich auf wundersame Weise beruhigte. Es war, als würde es mir die beruhigenden Worte ins Ohr flüstern, die ich gern aus seinem Mund vernommen hätte. Ich hatte längst jedes Zeitgefühl verloren und merkte lediglich, dass mir die Beine langsam wehtaten, als Tino mich leicht von seiner Brust wegdrückte. Sofort wollte ich wieder zurück, noch war ich nicht bereit, zu gehen, doch er griff nach meinem Mantel und schob ihn über meine Schultern. Dann bückte er sich nach meinen Schuhen, sah nur kurz auf, bevor er mir auch langsam aus diesen half. Während er meine Sachen wegstellte und mich dann langsam zum Schlafzimmer führte, ließ er mich nicht ein einziges Mal los. Immer lag eine seiner Hände auf mir; auf dem Rücken, der Schulter oder dem Oberarm. Bevor ich über die Schwelle zu seinem Schlafzimmer trat, sah ich noch einmal kurz zurück in den Flur, auf die Wohnungstür. Ich musste mich nur umdrehen und meine Sachen nehmen, dann konnte ich gehen. Doch dann konnte Tino mich auch nicht mehr berühren. Vor seinem Bett ließ Tino mich kurz stehen, zog mich bis auf die Unterhose aus und dirigierte mich dann darauf. Erst nachdem er sich ebenfalls ausgezogen hatte, kam er dazu, kuschelte sich mit mir unter die Decke und schob seine Beine zwischen meine, sodass wir dicht an einander lagen. Ruhig fuhr seine Hand über meinen Rücken. »Bist du sicher, dass das in Ordnung ist?« Es war so unglaublich angenehm. Ich mochte es mir kaum eingestehen, aber ich hatte das wirklich vermisst. Und doch war ich unsicher, ob das der richtige Zeitpunkt war, um nackt in seinem Bett zu liegen. Scheiße, ich war nicht einmal sicher, ob ich wirklich in seiner Wohnung sein sollte! »Ist es dir unangenehm?« Langsam schüttelte ich den Kopf. »Dann halte ich das sogar für eine sehr gute Idee. Du möchtest in den Arm genommen werden und hören, dass alles gut wird, und ich weiß nicht, wie ich es dir deutlicher machen sollte, weil meine Worte eh nicht zu dir durchdringen werden. Und so kannst du wenigstens nicht einfach weglaufen.« Tinos Hand wanderte über meinen Arm. Ein mulmiges Gefühl machte sich bei dem letzten Satz in mir breit und sorgte dafür, dass ich leicht zurückzuckte. »Isaac, das war ein Witz. Ich halte dich nicht auf, wenn du gehen möchtest.« »Ich weiß.« Das wusste ich wirklich, auch wenn es lieb war, dass er es noch einmal betonte. Dem unruhigen Gefühl, das meinen ganzen Körper erfasste – das Kribbeln, der schnelle Herzschlag, die unterschwellige Alarmbereitschaft – war das jedoch vollkommen egal. »Gut. Ich möchte nur mit dir reden, wenn das für dich in Ordnung ist und du nicht einfach nur schweigend im Arm gehalten werden willst. Und manchmal bist du so einfach empfänglicher für Worte und auch bereiter, selbst zu reden.« Ich lächelte leicht. Reden klang gut, oder? Auch wenn ich noch immer unsicher war, was ich wollte. Ich war so fest davon überzeugt gewesen, dass es besser war, ihn nicht mehr zu sehen. Aber sobald ich vor ihm gestanden hatte, war das weg gewesen. Ich hatte doch die ganze Zeit nichts anderes gewollt, als ihm nah zu sein. Doch die Gedanken, ihn mit meiner Nähe zu verletzen, blieben. »Kannst du mir erklären, wie es zu dem Brief kam? Keine Angst, ich werd nicht versuchen, dir etwas auszureden. Ich möchte es nur wissen. Und vielleicht hilft es dir, klarer zu werden, was du möchtest?« Mit den Worten ringend, sah ich ihn an, wobei mein Blick nicht einmal bis zu ihm reichte. Doch wie so oft war er die Geduld in Person und wartete einfach ruhig, streichelte mir nur gelegentlich über den Arm. Ich atmete tief durch, bevor ich den Mund endlich öffnete. »Weil ich mich für mein Verhalten am Abend geschämt habe – immer noch schäme. Es war kindisch, wie ich reagiert habe. Aber ich war so wütend und wollte dich zu irgendeiner Reaktion zwingen. Außerdem hab ich dir die Schuld daran gegeben, was danach passiert ist. Und dann hat es mir auch noch gezeigt, dass ich offenbar mehr von dir verlange, als du bereit bist zu geben. Das allein sollte Grund genug sein.« »Okay, eines nach dem anderen. Was ist danach passiert? Zuletzt als ich dich gesehen habe, warst du bei der Clique, die am Morgen auch dein Handy hatte. Ist irgendwas vorgefallen?« »Ich kann mich nicht mehr wirklich erinnern. Ich bin scheinbar mit ihnen mitgegangen oder so. Ich bin jedenfalls in einem total verdreckten Haus aufgewacht und da waren noch andere, aber die hab ich nicht wirklich erkannt im Dunkeln. Ich bin abgehauen, bevor mich irgendwelche ekligen Viecher beißen konnten.« Verärgert zog Tino die Augenbrauen zusammen. »Ich find es nicht in Ordnung, wie du über das Zuhause von Menschen redest, die dir Gastfreundschaft entgegengebracht haben. Vor allem, wenn es scheinbar das Einzige ist, was sie dir getan haben.« Ich drängte den Ärger über die Zurechtweisung zurück und konzentrierte mich auf den wichtigen Teil der Unterhaltung. »Aber sie hätten mir mehr tun können! Ich wüsste es ja nicht einmal mehr!« »Ich sehe aber nicht, wo das meine Schuld ist oder wäre. Wenn dir etwas passiert wäre, wäre die Person Schuld gewesen, die dir etwas getan hätte. Und wenn dir ohne Fremdverschulden etwas passiert wäre, weil du betrunken und bekifft warst, dann wäre es deine Schuld gewesen. So weit ich gesehen habe, hat dich niemand dazu gezwungen; erst recht nicht ich.« »Ich weiß!« Dass er mir so den Kopf gerade rückte, machte mich wütend. Und im Moment hatte ich keine andere Möglichkeit, es rauszulassen, als zu schreien. Seine Augenbrauen zogen sich weiter zusammen und eine Falte bildete sich auf seiner Stirn. Ich atmete tief durch, drängte die Wut zurück und bevor er seine Hand zurückziehen konnte, legte ich meine auf seinen Arm. Sehr viel ruhiger erklärte ich: »Ich weiß. Aber ich habe getrunken, weil ich so wütend auf dich war. Darum warst du für mich daran schuld. Sonst hätte ich doch nicht wieder angefangen ... Ich hab seit meinem Versprechen in Maine nicht mehr wirklich getrunken.« »Und was genau hab ich getan?« Ich konnte mir das sarkastische Lachen nicht verkneifen. »Nichts! Du hast genau nichts getan. Mich nicht einmal gegrüßt.« »Weil ich ...« Ich hielt ihn auf, bevor er mir widersprechen konnte. Ich wusste schon, was er sagen wollte. »Ich wollte nicht mehr, als dass du meine Anwesenheit anerkennst. Einfach nur ein ›Hi‹ oder irgendwas, einfach nur mehr als ein halbes Nicken.« Ich holte kurz Luft, um der Wut nicht zu viel Spiel zu lassen und wieder lauter zu werden. »Ich weiß, dass ich dir gegenüber keine Ansprüche habe, will ich auch gar nicht, aber von dir wie ein Fremder behandelt zu werden, fühlt sich einfach mies an.« Diesmal war es an ihm, eine ganze Weile zu schweigen. Anhand der leichten Zuckungen seiner Gesichtsmuskeln konnte ich erkennen, dass er nachdachte, daher ließ ich ihm die Zeit. Zumindest versuchte ich es, doch ich war bei Weitem nicht so gut darin wie er. Irgendwann wurde es mir zu unangenehm. »Ich weiß, dass ihr auf einem Date wart, das war nicht zu übersehen. Und bevor du es falsch verstehst: Ich habe damit absolut kein Problem. Also wirklich so gar keines. Das hat nichts mit Eifersucht zu tun. Aber wenn ein anderes Date der Grund ist, dass du so tust, als würdest du mich nicht kennen, tut das scheiße weh. Als wäre ich ein schmutziges Geheimnis, von dem niemand etwas wissen darf.« Ein sanftes Lächeln legte sich auf Tinos Lippen. »Danke für die direkten Worte. Und keine Sorge, ich habe schon verstanden, dass es keine Eifersucht war. Ich bin nur unsicher, was ich stattdessen tun soll. Wenn ich dir zuwinke oder zu dir gehe, um dich zu grüßen, dann wird von der anderen Person auch erwartet, dass ich wenigstens ein paar Worte mit dir wechsle. Versteh mich nicht falsch, ich rede gern mit dir, aber wir sehen uns oft genug, dass es mir absolut überflüssig erscheint, wenn ich gerade mit anderen unterwegs bin.« Verstehend nickte ich. Okay, das war durchaus ein Argument, auch wenn ich mir da selbst nie so wirklich Gedanken drüber gemacht hätte. »Wie machst du das, wenn du gerade bei einem Date bist? Es ist doch sicher auch bei dir schon vorgekommen, oder?« »Nein, tatsächlich nicht.« Über die Erkenntnis musste ich doch lachen. So weit ich mich erinnern konnte, war ich noch nie in so eine Situation geraten. »Weil ich halt nicht wirklich date. Wenn dann bin ich eher mit Freunden unterwegs oder treffe One-Night-Stands. Und ich hab mir da auch keine Gedanken gemacht, wie es aussieht, wenn ich jemand grüße und dann nicht mit der Person rede. Irgendwie lernen sich die Leute, mit denen ich länger zu tun habe, bei mir aber auch eh meistens irgendwann kennen.« Tinos Geräusch, das er beim Nicken machte, klang wenig befriedigt. »Ich kann dir gerade keine zufriedenstellende Lösung anbieten, aber ich hab dich verstanden und denke darüber nach. Ist das für dich in Ordnung?« »Ja, ist es. Ich glaube, ich kann jetzt auch besser verstehen, warum du so gehandelt hast.« Auch wenn es nicht weiter als bis zum Verstehen ging. Nachvollziehen konnte ich es dennoch nicht, warum er sich solche Gedanken darüber machte. »Darf ich dich umarmen?« Ich gab es nicht gern zu, aber der Gedanke ließ ein warmes Gefühl in meinem Bauch aufsteigen, verdrängte etwas das unangenehme Ziehen, und brachte mich unweigerlich zum Lächeln. Ich rutschte etwas näher. »Ja, gern.« Er legte den Arm um mich und zog mich kräftig an sich. Liebevoll streichelte er über meinen Rücken. »Tut mir leid, ich hab nicht gewusst, dass ich dich damit verletze. Es kommt nicht mehr vor. So viel kann ich dir schon mal versprechen, auch wenn ich noch keine Lösung weiß.« Ich nickte nur. Allein auszusprechen, was sein Verhalten bei mir ausgelöst hatte, und sein Verständnis dafür, beruhigten mich schon. Die Umarmung dauerte nicht lange, doch ich kostete sie aus, zeichne mit den Fingerspitzen eine unsichtbare Spur auf seine Brust, genoss die warme Haut an meiner. Ein wenig löste sich meine innere Anspannung. Ich bereute nicht, mich auf das Gespräch eingelassen zu haben, selbst wenn rauskam, dass ich ihn nie wieder sah. Viel zu schnell löste sich Tino wieder von mir und rutschte mit dem Oberkörper etwas von mir weg. »Es gab noch einen weiteren Punkt, oder? Ich meine, du hättest noch etwas genannt, aber ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, was es war.« Ich seufzte, nickte und rutschte ebenfalls etwas ab, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Es war nicht nur ein weiterer Punkt, es war sogar der, bei dem ich keinen Ausweg sah. »Was da passiert ist ... Es ist nicht nur, dass ich wütend war und deshalb getrunken habe. Ich wollte, indem ich zu der Gruppe gehe, explizit eine Reaktion von dir erzwingen.« Erwartungsvoll sah Tino mich an, doch es gelang mir erst, weiterzureden, als er mich durch eine Frage zum Weitererzählen aufforderte: »Was für eine Reaktion?« »Ich wollte, dass du mich ›rettest‹ – von ihnen wegziehst. Es ist ...« Genervt über mich selbst stöhnte ich. »Es ist albern und ich hätte es im gleichen Moment gehasst, aber ich wollte, dass wenn du mich nicht von dir aus beachtest, dann eine Situation schaffen, in der nichts anderes übrig bleibt; zumindest nicht, ohne dir das Ignorieren hinterher vorwerfen zu können, weil sie ja sonst was hätten mit mir anstellen können, wenn ich nicht mehr zurechnungsfähig bin.« Jede Faser in Tinos Gesicht drückte Unverständnis aus. »Wie kommst du darauf? Das macht überhaupt keinen Sinn. So wie ich das einschätzen konnte, warst du noch ziemlich nüchtern, als du zu ihnen bist. Und ich bin sicher der Letzte, der dich verurteilt, wenn du mit jemand trinken und rauchen möchtest, oder dich davon abhalten würde.« Ein Schmunzeln schlich sich in mein Gesicht, als ich bemerkte, dass es genau die Art war, wie wir uns kennengelernt hatten. Er erwiderte es, seine Gesichtszüge entspannten dabei und er strich mir mit dem Zeigefinger sanft über meine Wange. »Ich weiß, dass es nicht viel Sinn ergibt. In Ruhe betrachtet ist es auch vollkommen abwegig, warum du das tun solltest. Das ist nicht die Art ... Beziehung, die wir führen. Aber in dem Moment machte es für mich Sinn. Weil es ... Es ist das Verhalten, was ich als Ausdruck von Liebe gelernt habe.« Bei der Erkenntnis schloss ich die Augen und schüttelte erschöpft den Kopf. Wieder einmal wünschte ich, ich könnte all diese Dinge aus meinem Gedächtnis löschen. »Mein Ex ... Toby und Roger – insbesondere Toby. Und ich weiß, dass es bei Toby und Roger wirklich nur darum ging, mich zu schützen. ... Ich bin mir zumindest sehr sicher.« Es war nicht ganz eindeutig, ob das kurze Schnaufen von Tino Überraschung, Bewunderung oder Verachtung ausdrückte. Erst einen Moment später erklärte er: »So gesehen ... ja, für einige macht das sicher Sinn und ist gut gemeint. Aber so ticke ich nicht. Ja, für andere mag das herzlos klingen, aber du bist für dich selbst verantwortlich. Wenn ich merke, da läuft etwas, bei dem du auf keinen Fall zustimmen würdest, würde ich eingreifen, aber auch das würde ich bei jeder Person tun. Und auch dann würde ich erst sicherstellen, dass du die Hilfe möchtest. Aber mit wem du was tust, ist deine Entscheidung und da habe ich nichts zu sagen. Möchte ich auch nicht.« »Ja ... Darum klappt es bisher auch nur zwischen uns.« Tino zuckte mit den Schultern, als wüsste er nicht, was er dazu sagen sollte. Dann nach einer Weile erklärte er ernst: »Es tut mir leid, dass ich dir das Gefühl gebe, nicht vertrauenswürdig zu sein.« »Hä? Was?« Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Was redete er da. »Offenbar hast du Zweifel daran, dass ich dich wirklich mag?« Auch wenn es eigentlich eine Aussage war, stellte er sie doch als Frage. Diesmal war das Kopfschütteln aus Überzeugung. »Nein! Ich habe nie daran gezweifelt. Nicht einmal in der Situation. Es ist vielmehr, dass ich mit dem Wissen nicht so gut umgehen kann und mein Kopf mir immer wieder erklärt, dass ich aus der Situation genau deshalb raus muss. Weil es nicht gut ausgehen kann. Weil es mit dir alles zu gut läuft und da irgendwo ein Haken sein muss. Meistens kann ich das ignorieren, aber dann gibt es wieder so Situationen ... Irgendeine Kleinigkeit, die mein Kopf mit dem verknüpft, was passiert ist. Dann hab ich Angst, wieder zu lange zu bleiben, mich wieder in eine Ecke zu manövrieren, aus der ich nicht rauskomme.« »Und dann musst du auf der Stelle gehen. Ich verstehe.« »Ja ...« Erneut herrschte für eine Weile lediglich Stille, bevor Tino das Wort ergriff: »Ich bin unsicher, was ich dir sagen kann, weil ich dich weder in die eine noch in die andere Richtung drängen möchte ... Ich kann dir nur versichern, dass du weder jetzt sofort eine Entscheidung treffen musst, noch das sie für ewig gelten muss. Du kannst dich jederzeit umentscheiden. Das heißt nicht, dass wir sofort dort weitermachen könnten, wo wir gerade stehen, wenn du dich entscheiden solltest zu gehen und dich dann später umentscheidest, aber meine Tür wäre für dich offen und ich wäre bereit, zu sehen, wo es uns dann hinführt.« Mir fiel es schwer, ihm das zu glauben. Aber ich konnte zumindest annehmen, dass er an seine Worte glaubte. Das war wohl für den Moment gut genug und mehr, als ich mir erhoffen konnte. »Gerade möchte ich bleiben ... Auch wenn ich noch nicht weiß, wie lange das anhält. Ist das okay?« »Ist es.« Er lächelte sanft. »Aber kannst du mir den Gefallen tun, mir zu sagen, wenn du eine dauerhaftere Entscheidung triffst? Also wenn du doch keinen Kontakt mehr möchtest, mir zumindest die Chance zu geben, mich zu verabschieden, und wenn du weiterhin Kontakt möchtest, nicht einfach still anzunehmen, dass ich das schon merke? Ich wüsste gern, worauf ich mich emotional einlassen kann.« »Ich versuche es. Gerade Ersteres kann ich nicht versprechen.« »Gut. Das reicht mir.« Unsicher sah ich ihn an. Gut, dann durfte ich jetzt erstmal bleiben. Und nun? Wir lagen noch immer mehr oder weniger nackt in seinem Bett, die Beine miteinander verschränkt, die Oberkörper knapp eine Armlänge voneinander entfernt. Blieben wir liegen oder war das unangebracht, solange ich mich nicht entschieden hatte? Oder wollte er, dass ich außerhalb seiner Wohnung bei ihm blieb? Schließlich hatte es sich eher auf den Kontakt bezogen. Ich schluckte schwer. Es war nicht leicht, aber im Grunde gab es nur eine Lösung. Ich musste ihm sagen, was ich für den Moment wollte. »Hast du Zeit, eine Weile mit mir liegenzubleiben und mich vielleicht in den Arm zu nehmen?« Das Lächeln, das sofort auf seinem Gesicht erschien, war wunderschön! So ehrlich erfreut. »Ja, sehr gern. Ehm ... Darf ich dich küssen?« »Nein. Weil ich dich küssen möchte.« Bei dem Lächeln konnte ich nicht ernst bleiben. Dafür verschaffte mir das Necken gerade zu viel Erleichterung nach der erheblichen Anspannung. Er lachte kurz auf und zog mich an der Schulter zu sich ran. »Das ist genauso gut.« Kapitel 33: Samsa – Februar 2016 V ---------------------------------- Aus einer Weile Liegen und Kuscheln wurde irgendwann Einschlafen. Obwohl ich in der Nacht ein paar Mal wach wurde, konnte ich mich nicht dazu durchringen, das Bett oder gar die Wohnung zu verlassen. Stattdessen lag ich einfach in der Dunkelheit, starrte in das kaum erkennbare Gesicht mir gegenüber und fragte mich, ob ich das wirklich aufgeben wollte. Mindestens einmal wurde Tino ebenfalls wach, doch er verhielt sich ebenso laut- und bewegungslos. Lediglich seine geöffneten Augen verrieten, dass er mich in der Dunkelheit ansah. Ob ihn wohl ähnliche Gedanken plagten? Hatte er Angst vor meiner Entscheidung? Oder gar davor, ohne mich aufzuwachen? Tinos Wecker riss mich am Morgen aus dem Schlaf. Und wieder war ich nicht in der Lage, etwas zu sagen. Stattdessen beobachtete ich ihn, wie er aus dem Bett stieg, unsere Sachen sortierte, die noch am Boden lagen, und dann ins Bad schlürfte. Unsicher wartete ich auf seine Rückkehr, bereitete mich aber zumindest mental darauf vor, zügig ins Bad zu gehen, wenn er wiederkam, und mich danach anzuziehen, um mit ihm die Wohnung zu verlassen. Wie ich ihn kannte, hatte er gerade einmal Zeit zu duschen und Kaffee zum Mitnehmen aufzubrühen, bevor er sich auf den Weg machte. Aber zumindest Letzteres würde mir genug Zeit geben, mich kurz frisch zu machen. »Morgen«, grüßte er mich, als er zurückkam, und beugte sich kurz zu mir, um mir einen Kuss auf die Wange zu hauchen. Etwas überfordert von der Geste schaffte ich nur, den Gruß zu erwidern. Gleichzeitig beschloss ich, dass es sich wohl um Routine und Gewohnheit handelte. Schließlich verabschiedete er sich seit über einem Jahr so morgens bei mir. »Bleib ruhig noch im Bett, wenn du magst. Ich leg dir den Ersatzschlüssel auf den Küchentisch. Du kannst ihn dann im Briefkasten lassen.« »Danke.« Er wollte sich aufrichten, doch ich griff nach seiner Hand, hielt sie leicht fest und zog sanft daran, als er sich nicht befreite. Ein fragender Blick reichte, damit er verstand, was ich wollte und sich weiter zu mir beugte. »Mach’s gut.« Ich küsste ihn kurz auf die Lippen. Das Lächeln, das er mir schenkte, bevor er das Zimmer verließ, geriet etwas schief und in seinen Augen lag Traurigkeit. Ob er das dachte, was mir auch gerade bewusst wurde? Dieser kurze, gestohlene Kuss könnte auch unser letzter sein. Als er die Schlafzimmertür hinter sich zugezogen hatte, ließ ich mich seufzend mit dem Rücken gegen die Wand sinken. Ich musste mich entscheiden. Bald! Auch wenn Tino sagte, dass ich mir Zeit lassen konnte, so setzte ihm die Ungewissheit zu, das Lächeln und die Augenringe verrieten ihn. Und auch bei mir hinterließ die angespannte Situation ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut. Wirklich schlafen wäre eh nicht mehr drin gewesen, daher stand ich auf. Tino hatte die Wohnung vor einigen Minuten verlassen. Zuerst hatte ich geplant, mich in Ruhe fertig zu machen und die Wohnung recht bald zu verlassen, doch dann erwischte ich mich, mit dem mittlerweile kalten, aber unangetasteten Kaffee seit geraumer Zeit gedankenverloren auf dem Sofa zu sitzen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich sicher eine Stunde so zugebracht hatte. Also warf ich meine Pläne um. Ich brauchte bald eine Lösung und wenn ich nach Hause ging, lenkte ich mich eh nur ab, indem ich mich in Arbeit stürzte. Bei Tino hingegen war das nicht möglich, weil ich nicht die nötigen Materialien dort hatte. Es gab also nichts, was mich davon abhielt, mich mit der Frage nach unserer Beziehung zu beschäftigen. Zumindest in der Theorie. Praktisch ging auch dieser Plan nur so weit auf, dass ich meine Tasse in die Mikrowelle stellte und dann mein Notizbuch aus der Tasche zog, um kurz zu warten, bis der Kaffee wieder warm war. Jedoch übertönten meine Gedanken jedes Geräusch aus der Küche. Ich hatte das Notizbuch kurz vor unserem Urlaub in Maine angefangen und es schon gut gefüllt. Überrascht stellte ich beim Durchblättern fest, wie viele der kurzen Ideen und Notizen darin direkt oder indirekt mit Tino zusammenhingen. Nicht unbedingt mit ihm als Person, aber mit Gedanken, die er durch einen unbedachten Nebensatz angestoßen hatte, oder Dinge, die ich auf dem Weg zu ihm oder mit ihm gemeinsam passiert waren. Und dann war es bei genauerer Betrachtung doch gar nicht so überraschend. Schon immer waren es mir wichtige Menschen gewesen, die meine Ideen und Einfälle beeinflussten. Warum hätte Tino dabei eine Ausnahme bilden sollen? Spannender war, wie sie sich von den Entwürfen der letzten Jahre unterschieden: Sie ähnelten eher denen, die ich früher geschrieben hatte. Sehr stark verwinkelte Gedanken, eher metaphorische und versteckte Botschaften, stärkere Emotionen. Nicht gar so sehr klischeehaft wie damals, aber eben doch eher das, was ich für die Death Demons geschrieben hatte. Es war kein Geheimnis, wie ich zu meiner alten Form zurückgefunden hatte. Ich war mehr Ich, als ich es in den letzten Jahren gewesen war, fühlte mich sicherer, traute mich, zu träumen; von einem Leben, in dem vielleicht doch noch eine Karriere möglich war. Nicht einmal meine Zeit mit Toby und Roger hatte das für mich erreicht. Ich war noch nicht bereit gewesen und fühlte mich von ihnen zu sehr gedrängt und eingeengt. Immer wieder hatte ich mich versteckt, war notgedrungen wieder in mein Schneckenhaus gekrochen. Natürlich lag es nicht nur an Tino, aber ihm hatte ich zumindest zu verdanken, dass ich immer eine Person hatte, bei der ich mich sicher fühlte, die mir immer wieder glaubhaft versichern konnte, dass meine Wünsche und Bedürfnisse nicht falsch waren, auch wenn er nicht alle verstand. Paradoxerweise gab mir genau das die entscheidende Sicherheit, zu wissen, dass ich nicht in ein Loch fallen würde, sollte ich mich für einen Kontaktabbruch entscheiden. Wäre ich traurig? Ja, sicher, war ich auch in den letzten Wochen gewesen. Doch es würde – und hatte! – mich nicht vollkommen zurückgeworfen. Ich war mir sicher, mein Glück dann nicht am Boden eines Glases zu suchen, mich nicht in irgendeine hoffnungslose Beziehung zu begeben oder gar keine zuzulassen; selbst wenn ein kleiner Teil von mir all das weiterhin für eine gute Idee hielt und dieser sicher auch in Zukunft ab und zu die Oberhand gewinnen würde. So half mir das Blättern in dem Büchlein doch tatsächlich in meiner Entscheidung weiter. Sogar noch besser: Ich traf gleich drei Entscheidungen und war wild entschlossen, für alle sofort die nötigen Schritte vorzunehmen. Die erste Sache war sehr schnell erledigt – zumindest nachdem ich beim zweiten Versuch die richtige PIN eingegeben hatte, um mein Handy zu starten, das Tino netterweise geladen hatte. Es war nur eine kurze Nachricht an eben diesen, ob ich in seiner Wohnung auf ihn warten durfte, um mit ihm über meine Entscheidung zu sprechen. Für das Zweite brauchte ich etwas mehr Vorbereitung. Ich nahm mir eine neue Seite im Notizbuch und schrieb eine der bereits darin enthaltenen Ideen in Reinschrift, ergänzte ein paar wenige Dinge, bevor ich das Ganze abfotografierte. Gemeinsam mit zwei Sprachnachrichten – einer in der ich erklärte, worum es ging und was ich damit vorhatte, und eine weitere mit einem ersten Entwurf der Melodie – schickte ich das Bild an Lance. Ich hatte schon früher daran gedacht, diese Idee umzusetzen, mich jedoch bisher vor dem Risiko gescheut. Nun wollte ich zumindest die Meinung meines besten Freundes dazu hören. In der Zeit hatte mir auch Tino geantwortet, dass es in Ordnung war, er nach der Arbeit jedoch nur etwa eine Stunde Zeit hatte, weil er noch verabredet war. Mir sollte das reichen. Im Endeffekt hatten wir alles ausdiskutiert. Es stand lediglich meine Entscheidung aus. Bei der Gelegenheit ging ich die Nachrichten durch, die mich in der Zeit ohne Handy erreicht hatten. Tatsächlich war nichts Wichtiges dabei, was mich nicht bereits auf anderem Weg erreicht hatte. Dennoch prokrastinierte ich eine Weile, indem ich die Nachrichten sortierte. Dann startete ich einen dritten Versuch mit dem Kaffe, blieb diesmal neben der Mikrowelle stehen und konnte endlich die ersten Schlucke trinken, obwohl es mittlerweile schon mittags war. Da sich bei dem Gedanken auch mein Magen regte, beschloss ich einen kurzen Spaziergang zum Café um die die Ecke. Erneut schrieb ich Tino auf dem Weg nach draußen, diesmal um ihn zu fragen, ob ich ihm auch etwas für später holen sollte. Als ich endlich gegessen hatte und keine weiteren Ideen, wie ich mein drittes und schwerstes Vorhaben weiter hinauszögern konnte, setzte ich mich zurück auf die Couch und ging über mein Handy ins Internet. Ich musste ein wenig suchen, um die richtige Person zu finden, wurde jedoch fündig. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, wählte ich die angegebene Nummer. Die restliche Zeit, bis Tino nach Hause kam, hatte ich damit verbracht, mir zu überlegen, was genau ich ihm sagen wollte, und den Arbeiten am Song, auch wenn ich von Lance noch keine Antwort erhalten hatte. Tino holte sich den Bagel aus der Küche und setzte sich damit zu mir auf die Couch. Er rührte das Gebäck jedoch nicht an, sondern sah mich erwartungsvoll an. Hatte er überhaupt keine Angst, was ich ihm sagen würde? Ich griff nach seiner Hand, hielt sie leicht zwischen meinen. »Tino, würdest du überhaupt da weitermachen wollen, wo wir aufgehört haben? Das noch ausstehende Date? Dass ich weiterhin spontan hierher kommen kann? All das?« Sein Blick in meine Augen wurde eindringlicher, doch auch fragend. »Ja. Ich fand es gut so, wie es war. Ich hatte das Gefühl, dass das für uns beide galt.« Versichernd lächelte ich ihn an und nickte. »Ja, das ist auch so. Ich wollte nur ... Ich dachte, wenn du das nicht mehr wollen würdest oder irgendwas hättest ändern wollen, dass das jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, darüber zu reden. Weil wir eh gerade über sowas reden und so. Bevor wir in ein paar Monaten wieder von vorne anfangen.« Mit der freien Hand strich er leicht über meine Schulter. »Ich wäre nicht böse, wenn wir in ein paar Monaten wieder darüber reden, ob sich unsere Bedürfnisse geändert haben. Ich fände es sogar schön, wenn wir das einfach so regelmäßig tun würden. Also, wenn ich dich richtig verstehe, dass du weiterhin Kontakt möchtest?« Mit einem vorsichtigen Lächeln nickte ich und als er das Lächeln erwiderte, küsste ich seinen Handrücken. Die Hand an meiner Wange wanderte zu meinem Nacken, streichelte mich dort, bevor er mich zu sich zog und meinen Scheitel küsste. Erleichtert seufzte er. »Ich freue mich. Sehr. Ich hatte echt Angst, dass du wirklich nicht mehr wollen könntest.« Ich lehnte mich wieder etwas zurück, befreite mich dadurch von der Hand in meinem Nacken und ließ auch seine andere los. Langsam schüttelte ich den Kopf. »Nein. Ich möchte das. Und ich möchte mir das auch nicht mehr von meiner Angst kaputt machen lassen.« »Du klingst sehr ... entschlossen.« »Ja ...« Kurz wich ich seinem Blick aus, suchte ihn dann aber ganz bewusst. »Kannst du mir dabei helfen? Kannst du, wenn ich das nächste Mal scheinbar grundlos versuche wegzulaufen, mich daran erinnern, dass ich lieber mit dir darüber reden möchte? Ich ... vertraue dir, das nicht in einer Situation auszunutzen, in der ich wirklich gehen sollte.« »Bist du dir sicher, dass du das wirklich willst, und das nicht gerade purer Aktionismus ist?« Besorgt legte er den Kopf schief. »Nein.« Ich wusste es nicht sicher. Doch das war im Moment zweitrangig. »Aber ich glaube, dass es besser ist, wenn ich nicht einfach gehe. Du tust so viel für mich, du hast es zumindest verdient, dass ich dir erkläre, warum. Und ja, das macht mir eine scheiß Angst, dir dieses Vertrauen zu schenken. Trotzdem weiß ich, dass es die richtige Entscheidung ist.« »Das klingt, als hättest du es dir gut überlegt. Ich werde versuchen, verantwortungsvoll mit dem Vertrauen umzugehen. Ich hoffe trotzdem, dass es nicht dazu kommt.« »Ich auch.« Schief lächelte ich ihn an. »Oder, dass ich das zumindest bis dahin auch allein kann. Ich möchte es zumindest versuchen. Mir ist bewusst, dass ich nie wieder ganz ... gesund? werde, aber vielleicht schaffe ich es ja doch, mein Leben wieder etwas mehr in den Griff zu bekommen. Ich will es zumindest versuchen.« Bevor ich den nächsten Satz aussprechen konnte, brauchte ich eine kurze Pause und holte tief Luft. Es hatte definitiv viel zu lange gedauert, bis ich ihn nun endlich voller Überzeugung aussprechen konnte. »Deswegen habe ich mir Hilfe gesucht.« Überrascht riss er die Augen auf. »Du meinst ...?« Tief seufzend nickte ich. »Ich hab vorhin bei dem Therapeuten angerufen, bei dem ich vor einigen Jahren schon einmal war. Im Moment sind alle Termine voll und ich bin ja auch kein Notfall, aber ich bekomme auf jeden Fall in einigen Monaten einen Termin und kann dann regelmäßig hingehen. Ich will noch einmal mit ihm über die Panikattacken reden, auch wenn ich da mittlerweile sehr gut wieder rauskomme, aber eventuell hat er noch ein paar Tipps. Außerdem eben die Sache mit der Angst vor Nähe und vielleicht auch das mit dem Alkohol.« »Das klingt nach großen Plänen.« Ein leichtes Schmunzeln lag auf seinen Lippen. »Ich muss die Zeit, die ich bezahle, ja auch ausnutzen«, erwiderte ich scherzhaft. »Nein, ehrlich, ich will das wirklich angehen. Ich weiß, dass das nicht leicht und viel Arbeit für mich wird, aber ich kann es diesmal in meinem Tempo machen und mir Pausen nehmen, ohne Druck von außen.« »Ich seh schon, du hast dir das wirklich gründlich überlegt.« Er lächelte und ergänzte dann: »Ich bin stolz auf dich. Und wenn du mich brauchst, bin ich für dich da.« Ich drängte die Tränen zurück und ließ mich dann in Tinos Arme fallen. »Danke.« Zärtlich lehnte er seinen Kopf gegen meinen. Wir blieben eine Weile so sitzen, bis ich kurz auf die Uhr sah und feststellte, dass er bald wieder losmusste. Deshalb löste ich mich von ihm und forderte ihn auf, seinen Bagel zu essen. Währendessen redeten wir über seine Arbeit. »Bleibst du eigentlich hier?«, fragte Tino, während er sich für seine Verabredung anzog. »Nein. Ich werd nach Hause fahren. Ich will noch ein paar Dinge fertig machen. Aber wenn du magst, komm ich morgen Abend her?« »Ja, passt. Wenn du kein Problem damit hast, dass vermutlich Nick dann noch hier ist. Ansonsten komm einfach später. Magst du eigentlich wieder den Schlüssel mitnehmen? Dann kannst du spontan kommen.« Schmunzelnd küsste ich ihn. »Mit dir komme ich gern spontan. Aber ja, wenn es in Ordnung für dich ist, nehme ich den Schlüssel wieder. Und ich hab kein Problem mit Nick. Apropos, hat mein bester Freund sich beschwert, dass er dich kennenlernen möchte, wenn wir weiter in Kontakt bleiben.« »Dann bring ihn doch morgen mit. Und wenn wir die beiden rausgeworfen haben, dann können wir auch nochmal übers Kommen reden.« Tino legte mir die Hände auf den Hintern und zog mich ruckartig an sich. Ich streckte mich, um ihn zu küssen. »Klingt nach einem Plan. Ich frag ihn mal, ob es bei ihm morgen klappt.« »Gut. Und jetzt muss ich mich wirklich beeilen.« Bevor ich mich von ihm entfernte, küsste ich ihn noch einmal. »Dann will ich dir nicht im Weg stehen. Wir sehen uns morgen. Und danke dir. Für alles.« Kapitel 34: Eloy – September 2016 --------------------------------- Als ich aufwachte, war etwas merkwürdig. Da war etwas an meiner Hüfte, was dort nicht hingehörte. Doch es war nicht unangenehm, ganz im Gegenteil, es fühlte sich sogar außerordentlich gut an; so schön warm. Es gab jedoch ein Problem, wie ich feststellte, als ich den Kopf etwas zur Seite drehte: Vermutlich gefiel es nur mir. Denn Leonardo, dessen Hand so angenehm auf meiner Haut lag, schlief seelenruhig. Sicher hatte er sie nicht absichtlich dort platziert. Ich räusperte mich, dann flüsterte ich eindringlich seinen Namen. Er murrte leise, streckte sich etwas und rollte sich dann noch ein wenig dichter neben mir wieder zusammen. Dabei schob sich auch seine Hand etwas weiter in Richtung meiner Körpermitte. Scharf zog ich die Luft ein. »Leonardo. Hey, aufwachen.« »Hmm?« Er blinzelte und suchte meinen Blick. Sobald er ihn gefunden hatte, lächelte ich und machte eine Kopfbewegung in Richtung seiner Hand. »Vielleicht möchtest du deine Hand da wegnehmen.« Für einen Moment sah er verwundert an mir hinab bis auf meine Decke, wo sich seine Hand als Delle zeigte, dann wurde er puterrot. Eilig zog er sie zurück, rutschte von mir weg, drehte mir den Rücken zu und zog die Decke fast über den Kopf. Nur dumpf drang das »Sorry!« bis zu mir. »Alles okay.« Überzeugt klang sein Brummen nicht, aber wenigstens widersprach er nicht. Nach einigem Zögern streckte ich die Hand aus und legte sie auf seinen Oberarm. Mit kreisenden Bewegungen strich mein Daumen über die Schulter, auch wenn er sicher nicht viel davon spürte. Hoffentlich beruhigte es ihn trotzdem. Ob es half oder er einfach nur so müde war, wusste ich nicht, aber zumindest döste er nach einer Weile wieder ein. Ich dagegen konnte nur auf seinen Rücken und meine Hand starren. Es dauerte etwas, bis mir bewusst wurde, dass ich ihn zum ersten Mal bewusst und länger anfasste. Klar, wir waren seit einigen Jahren Freunde und schliefen mittlerweile öfter mal bei Toby und Roger, da blieben Berührungen nicht aus. Aber diese Berührung war bewusster. Es fühlte sich gut an. Fast so gut, wie sich Leonardos Hand angefühlt hatte, doch mit dem Unterschied, dass ich mir ziemlich sicher sein konnte, dass wir beide das mochten. Wenn es bei dem Gedanken, etwas an ihn heranzurutschen und mit den Fingern durch seine Locken zu fahren, doch nur genauso gewesen wäre. Aber ich traute mich nicht. Es hatte einige Übernachtungen bei Toby und Roger gebraucht, bis Leonardo nicht mehr komplett verkrampft am anderen Ende des Bettes gelegen hatte, sondern ganz normal und entspannt neben mir. Ich wollte nicht riskieren, dass er sich wieder unwohl fühlte, nur weil mir eine unbewusste Berührung plötzlich Flausen in den Kopf setzte. Nach einiger Zeit wurde Leonardo wieder unruhiger, bis er schließlich ganz aufwachte. Langsam und bedauernd zog ich meine Hand zurück, jedoch nicht ohne dabei leicht über seine Schulterblätter zu streichen. Schwerfällig drehte er sich um, die Decke noch immer weit hochgezogen. Leise murmelte er: »Sorry wegen vorhin.« Ich lächelte ihn leicht an. »Ich hab doch gesagt, dass es okay ist.« »Ja, weil du höflich bist und das sagen musst«, murrte er und seine Ohren färbten sich wieder rot. »Nein, weil es mich nicht stört, wenn du mich anfasst.« Diese Berührung war sogar so gut gewesen, dass ich wollte, dass er es wieder tat. Ihm das zu sagen, kam mir aber zu viel vor. Die Farbe seiner Ohren nahm weiter zu und für einen Moment lag er absolut still. Dann hob er den Blick, wollte mir wohl eigentlich in die Augen sehen, schaffte es aber nicht. Stattdessen blieb er irgendwo auf Kinnhöhe hängen. »Sicher?« »Mhm.« Da sich nun wieder sein ganzes Gesicht einfärbte, konnte ich nicht anders, als zu schmunzeln. »Okay.« Für einen winzigen Augenblick schaffte er es, mir in die Augen zu sehen, dann wanderte sein Blick wieder nach unten. Dafür rutschte er ein kleines Stück dichter an mich heran und legte sich seine Hand auf meinen Unterarm. Mit den Fingerspitzen strich er über die Innenseite und bereitete mir eine angenehme Gänsehaut. Ich schloss die Augen und fühlte die Spur nach, die er hinterließ. Das war auch schön. Anders und doch ähnlich. Es machte Lust darauf, dass er das öfter tat. Zufrieden seufzte ich und legte meine Hand wieder auf seinen Oberarm, streichelte mit dem Daumen darüber. Diesmal zog er mit den Beinen die Decke etwas herunter, sodass zumindest nur noch der Ärmel seines Oberteils den Hautkontakt verhinderte und ich seine Körperwärme spüren konnte. Außerdem rutschte er noch ein Stückchen an mich heran. Genießend wollte ich wieder die Augen schließen, doch er zog meinen Blick auf sich. Ich konnte ihn nicht abwenden und als sich unsere Blicke auch noch trafen und er erneut etwas an mich heranrollte, fuhr es wie ein Blitz durch meinen ganzen Körper. Plötzlich war da dieses Verlangen, ihn so richtig nah an mich zu ziehen. Ich wollte seine Hand wieder da haben, wo sie beim ersten Aufwachen gewesen war, und meine Hände auf seinem ganzen Körper. Und gleichzeitig wollte ich ihn doch nur einfach an mich drücken und liegenbleiben. Ich verdrängte beides und streichelte seinen Arm bis zu den Fingerspitzen entlang, während ich mich aufrichtete. »Ich muss eben ins Bad.« Ich war mir nicht sicher, ob er mir nachsah, achtete aber auch nicht darauf, als ich aus dem Bett schlüpfte und ins Bad verschwand. Während es mir auf dem Hinweg noch egal gewesen war, ob Leonardo mitbekommen hatte, warum ich ins Bad wollte, war ich mir auf dem Rückweg nicht mehr so sicher. Hoffentlich dachte er nicht, ich hätte etwas anderes getan, als meine Morgentoilette zu erledigen und mir zur Abkühlung etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen. Nun, ich würde es gleich herausfinden. Leonardo saß im Schneidersitz auf dem Bett, den Rücken zur Tür gedreht. Leise murmelte er vor sich hin, als würde er mit sich selbst sprechen. Ich räusperte mich, damit er mich bemerkte. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er sich schnell und ertappt umdrehte, doch er ließ sich Zeit, räusperte sich nun seinerseits. »Hab ich etwas Falsches gemacht?« Ich lachte, strich mir über die Nasenwurzel. Natürlich dachte er, ich sei vor ihm geflohen. Was auch sonst? Diese jungenhafte Naivität würde er wohl nie ablegen. Ich setzte mich neben ihn auf die Bettkante. »Nein, hast du nicht. Ich musste nur eben ins Bad. Ich hab doch gesagt, dass es okay ist.« »Ja ...« Er sah mir ins Gesicht, doch seine Augen wanderten unstet hin und her. Offensichtlich wollte er noch etwas sagen, daher wartete ich. Er würde es schon schaffen, wenn ich ihn nicht hetzte. »Darf ich dich etwas fragen?«, brachte er nach einer Weile heraus. Ich grinste. »Tust du doch gerade. ... Ja, natürlich darfst du.« Er rieb die Handflächen aneinander und senkte seinen Blick darauf. »Hattest du wieder ein Date? Ich meine, nachdem dein Mann ...« Das Grinsen verschwand, dafür legte ich die Stirn in Falten. Wie kam er jetzt darauf? »Nein.« »Warum nicht?« Seine Hände schienen noch immer besonders interessant. Ich zuckte mit den Schultern. »Es hat sich schlichtweg nicht ergeben.« Zu sagen, dass ich einfach nie daran gedacht hatte, wäre genauso wahr gewesen. Die wenigen Male, die mir jemand gefehlt hatte, war es explizit Mat gewesen. Doch die Kinder ließen solche Gedanken kaum aufkommen. Ich hatte mit ihnen ausreichend zu tun. Zumindest war das bisher der Fall gewesen ... Nachdenklich nickte Leonardo, schien für einen Moment den Mut zu verlieren, doch dann atmete er tief durch und hob wieder den Blick. »Und wenn dich jemand nach einem Date fragen würde?« »Kommt darauf an, wer danach fragt.« Schelmisch schmunzelte ich ihn an. War das sein Ernst? Sein Blick suchte einen Punkt auf der Bettdecke. »Wenn es jemand von uns wäre?« »Mit ›uns‹ meinst du Toby, Roger und dich?« Verdammt, ich fand ihn gerade sehr niedlich. Andernfalls hätte es mich aber auch beunruhigt, wie schnell mein Herz schlug. Ohne mich anzusehen, nickte er. Überlegend strich ich mir über den Bart, ließ ihn auf eine Antwort warten. Es war zu verführerisch, ihn zu piesacken. Als er langsam wirklich unruhig wurde, antwortete ich: »Kommt darauf an, wer von euch fragt.« »Eloy!«, jammerte er verzweifelt und sah mich nun doch an. Ich lächelte ihn aufmunternd an und legte meine Hand dicht neben seine. »Ich denke, wenn du mich fragen würdest, würde ich Ja sagen. Bei den anderen beiden ...« »Gehst du mit mir aus?«, fragte er hastig, bevor ich den Satz beenden konnte. »Gern«, antwortete ich sanft. Ich hatte ihn wirklich genug geärgert. Außerdem konnte ich gerade gar nicht anders, zu sehr freute mich diese Frage. Natürlich hatte es mir gefallen, wenn er mich nur zufällig berührte und zu gern hatte ich seine Nähe gesucht, doch ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihn nach einem Date zu fragen. Warum auch, ich hätte ja nicht einmal gedacht, dass es ihn überhaupt interessieren könnte. Selbst nach heute Morgen wäre ich nur davon ausgegangen, dass er es zwar als angenehm empfand, aber nicht unbedingt mehr von mir wollte. »Du musst das nicht tun, um mir einen Gefallen zu tun«, haspelte er schnell herunter und starrte mich aus großen Augen an. Diesmal kam ich dem Verlangen doch nach und zog ihn an mich. Ich streichelte mit einer Hand über seinen Rücken, mit der anderen fuhr ich in seine wilden Locken, ließ sie zwischen die Finger gleiten. Hätte ich gewusst, wie weich sie waren, hätte ich das schon viel früher getan. »Gut, eine Bedingung: Ich geh mit dir aus, wenn du aufhörst, dich weiter unter den Scheffel zu stellen und meine Aussagen anzuzweifeln.« »Tut mir leid. Es ist nur ... Ach, keine Ahnung. Ich hab nicht gedacht, dass du das wirklich willst.« »Wusste ich bis gerade auch nicht«, gab ich ehrlich zu und lächelte, als er mich erschrocken ansah. »Aber ich wollte schon die ganze Zeit gern von dir angefasst werden und dich berühren. Und das klingt nach einer guten Gelegenheit, meinst du nicht?« »Ja ...« Langsam wanderten seine Augen zu meinen Lippen und blieben daran hängen. Sein Atem ging deutlich schneller als zuvor und die Frage stand zu deutlich in seinem Gesicht, daher stellte ich sie für ihn: »Willst du mich küssen?« Schwer schluckte er und brachte kaum das Nicken zustande. Vorsichtig küsste ich ihn. Ich hatte absolut keine Ahnung, welche Art von Kuss er sich erwartete, was genau ich gerade davon wollte. Das Einzige, was in meinem Kopf ankam, war die Erlaubnis, ihn zu berühren, und die wollte ich nicht verstreichen lassen. Zum Glück äußerte er seinen Wunsch nach einem Moment der Unsicherheit. Sanft strich er über meine Wange und den Hals, presste auch seine Lippen leicht gegen meine, zerfloss fast in meinen Armen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange der Kuss dauerte, doch irgendwann ließ ich davon ab und drückte ihn noch einmal näher an mich. »Danke.« »Dir auch.« Er lächelte leicht. Weiterhin spielte ich mit seinen Locken. »Gern. Aber wir sollten gleich runter.« Langsam nickte er, dann wurde er wieder unsicher. »Was ist mit dem Date?« »Nächsten Freitag sind die Kinder bei ihrem Vater. Wenn du möchtest, gehört dir dann ab 19 Uhr meine ganze Aufmerksamkeit.« Ein umwerfendes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. »Ja, gern. Ich hol dich dann ab und wir schreiben die Woche noch, was wir machen wollen?« »Tun wir.« Flüchtig küsste ich ihn noch einmal, bevor ich ihn losließ, da sich aus dem Flur Kindergetrappel näherte. Kapitel 35: Eloy – November 2016 -------------------------------- Mit einer Hand suchte ich den Schlüssel in meiner Jackentasche, mit der anderen versuchte ich, mir Leonardo zumindest für den Moment vom Hals zu halten. »Warte kurz, bis ich die Tür auf hab.« Er murrte leise, entfernte sich nicht von mir und nahm auch nicht die Hände unter meiner Jacke hervor, aber wenigstens beanspruchte er nicht mehr meine ganze Aufmerksamkeit, sodass ich zumindest die Tür aufschließen konnte. Kaum waren wir im Wohnungsflur, nahm er meine Lippen wieder in Beschlag. Früher wäre mir nie eingefallen, einen Mann zu küssen, solange wir nicht hinter verschlossener Tür waren, geschweige denn mit einem auf offensichtlich auf ein Date zu gehen oder in der Öffentlichkeit Händchen zu halten. Nun war es mir egal. Es gab niemanden mehr, vor dem ich es geheimhalten müsste, und ich genoss die Dates mit Leonardo. Eigentlich hatte ich ihn nach dem Konzert nach Hause fahren wollen, aber er hatte ziemlich deutlich gemacht, dass ihm diesmal noch nicht der Sinn danach stand, den Abend zu beenden, und meine Wohnung war deutlich näher. Auch jetzt drängte er mich in Richtung des Schlafzimmers, wobei ich keinerlei Widerstand leistete. Ganz im Gegenteil, ich half ihm gern bereits auf dem Weg aus der Jacke. Lachend zog er mich mit aufs Bett und grinste dann, weil ich mich etwas schwer tat, mich aufzurichten und nicht mein ganzes Gewicht auf ihm liegen zu lassen. Neckend spielte ich mit einer Locke, die ihm ins Gesicht gefallen war. »Und, wie geht’s jetzt weiter?« Kurz verzog er verwirrt das Gesicht, dann grinste er wieder, streckte seine Finger nach mir aus und machte sich an meinen Hemdknöpfen zu schaffen. Schmunzelnd sah ich mir das an, ließ ihn machen und wartete, bis er fertig war. Dann schob ich meine Hände unter sein Shirt, versicherte mich mit einem Blick in sein Gesicht, dass es okay war, und schob es ihm dann über den Kopf. Langsam küsste ich mich über die warme Brust. Es war so angenehm, mal wieder nackte Haut unter den Fingern zu spüren und mit der Zunge den salzigen Geschmack aufzunehmen. Er erschauerte, reckte sich mir entgegen. Andächtig betrachtete ich ihn und schmiegte mich weiter an. Ich wollte so viel mehr von ihm sehen, berühren, riechen, schmecken. Während ich mich über seinen weichen Bauch küsste, raunte ich: »Was möchtest du?« »Mach weiter.« Ich runzelte die Stirn. Nicht so hilfreich. Was genau sollte ich weitermachen? Küssen? Ausziehen? So oder so konnte es nicht schaden, wenn ich ihm half, die Schuhe loszuwerden. Die Socken ließ ich jedoch vorerst an seinen Füßen. Ich war wirklich nicht sicher, wie weit er gehen wollte. Wir hatten bei den vorhergehenden Dates nicht darüber gesprochen, was wir mochten, und gerade war es für mich nicht lesbar. Streichelnd fuhr ich mit den Händen über seine Hüften und die Seiten, lächelte ihn sanft an und küsste ihn, als er es erwiderte. Ich streichelte langsam über seinen Hals und das Schulterbein, sah ihm dabei liebevoll in die dunklen Augen. »Was möchtest du?« »Was wohl?«, kam die unerwartet patzige Antwort, die mich verwirrt zurückweichen ließ. Ich zuckte mit den Schultern und bemühte mich um einen ruhigen Ton. »Ich weiß es nicht. Darum frage ich ja.« Leonardo richtete sich etwas auf und funkelte mich fast schon böse an. »Ist das nicht offensichtlich?« Mit einer Hand auf seinem Oberschenkel hoffte ich, ihn zu beruhigen. Seine Reaktion ergab für mich keinen Sinn. »Nein, für mich nicht. Du könntest gerade so einiges wollen. Und ich habe keine Lust auf Ratespielchen.« »Dann vergiss es!« Er schob mich grob von sich und rappelte sich aus dem Bett hoch. Ohne Shirt verließ er das Schlafzimmer. Verwirrt sah ich ihm nach. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Dabei waren doch all unsere Dates bisher so gut verlaufen. Die Aussicht, ihn diesmal berühren zu dürfen, war wirklich gut gewesen. Aber offensichtlich waren wir noch nicht so weit und hatten noch einigen Gesprächsbedarf. Seufzend knöpfte ich mein Hemd wieder zu und schnappte mir Leonardos Shirt und Schuhe. Letzteres stellte ich zusammen mit meinen an die Kommode, wo ich auch unsere Jacken aufhängte, dann folgte ich ihm ins Wohnzimmer. Mit verschränkten Armen saß Leonardo auf der Couch, den Rücken etwas zur Tür gedreht. Ich war zumindest froh, dass ich mir wohl keine Sorgen machen musste, dass er einfach aus der Wohnung stürmte. »Möchtest du etwas trinken? Tee? Kaffee? Kakao?« Da er nicht antwortete, ging ich davon aus, dass er nur Wasser wollte, und machte nur mir einen Kaffee in der Küche, bevor ich ins Wohnzimmer zurückging und mich neben ihn setzte. Ich hielt das Shirt in seine Richtung. »Möchtest du das anziehen, während wir reden?« Er schüttelte den Kopf, weshalb ich es neben die Getränke auf den Tisch legte. »Also, warum möchtest du mir nicht sagen, was du willst?« Er drehte sich etwas um und sah mich finster an. »Weil es doch offensichtlich ist! Und ich nehme das Wort nicht in den Mund! Das ist eklig.« »Nein, ist es nicht. Ich könnte mir so einiges vorstellen, was ich mit dir anstellen möchte. Selbst wenn ich einfach vorausgesetzt hätte, dass du etwas Sexuelles möchtest, bleibt noch so viel übrig.« Ich streichelte zärtlich über seine Schulter. »Daher weiß ich auch nicht, welches Wort du meinst. Blowjob? Handjob? Sex? Rimming?« Obwohl es nicht sonderlich hell war, war zu erkennen, dass er rot wurde. »Alle.« Ich unterdrückte das Seufzen. Ja, ich hatte befürchtet, dass er nicht gern darüber redete, ich tat es auch nicht unbedingt gern, aber ich hätte dennoch gern gewusst, was er sich vorstellte. »Du musst sie ja nicht aussprechen. Du kannst mir auch einfach zeigen, was du möchtest.« »Du kannst auch einfach weitermachen und wir sehen, was sich ergibt.« Was sich ergibt ... Also im Klartext: Was ich anfing und er mitmachen würde, egal ob er es ihm so gefiel oder nicht, weil er glaubte, mir damit einen Gefallen zu tun. Ich bezweifelte, dass er den Mund aufbekam, wenn ihm etwas nicht taugte. Aber das konnte ich ihm schlecht ins Gesicht sagen. »Ich würde aber gern etwas tun, was dir besonders gefällt. Gibt es denn nichts, was du dir im Vorfeld vorgestellt hast?« »Schon«, gab er leise zu. »Aber ich mag nicht darüber reden. Und warum sagst du dann nicht, was du möchtest.« Nun seufzte ich doch. Was sollte es, dann würde ich ihm eben sagen, was ich befürchtete. Jedoch nicht, bevor ich nicht etwas dichter an ihn gerutscht war. Ich wollte ihn notfalls an der wütenden Flucht hindern können. »Weil ich Angst habe, dass du es mir einfach nur recht machen möchtest und nicht sagst, wenn du etwas nicht magst. Ich will ...« Er riss sich aus meinem Griff los und stampfte durchs Wohnzimmer. Vor der Fensterfront blieb er stehen und blickte mit verschränkten Armen hinaus. Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, erwiderte er: »Dasselbe könnte ich dir auch unterstellen.« Langsam stand ich auf, näherte mich ihm und legte die Arme von hinten um ihn. »Du weißt, dass es nicht so ist.« Wieder schwieg er, diesmal länger. Dann seufzte er, ließ sich in meine Umarmung fallen. »Du hast ja recht.« »Ich will gar nicht recht haben.« Ich griff fester zu. »Ich möchte nur, dass wir beide Spaß haben.« »Müssen wir dafür wirklich über sowas reden?« Der Unwille war noch immer deutlich zu hören. »Warum ist das so schlimm?« Ich zögerte für einen Moment, wollte nicht schon wieder in ein Fettnäpfchen treten, sprach dann aber meinen Gedanken aus: »Hast du mit John nie darüber gesprochen, was du magst?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, nie.« »Oh.« Nicht, dass ich mit Mat viel darüber gesprochen hätte, aber wir waren auch beide sehr deutlich in dem gewesen, was wir wollten; oder eben nicht wollten. »Wir haben halt das gemacht, was wir gerade tun wollten.« »Ihr?«, fragte ich bewusst provokant nach. Leonardo senkte etwas den Kopf. »Hauptsächlich er.« Ich nickte. Das passte zu dem, was ich von den beiden erlebt hatte. Nicht, dass ich glaubte, John hätte ihn ausgenutzt oder so, aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass sich Leonardo durch den Altersunterschied einschüchtern ließ, die Verantwortung abgab. Ein Altersunterschied, der bei uns ähnlich groß war. »Und? Wie war es? Wenn die Frage nicht zu weit geht.« Er zuckte mit den Schultern. »Okay.« »Gab es denn etwas, was dir besonders gut gefallen hat?« Dass er auf die Frage sofort rot wurde, sagte wohl alles. »Hättest du genau das gerade gern mit mir ausprobiert?« Ich schmunzelte, als ich ihm das ins Ohr flüsterte. Schüchtern nickte er. »Dann wirst du mir wohl sagen müssen, was es ist. Ich würde es wirklich gern wissen. Und wenn du magst, dann erzähl ich dir danach, was ich gern mit dir gemacht hätte.« Es dauerte, bis er wieder nickte und sich in meinen Armen herumdrehte. Sofort legte ich eine Hand in seinen Nacken und streichelte ihn. Ein paar Mal atmete er tief durch, bevor er langsam erklärte: »Ich wollte gerne ... Also, dass ich auf dem Bauch liege und du hinter mir ... und ...« »Analverkehr?«, erlöste ich ihn von seiner Qual, nach angenehmeren Worten für die Beschreibung zu suchen. Er nickte, schmiegte sich noch enger an mich. »Hmm, das klingt gut.« Ich küsste mich über seinen Hals. »Würde ich wirklich gern tun. Gerne auch, während du auf dem Rücken liegst. Ich mag dich dabei küssen. Oder magst du das nicht?« »Doch!« Ich schmunzelte. Oh, das war eindeutig. Vielleicht sah das alles gar nicht so schlecht aus, wie zuerst befürchtet. Dann wollte ich mal meine Schulden einlösen: »Ich hätte dir gern ein’n geblasen. Oder dich bis zum Orgasmus geleckt.« Beim letzten Satz ließ ich meine Hand über seinen Hintern wandern, wobei die Fingerspitzen auf der Spalte lag, die sich auch über seiner Hose abzeichnete. Er vergrub sein Gesicht weiter in meiner Brust. »Das Erste ist okay. Aber nur, wenn du das machst. Ich ... Ich mag das nicht so gern. Das Zweite hab ich noch nie versucht.« Zärtlich strich ich durch seine Haare. »Dann heben wir uns das für ein anderes Mal auf. Und es ist in Ordnung, wenn du keine Blowjobs magst. Ich werd sicher nicht darauf bestehen.« »Danke.« »Nein, nichts zu danken. Das ist selbstverständlich.« Er reagierte nicht darauf. Dafür fragte er nach einer Weile: »Wollen wir dann ...« »Wenn du noch immer möchtest: gern. Ich bin aber auch nicht böse, wenn wir einfach nur noch kuscheln, wenn dir die Lust vergangen ist.« »Nein! Ich möchte. Und dich dabei ansehen.« Ich küsste sein Ohr und raunte: »Sehr gern.« Endlich hob er wieder den Kopf und küsste mich so gierig, als hätte es die Unterbrechung nie gegeben. Ich hatte mein Hemd schon lange wieder verloren, da raunte ich: »Gleitgel ist im Badschrank. Ich warte im Schlafzimmer auf dich. Dort ist es gemütlicher.« Leonardos Gesicht nahm kurz einen verwirrten Ausdruck an, dann nickte er, küsste mich flüchtig und machte sich auf den Weg. Ich sammelte alle Kleidungsstücke ein, die mir unterwegs begegneten, und nahm sie mit ins Schlafzimmer. Kurz dachte ich darüber nach, mich vollständig auszuziehen, entschied mich dann aber dafür, das Leonardo zu überlassen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er noch etwas brauchte, bis er wirklich bereit war, loszulegen. »Huch? So schnell?« Deutlich früher, als ich ihn erwartet hatte, stand er in der Schlafzimmertür. Doch als er näherkam, bemerkte ich, dass er noch immer seine Jeans trug, in der Hand hielt er die Tube Gleitgel. Unsicher brummte ich. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, als er ins Bad gegangen war. Dabei hätte ich damit rechnen müssen. Es passte mehr mit der Vorstellung zusammen, die Leonardo von Sex hatte. Vielleicht war das hier doch ein Fehler? »Was ist?« Er kam näher und warf die Tube auf das Bett. Ich schüttelte den Kopf und konnte nur über mich selbst lachen. »Tut mir leid, ich hatte das mit dem Gleitgel etwas anders gemeint. Ich bin es gewohnt, dass mein Partner das lieber allein im Bad macht.« Aus diesem Grund hatte ich die vor einigen Wochen vorsichtshalber gekaufte Tube auch dorthin gestellt. Im Schein der gedimmten Lampe sah ich, dass seine Ohren sich wieder rot färbten. »Oh.« Verlegen kratzte ich mich am Oberarm. »Und jetzt?« »Würdest du das trotzdem machen? Ich ... fass mich da nicht so gern an.« Natürlich nicht. Was hatte ich mir bei der ganzen Sache nur gedacht? So sehr ich Leonardo mochte und mittlerweile auch begehrte: Das aus uns mehr werden sollte, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Er war zu jung, zu unerfahren, zu schüchtern. Wie sollte das auf lange Sicht funktionieren? Ich holte tief Luft, um ihm zu sagen, dass wir den Abend besser beenden sollten, konnte es aber nicht. Wie er vor mir stand, den Blick leicht gesenkt und von der Situation absolut verunsichert, wurde mir klar, dass es nicht nur ihm so ging. Dass wir solche Mühe hatten, auf einen Nenner zu kommen, lag nicht nur an seiner Unsicherheit, sondern auch an meiner. Ich wollte ihn nicht verschrecken, war übervorsichtig und erwartete gleichzeitig, dass er sich nach meinen Gewohnheiten richtete, von denen er nicht einmal etwas wusste. Ich konnte ihn nicht wegschicken, nur weil ich zu feige war, meine Schwäche einzugestehen. Diesmal war es an mir, den Blick zu senken. Unsicher rieb ich mir über den Nacken. »Kannst du mir dabei helfen? Ich hab das noch nie gemacht, würde es aber gerne versuchen, wenn es dir gefällt.« Obwohl ich ihn nicht ansah, war ich mir seines schockierten Blickes bewusst. Die lange Pause bis zu seiner Antwort sprach Bände. Seine Füße tauchten in meinem Blickfeld auf und seine Hand griff nach meiner. Sanft zog er sie von meinem Nacken weg. »Ja, natürlich. Das ist auch überhaupt nicht schwierig.« Erleichtert lächelte ich ihn an und küsste ihn, während ich ihn zum Bett schob. Vielleicht mussten wir uns in einigen Dingen noch einspielen, aber das bekamen wir schon hin. Ich war sicher, er würde noch auftauen und ich konnte von ihm lernen, etwas geduldiger zu sein. Kapitel 36: Eloy – Januar 2017 I -------------------------------- »Wollen wir nicht lieber ins Schlafzimmer?« Leonardo hauchte mir zarte Küsse auf die Ohrmuschel. »Ich weiß nicht. Dafür müsstest du Klammeraffe erstmal von mir runter.« Statt ihn von mir herunterzuschieben, zog ich ihn an der Hüfte näher zu mir heran und küsste ihn innig. Gegen seine Lippen raunte ich: »Wir könnten aber auch hierbleiben. Dann müsstest du nur einmal kurz an die Kommode.« »Na gut, dann bleib ich noch etwas sitzen.« Während er erneut meine Lippen suchte, drängte er seine Hüfte gegen meine. Leise stöhnend überließ ich ihm die Führung. Mittlerweile wusste ich: Spätestens wenn wir richtig loslegten, würde er sie mir mit Freuden übertragen. Aber so lange genoss ich, dass er sich aktiv einbrachte und mir zeigte, was er wollte. Mein Handy wollte mir diese Freude jedoch nicht gönnen. Störend summte es im Flur vor sich hin. Obwohl Leonardos Blick mir deutlich machte, dass ich es einfach klingeln lassen sollte, schob ich ihn sanft von meinem Schoß. Zu gern wäre ich seiner Aufforderung nachgekommen, doch der Klingelton konnte nur eines bedeuten: »Irgendwas ist mit den Kids.« Sofort war er von mir herunter und ließ mich durch zum Flur. Wie erwartet, zeigte mir mein Handy einen Anruf von Peter an. Schnell nahm ich ab. »Abend.« Beunruhigenderweise war es Maximes Stimme, die mich weinerlich grüßte: »Eloy, kannst du uns abholen?« Das Schniefen am Ende klang ganz danach, als wischte er sich die Nase an etwas ab. Bei mir schrillten alle Alarmglocken. Ja, Maxime bat manchmal darum, wieder nach Hause zu dürfen, aber so schlimm, dass er weinte, war es noch nie gewesen. Zumal die beiden schon lange hätten im Bett sein müssen. Und natürlich erhielt er dieselbe Antwort wie jedes Mal: »Ja, ich komm euch gleich holen.« Während ich weiter redete, zog ich mir Schuhe und Jacke an. »Was ist denn passiert?« Diesmal zog Maxime die Nase hoch. »Ich bin wach geworden und Papa ist nicht da.« Ich unterdrückte das Knurren. Für Maxime war die Situation schlimm genug, da musste er sich nicht auch noch für meine Wut verantwortlich fühlen. »Weck Caroline und mach euch etwas Musik an. Ich bin gleich da.« »Danke.« Es dauerte noch einen Moment, dann wurde das Telefon aufgelegt. »Soll ich mitkommen?« Leonardo hatte mich die ganze Zeit nervös beobachtet. Die Frage, mit der ich absolut nicht gerechnet hatte, brachte mich aus dem Konzept, doch letztendlich nickte ich. »Ja, du kannst mitkommen, wenn du willst. Vielleicht lenkt das Maxime etwas ab.« Eilig schlüpfte Leonardo in seine Schuhe, schnappte sich seine Jacke vom Haken und zog sie im Gehen an. Nachdem ich endlich einen Parkplatz gefunden hatte, stieg ich gemeinsam mit Leonardo aus. Im Innenhof vor dem Club, den Peter besaß und über dem er wohnte, war – wie an einem Samstagabend zu erwarten – viel los. Dennoch blieb mir eine Diskussion mit dem Türsteher erspart, da ich ihn bereits von anderen Besuchen kannte. Freundlich grüßte er, behielt aber Leonardo aufmerksam im Blick. »Keine Sorge, er gehört zu mir.« Ehrlich lächelte ich ihn an. Er machte nur seinen Job; und dass, so weit ich wusste, sehr gut. Zumindest hatte ich noch nie gehört, dass es in diesem Club Probleme mit Schlägereien oder Ähnlichem gegeben hätte. Erstaunlich, wenn ich mir ansah, wie Peter drauf war. Apropos: »Hat dir Peter zufällig gesagt, wo er hin ist?« Verwirrt zog der Türsteher die Augenbrauen zusammen. »Maniac? Der ist im Club. Hab ihn zumindest nicht rauskommen sehen.« »Okay, danke.« Ich ging mit Leonardo in den Eingangsbereich, wo wir etwas mehr Ruhe hatten. »Geh du schonmal hoch und mach die Kinder fertig, Maxime macht dir sicher auf, wenn du oben klingelst. Ich geh mal nach Peter suchen.« »O-Okay. Pass auf dich auf«, stotterte er. Für einen kurzen Moment beugte er sich zu mir, entschied sich dann aber um und strich mir nur unauffällig über den Unterarm, bevor er die Kette vor der Treppe nach oben löste und dorthin verschwand. Als ich den Club betrat, hefteten sich alle Augen auf mich. Es war offensichtlich, dass sie annahmen, ich hätte mich verlaufen. Doch ich ließ mir nichts anmerken und sah mich nach dem Besitzer um. Nachdem ich etwas herumgelaufen war, fand ich ihn hinter der Bar, die etwas versetzt hinter einer Wand versteckt war, sodass man sie vom Eingang aus nicht sehen konnte. Schnurstracks ging ich auf ihn zu. Sobald er mich entdeckte, weiteten sich seine Augen vor Überraschung. Er sagte etwas, doch ich verstand es über die Musik hinweg nicht. Ich deutete lediglich auf die Tür in der Wand hinter ihm, von der ich vermutete, dass sie zum Lager führte. Ich hatte keine Lust, über die Musik hinwegzuschreien. Peter verstand, gab seinem Kollegen neben ihm Bescheid und schloss dann die Tür für uns beide auf. Sobald sie hinter uns zugefallen war, legte er den Kopf fragend schief. »Was tust du hier?« »Das sollte ich wohl eher dich fragen!«, fuhr ich ihn an. »Warum bist du nicht oben bei den Kindern?« »Keine Sorge, die schlafen.« Er lächelte charmant, wohl in der Hoffnung, mich damit beruhigen zu können. Pech nur, dass sein Charme bei mir nicht wirkte. »Wirklich? Sie schlafen? Dann muss Maxime wohl Schlaftelefonieren. Er hat mich nämlich völlig verheult angerufen, weil er und Caroline allein in der Wohnung sind!« Unbeeindruckt zuckte er mit den Schultern. »Dann ist er wohl aufgewacht. Er hätte doch auch einfach runterkommen oder auf meinem Handy anrufen können. Danke, dass du hergekommen bist. Ich geh dann mal hoch und bring ihn wieder ins Bett.« Finster blickte ich ihn an. Das konnte doch nicht sein Ernst sein?! War er schon wieder drauf? Zumindest zeigte er keinerlei Anzeichen. Wenigstens das. »Nichts da, ich nehme sie mit.« Nun endlich zeigte er doch eine Reaktion. Wütend trat er einen Schritt auf mich zu. »Das kannst du nicht machen! Es ist mein Wochenende.« »Und ich habe beschlossen, es vorzeitig zu beenden, weil du deinen Pflichten nicht nachkommst. Was glaubst du eigentlich? Ich schicke Maxime doch nicht jahrelang zur Psychologin, damit er seine Angst, verlassen zu werden, in den Griff bekommt, nur damit du das an einem Abend kaputt machst! Und da du es nicht hinbekommst, ihm ein zuverlässiges Elternteil zu sein, muss ich das mal wieder übernehmen.« »Ich hab doch gesagt, dass ich hochgeh! Ich hab nicht daran gedacht, dass es für ihn so schlimm wäre. Wir hatten Personalmangel und er und Caro haben doch fest geschlafen. Eloy, bitte, du kannst sie mir nicht wegnehmen! Ich bin ihr Vater.« Flehend hielt er meinen Arm fest und hinderte mich am Gehen. »Ein verdammt schlechter Vater! Und jetzt lass mich los. Ich will sie nicht noch länger warten lassen.« Niedergeschlagen ließ Peter mich los und wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Ich wusste, dass er nicht weinte, ließ ihm dieses Theater jedoch. An meiner Entscheidung änderte sich nichts. Ich würde sie nicht bei ihm lassen. Das musste er nach einem Moment auch einsehen. Leise fragte er: »Wann kann ich sie wieder sehen?« »Wenn sie es wieder möchten. Und du solltest morgen anrufen, um dich bei deinem Sohn zu entschuldigen.« Ergeben nickte er. Ihm war zu bewusst, dass ich die Zügel in der Hand hielt. Wenn ich den Fall vor Gericht brachte, würde er das Sorgerecht für die beiden verlieren. »Ist gut. Kann ich mich noch verabschieden?« Streng nickte ich. Das war wohl die einzige vernünftige Entscheidung seinerseits in dieser Nacht. Gemeinsam gingen wir nach oben in die Wohnung, wo Maxime und Caroline bereits angezogen warteten. Nicht nur Maxime, sondern auch Leonardo zuckten zusammen, als sie Peter erblickten. Dieser ging in die Hocke und breitete die Arme aus. »Ich wollte euch noch auf Wiedersehen sagen.« Maxime blieb wie angewurzelt halb hinter Leonardo stehen. Hilfe suchend sah er mich an. »Du kannst auch so Tschüss sagen«, erinnerte ich ihn daran, dass er auch gegenüber seinem Vater zu keinen Berührungen verpflichtet war. Erleichtert nickte er und winkte seinem Vater, während er in großem Bogen um ihn herum zur Tür ging. »Tschüss.« Peter fiel es sichtlich schwer, das zuzulassen, doch er riss sich zusammen. Stattdessen wandte er sich an seine Tochter: »Gibst du mir einen Abschiedskuss?« Unsicher sah Caroline von ihrem Vater zu ihrem Bruder und zurück. Sie wollte ihrem Bruder nacheifern, wollte ihrem Vater aber auch nicht in den Rücken fallen. Maxime zuckte nur mit den Schultern, drehte sich um und trat einen Schritt aus der Wohnung. Caroline zögerte noch kurz, ging zu ihrem Papa, wobei sie seinen Armen auswich, die sie an ihn ziehen wollten, und drückte ihm einen Schmatzer auf die Wange. »Nachti.« Dann eilte sie auf mich zu und bedeutete mir, dass sie auf meinen Arm wollte. Ich tat ihr den Gefallen und nahm sie hoch. Während sich Leonardo mit einem geflüsterten ›Tschüss‹ an mir vorbeischob, verabschiedete ich mich ordentlich von Peter: »Noch einen schönen Abend, wir sehen uns.« Erst nickte er, doch dann hielt er mich mit einem einfachen »Eloy, ganz kurz« zurück. Zweifelnd sah ich ihn an, reichte Caroline dann aber an Leonardo und zog die Tür von innen etwas an. »Was gibt es noch?« »Du weißt, dass du dir keine Verstärkung mitbringen musst, wenn du herkommst, oder? Ich freu mich nicht, dass du Maxime und Caroline mitnimmst, aber das ist wirklich nicht nötig.« Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was Peter meinte. »Du meinst Leonardo? Nein, er ist nicht wegen der Verstärkung mitgekommen. Er war nur gerade bei mir, als Maxime angerufen hat, und weil die beiden ihn gut kennen und mögen, hab ich ihn mitgenommen, in der Hoffnung, er bringt sie auf andere Gedanken.« »Oh.« Überlegend kratzte Peter sich über den linken Arm. »Dann seid ihr ... zusammen? Maxime und Caroline haben nichts darüber gesagt, wenn sie über Leonardo gesprochen haben.« Nun war es an mir, nervös zu werden. »Um ehrlich zu sein, wissen sie noch nichts davon. Das ist noch recht frisch und ich wollte nicht, dass sie sich Hoffnungen machen, falls es doch nicht klappt.« Verstehend nickte Peter und rang sich ein Lächeln ab. »Dann sollte ich euch wohl viel Glück wünschen.« »Danke. Wie gesagt, wir sehen uns.« Diesmal drehte ich mich endgültig um und verließ seine Wohnung. Leonardo und die Kinder holte ich im Innenhof ein. Kapitel 37: Eloy – Januar 2017 II --------------------------------- »Guten Morgen.« Vorsichtig drehte ich mich zu Leonardo, um Maxime und Caroline nicht zu wecken, die jeweils neben uns lagen. Er erwiderte den Gruß genauso leise. Unsicher sah er zu meinem Mund. Ich streckte mich ihm entgegen und hauchte einen Kuss auf seine Lippen. Die Kinder schliefen noch, es gab keinen Grund, sich zurückzuhalten. Außerdem konnten wir das eh nicht ewig geheimhalten. Zärtlich streichelte ich über seine Wange. »Und, wie war deine erste Nacht mit Kindern im Bett?« »Kalt.« Trotz seiner Aussage lächelte er. »Danke, dass ich mit unter deine Decke durfte.« »Ich hab dich doch gewarnt, dass Caroline die Meisterin im Deckenklau ist.« Von der Wärme verleitet, die er ausstrahlte, küsste ich ihn erneut, diesmal intensiver. Viel zu schnell löste er sich von mir. »Sorry«, raunte ich und rutschte etwas weg. »Das Wochenende ist wirklich nicht gelaufen wie geplant.« »Ist schon okay. Ich weiß doch, dass deine Kinder vorgehen.« Bevor ich ihm widersprechen konnte, legte er mir einen Finger auf den Mund. »Widersprich nicht! Es sind deine Kinder. Zumindest sehen sie dich als ihren Vater und du nimmst für sie die Elternrolle ein. Das wusste ich und wenn ich damit nicht klarkommen würde, dass ich notfalls hinter sie zurückstecken muss, dann hätte ich mich nicht auf dich eingelassen.« »Danke.« Diesmal ließ ich mich von ihm küssen. Es dauerte nicht lange, da zeigte Caroline die ersten Anzeichen, aufzuwachen, daher rutschte ich von Leonardo weg. »Ich geh mal Frühstück vorbereiten, dann könnt ihr noch etwas kuscheln«, bot er an und erhob sich. Von den Übernachtungen bei Toby und Roger wusste er bereits, dass Caroline morgens gern ein paar Kuscheleinheiten einforderte, weil sie sonst viel zu kurz kamen. »Danke, das ist wirklich lieb von dir. Lass dir ruhig Zeit, das wird etwas dauern.« Aus der Laune heraus, hielt ich ihn am Arm fest und zog ihn noch einmal zu mir, um ihm einen kurzen Kuss zu geben. Er war gerade absolut unwiderstehlich, wie er sich um das Wohlergehen der Kinder sorgte. Seine Wangen färbten sich leicht rosa und er eilte aus dem Zimmer. Ich wartete eine Weile, bevor ich etwas zu Caroline rutschte und ihr sanft über den Kopf streichelte. »Na Mäuschen, bist du wach?« Die Antwort war ein viel zu aufgewecktes »Kuscheln?«. Lachend hob ich meine Decke, damit sie drunterschlüpfen konnte. Länger als ein paar Minuten würde sie wohl nicht stilliegen, aber wenigstens diese Zeit wollte ich ihr gönnen. »Danke für das Essen.« Da die Kinder noch in ihren Zimmern waren und sich anzogen, nutzte ich die Gelegenheit und drückte Leonardo einen Kuss auf die Wange. »Maxime und Caroline werden sich freuen.« Ich ließ meinen Blick noch einmal über den Tisch wandern. Nein, bis auf eine Sache würden sie nichts vermissen. Und davon konnte Leonardo nichts wissen. »Was tust du?«, fragte er vollkommen erschrocken, als ich einen Topf aus dem Schrank holte. Ich lächelte, während ich die Zutaten zusammensuchte. »Kakao. Genauer Chilli-Kakao. Das ist beim Sonntagsfrühstück Pflicht. Und nach gestern möchte ich den beiden möglichst viel Normalität und Sicherheit geben.« Verstehend nickte Leonardo. »Bekomme ich auch einen?« »Natürlich.« Gern hätte ich ihn noch einmal geküsst, doch die Kinder kamen in die Küche. Ich warf nur einen kurzen Blick auf sie, um sicherzugehen, dass sie warm genug angezogen waren, dann widmete ich mich wieder der Milch. Anders hätte ich ihren »Nein!-Doch!«-Streit, den sie lautstark austrugen, nicht ertragen. Als es mir nach ein paar Minuten doch zu bunt wurde, unterbrach ich sie. »Caroline, möchtest du gleich auch Kakao?« »Ja!«, antwortete sie begeistert. Ihr Bruder nutzte die Gelegenheit und trickste sie aus, indem er die Seite wechselte: »Nein!« »Doch!« »Ha!« Triumphierend zeigte er mit dem Finger auf sie. »Stimmt nicht! Papá, Maxime ärgert mich!« »Tu ich nicht! Du lügst. Man darf nicht lügen!« »Gar nicht!« Sie zog ein bockiges Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. Bevor das Ganze von vorne anfing, mischte ich mich ein: »Worum geht es überhaupt?« »Caroline behauptet, dass du Leonardo geküsst hast.« Mit dem Finger machte er kreisende Bewegungen neben seinem Kopf. Mit noch immer bockig gesenktem Kopf grummelte sie: »Hast du! Im Bett.« Ich warf einen kurzen, fragenden Blick zu Leonardo, dann streckte ich die Hand nach ihm aus und legte sie sanft um seine Hüfte. Auch wenn es mir durch die Nervosität schwerfiel, erwiderte ich ruhig: »Das hat Caroline schon richtig gesehen.« »Ha!«, machte diesmal sie und imitierte dabei auch die Geste ihres Bruders. Dieser ignorierte das aber völlig und sah mich mit großen, erwartungsvollen Augen an, bis ich meine Erklärung fortsetzen konnte: »Ich hab Leonardo sehr gern und er ist mein Freund.« Unterstreichend legte ich kurz meinen Kopf gegen seinen. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass mir Leonardo ein verlegenes Lächeln schenkte. »Kommst du jetzt oft her?«, fragte Caroline sofort begeistert an ihn gerichtet, was er nickend bestätigte, auch wenn er noch ein wenig überfordert wirkte. Versichernd strich ich über seine Hüfte. So hatte ich mir das auch nicht vorgestellt, dass sie es erfuhren, aber es war wohl gut, es ihnen zu sagen. »Du Arschkeks! Leonardo ist unser Freund!«, brüllte mir Maxime plötzlich entgegen und sprang auf. Während er aus der Küche rannte, wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen. Vollkommen überfordert sah ich ihm nach. Mit dieser Reaktion hatte ich absolut nicht gerechnet. Ich war davon ausgegangen, er würde sich wie seine Schwester freuen, da sie Leonardo doch mochten. Gerade noch rechtzeitig merkte ich, dass Caroline seinen Ausdruck wiederholten wollte, und hielt sie mit einer Ermahnung davon ab. Dass ich es ihrem Bruder jetzt im Moment durchgehen ließ, weil er gerade überfordert war, hieß nicht, dass ich es generell erlaubte. Ein Zischen erinnerte mich daran, dass noch Milch auf dem Herd stand. Eilig schaltete ich ihn runter und machte den Kakao fertig. »Willst du nicht hinterher? Ich kann das auch fertig machen, wenn du mir sagst wie.« »Nein. Maxime soll sich erstmal beruhigen. Das bringt gerade nichts. Ich bring ihm nachher Frühstück und dann rede ich mit ihm.« Andernfalls hätte ich ihn auch für den Ausdruck bestrafen müssen und wie ich seinen Gerechtigkeitssinn kannte, tat er das, sobald er sich beruhigt hatte, schon von allein. Es dauerte noch einen Moment, doch Caroline war zum Glück in einem Alter, indem sie schnell wieder fröhlich war. Voller Begeisterung plante sie mit Leonardo, was sie den Tag über machen wollte, bevor er auch nur zugesagt hatte, dass er bleiben würde. Kapitel 38: Eloy – Januar 2017 III ---------------------------------- Ich balancierte das Tablett auf der einen Hand, während ich mit der anderen an der Zimmertür klopfte. »Maxime, machst du bitte auf?« Es dauerte eine Weile, dann öffnete er die Tür, verschwand aber sofort wieder im Inneren des Zimmers, ohne mich angesehen zu haben. Ich folgte ihm und stellte das Essen auf die Kommode neben dem Schreibtisch, da dieser gerade schräg gestellt war. Auf einer Holzkiste setzte ich mich Maxime gegenüber, ließ den Blick grob über den Spielteppich gleiten, auf dem ein halbgebauter Legokran stand. »Tut mir leid, dass ich vorhin böse war«, murmelte Maxime. Dabei drehte er sich auf seinem Stuhl leicht hin und her und starrte auf seine Hände. »Kommt nicht mehr vor.« Indem ich leicht über seine Schulter streichelte, brachte ich ihn dazu, mich doch anzusehen. Ich lächelte leicht. »Ist in Ordnung; wenn es wirklich nicht mehr vorkommt. Das Wochenende war nicht einfach für dich. Ich hätte auch nicht gewollt, dass du und Caro das so erfahren.« Es traten Tränen in seine Augen und er sah schnell wieder weg. »Du darfst nicht mit Leonardo zusammen sein.« Ich atmete tief durch. Ruhig und sachlich mit ihm reden, hatte mir Noemí geraten. Maxime war zwar noch ein Kind, aber dennoch in der Lage, ein Gespräch zu führen. »Maxime, das kannst du nicht entscheiden. Leonardo und ich haben uns sehr gern und wir verbringen gern Zeit miteinander.« Verärgert verschränkte er die Arme vor der Brust und sah mich trotzig an. »Aber Leonardo ist unser Freund! Du kannst ihn uns nicht einfach wegnehmen.« »Ich nehme euch Leonardo nicht als Freund weg. Er bleibt doch trotzdem auch euer Freund. Und ihr seht ihn dann noch viel öfter.« Absolut nicht überzeugt schüttelte er den Kopf. »Nein! Wenn Leonardo dein Freund ist, dann kann er nicht mehr unser Freund sein. Dann ist er für uns auch ein Erwachsener. Und er kann kein Erwachsener und unser Freund sein. Das war bei dir auch so! Du warst dann auch nicht mehr unser Freund.« Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich verstand, was er mir in seinen Worten mitteilen wollte, während er mich mit trotzig vorgeschobener Unterlippe ansah. Dabei wurde mir vor allem eines bewusst: Ich konnte ihm nicht widersprechen. Er hatte recht. Wenn ich mit Leonardo zusammen war, dann war er nicht länger ein Freund der Familie, mit dem sie den ganzen Tag Quatsch machen konnten, sondern eben mein Partner. Er würde irgendwann unweigerlich auch für ihre Erziehung mit verantwortlich sein, wenn es mit uns ernster wurde. Dass Maxime darauf so extrem reagierte, war nur verständlich: Er hatte Angst, einen Freund zu verlieren. Ich seufzte. Der Zeitpunkt war wirklich alles andere als ideal. Ich würde sehen, dass ich für ihn zeitnah einen Termin bei seiner Psychologin bekam, damit er noch einmal mit einer unbeteiligten Person über das Wochenende reden konnte. Das würde ihm hoffentlich helfen. »Ach, bichito¹ ... es tut mir leid. Das ist wirklich nicht mein Ziel.« Ich strich mit dem Daumen über seine Schulter und bot mit einer Geste an, ihn in den Arm zu nehmen, was er jedoch nicht annahm. »Willst du mit Leonardo darüber reden, dass du Angst hast, ihn als Freund zu verlieren?« Er schniefte und zuckte mit den Schultern. »Er will doch trotzdem lieber dein Freund sein.« »Leonardo kann unser beider Freund sein. Nur weil wir uns lieben, mag er dich nicht weniger. Wenn er euch nicht gern hätte, dann wäre ich auch nicht mit ihm zusammen. Du und Caro, ihr seid mir sehr wichtig und kommt für mich immer an erster Stelle. Was ich eigentlich sagen will: Ich kann nicht versprechen, dass sich nichts für euch ändert, das wird es. Aber das wird nicht von heute auf morgen passieren.« Und sicher nicht so stark wie es bei mir und ihnen der Fall gewesen war. Wir hatten uns kaum gekannt, ich war nur der Mann ihres Patenonkels gewesen, der ab und zu mal einen Nachmittag etwas mit ihnen unternommen hatte, und plötzlich hatte ich mich Vollzeit um sie gekümmert. Leonardo kannten sie seit dieser Zeit, hatten immer viel mit ihm zu tun gehabt, er hatte mir immer bei ihrer Betreuung geholfen. Selbst wenn er ihnen ebenfalls irgendwann ein Ersatzvater werden sollte, war die Umstellung nicht so groß. »Kannst du dir das gar nicht vorstellen? Ich meine, dass Leonardo mein Freund ist.« »Wohnt Leonardo dann hier?« Unweigerlich musste ich schmunzeln. So weit waren wir noch bei weitem nicht in unserer Beziehung, aber für Kinder lief die Welt wohl so schnell. »Zumindest haben wir das noch nicht geplant. Ich würde das auch nicht ohne euch entscheiden.« Sie waren Kinder, aber es war dennoch auch ihr Zuhause. »Aber Leonardo wird sicher öfter hier sein als vorher.« »Aber dann macht ihr etwas zusammen ...« Ich streichelte erneut über seine Schulter. »Eigentlich dachte ich, dass wir dann alle zusammen etwas machen können. Wäre das nicht viel schöner?« Er sah halb hoch und es bildete sich trotz der feuchten Augen ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen, als er nickte. Ja, doch, ich konnte mir das auch sehr gut vorstellen. Wir hatten das zwar schon oft gemacht, aber es wäre doch etwas anderes, da hatte Maxime recht. Wir würden es als Familie machen. Nicht, dass ich Leonardo, Toby und Roger nicht schon lange dazu zählen würde. Gelegentlich nannten die Kinder die letzteren beiden auch Onkel. Aber vielleicht half es Maxime, diesen Gedanken auch für ihn auszusprechen. »Dann müssen wir auch nicht mehr fürs Familienticket lügen, wenn wir irgendwohin fahren.« Er kicherte kurz und wischte sich dann mit dem Unterarm über die Augen. »Wäre das nicht irgendwie cool? Wenn Leonardo nicht nur unser Freund wäre, sondern auch noch Teil unserer Familie?« »Schon irgendwie.« Noch immer leicht verunsichert sah er mich nur halb an. »Aber wenn Leonardo dann richtig streng wird?« »Hm ... das glaube ich nicht. Aber vielleicht solltest du darüber mit ihm reden?« Ich hielt es wirklich für eine gute Idee, dass Maxime Leonardo direkt sagte, was seine Ängste waren. Ich hatte das Gefühl, er würde ihm viel mehr glauben als mir, dass die Veränderungen nicht so schlimm und drastisch waren, wie er sich das gerade ausmahlte. »Na gut ...« Vorsichtig strich ich über seine Haare. »Geht es dir mittlerweile besser?« Er nickte und lehnte sich leicht gegen meine Hand. Ich stand auf, nahm die Zweite dazu und küsste ihn auf den Scheitel. »Soll ich dann mal schauen, ob Caro ihn gehen lässt, damit ihr ein wenig reden könnt? Und du frühstückst in der Zeit?« »Ich hab nicht viel Hunger.« »Versprichst du mir, es trotzdem zu versuchen? Wenigstens den Kakao?« Sofort glitt sein Blick zum Tablet und er nickte. Lächelnd fuhr ich seinen Schreibtisch in die Horizontale und stellte das Essen darauf. Natürlich hatte ich nur sein Lieblingsessen draufgepackt, da mir schon klar war, dass er wenig Appetit hatte. Trotzdem wollte ich wenigstens ein wenig Essen in ihn reinbekommen. »Gracias, Eloy.« Seine Hände griffen nach meinem Arm und er drückte sich dagegen. Ich legte den zweiten um ihn und meinen Kopf leicht auf seinen. »De nada, bichito. Ich hab dich lieb und möchte, dass es dir gutgeht. Ich bin sicher, das wird alles viel schöner, als du es dir gerade vorstellen kannst.« Für einen Moment beunruhigte mich die Ruhe im Rest der Wohnung, als ich aus Maximes Zimmer kam, doch ein kurzer Blick durch die offene Tür von Carolines Zimmer offenbarte mir, dass sie dicht neben Leonardo am Boden saß und beide sehr vertieft in einen Faden waren, den sie immer wieder um ihre Finger wickelten und dann darüber zogen. »Was macht ihr?« »Leonardo zeigt mir stricken!«, erklärte Caroline begeistert und zog an dem verflochtenen Faden, der von den Fingern hing, um es mir zu zeigen. Dabei rutschte das ganze Gebilde von ihrer Hand. Enttäuscht sah sie darauf. »Oh! Jetzt ist es kaputt.« »Nein, du kannst einfach weiter machen. Moment, ich helf dir.« Leonardo beugte sich zu ihr rüber und half ihr, alles wieder auf den Fingern zu positionieren. »So, siehst du.« Begeistert nickte sie und sah dann wieder zu mir auf. »Machst du auch?« Ich bemühte mich, einen neutralen Gesichtsausdruck zu behalten. Sie musste nicht wissen, dass ich von dem Konzept nicht gerade überzeugt war. »Ich muss kurz mit Leonardo reden, dann komm ich zu dir.« Sie gab einen zustimmenden Laut von sich, klemmte die Zunge zwischen die Lippen und koordinierte den Faden wieder über ihre Finger. »Alles in Ordnung mit Maxime?«, fragte Leonardo, sobald er mit mir im Flur stand und ich Carolines Tür angelehnt hatte. »Ja. Er braucht wohl noch eine Weile, um sich daran zu gewöhnen. Er hat ein wenig Angst vor der neuen Situation und würde gern auch mit dir reden.« »Okay.« Leonardos Stimme verriet, dass er dabei unsicher war. »Aber er ist jetzt nicht ... keine Ahnung, wütend auf uns?« Ich zuckte mit den Schultern. »Nein, ich glaub nicht wirklich wütend, auch wenn es so aussieht. Eher wirklich Angst, weil er glaubt, du könntest nicht mehr sein Freund sein, wenn wir zusammen sind.« »Oh.« Mit wohl derselben Erkenntnis, wie ich sie zuvor hatte, wischte er mit der Hand über seinen Nacken. »Ich hab ihm schon erklärt, dass das alles nicht so schnell geht, wie er das wohl glaubt. Aber wenn es nach seinem Gefühl geht, dann würdest du wohl morgen hier einziehen und übermorgen heiraten wir.« Leonardos Wangen färbten sich rot und er wich für einen Moment meinem Blick aus. Was hätte ich dafür gegeben, nun seine Gedanken lesen zu können ... Ich griff nach seiner Hand und streichelte mit dem Daumen über seinen Handrücken. »Maxime würde sicher auch gern von dir noch einmal hören, dass sich nicht plötzlich alles ändert und du auch noch immer sein Freund bleibst. Und ich weiß, dass wir noch lange nicht so weit sind, aber: Ich möchte durchaus, dass du mein Partner bist und damit auch zu unserer Familie gehörst, aber ich möchte dir nicht aufzwingen, den Kindern auch ein Elternteil zu sein. Äh ... Können wir darüber vielleicht irgendwann nochmal in Ruhe reden?« Verlegen lächelte er. »Ja, bitte.« Gut. Ich merkte nämlich, dass ich mich da in eine Sackgasse geredet hatte und mir selbst nicht so ganz sicher war, was ich wollte. Das gab mir noch etwas Zeit, mir darüber im Klaren zu werden. Ich hauchte einen Kuss auf seine Wange. »Ich geh mir dann mal zeigen lassen, wie man strickt.« »Wenn du das gemeistert hast, zeige ich dir, wie es mit Nadeln geht.« Er grinste und zwinkerte mir zu, bevor er sich umdrehte, um zu Maxime zu gehen. Ich dagegen atmete einmal tief durch, erinnerte mich daran, dass ich es für Caroline tat und zwang mir dann ein Lächeln auf, bevor ich zurück zu ihr ins Zimmer ging. »Dann zeig mir mal, wie du strickst.« Kapitel 39: Eloy – Januar 2017 IV --------------------------------- Ich entwirrte gerade wieder das Wollknäuel, das sich um meine Finger gewickelt hatte, als plötzlich ein rot-gelber Blitz durch die Zimmertür auf mich zugeschossen kam und sich mir entgegenwarf. Trotz seiner Geschwindigkeit schaffte ich es, mich aufrecht zu halten und legte die Arme um Maxime. Beruhigend streichelte ich ihm über den Kopf. »Ist wieder alles gut, bichito?« Eifrig nickte er. »Ja! Leonardo hat gesagt, dass er mein Freund bleibt. Aber auch dass er dich auch ganz, ganz doll lieb hat und ich ihn vorhin traurig gemacht hab.« Mit großen Kulleraugen sah er zu mir auf. »Lo siento. Ich mag nicht, dass ihr traurig seid.« »Ist in Ordnung, bichito. Manchmal passiert das, auch wenn wir das nicht wollen.« Ich drückte ihn fest an mich. Während Maxime seinen Kopf an mich drückte, sah ich zu Leonardo auf, der in der Tür stand, und versicherte mich mit einem kurzen, fragenden Blick, dass es ihm gut ging. Er lächelte mich kurz an und lenkte dann Caro ab, die etwas unsicher noch immer neben mir saß. Ich hatte mich etwas mit ihr unterhalten und versucht, ihr die Situation zu erklären, doch so ganz verstand sie es noch nicht. »Eloy?« Ich widmete mich wieder ganz dem Jungen auf meinem Schoß. Liebevoll streichelte ich über seine Wange. »Was ist?« »Du hast doch gesagt, dass wir jetzt auch viel mehr Sachen zu viert machen können ...« Lächelnd nickte ich, damit er weitersprach. Er hatte ganz sicher schon eine Idee. »Können wir in den Trampolinpark?« Bittend sah er mich an. Dabei war der Hundeblick nicht einmal nötig. Ich war froh, dass er nach diesem echt schlechten Wochenende von sich aus vorschlagen konnte, was ihm guttun würde. Außerdem hatten wir für uns drei eh einen Jahrespass, selbst wenn Caro noch nicht so viel dort machen konnte: Für ihren Bruder war es der ideale Stressabbau. Und mit einer zweiten Aufsichtsperson war es ziemlich entspannt. Dennoch wollte ich das nicht über den Kopf der beiden anderen hinweg entscheiden. »Caro, möchtest du Trampolinspringen? Und Leonardo möchtest du mitkommen?« Bei Caro war die Frage absolut überflüssig gewesen. Sofort wollte sie wissen, wie sie die Strickwolle von ihren Fingern bekam. Leonardo half ihr, nachdem er mir bestätigt hatte, dass er gern mitkam. »Hast du gegessen?«, wollte ich noch von Maxime wissen. Bevor er nicht etwas im Magen hatte, würde ich nicht losfahren. »Ein Toast. Und den Kakao.« »Kann ich dich überreden, noch einen zweiten Toast oder etwas Rührei zu essen?« Sein Gesichtsausdruck beantwortete die Frage. »Kompromiss: Wir packen etwas Obst ein und möchte, dass du bei jedem Trampolinwechsel ein Stück isst und etwas trinkst.« »Okay.« Das war zwar nicht gerade begeistert, aber ich konnte mich zumindest darauf verlassen, dass er sich an die Zusage halten würde. Und spätestens nach einer Stunde würden er und seine Schwester eh von ganz allein nach etwas zu essen fragen. »Gut. Dann geh dich anziehen. Ich helf Caro. Leonardo wärst du so lieb, das Essen vorzubereiten?« Caroline hatte ihr Köpfchen erschöpft gegen meine Schulter gelehnt und schlief schon fast. Sie hatte sich im Park komplett ausgepowert. Es würde heute keine Probleme geben, sie ins Bett zu bekommen. Ihr Bruder war ebenso müde, doch er hielt sich noch wacker wach. Langsam ging er neben Leonardo und hielt dessen Hand. »Liest du heute die Gute-Nacht-Geschichte vor?« »Ich ...« Etwas verzweifelt sah Leonardo zu mir. »Nein.« »Schade.« Maxime zog einen Flunsch. »Warum nicht?« »Weil ich heute nicht bei euch schlafe. Ich muss doch morgen auch wieder arbeiten und habe keine Sachen bei euch. Dann muss ich vorher noch nach Hause. Und das ist mir wirklich zu früh.« Sein Blick hatte sich nicht geändert. Es war ihm wirklich sehr unangenehm, Maxime einen Gefallen abschlagen zu müssen. Dieser nickte jedoch verstehend, wenn auch traurig. Erst wollte ich mich dabei nicht einmischen, doch die Freude darüber, dass Maxime nun doch danach fragte, ob Leonardo bei uns blieb, obwohl er noch am Morgen so abweisend reagiert hatte, siegte. »Wir können auf dem Weg auch bei dir vorbeifahren, damit du ein paar Sachen holen kannst. Und ich kann dich auch morgen zur Arbeit fahren. Ich muss erst später im Büro sein.« »Bist du sicher?« Noch immer wirkte Leonardo etwas überfordert, doch da leuchtete durchaus etwas Freude in seinen Augen auf. Ich lehnte mich zu ihm rüber und strich mit der Hand sanft über seinen Arm. »Ja. Ich würde mich sehr freuen.« Und da ich mich wegen der Kinder in den Innendienst hatte versetzen lassen, war es mit den Arbeitszeiten echt kein Problem. Ich musste die Zeit lediglich hinten ranhängen und dafür sorgen, dass Caroline währenddessen betreut war. Aber auch das würde schon gehen, wenn ich unsere Nachbarin fragte, mit deren Sohn sie in den Kindergarten ging und gut befreundet war. Glücklich lächelte Leonardo mich an. »Dann lese ich natürlich gern eine Geschichte vor.« Leonardo keuchte leise, als meine Finger über seine Seite wanderten, ich beantwortete es mit einem wohligen Brummen in seinem Nacken. Ich genoss die zusätzliche, unerwartete Nacht, die wir – nachdem die Kinder eingeschlafen waren – ungestört für uns hatten. Dennoch drängte in meinem Hinterkopf eine wichtige Frage: »War das heute für dich in Ordnung? Ich meine der Ausflug mit den Kindern und als mein Partner. Oder ging dir das zu schnell? War es unangenehm?« Er drückte den Rücken dichter gegen mich und griff meine Hand, um sie sich auf die Brust zu legen. Nur so halb drehte er das Gesicht zu mir, seine Stimme war träge und rau vor Müdigkeit. »Ich fand es wunderschön. Ich hatte immer geglaubt, dass ich das nie haben würde: eine eigene Familie – Kinder. Auch wenn ich das wollte. Und das heute ... Es war schon sehr nah an dem, was ich insgeheim immer erträumt habe.« Ein warmes Gefühl breitete sich von meinem Herzen ausgehend in mir aus. Ich hatte gewusst, dass er Maxime und Caroline liebte, aber von ihm zu hören, dass er zu unserer Familie gehören wollte, hatte ich so nicht erwartet. Dennoch machte es mich sehr glücklich. »Von mir aus können wir das gern wiederholen. Oder natürlich auch etwas anderes mit den beiden machen.« »Das würde mich sehr freuen. Und die Kinder sicher auch.« Ich schmiegte mein Gesicht gegen seinen Hals und hauchte einen Kuss darauf. »Ich habe aber auch nichts dagegen, wenn wir trotzdem auch noch ab und zu etwas zu zweit machen, wenn sie bei ihrem Vater sind.« Er lachte leise und drehte sich dann herum, um mich sanft zu küssen. »Ja, natürlich. Schließlich musst du doch in deinem Alter die freien Wochenenden genießen.« Eigentlich wollte ich ihn dafür boxen, doch ich war zu müde-faul. Stattdessen legte ich den Arm wieder um ihn und rutschte so nah wie möglich heran. »Wenn wir es jetzt nicht mehr vor den Kindern geheimhalten müssen ... wollen wir uns dann auch öfter treffen? Auch mal an den anderen Wochenenden oder unter der Woche? Also unabhängig von Unternehmungen?« Er rutschte sich noch einmal sein Kopfkissen zurecht, dann entspannte er sich. »Am Wochenende sehr gerne, aber unter der Woche weiß ich nicht so wirklich. Wenn es dann so spät wird und du mich noch nach Hause fahren musst ... Du kannst die beiden ja abends auch nicht allein lassen.« »Wenn ich ihnen vorher Bescheid sage, dann geht das. Zumindest für so kurze Zeit. Und ansonsten kannst du ja auch ein paar Sachen hierlassen für spontane Übernachtungen. Also, wenn du möchtest.« Er klang plötzlich deutlich wacher. »Ja! Sehr gern.« Ich grinste in mich hinein. Gut, dann war das geklärt. »Dann schlaf gut.« »Du auch.« Sanft streichelte Leonardo über meinen Arm. Es dauerte nicht lange, bis er eingeschlafen war und die Bewegungen aufhörten. Ich dagegen lag noch eine Weile länger wach, weil mich die Freude nicht sofort einschlafen ließ. Kapitel 40: Samsa – Februar 2017 -------------------------------- Brummend griff ich nach meinem Handy. Was zur Hölle? Es musste noch mitten in der Nacht sein. Mir blieb jedoch keine Zeit, nach der Uhrzeit zu sehen. Sobald klar war, dass Tino mich anrief, nahm ich ohne weitere Verzögerung ab. »Was ist passiert?« Kerzengerade saß ich im Bett und lauschte auf die lauten Hintergrundgeräusche. Nein, das klang nicht nach einer Party, also vermutlich kein betrunkener Anruf. Ein Hosentaschenanruf? »Isaac?«, hörte ich Tinos Stimme nach einer Weile, in der auch die Hintergrundgeräusche etwas abgenommen hatten. Er klang ... erschöpft? »Ja, ich bin dran. Was ist los?« Hatte er mich beim ersten Mal nicht gehört? »Isaac, bist du zu Hause? Kann ich ... Verdammt, vergiss es!« Er machte ein Geräusch, bei dem ich nicht einordnen konnte, ob er weinte oder Schmerzen hatte. Das machte mir neben seinem Gestammel noch viel mehr Angst. So hatte ich ihn bisher nicht erlebt. Unruhig stand ich auf und lief im Zimmer auf und ab. »Tino, hey! Was brauchst du?« »Nichts, schon gut. Du hast deutlich klar gemacht, dass du mich nicht bei dir haben willst. Ich ... Ich hab nicht nachgedacht. Du bist mir nur als zweites eingefallen, weil Nick gerade im Urlaub ist. Tut mir leid, ich hätte nachdenken sollen, bevor ich anrufe. Gute Nacht. Ich meld mich morgen oder so.« »Tino, stopp! Nicht auflegen!« Im Hintergrund hatte ich etwas gehört, was mir in Verbindung mit seinem Gestammel wirklich Sorgen machte: Sirenen. »Hör zu: Fahr mit der T zum Roxbury Crossing. Ich hol dich dort ab.« »Nein, schon gut. Ich find eine andere Lösung.« Ich seufzte. »Tino, komm schon. Du brauchst eine Unterkunft für die Nacht, oder? Deshalb hast du angerufen. Du kannst bei mir bleiben.« Diesmal klang er schon etwas besser, widersprach aber trotzdem: »Aber du willst nicht, dass jemand zu dir in die Wohnung kommt.« »Gerade biete ich es dir aber an. Du musst wirklich keine Angst haben, das anzunehmen.« Ich konnte mir das Schmunzeln nicht verkneifen. Selbst jetzt noch dachte er an meine Gefühle. Aber das war wirklich kein Problem. Nicht bei ihm. Die Erleichterung war ihm deutlich anzuhören. »Danke.« »Wir sehen uns gleich. Und sei bitte vorsichtig.« Nervös lief ich in meiner Wohnung auf und ab. Natürlich hatte Tino um diese Zeit vor der verschlossenen Bahnstation gestanden. Daher wartete ich nun, dass er mit dem Taxi bei mir ankam. Doch er ließ sich wirklich Zeit. So lang war der Weg doch auch nicht. Noch einmal ging ich im Kopf durch, ob ich alles getan hatte, was mir möglich war. Ich hatte die Couch für Tino fertig gemacht, falls er direkt schlafen wollte, hatte alle Küchenschränke nach essbaren Snacks abgesucht und tatsächlich ein paar gefunden, außerdem hatte ich noch etwas Tee gefunden, konnte ihm also auch das oder Kaffee anbieten, falls er es brauche. Was tat man sonst noch in so einer Situation? Mir blieb keine Zeit mehr, mir weiter darüber Gedanken zu machen. Es klingelte und ich hastete zur Tür, um Tino hereinzulassen. Da mal wieder der Türöffner kaputt war, musste ich bis nach unten laufen. Tino sah müde aus, völlig erledigt und in sich zusammengesunken. Es lag kaum Körperspannung in seiner Haltung. Mit einem »Hey« zog ich ihn fest an mich. Er ließ sich gegen mich fallen und ihm entrang statt einer Antwort ein erschöpftes Seufzen. Nur sehr leicht legten sich seine Arme um mich. Ein leichter Brandgeruch hing in der Perücke, vermischte sich mit einem Hauch Alkohol und Weed. In Verbindung mit den Hintergrundgeräuschen beim Telefonat und der Kleidung, die er trug, konnte ich mir etwa ausmalen, was passiert war. Nach einer Weile ließ ich ihn los, stellte dabei sicher, dass er auf eigenen Beinen stand. »Komm mit hoch.« Seine Reaktion bestand lediglich aus einem Nicken. Langsam stapfte er hinter mir die Treppen hoch. In meiner Wohnung angekommen, wollte er sich direkt auf die Couch fallen lassen, doch ich hielt ihn auf. »Gib mir mal deine Klamotten. Ich wasch sie für dich.« Wieder folgte er stillschweigend der Aufforderung, setzte sich dann auf die Kante der Couch und zog die Decke über sich. Ich brachte Tinos Sachen nur ins Bad, da ich die Waschmaschine um die Zeit nicht mehr anstellen wollte und auch nicht bei allen Klamotten wusste, ob ich sie einfach so dort reinwerfen konnte. Die Perücke hing ich behelfsmäßig über die Duschstange. Dann durchsuchte ich meinen Schrank im Schlafzimmer nach liegengebliebenen Sachen meiner Freunde, die Tino passen könnten. Während der ganzen Zeit ging mir Tinos leerer Blick und sein fragloser Gehorsam nicht aus dem Kopf. Ich kannte diese Reaktion von mir selbst, doch es war schwer auszuhalten. Sobald er gemerkt hatte, dass ich mich um ihn kümmerte, hatte etwas in ihm abgeschaltet und verließ sich darauf, dass ich das Richtige tat. Er hatte nicht einmal protestiert, als ich ihm sagte, er sollte sich ein Taxi nehmen. Hätte ich gewusst, dass er vorher auf einer Party war, hätte ich ihn abgeholt. Es half nichts. So sehr es mich auch ärgerte, nun war es geschehen. Tino war angekommen und ich konnte nur hoffen, dass unterwegs nichts passiert war. Wie vermutet fand ich nur ein paar Shirts von Lance und Roger, doch es war besser als nichts. Bis Tinos Sachen gewaschen waren, würde es reichen. »Ich hab hier noch ein Shirt von Roger, falls du dir etwas überziehen möchtest.« Ich hielt es ihm hin. Er nickte und zog es über. Zwar war es etwas eng um seine Brust, aber das schien ihm nichts auszumachen. Vielleicht dachte er morgen schon anders darüber ... »Möchtest du noch etwas Trinken? Oder essen?« »Wasser«, kam die knappe Antwort mit heiserer Stimme. Es war nicht viel, aber es machte mir Hoffnung, dass Tino nicht ganz abgeschaltet hatte. Ich holte ihm eine Flasche aus dem Kühlschrank und stellte sie ihm gemeinsam mit einem Glas auf den Tisch. Für einen Moment sah ich Tino einfach nur an, der sich nicht rührte, dann entschied ich, ihn zumindest etwas zum Reden zu bringen. Jedoch so wenig wie nötig. »Möchtest du schlafen? Oder etwas schauen?« Er sah kurz nach links und rechts neben sich auf der Couch, als wäre ihm gerade erst aufgefallen, wo er war, dann sah er zu mir. »Schlafen ... vielleicht; wenn es geht.« »Ja, du siehst aus, als könntest du das gebrauchen.« Ich lehnte mich zu ihm vor, strich durch seine Haare und als er mit leeren Augen zu mir aufsah, küsste ich ihn leicht. »Das Bad ist ganz am Ende des Flurs. Mein Schlafzimmer ist links davon, falls du noch was brauchst. ... Du darfst aber auch gern an alle Schränke gehen, wenn du was suchst.« Er legte seine Hand auf meine, die ich gerade von seiner Wange nehmen wollte, und hielt sie leicht fest. »Kannst du noch eine Weile hierbleiben? Vielleicht, bis ich eingeschlafen bin?« »Ja.« Ich wartete, dass er sich hingelegt hatte, dann setzte ich mich auf die Armlehne an seinem Kopfende. Sanft kraulte ich durch die Haare an seiner Schläfe und lauschte seinem Atem. Es dauerte gar nicht so lange wie befürchtet, bis Tino einschlief. Vermutlich half der Alkohol. Erst als ich sicher war, dass Tino davon nicht wieder aufwachte, stand ich auf. Vorsichtig deckte ich ihn noch einmal richtig zu, bevor ich mich auf den Weg in mein Schlafzimmer machte. Die Türen ließ ich dabei nur angelehnt. Er sollte kein schlechtes Gewissen haben, mich notfalls zu wecken. Kapitel 41: Eloy – August 2018 ------------------------------ »Hilfe! Eloy! Eloy, hilf mir!« Von dem lachenden Kreischen geweckt, öffnete ich brummelnd die Augen. Und schloss sie sofort wieder. Die Sonne brannte und machte mich halb blind. Doch Leonardo hörte nicht auf zu kreischen. Ganz im Gegenteil es wurde sogar noch lauter. Außerdem wurde es vom Quietschen der Kinder, Tobys und Rogers Gelächter und Diegos Bellen begleitet. Neugierig schirmte ich mein Gesicht mit dem Arm ab und sah nach, was sie für einen Unsinn trieben. Toby und Roger hatten Leonardo an jeweils einem Arm und Bein gepackt und hielten ihn über den aufblasbaren Pool, während Maxime abwechselnd versuchte, ihnen ein Bein wegzuziehen, und Caroline aufgeregt quietschend um sie herumrannte und lediglich einmal Roger in den Rücken fiel, in der Hoffnung, ihn ins Stolpern zu bringen. Um sie alle zog Diego seine Kreise und kläffte, unsicher ob es sich um Spiel oder eine Gefahr für seine Herrchen handelte. Doch weder die Bemühungen der Kinder noch sein Geschrei und Gestrampel halfen Leonardo. Langsam näherte sich sein Körper der Wasseroberfläche, bis sie ihn letztendlich losließen und er nur noch das Wasser aufwirbelte. Rasch entfernte sich das Paar, wobei sich Toby Diego schnappte und ihn aus der Gefahrenzone brachte, und überließ es den Kindern, sich vollspritzen zu lassen. Diese wechselten auch sogleich das Lager, sprangen ebenfalls in den Pool und spritzten zurück. Nun konnte ich doch nicht mehr an mich halten und lachte schallend mit. »Was hat er angestellt?«, fragte ich, als Toby an mir vorbei kam. Roger war direkt ins Haus gegangen. »Er meinte mal wieder, wegen unseres Alters aufmucken zu müssen. Da dachten wir, wir zeigen ihm mal, zu was zwei ›alte Knacker‹ noch fähig sind.« »Geschieht ihm recht.« Langsam sollte Leonardo eigentlich wissen, dass er die beiden nicht mit ihrem Alter aufziehen sollte; und von mir dafür auch keine Unterstützung erwarten. Immerhin waren die beiden etwas jünger als ich, wenn auch nur um ein, zwei Jahre. »Was höre ich da? Verräter!«, rief Leonardo vom Pool herüber, wobei die Worte durch sein ausgelassenes Lachen kaum zu verstehen waren. Außerdem hatte er alle Hände voll zu tun, sich Maxime und Caroline vom Hals zu halten. »¡Te quiero también sweetheart!«¹ Das hielt ihm zumindest Maxime für einen Moment vom Hals, der sich ganz seinem Alter entsprechend gespielt den Finger in den Mund schob und Kotzgeräusche machte. Caroline dagegen ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und nahm meinen Freund vollends in Beschlag. Entspannt lehnte ich mich wieder zurück und schloss die Augen. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis Leonardo aus dem Wasser durfte. Erschrocken schreiend riss ich sie wieder auf, als mich ein ganzer Schwall kalten Wassers traf. Hämisch grinsend stand Leonardo über mir und wrang das Shirt über mir aus, das er zum Schutz gegen die Sonne getragen hatte, bevor er damit im Wasser landete. Ich hatte nicht einmal Zeit, mich zu beschweren, da traf mich ein viel größerer Schwall und direkt noch einer. Empört jaulend kam Chico unter meiner Sonnenliege, wo er bisher gedöst hatte, hervorgekrochen und schüttelte sich einige Meter entfernt aus, bevor er sich einen sonnigen Platz auf der Veranda suchte. Kichernd rannten Caroline und Maxime mit ihren Eimern, die sie aus sicherer Entfernung auf mich geschüttet hatten, zurück zum Pool. Leonardo, der sich rittlings auf meine Hüfte setzte, hinderte mich daran, ihnen hinterherzurennen. Außerdem hatten sie so Gelegenheit, noch eine weitere Fuhre über mir auszuleeren. »Na, lachst du jetzt immer noch?« Schelmisch funkelte Leonardo mich an. Kräftig packte ich seinen Hintern, zog ihn dicht an mich und richtete mich so weit auf, ihm ins Ohr raunen zu können: »Dir ist hoffentlich klar, dass du das heute Abend bitter bereuen wirst, Schätzchen.« »Ganz sicher nicht«, raunte er zurück und seine Stimme ließ einen Schauer über meinen Rücken wandern. »So, das reicht. Genug Wasser verschwendet. Heute wird nicht mehr nachgefüllt«, spielte Roger den Spielverderber, als er aus dem Haus kam. Er genierte sich überhaupt nicht, dass Leonardo und ich uns gerade in einer eher ungünstigen Position befanden, und legte meinem Freund im Vorbeigehen ein frisches Handtuch auf die Schulter. Dieser trocknete sich halbwegs ab und ließ dann beim Aufstehen das Handtuch wie zufällig auf meine Hüfte fallen. Dabei flüsterte er mir zu: »Te amo.« Kapitel 42: Roger – Oktober 2018 -------------------------------- Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. Da ließ ich Toby gerade mal zwei Minuten allein, um uns etwas zu Trinken zu holen, und schon hing ihm ein süßer Kerl am Hals; im wahrsten Sinne des Wortes. Ein etwas kleinerer, schwarzhaariger Kerl, vielleicht Mitte 30 stand auf Zehenspitzen und hatte seine Arme hinter Tobys Hals verschränkt. Grinsend sah er zu ihm auf. Im ersten Moment hatte ich ihn für Isaac gehalten, doch die Klamotten passten nicht. Selbst im Rainbow trug Isaac immer seine Gruftiklamotten. Außerdem trug er seine Haare schon lange nicht mehr so lang, sie zu einem Pferdeschwanz binden zu können. Wie zu erwarten, lächelte Toby zu dem Kerl runter und wehrte sich nicht im Geringsten, so vereinnahmt zu werden. Es war eindeutig nicht ihr erstes Aufeinandertreffen. Ich ließ mir etwas länger Zeit mit den Getränken und wartete, bis Toby sich irgendwann suchend nach mir umsah. Erst nachdem er mir ein Zeichen gegeben hatte, dass ich nicht störte, ging ich zu ihm. Der junge Mann bemerkte mich erst, als ich schon fast neben Toby stand, und löste sich von ihm. Mit leicht schiefgelegtem Kopf sah er mich an. »Hi. Ich bin Roger«, stellte ich mich ihm vor und hielt ihm meine Hand entgegen. Als könnte er im ersten Moment nichts mit meiner Hand anfangen, sah er sie etwas verwirrt an, bevor sein Blick kurz auf Tobys Hand huschte. Sofort wandelte sich die Verwunderung in ein ehrliches Lächeln und er musterte mich als Ganzes aufmerksam. »Hi. Richard. Oder Ricky. Sorry, ich wusste nicht, dass Toby heute mit seinem Partner hier ist.« Ich nickte ihm ruhig zu und musterte ihn meinerseits. Ja, doch, er war definitiv Tobys Typ. Etwas schmächtig, klein und clever. Denn Toby hatte definitiv nicht vorher von mir erzählt, sonst hätte er auf meine hochgezogene Augenbraue nicht mit einem leichten Kopfschütteln reagiert. »Ich denke mal, ich lass euch besser allein, oder?« Er sah kurz fragend zu Toby, dann wieder zu mir. Es brauchte nur einen kurzen Blickwechseln zwischen uns, um Toby deutlich zu machen, dass ich nichts dagegen hatte, wenn Ricky blieb. Wir hatten für den Abend nichts Besonderes vor und wenn Toby die Anwesenheit des jungen Mannes genoss, war mir das recht. Toby legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wenn du magst, kannst du dich zu uns setzen.« »Sicher?« Misstrauisch betrachtete er ihn. »Also ich meine: Klar gern, wenn ich euch nicht störe.« »Nee, tust du nicht. In unserem Alter lernt man, die Anwesenheit junger Männer sehr zu schätzen.« Ich setzte mich an einen freien Tisch. »Nur für ein Getränk musst du selbst gehen oder Toby überreden. Ich dränge mich nicht noch einmal durch die Massen.« Mir gefiel, dass Ricky eindeutig darüber nachdachte, ob er es bei Toby versuchen sollte, es dann jedoch bei einem Lächeln und »bin gleich wieder da« beließ. Er wäre auf jeden Fall erfolgreich gewesen und das war ihm wohl auch mehr als bewusst. Da hatte sich Toby wirklich ein ganz besonderes Sahnestück geangelt. Als mein Mann sich mir gegenübersetzte, lächelte ich ihn schelmisch an. »Na, Planänderung für heute?« Für einen Moment wiegte er den Kopf überlegend hin und her und sah Ricky kurz nach, dann schüttelte er jedoch den Kopf. »Nein, heute nicht.« »Okay. Sag, wenn du es dir anders überlegst.« Wie immer, wenn mir Tobys Affären sympathisch waren, hatte ich kein Problem damit, generös zu sein. Ich wusste, dass ich ihm wichtig war, egal wie viel Zeit wir zusammen verbrachten, und wenn ich seine Zeit wirklich wollte, würde er sie mir geben. »Klar.« Er griff nach meiner Hand und drückte kurz zu. Ricky gähnte und drückte sich dichter in Tobys Arme, sodass dieser fast stolperte. Schmunzelnd und kopfschüttelnd schob er den jungen Mann auf unseren Tisch zu. »Wollen wir den Abend für heute für beendet erklären?«, schlug ich vor, als sie bei mir ankamen. Ricky sah wirklich erledigt aus und das lag nicht einmal am Alkohol. Er hatte sich bei den paar Malen, die er mit Toby tanzen gegangen war, vollkommen verausgabt. Ricky gähnte erneut und nickte. »Ja, ich sollte langsam nach Hause. Danke für den schönen Abend.« Er lächelte uns beide zufrieden an. »Ebenso«, gab ich ehrlich zurück. Ricky war wirklich angenehme Gesellschaft. Ziemlich niedlich, aber überhaupt nicht schüchtern. Wir hatten uns über alles mögliche unterhalten; unsere Jobs, ein wenig Politik, Tobys Vorlieben und wie man ihn etwas ärgern konnte, absolut Alltägliches. »Wollen wir schon was ausmachen, wann wir uns sehen, oder schreibst du mir?«, fragte Toby schnell, bevor sich Ricky aus dem Staub machen konnte. »Bei mir ist der Plan nächste Woche schon ziemlich voll.« Für einen Moment war ich nicht sicher, ob Ricky wirklich so viel zu tun hatte oder Toby vertrösten wollte, denn er sah sich unsicher im Raum um. Dann schlug er vor: »Es geht nur noch Dienstag.« »Ah, schade. Da bin ich schon mit Roger verabredet. Es ist der erste Spieltag der Saison, der gehört schon immer fest in den Plan.« Toby sah dabei nicht einmal zu mir, um nach einer Ausnahme zu fragen. Ihm war das genauso wichtig wie mir. »Erster Spieltag? Von ... Ah, ihr seid auch Basketballfans? Warum weiß ich davon nichts?!« Ricky schlug Toby anklagend gegen den Oberarm. Warnend sah Toby auf ihn herunter. »Weil du auch nie etwas gesagt hast.« »Du schaust auch gern?«, schaltete ich mich ins Gespräch ein. »Ja, sicher. Ich muss doch unsere Heimmannschaft moralisch unterstützen!« Toby schnaubte halb scherzhaft, halb verächtlich, während ich bestätigend nickte. »Hör nicht auf Toby, der ist n alter Yankee.« Ricky rückte etwas von Toby weg und sah ihn abschätzig an. »Wirklich? ... Na ja, du hast andere Qualitäten.« »Hey!« Mit offenem Mund suchte Toby bei mir Unterstützung, doch ich konnte bei seinem empörten Ausdruck nur lachen. Nachdem ich mir die Lachtränen aus den Augenwinkeln gewischt hatte, bot ich an: »Dienstag spielen die Celtics. Wenn du magst, komm doch vorbei. Und wenn ihr wollt, könnt ihr ja nach dem Spiel nach oben.« Im ersten Moment wirkte Ricky überrascht, doch dann lächelte er. »Klar, ich komm gern zum Spiel vorbei. Zusammen schauen ist immer besser. Und was meinst du mit ›nach oben‹?« »Ah, die Wohnung, in der wir uns letztens getroffen haben, ist über unserer Wohnung«, erklärte Toby. Ich nickte bestätigend. »Wir trennen das gern ein wenig, wenn du verstehst?« »Ja, sicher.« Ricky lächelte aufrichtig. »Ich weiß nicht, ob ich darauf dann Lust hab, aber wie gesagt, für das Spiel komm ich auf jeden Fall vorbei. Und ich weiß ja dann auch, wo ich hinmuss.« Er zwinkerte mir grinsend zu. »Gut, dann bis Dienstag«, verabschiedete sich Toby endlich und umarmte ihn noch einmal. Bevor ich mir etwas überlegen konnte, legte Ricky mir einfach seine Arme um den Torso. »War schön, dich kennenzulernen. Ich freu mich auf Dienstag.« Ich erwiderte die Umarmung. »Ich auch.« Kapitel 43: Roger – Juni 2019 I ------------------------------- »Brauchst du Hilfe?« Toby richtete sich etwas auf und hielt mir die Hand hin, um mir über ihn und Ricky hinwegzuhelfen, zurück auf den Platz, an dem ich vor dem Toilettengang gelegen hatte. Mit einem Kopfschütteln verneinte ich. »Wenn ihr etwas rutscht, bleib ich auf der Seite.« Obwohl ich mit Toby redete, hielt ich den Blick gespannt auf Ricky gerichtet. Bei Toby wusste ich, dass es für ihn in Ordnung war, ich hatte mich im Vorfeld bei ihm versichert. Doch war es Ricky auch recht? Tatsächlich war er es, der Toby etwas schob, damit dieser endlich Platz machte. Toby gab mir das Kissen, auf dem ich vorher gelegen hatte rüber. Dabei warf er mir einen langen Blick zu. Für ihn war mein Vorhaben nicht nur in Ordnung, er brannte geradezu darauf. Langsam legte ich mich hinter Ricky, dessen Kopf und halber Körper auf Toby ruhte, wie ich es vorhin auch noch getan hatte. Vorsichtig legte ich meine Hand auf seine Hüfte, ließ ihm Zeit, zurückzuweichen, bevor ich dichter kam. Ich hatte genau Isaacs Stimme im Kopf, dass er sich zwar nie gezwungen, aber gerade zum Anfang oft überrumpelt gefühlt hatte. Ricky war zwar deutlich älter, als Isaac es damals gewesen war, und hatte sehr viel mehr Erfahrung, dennoch wollte ich nicht, dass er glaubte, es müsse für ihn okay sein. War es aber wohl. Während Toby den Arm, der bisher um Rickys Schulter lag, ausstreckte, damit ich mein Kissen darauf legen und mich von ihm umarmen lassen konnte, rutschte Ricky so, dass sein Körper bequem an meiner Vorderseite lag. Er hatte genau die richtige Größe, dass ich über ihn hinweg den Film weitersehen konnte, der gerade aus der Werbepause kam. Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er sich so wohlfühlte, direkt meine Nähe zu suchen. Die Berührungen, die wir bisher geteilt hatten, waren vor allem freundschaftliche Umarmungen oder kurze Zusammenstöße gewesen, wenn wir beide mit Toby beim Fernsehen kuschelten. Die scherzhaften Küsse, als ich mich beschwerte, warum Toby von ihm Trostküsse bekam, wenn ich ihn beim Basketballschauen mit dem Kissen schlug, aber ich im Gegenzug nicht, zählte ich nicht. Das war konsequenzloses Rumgealber. Aus Angst, Ricky zu verschrecken, ließ ich meine Hand auf seiner Hüfte liegen, bewegte sie nicht. Dass ich seinen eigenen Geruch unter dem seines Deos riechen konnte, verlangte von mir schon genug Selbstbeherrschung. Dank des eher lustigen Films konnte ich mich immer mehr entspannen und es fühlte sich irgendwann ganz natürlich an, Ricky zwischen uns liegen zu haben. Erst am Ende merkte ich, dass er mit jedem Lachen etwas näher an mich gerückt war und nur noch mit dem Kopf auf Tobys Brust lag. Spätestens als Toby kurz auf Toilette ging, war klar, dass es seine bewusste Entscheidung war, mir so nah zu sein, schließlich blieb er liegen, obwohl das platztechnisch nicht mehr nötig war. Bevor ich mich entscheiden konnte, ob ich es wagte, ihn etwas zu streicheln, drehte er sich auf den Rücken. »Wollt ihr noch was schauen? Ich werd langsam müde und würd eher hochgehen.« »Du kannst auch unten bleiben, wenn du magst.« Ich wusste, dass ich ruhig wirkte, aber das war ich nicht. Alles in mir schrie ihn an, zuzustimmen. Im ersten Moment waren seine Augenbrauen skeptisch zusammengezogen, dann klärte sich seine Miene langsam und er schaffte es nicht mehr, das Grinsen zu verbergen. Der Schalk sprach aus seiner Stimme. »Wenn ich die Wahl habe, schlafe ich ja lieber in einem Bett statt auf einer Couch.« »Na was für ein Glück, dass wir hier unten auch eines haben.« Langsam schob ich meine Fingerspitzen unter sein Shirt und streichelte leicht über seine Haut. »Sogar eines, das groß genug für drei ist.« Er drehte sich mir zu, schob seine Beine zwischen meine, um mir nah zu bleiben, und sah nachdenklich von unten zu mir herauf, während seine Hand über meinen Arm strich. Irgendwann schüttelte er leicht den Kopf. »Ich halte das für keine gute Idee. Nicht, dass ich das nicht durchaus annehmen möchte, aber ich denke, ihr habt eure Gründe, warum ich mit Toby bisher hochgegangen bin. Ich mag mich nicht zwischen euch drängen.« »Ich fand dich zwischen uns eigentlich ganz angenehm.« Ich strich sanft über seine Wange, näherte mich seinem Gesicht etwas und raunte: »Und ich könnte mir noch viel mit dir zwischen uns vorstellen.« Ein Schauer lief durch seinen Körper und er drückte seine Hüfte dichter gegen meine. Er hatte also wohl auch so seine Vorstellungen; vielleicht nicht zum ersten Mal. »Wäre das wirklich okay?« »Ja. Hättest du Lust darauf?« Vorsichtig wiegte ich meine Hüfte gegen seine. »Ja, schon ...« Bevor er seinen Satz beenden konnte, küsste ich ihn. Keine Wenns und Abers. Wenn er das wollte, würde er das bekommen. Ich hungerte danach, ihn und Toby auf diese Weise zu sehen, wollte ihn spüren und hören. Schritte kamen ins Wohnzimmer, dennoch blieb es einen Moment still. Wie ich Toby kannte, sah er uns einfach nur zu. Auch er wollte das, war geradezu froh gewesen, als ich ihm den Vorschlag gemacht hatte, weil er selbst nicht wusste, wie er es ansprechen sollte. »Bleibst du, Ricky?«, fragte er dann. Erst als ich seine Lippen freigab, antwortete Ricky. »Ich glaub, Roger lässt mich nicht gehen.« »Gut so«, raunte Toby, beugte sich über mich und nahm Rickys Lippen in Beschlag. Mit einer Mischung aus Lust und Eifersucht, dass ich warten musste, bis ich das wieder tun konnte, sah ich ihnen zu. Dieser Mann gab sich Tobys Berührungen so hin, dass ich es kaum erwarten konnte, mehr zu sehen. Solange wanderten meine Hände über seinen Körper. Irgendwann entkam ihm ein leises, erregendes Keuchen und er löste sich von Toby. »Ich müsste kurz ins Bad.« »Na gut«, raunte Toby genauso erregt. »Treffen wir uns im Schlafzimmer?« Ricky nickte und gemeinsam sahen wir ihm nach, wie er sich aufrappelte und aus dem Wohnzimmer ging. Kapitel 44: Roger – Juni 2019 II -------------------------------- Es dauerte eine Weile, bis wir alle so weit waren. Nicht nur Toby und ich, sondern auch Ricky wollte sich noch kurz im Bad frisch machen, sodass wir die Gelegenheit nutzten, auch gleich die Hunde zu versorgen, denen Ricky wie immer noch ausführlich gute Nacht sagen wollte. Daher lag ich auch etwas angespannt und mit wild klopfendem Herz in Tobys Armen, während wir auf Ricky warteten. Toby streichelte sanft über meinen Arm. »Alles okay? Oder doch eher ein schlechtes Gefühl dabei?« Ich schmiegte mich dichter an ihn, strich sanft über seinen Bauch. »Ich bin nur etwas aufgeregt und überrascht, dass es wirklich geklappt hat.« Er lächelte und küsste mich auf die Stirn. Er war von Anfang an sicher gewesen, dass Ricky zustimmen würde. »Außerdem wäre es doch Verschwendung, das nicht zu nutzen.« Schmunzelnd deutete ich auf das leere Wasserglas und den Tablettenblister auf Tobys Nachttisch. Er lachte leise. »Das ist der Vorteil: Wir haben noch bis mindestens morgen Mittag Zeit, es zu nutzen.« Ich war nicht sicher, ob er nicht mitbekommen hatte, dass ich es nicht ganz ernst meinte, aber das war auch egal. Er hatte Recht: Wir hatten genug Zeit, auch wenn wir nicht mehr so spontan waren wie früher. Und gleichzeitig kannten wir genug andere Möglichkeiten, uns Lust zu bereiten, dass es nicht weiter schlimm war, wenn es spontan wurde. »War es eigentlich okay, dass ich ihn geküsst habe?« Ich glaubte zwar, die Antwort zu kennen, wollte aber sichergehen, bevor Ricky gleich zu uns kam. »Sehr okay. Sonst hätte ich nie gesehen, wie wunderschön er aussieht, wenn er sich hineinfallen lässt.« Toby küsste mich drängend und hauchte dann: »Tu es nochmal.« Ich schwang mich auf seine Hüfte und küsste ihn nun meinerseits. »Wenn du so darum bittest ... Sehr gern. Und ich will es auch sehen.« Die Badtür öffnete sich und ich drehte meinen Kopf, um Ricky ansehen zu können. Toby versuchte derweil, an mir vorbeizuschauen. Ricky hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich nach dem Frischmachen wieder anzuziehen. Stattdessen hatte er sich nur ein Handtuch um die Hüfte gewickelt und stand damit nun am Fußende unseres Bettes. Sein Blick ging kurz zwischen Toby und mir hin und her, dann wanderte er an mir auf und ab. Ich tat es ihm gleich, nahm jedes Detail in mir auf. Er war sehniger, als ich erwartet hatte. Er wirkte sonst schmächtig, aber nun konnte ich sehen, wie sich unter seiner Haut die Andeutung von Bauchmuskeln abzeichnete. Das war nett anzusehen. Außerdem war ich froh, dass er seine Haare mit mehreren Haargummis zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Es hätte sicher seinen ganz eigenen Reiz, wenn die schwarze Pracht seinen blassen Körper umrahmte, aber erfahrungsgemäß waren so lange Haare schon zu zweit oft im Weg, zu dritt war es ein Desaster. »Konntet ihr nicht mehr warten?«, fragte er mit einem schelmischen Grinsen und lief am Bett entlang, wobei er seine Hand leicht über meine Schulter streichen ließ. Auf halber Strecke löste er den Knoten des Handtuchs, welches sanft über seinen Hintern nach unten glitt. Toby streckte die Hand nach ihm aus und leitete ihn an, sich vor mich auf seinen Bauch zu setzen. Andächtig strich Toby über seine Flanken. »Uns war halt etwas langweilig ohne dich.« »Heißt das, Roger weiß nicht, was er hiermit anfangen soll?« Herausfordernd sah er zu mir auf, während seine Hand über Tobys unteren Bauch strich und sich langsam dem Bund der Unterhose näherte. »Er hat noch nicht einmal ausgepackt.« Ich griff vorsichtig nach seiner anderen Hand und legte sie mir auf die nackte Brust. »Ich hatte erwartet, dass du das übernehmen wollen würdest. Ich konnte doch nicht ahnen, wie ungeduldig du bist.« Ein halbes Lächeln zog über seine schmalen Lippen, während seine Hand recht zügig über meinen Körper nach unten wanderte. »Dann kennst du mich aber echt schlecht.« »Vielleicht.« Ich zwinkerte ihm zu. »Vielleicht hatte ich aber auch gehofft, dass du wenigstens im Bett etwas mehr genießen würdest.« Jeder einzelne Finger von Rickys Hand wanderte langsam meinen Bauch entlang. »Keine Sorge. Ich genieße; auf meine Art.« Da ich wenig dazu hinzufügen hatte, griff ich in seinen Nacken und zog sein Gesicht zu meinem heran. Gierig küsste ich seine Lippen, bevor ich in sein Ohr flüsterte: »Na dann mach dich mal an die Arbeit.« Von mir unbemerkt war seine Hand an meiner Unterhose angekommen und strich wie zur Antwort über meine ganze Länge. »So, du gibst hier also den Ton an? Warum bin ich nicht überrascht.« Eine Weile sah ich ihm zu, wie er mit je einer Hand mich und Toby über der Unterhose streichelte, während ich gelegentlich einen Blick über seine Schulter warf, um in das verzückte Gesicht meines Mannes zu blicken. Dessen Hände hatten sich eine Weile mit dem Rücken seines Lovers beschäftigt, waren mittlerweile jedoch zu den strammen Rundungen des Hinterns gewandert. Dann stand ich auf, zog meine Unterhose aus und stellte mich vor das Bett. Auffordernd sah ich Ricky an. »Was ist jetzt? Gerade warst du doch noch ungeduldig. Oder brauchst du erst eine Vorführung von Toby?« Verächtlich schnaubte er, schwang sich von Tobys Bauch und setzte sich direkt vor mich auf die Bettkante. Zielsicher schloss er die Faust um mein halb erigiertes Glied. Sein Daumen strich erkundend über die leicht verhärteten Narben am Eichelkranz wo früher die Piercings gesessen hatten. »Ich bin kein Anfänger und weiß, was ich tu.« »Übernimm dich nicht, Roger ist sehr anspruchsvoll.« Toby war auf Knien von hinten an Ricky herangerobbt. Erst küsste diesem so die Halsbeuge, dass ein hell-rosa Abdruck zurückblieb, und hielt ihm dabei ein verpacktes Kondom entgegen, dann senkten sich seine Lippen hauchzart auf meine Eichel und schlossen sich leicht darum. Ich genoss den angenehmen Schauer, dann legte ich meinem Mann die Hand unters Kinn und dirigierte es auf meine Höhe. »Lass den Jungspund mal machen, wenn er meint, er wüsste es besser.« »Hast recht.« Toby wartete, bis Ricky das Kondom ausgepackt und mir übergestreift hatte, dann griff er ihn am Nacken und drückte sein Gesicht in Richtung meines Beckens. Gehorsam öffnete Ricky den Mund, streckte die Zunge leicht heraus, um meinen Schaft daran entlanggleiten zu lassen, und sah dabei lasziv zu mir auf. Lange hielt der Blickkontakt nicht, da Toby ihn erst mit der Hand, dann mit seinem eigenen Becken dichter an mich drückte, während er mich drängend küsste. Mit wiegenden Bewegungen rieb er sich an Rickys Wange und beschränkte mit dem Knie an seinem Rücken gleichzeitig dessen Bewegungsradius. Nur gelegentlich schaffte ich es, einen erneuten Blick in Rickys Gesicht zu erhaschen, da Toby meine Aufmerksamkeit forderte, doch jedes Mal erhielt ich ein zufriedenes Lächeln. »Ich auch«, raunte Toby irgendwann und dirigierte Rickys Gesicht zu seinem Becken. Dieser küsste die Beule, die sich mittlerweile unter Tobys Unterhose abzeichnete, hingebungsvoll und ließ sich auch nicht ablenken, als ich einen Schritt vom Bett zurücktrat, um sie besser betrachten zu können. Jetzt wo er sich ohne Einschränkung bewegen konnte, wanderten seine Hände zu Tobys Oberschenkel, streichelten darüber und zogen immer wieder leicht an der Unterhose. Vorsichtig legte ich zwei Finger auf Rickys Knie, damit dieser mir seine Aufmerksamkeit schenkte. Erst als er sich von Toby abgewandt hatte, schob ich meine Hand ganz darauf und langsam seinen Oberschenkel hinauf. Mit der zweiten Hand fasste ich das Bein von Tobys Hose. »Soll die weg?« Zweifelnd zog er eine Augenbraue hoch, nickte dann aber. »Was bekomm ich dafür?« Ich war gespannt, was er anbieten würde, was er glaubte, was ich wollte. Und was er überhaupt bereit war zu tun. Er überlegte etwas, strich dabei mit je einer Hand über meine und Tobys Hüfte. »Du scheinst mir nicht der Typ, der sich mit Zuschauen zufriedengibt ...« Erheitert über die offensichtliche Feststellung schnaufte ich. Langsam beugte ich mich vor und raunte in sein Ohr: »Ganz sicher nicht.« Blitzschnell drehte er sich herum, fasste in meinen Nacken und presste seine Lippen auf meine. »Hey!« Nur einen Moment später schob sich Tobys Arm zwischen uns. Mit dem Unterarm drückte er Ricky von mir weg und auf das Bett. Schelmisch grinste dieser. »Was? Darf ich Roger jetzt nicht mehr küssen?« »So nicht!« Ich schmunzelte in mich hinein. Selbst ich fand Toby ziemlich sexy, wenn er so deutlich dominant wurde – solange er es nicht mir gegenüber wurde. Aber gerade wenn es darum ging, aufmüpfige Kerlchen in die Schranken zu weisen, konnte er das einfach deutlich besser als ich. Für einen Moment fühlte es sich an, als würde die Zeit stehenbleiben, während sie ein Blickduell ausfochten, bis sich Rickys Grinsen kurz verflüchtigte, doch dann schnell wieder auflebte. »Okay, okay! Roger ist der Boss – und ich werd nicht mehr versuchen, mir unfaire Vorteile zu holen.« Kaum hatte sich Toby mit einem ernsten Nicken zurückgezogen, drehte sich Rickys Kopf zu mir. »Mann, Mann, Mann, ich wusste ja, dass Toby dir aus der Hand frisst, aber ich wusste nicht, dass er auch dein Wachhündchen ist.« Ich bedeutete Toby mit einer kleinen Geste, zu mir zu kommen, und legte ihm dann eine Hand auf die Schulter. Liebevoll lächelte ich ihn an, obwohl ich eigentlich Ricky antwortete: »Toby ist für mich alles, was ich möchte.« Mein Mann schmuste mit der Wange gegen meine Hand, bevor er sie sanft küsste. »Jetzt übertreib nicht. Fast alles.« Lachend verdrehte Ricky die Augen. »Okay, darf ich dann jetzt deinem Hündchen einen blasen oder nicht?« Gern hätte ich ihm scherzhaft entgegnet, dass er die Hunde aus dem Spiel lassen sollte, doch ich verkniff es mir. Er wirkte langsam wirklich ungeduldig. Offenbar hatte ihn Tobys Zurechtweisung wirklich angegangen, auch wenn er es hinter dem Lachen verbarg. »Ich will mal nicht so sein. Es ist dein erstes Mal ... Wenn du es denn noch willst.« »Ja, verdammt! Natürlich will ich.« Ich schenkte ihm ein verstehendes Lächeln und widmete mich dann Toby, welcher sich nicht rührte, während meine Hand über seine Wirbelsäule hinunter bis zu seinem Hintern kratzte. Ausgiebig streichelte ich darüber, bevor ich ihn aus der Unterhose befreite. Sofort wollte sich Ricky aufrappeln, doch ich sah ihn streng an. »Bleib liegen!« Unter den gespannten Blicken der beiden Männer im Bett machte ich die wenigen Schritte zum Nachttisch und holte zwei Kondome aus der Schale, die ich ihnen zuwarf. »Wie wäre es, wenn du dich auch direkt bei ihm revanchierst, Toby?« Provokant leckte er sich über die Lippen und machte sich daran, das Kondom in seiner Hand zu öffnen. »Nur zu gern.« Während Toby damit und dem Schwanz seines Freundes beschäftigt war, schenkte ihm Ricky nicht einmal seine halbe Aufmerksamkeit. Stattdessen sah er mir nach, wie ich zum Wandschrank ging und dort in der Schublade mit weiteren Vorräten kramte, die nicht für zu Hause gedacht waren. Als ich gefunden hatte, was ich suchte, zeigte ich es ihm mit einem kurzen Zwinkern. Überrascht grinste er und deutete mit dem Finger fragend erst auf sich, dann auf Toby, welcher durch die Bewegung nun auch mich ansah. »Du natürlich. Mir hat da so ein Vögelchen gezwitschert, dass du das magst.« Langsam ging ich wieder zum Bett. Toby schüttelte den Kopf. »Jetzt entscheidet euch mal. Bin ich ein Hund oder ein Vogel?« Zärtlich küsste ich meinen Mann. »Beides. Hatten wir nicht schon festgestellt, dass du für mich alles bist? Und jetzt sieh mal zu, dass du fertig wirst. Du musst ihn immerhin hochhalten, damit ich rankomme.« Eilig machte sich Toby daran, erst Ricky, dann sich selbst ein Kondom überzustreifen. »Ihr könntet es auch einfacher haben, indem ihr mich nach oben lasst«, merkte Ricky an, als ich mich mit den Knien auf die Bettkante hockte und Toby seinen Hintern anhob. »Träum weiter«, erwiderte Toby trocken, schenkte ihm aber ein kurzes Lächeln. Wir brauchten etwas, doch letztendlich berührten nur noch Rickys Schultern und Kopf das Bett, während sich sein Rücken gegen meine Oberschenkel und meinen Torso lehnte. Toby musste nur seine Hände, die Rickys Hüfte hielten, etwas zu sich ziehen, damit dessen Hintern prachtvoll vor meinem Gesicht schweben würde, die Beine hielt Toby mir mit seinen Unterarmen aus dem Weg. Kurz versicherte ich mich, dass die Position für Ricky nicht zu unbequem war, dann nickte ich Toby zu. Mit einer flüssigen Bewegung platzierte dieser seine Knie neben Rickys Kopf und senkte sein Becken. Gierig leckte sich Ricky über die Lippen, während er Tobys Schwanz betrachtete, der hart über seinem Gesicht hing. »Ein Wunder der Medizin, nicht wahr?«, fragte ich scherzhaft und fing mir dafür einen strengen Blick von Toby. Schnell beugte ich mich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Ich liebe dich, auch wenn wir langsam alt werden.« »Alt und langsam!«, kommentierte Ricky ungeduldig und versuchte, Tobys Schwanz mit den Lippen zu erwischen. Endlich erfüllt mein Mann ihm den Wunsch, zog ihn noch einmal in die richtige Position und schob seinen Schwanz dann zwischen seine Lippen. »Vorsicht, er hat zwar immer noch eine große Klappe, aber so bekommt er sie nicht so voll«, flüsterte ich Toby zu. Dieser nickte, hauchte mir einen Kuss auf die Wange und beugte sich dann vor, um auch Rickys Schwanz in den Mund zu nehmen. Ich sah ihnen eine Weile zu, kostete aus, dabei so einen wundervollen Blick auf Tobys Gesicht zu haben. Wenn ich ihn nun so sah, fragte ich mich, wie ich jemals hatte glauben können, dass es schlecht war, wenn er sich in einen anderen Mann verliebte. Damals war ich wirklich ahnungslos gewesen, wie schön es wäre, wenn er sich einem anderen hingebungsvoll widmete, mich aber gleichzeitig aus den Augenwinkeln mit noch immer verliebten Blicken musterte und Bestätigung suchte, dass auch ich es genoss. Nebenbei fummelte ich das Lecktuch aus der Verpackung, wobei ich mir das Fluchen verkneifen musste, weil die Dinger noch fummeliger waren als Kondome. Doch das war es wert, besonders wenn Ricky so darauf stand, dass er Toby bereits danach gefragt hatte. Seitdem mir Mat vor Jahren vorgeschwärmt hatte, wie geil er das fand, war auch ich auf den Geschmack gekommen. Vorher hatte es zwar interessant geklungen, aber ich hatte es nie wirklich ausprobiert, weil ich keinen Mann in meinem Leben hatte, der wirklich darauf stand. Toby hatte schon früh klargemacht, dass er es nicht ausprobieren wollte, Isaac hatte es ebenfalls nicht gewollt und Mat war erst mit Eloy überhaupt auf die Idee gekommen, beziehungsweise hatte sich ihn nach so etwas fragen immer falsch angefühlt, weil er nicht unbedingt aus eigenem Verlangen zugestimmt hätte. Erst nach seiner Schwärmerei hatte ich aktiv nach einem Mann gesucht, bei dem ich es ausprobieren konnte. Wie sich herausstellte, hatte Mat zwar meiner Meinung nach in den Schilderungen etwas übertrieben, aber es war schon sehr geil. Erst recht, wenn der andere so intensiv reagierte wie Ricky. Schon als ich nur das Lecktuch auflegte, bildete sich eine leichte Gänsehaut auf Rickys Hintern und Schenkeln. Diese intensivierte sich, sobald meine Zunge ihn berührte. Toby und ich ließen uns Zeit, Ricky zu verwöhnen, befreiten ihn lediglich nach einiger Zeit aus der eher unbequemen Position. So lange es seine Geduld zu ließ, zögerten wir das Ende hinaus, pausierten immer wieder und wechselten uns ab, beschäftigten uns auch kurz nur mit einander und zwangen ihn in die Zuschauerrolle. Es war spannend, die Veränderungen bei Ricky zu sehen. Zuerst drängelte er noch, versuchte, uns zu reizen und anzustacheln, dann gab es eine kurze Phase, in der ich kurz dachte, abbrechen zu müssen, weil er komplett ruhig und fast schon bockig wurde, doch Toby signalisierte mir, dass alles im gewohnten Rahmen war, und schließlich begann Ricky lautstark zu betteln und sich uns anzubiedern. Flehend bot er insbesondere mir alles Mögliche an, wenn ich ihn doch endlich erlöste. So schnell ließ ich mich nicht überzeugen, doch letztendlich erfüllte ich ihm seinen Wunsch. Zufrieden und erschöpft lächelnd lag Ricky danach in Tobys Armen, kuschelte sich tief in die Berührung und wartete darauf, dass ich mich zu ihnen legte. Ich kroch vorgebeugt mit den Armen über das Bett bis zu ihnen, blieb jedoch am Bettrand stehen. Zärtlich küsste ich erst Ricky, dann über seinen Kopf hinweg meinen Mann. »Gleich, okay? Ich will noch eben ins Bad.« Rickys Hände streichelten über meine Schultern und Rücken, als ich mich von ihnen zurückzog und ließen mich fast schwach werden. »Aber beeil dich. Ich will mit euch beiden kuscheln.« »Mach ich.« Noch einmal schnellte ich vor, um ihn zu küssen und dabei fest an Toby zu drücken, bevor ich mich zügig ins Bad begab. Die Blicke der beiden folgten mir so auffällig, dass ich es mir nicht nehmen lassen konnte, mich ihnen bewusst zu präsentieren. Kapitel 45: Roger – Juni 2019 III --------------------------------- Die Morgensonne zauberte einen hypnotisierenden Schimmer auf Rickys Haare. Immer wieder wanderte mein Blick darüber. Am Schopf hielten sie sich noch recht gut im Zopf, doch bereits an den Schultern hatten sich einzelne Strähnen daraus gelöst und etwa auf der Mitte des Rückens schien eines der Haargummis verloren gegangen zu sein, sodass sich die Haare ausbreiteten und die Spitzen fast bis zu seinem Steißbein reichten. Und mit jedem weiteren Augenblick, jedem Mal, dass ich den Blick erneut von oben ansetzte, wurde der Klotz in meinem Magen schwerer. Zuerst verstand ich ihn nicht. Ich hatte mich beim Aufwachen darauf gefreut, Ricky zu sehen, der Anblick, wie er noch immer mit dem Gesicht gegen Tobys Brust gedrückt an meinem Mann gekuschelt lag, hatte dasselbe Knistern in meinem Bauch ausgelöst wie das Kuscheln am Vorabend, ein Gefühl, das sich schon in den letzten Wochen und Monaten angekündigt hatte. Doch nach und nach hatte es sich immer mehr zu einem Punkt zusammengezogen, war eher in ein dumpfes Summen übergegangen und lag nun seit einigen Minuten stumm und schwer da. Dann kam die Erkenntnis, das Bewusstsein, was hier passierte. Was wir diesem wundervollen Mann zwischen uns antaten. Endlich konnte ich den Blick lösen, musste es sogar tun. Stattdessen sah ich in das Gesicht meines Mannes, der im Schlaf selig lächelte. Ob es ihm auch noch bewusst werden würde? Also bevor ich es ihm sagt. Denn das musste ich; dringend. Wieder einmal würde ich der Vernünftige von uns beiden sein müssen, während er sich in seinen Gefühlen verlor. Ich hasste es, ihn enttäuschen zu müssen. Ricky zog meine Aufmerksamkeit wieder auf sich, indem er sich herumdrehte. Er sah noch immer müde aus, dennoch hatte er die Augen geöffnet und lächelte mich an. Ich rang mir eine Erwiderung ab, stand aber auf, als er Anstalten machte, dichter an mich heranzurutschen. »Ich muss mal ins Bad«, flüsterte ich, um meinen Mann nicht unnötig zu wecken. Da ein leicht fragender, aber auch enttäuschter Ausdruck über Rickys Gesicht wanderte, strich ich ihm sanft über die Schulter. Nein, es war nicht seine Schuld. Es waren Toby und ich, die nicht aus ihren Fehlern lernten. Da ich mir im Bad Zeit gelassen hatte, war das Schlafzimmer verlassen, als ich wieder zurückkam. Doch Tobys und Rickys Stimmen führten mich zielsicher ins Wohnzimmer, wo Ricky am Boden saß und mit Diego und Chico herumtollte, während Toby in der Küche Frühstück zubereitete. Ricky sollte also noch bleiben. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und machte mich auf den Weg in die Küche, um Toby zu helfen. Ricky blickte auf und grinste mich schelmisch an. »Kann ich ins Bad?« Ich nickte nur und sah ihm nach. Tobys Shirt, das er sich übergeworfen hatte, war ihm zwar viel zu groß, doch es bedeckte seinen nackten Hintern nicht wirklich, als er das Zimmer verließ. »Was ist los?« Toby kam um den Küchentresen herum und sah über die Schulter zu mir, während er Teller auf dem Tisch stellte. Ich ließ das Seufzen aus meinen Lungen frei, nahm Diego auf den Arm und ging auf meinen Mann zu. »Später, okay?« Aufmerksam legte er den Kopf schief und kraulte Diego hinter dem Ohr. »Bist du sicher?« »Ja, ist okay.« Es machte keinen Unterschied. Außer dass Toby glücklich darüber war, dass Ricky noch blieb. Ich beugte mich vor und gab ihm einen flüchtigen Kuss, während Diego ihm über die Wange schleckte. Nachdem Rickys Bahn abgefahren war, dauerte es eine Weile, bis Toby über den Parkplatz auf mich zu kam. Um den Hunden den Stress mit den Autos und Bussen am Bahnhof zu ersparen, hatte ich mich vorher von Ricky verabschiedet und etwas abseits gewartet. Toby nahm mir Chicos Leine ab und lief langsam los. »Also, was ist los? Du hast doch irgendwas, oder?« Ich schmunzelte, griff seine freie Hand und verflocht unsere Finger miteinander. Es war gruselig, dass er sowas mittlerweile erkannte. Noch vor zehn Jahren hätte er es übersehen. Und mir bereitete es noch immer Schwierigkeiten, es so direkt auszusprechen. Doch ich sah die Notwendigkeit. »Meinst du nicht, wir machen da einen Fehler?« »Was meinst du?« Er blieb an einer Ampel stehen. »Wir können Isaac nicht einfach so durch Richard ersetzen!« Das war nicht fair. Der Kleine hatte Besseres verdient; und Ricky auch. Während wir die Straße überquerten, deutete Toby mit fragender Miene einmal in Richtung Park und einmal in Richtung zu Hause. Nach einem Blick auf die Hunde deutete ich mit einem Kopfnicken nach Hause. Diego wäre sicher gern noch eine Weile gelaufen, aber Chico sah bereits erschöpft aus und wurde langsamer. Das Alter setzte seiner Hüfte zu. Toby schlug den angedeuteten Weg ein. »Ich bin nicht sicher, ob ich dich verstehe. Warum sollte es ein Problem sein, wenn wir uns mit Ricky treffen? Wann hast du Isaac das letzte Mal gesehen? Oder mit ihm gesprochen?« Ich schluckte. Ich wusste es nicht; wirklich nicht. Es war eine ganze Weile her. Eigentlich liefen wir ihm nur noch zufällig über den Weg. Er hatte mittlerweile sein eigenes Leben. Ich konnte nicht einmal sagen, wie dieses gerade verlief. »Das ist nicht der Punkt.« »Sondern?« Toby machte eine kurze Pause, ließ mir aber nicht genug Zeit zum Antworten. »Isaac wird immer einen wichtigen Platz in unseren Herzen haben; und in unserem Leben, wenn er das wieder möchte. Aber wir können ihm nicht ewig nachtrauern. Er hat seine Entscheidung getroffen. Er möchte keine Beziehung mit uns und wegen Caroline und Maxime auch nicht mehr zu uns kommen. Warum also sollte uns das hindern, unsere Nähe mit anderen zu teilen? Das haben wir immer getan.« »Ja, schon ...« Aber das mit Ricky war etwas anderes. Er war nicht eine unserer üblichen Affären, kein Zeitvertreib. Ricky war ... »Du hast dich in Richard verliebt, oder?« »Roger ...« Mit einem leichten Schmunzeln nahm Toby mein Gesicht zwischen seine Hände und näherte sich mir. Flüchtig sah ich mich um, bevor ich mich von ihm küssen ließ. Zärtlich strich er mir über die Wange. »Ich dachte, darüber sind wir schon lange hinweg. Glaubst du wirklich, ich könnte dir wegen einem Jungspund wegrennen?« Ich lächelte und machte mich aus seinem Griff frei, nahm wieder seine Hand. »Das meine ich nicht. Ich meine ... Fällt dir das nicht auf? Ricky darf und tut genau das, was Isaac immer getan hat. Du liebst ihn, ich ... ich weiß es nicht. Ja, ich mag ihn; sehr. Aber ich will nicht, dass er diesen Platz einnimmt. Ich will nicht, dass er uns so enttäuscht.« »Ist es das, wovor du Angst hast?« Tobys Daumen strich sanft über meinen Handrücken. »Ich kann das nicht noch einmal. Ich habe Angst, dass wir das nicht nochmal aushalten.« Tobys Finger verschränkten sich mit meinen und er drückte leicht zu. »Ich glaube nicht, dass das passiert. Dennoch: Wenn es dir damit besser geht, dann schreibe ich ihm, dass wir etwas Abstand wollen.« Dankbar lehnte ich mich leicht gegen seinen Arm. »Ja, bitte. Ich kann das nicht nochmal.« Traurig lächelnd nickte er. »Ist gut.« Kapitel 46: Roger – Juni 2019 IV -------------------------------- Die Türklingel, sowie Diego und Chico, die auf die morgendliche Störung reagierten, rissen mich aus dem Schlaf. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, mich anzuziehen, sondern ging nur mit Boxershorts zur Tür. Vor der Tür stand Ricky mit roten und vor Ärger zusammengekniffenen Augen und wollte sich an mir vorbeidrängen, als ich sie öffnete. Mit einer Hand hielt ich ihn auf. »Was willst du hier?« »Ich will mit Toby reden.« Ihm war klar, dass er keine Chance gegen mich hatte, deshalb versuchte er, wenigstens an mir vorbei in die Wohnung zu sehen. »Toby hat dir gestern geschrieben, dass wir dich erstmal nicht sehen möchten«, erinnerte ich ihn so emotionslos wie möglich. Dass er trotzdem hier auftauchte, machte mich wütend; gleichzeitig wollte ich ihn in den Arm nehmen, denn es hatte ihn offensichtlich getroffen. »Deshalb will ich mit ihm reden!« Ricky wurde deutlich lauter, jedoch nicht laut genug, um die Schlafzimmertür zu übertönen, die Toby öffnete und wieder schloss. Diesmal schrie er in genau diese Richtung: »Nach einem halben Jahr hab ich verdammt nochmal mehr verdient als eine scheiß feige Nachricht!« Toby tauchte neben mir auf und schob mich leicht zur Seite. An Ricky gerichtet sagte er: »Komm rein.« Wütend sah ich meinen Mann von der Seite an, machte aber Platz. Ich hatte gedacht, wir wären uns einig gewesen. Ihnen voran ging ich ins Wohnzimmer, damit niemand auf falsche Ideen kam, wo das Gespräch stattfinden würde. Diego lief sofort auf Ricky zu, sein ganzer Körper wackelte vor Freude. Chico dagegen lag äußerlich entspannt auf seiner Decke, beobachtete uns aber sehr genau. Aus Gewohnheit nahm Ricky Diego auf den Arm und knuddelte ihn, während er Toby zum Esstisch folgte. Als ich mich dazusetzte, sah er mich zweifelnd an. »Ich wollte eigentlich nur mit Toby reden.« »Die Entscheidung wurde von uns beiden getroffen«, erklärte ich ruhig, stand aber nochmal auf, um die Kaffeemaschine anzustellen. Ich war nicht einverstanden, dass Toby sich auf das Gespräch einließ, aber wenn, dann brauchte ich einen Kaffee. »Was soll das? Warum könnt ihr, wenn irgendwas nicht so gelaufen ist, wie ihr euch das vorgestellt habt, nicht gleich mit mir reden, sondern schickt mir eine Nachricht, sobald ich zu Hause bin? Kein Anruf, kein ›Komm nochmal vorbei, wir müssen reden‹. Nein, eine verkackte Nachricht, in der ihr mich abschießt! Ich hatte mehr von dir erwartet, Toby.« Zum Ausdruck seiner Enttäuschung schüttelte Ricky langsam den Kopf. Toby sah kurz versichernd zu mir, bevor er antwortete: »Wir haben festgestellt, dass es uns unangenehm ist, wenn du uns zu nahe bist. Deshalb wollten wir etwas Abstand.« »What?!« Nun sah Ricky vor allem mich an. »Du hast den Dreier vorgeschlagen! Du hast gefragt, ob ich Lust darauf hätte, und mir versichert, dass es in Ordnung wäre! Und jetzt ziehst du sowas ab?!« »Die Entscheidung haben Roger und ich zusammen getroffen«, erinnerte Toby noch einmal ruhig, klang dabei aber schon leicht gereizt. Aber vermutlich hörte Ricky das nicht einmal heraus. Eher noch machte ihn das noch wütender. Er sprang auf und setzte den erschrocken zappelnden Diego auf dem Tisch ab, von dem aus ich ihn auf den Boden hob. Währenddessen funkelte mich Ricky an. »Wenn du ein Problem mit mir hast und mich loswerden willst, dann hättest du das anders sagen können. Dafür hättest du mich nicht von einem Dreier überzeugen müssen! Was du hier abziehst, ist unterste Schublade!« »Ricky!« Das letzte Mal, dass ich Toby hatte laut werden hören, war lange her. Der Schreck fuhr durch meinen ganzen Körper. Und auch Ricky erstarrte. Sofort wurde Toby wieder ruhig und sachlich. »Glaubst du wirklich, Roger würde so etwas durchziehen, nur um dich hinterher zu verletzen? Glaubst du wirklich daran?« Ricky sah kurz zu mir und zuckte dann niedergeschlagen mit den Schultern. »Was weiß ich. Was soll ich denn glauben, wenn ihr mir erst so ein Angebot macht und mich dann absägt?« Ich erwiderte Tobys fragenden Blick mit einem kurzen Nicken. Ich hatte nicht erwartet, dass unsere Abweisung Ricky so fertig machen würde. Toby stand auf und nahm ihn in den Arm. Schon Augenblicke später hatten sich Rickys Hände in Tobys Schultern verkrallt und es war leises Schluchzen zu hören. Ich kümmerte mich weiter um den Kaffee, brachte die Kanne und drei Tassen auf den Tisch und sah nach Diego und Chico. Chico war noch immer äußerst wachsam, putzte aber auch Diego, der sich neben ihm auf der Decke zusammengerollt hatte. Scheinbar machte die Unruhe Chico nicht wirklich etwas aus. Ich wandte mich wieder zu Toby und Ricky, beobachtete eine Weile, wie Toby versuchte, Ricky zu beruhigen, dabei jedoch nur mäßig Erfolg hatte. Je länger ich Ricky so sah, desto mehr brach es mir das Herz. Nicht, weil mich seine Worte wirklich verletzten, dafür waren sie viel zu abwegig, sondern weil es mir deutlich machte, wie richtig meine Einschätzung der Situation gewesen war und mich gleichzeitig an den Konsequenzen zweifeln ließ, die ich daraus gezogen hatte. Ich brauchte noch etwas, doch dann überwand ich mich und ging zu Toby und Ricky, legte meine Arme vorsichtig von hinten um Ricky. Entschuldigend hauchte ich einen Kuss auf seine Schulter. »Es tut mir leid.« Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass es Ricky so mitnehmen würde. Er schniefte noch einmal und machte sich dann aus unserer Umarmung frei. Aus der Küche holte er sich ein Küchentuch, mit dem er sein Gesicht trocknete. Sobald er sich beruhigt hatte, sah er von dort aus traurig zu uns herüber. »Warum? Ich versteh es nicht. Ich dachte, es wäre für euch auch schön gewesen. Ich dachte sogar, ihr könntet auch wollen, dass das ... enger wird.« Bei Rickys letztem Satz hüpfte mein Herz aufgeregt. Das war ganz sicher nicht das, was ich in der momentanen Situation hören wollte. Ich zog Toby sanft wieder zum Tisch, setzte mich und deutete auf den Stuhl, auf dem Ricky zuvor gesessen hatte. Erst nachdem er saß, antwortete ich: »Wir haben das schonmal durch, eine weitere Person so weit in unsere Beziehung zu lassen. Und das lief nicht gut.« »Dieser Isaac, oder?« Sowohl Toby als auch ich sahen ihn überrascht an. Ich konnte mich nicht erinnern, dass wir Ricky gegenüber Isaac jemals erwähnt hätten. Er rang sich ein leichtes Lächeln ab. »Gelegentlich hat jemand von euch gesagt, dass er ihn gesehen hat, und das schien euch wichtig zu sein, aber irgendwie auch immer schwierig. Ich hab einfach nur geraten.« »Ja, er ist ... war ... ist uns wichtig. Wir haben ihn sehr weit in unsere Beziehung gelassen und«, Toby versicherte sich kurz, dass es in Ordnung war, weiterzuerzählen, »hätten uns beide gewünscht, dass er ein fester Bestandteil wird. Dass es oft uneindeutig hin und her ging, hat fast unsere Beziehung zerstört.« »Mehrmals«, ergänzte ich murmelnd. Isaac hatte nie bemerkt, wie sehr es uns entzweite, wenn er sich wieder und wieder auf uns einließ, nur um uns dann zurückzustoßen. Wut, Selbst- und gegenseitige Vorwürfe hatten Isaac nicht erreichen können, also hatten sie sich auf uns entladen. Nicht immer offensichtlich, nicht immer mit voller Wucht, doch auch kleine Stiche bluten. Ricky machte lediglich ein Geräusch, das ausdrückte, dass er uns verstanden hatte. Erst nachdem er alle Tassen mit Kaffee gefüllt und Toby und mir jeweils eine hingeschoben hatte, nickte er nachdenklich. »Ich denke, ich versteh, warum es deshalb für euch schwierig ist. Aber nicht, warum das so plötzlich kommt. Okay, ja, ich hätte auch sagen können, welche Hoffnungen mir euer bisheriges Verhalten gemacht hat, aber mit allem drum und dran war für mich eigentlich klar, dass es nicht um einen One-Night-Stand ging; dann hättet ihr euren Move schon vor Monaten machen können, dafür hätte es kein langes Warten gebraucht. Und selbst wenn ihr hinterher festgestellt habt, dass es nicht das war, was ihr euch erhofft habt, sehe ich nicht, warum das rechtfertigt, mich komplett abzusägen, ohne mir auch nur die geringste Erklärung dafür zu geben.« Rickys Stimme wurde mit jedem Worte intensiver und am Ende standen ihm erneut Tränen in den Augen. Hilfesuchend sah Toby zu mir. Doch bevor ich Worte finden konnte, sprach Ricky schon weiter: »Stattdessen tut ihr das, weil? Keine Ahnung, irgendein Typ euch enttäuscht hat und ich jetzt aus irgendeinem Grund genau dasselbe tun muss?« »Nein, ja ...« Seufzend verschaffte ich mir etwas Zeit, meine Gedanken zu ordnen. »Ich denke nicht, dass auch nur einer von uns dir unterstellen wollte, uns absichtlich verletzen zu wollen oder uns zu schaden. Würden wir auch Isaac nicht unterstellen. Es ist eher ... Du bist ihm so verdammt ähnlich; zumindest dem, wie wir ihn zuerst kennengelernt haben. Klar, die Angst, dass es genauso endet, ist da und alles andere als klein, aber zumindest ich hab auch das Gefühl, dass wir unbewusst versuchen könnten, mit dir etwas zu kompensieren, was wir mit ihm nicht haben konnten. Das will ich dir nicht antun.« »Roger hat Recht. Das wäre dir gegenüber nicht fair, weil wir dich immer mit ihm vergleichen würden«, stimmte Toby mir zu, nachdem er bereits zu meinen letzten beiden Sätzen bekräftigend genickt hatte. Zweifelnd hatte Ricky die Augenbrauen zusammengezogen. »Das ... ich weiß nicht, was da passiert ist, und ich hab auch nicht das Gefühl, dass es gerade der Ort und die Zeit ist, danach zu fragen, aber das kann ich so nicht nachvollziehen. Ich sehe keinen Sinn darin, da an der Vergangenheit festzuhalten. Ja, vielleicht würde ich es in eurer Situation anderes sehen, aber für mich stellt sich das recht einfach da: Mögt ihr mich? Wolltet und wollt ihr das, was geschehen ist, und noch kommen könnte mit mir? Nicht mit ihm, sondern mit mir? Wenn ja, dann sehe ich keinen Grund, sich mit irgendwelchen Dingen aufzuhalten, die irgendwann mal mit einer vollkommen anderen Person geschehen sind. Ich werd nicht plötzlich zu ihm werden, ich werd mich auch nicht dazu drängen lassen, etwas zu tun oder nicht zu tun, nur weil er es getan hat. Ich bin mein eigener Mensch und das ist alles, was ihr akzeptieren müsst.« Betreten schwiegen Toby und ich. Die Antwort war für mich sehr eindeutig und dennoch stellte es sich für mich nicht ganz so einfach dar. Meinem Mann schien es nicht anders zu gehen. Ricky sah noch einmal auffordernd zwischen uns hin und her, dann hob er hilflos die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ich ... Ich glaub, ich hab nichts mehr dazu zu sagen. Wenn das eure Gründe sind, mich abzusägen, okay. Ich kann sie nicht nachempfinden, aber ich kann sie akzeptieren. Auch wenn es schade ist. Ich hab euch echt gern.« Für einen Moment wirkte es, als wollte Ricky noch etwas ergänzen, doch er schüttelte stattdessen den Kopf, trank den letzten Schluck aus seiner Tasse und stand auf. »Warte, wir bringen dich noch zur Tür.« Toby folgte ihm und ich kam der Aufforderung meines Mannes ebenfalls nach. Außerdem forderte ich die Hunde auf, uns zu begleiten, damit Ricky auch ihnen Tschüss sagen konnte. Während Toby und ich betreten schweigend dastanden, verabschiedete sich Ricky herzlich von Chico und Diego. Erst als er damit fertig war und es nicht weiter hinauszögern konnte, stand er genauso unschlüssig vor uns. Dann endlich war es Toby, der sich dazu durchringen konnte, etwas zu tun. Er griff Ricky am Oberarm und streichelte mit dem Daumen kurz darüber. »Gib uns etwas Zeit darüber nachzudenken, okay?« Rickys Gesichtsausdruck wirkte unzufrieden, doch es lag keine Ablehnung in seiner Gestik, als er Tobys Hand mit seiner eigenen von seinem Arm abstreifte. Nach einem kurzen, unschlüssigen Schulterzucken hob er die Hand und drehte sich dann um, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Kapitel 47: Samsa – November 2019 --------------------------------- »Was ist?« Verwirrt sah ich zur lachend über mich gebeugten Sarah. Nach einem Moment artikulierte sie sich wieder verständlich: »Mir ist nur eben aufgefallen, wie absurd das ist: Weil dein Freund in deinem Bett schläft, ficke ich dich im Bett deines anderen Freundes, der sich zwar auch von mir ficken lässt, aber ganz sicher niemals hier.« Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. Wo war sie wieder mit ihren Gedanken? Diese Frau machte mich fertig. »Stimmt. Deshalb habe ich ihn vorher gefragt, ob das für ihn passt. Kannst du dich jetzt wieder auf mich konzentrieren?« Freundlich knuffte ich sie in die Seite. Kapitel 48: Eloy – März 2022 ---------------------------- Mit dem halben Ohr hörte ich Jetta und Alfie zu, die sich neben mir über die anstehenden Frühlingsferien unterhielten und die Unterbringung ihrer Kinder planten. Ich wartete nur auf mein Stichwort, für welche Tage sie noch Hilfe brauchten. Natürlich waren Carolines Freunde jederzeit bei uns willkommen. Ihre Eltern hatten uns ebenso oft ausgeholfen, wenn wir nicht weiter wussten. Auf dem Spielfeld vor uns tobten eben jene Kinder mehr oder weniger kontrolliert durch die Gegend, während hinter und neben uns die anderen Eltern – größtenteils Mütter – miteinander schnatterten. Ich war mir nicht sicher, ob ich Leonardo beneidete, der mit Maxime beim Trompetenunterricht war. Die Lautstärke war vermutlich dieselbe, doch kam Leonardo um die sozialen Pflichten herum, die Teamtrainings für die Eltern bereithielten. Dafür hatte er aber auch nicht die Eltern von Maximes besten Freunden an seiner Seite, die das Ganze etwas erträglicher machten. Im Gegensatz zu den anderen Eltern konnte ich mit Jetta und Alfie immerhin gemeinsame Gesprächsthemen finden. Die Lebensrealitäten der anderen Eltern waren zu weit von meiner und der meiner Familie entfernt. Trotz der lauten Umgebung wurden alle von dem Klingeln meines Handys aufgeschreckt. Verlegen entschuldigte ich mich und machte mich auf den Weg etwas abseits, bevor ich das Gespräch annahm. »Lázaro! Welches Haus brennt?« »Nicht lustig, ¡hermano!« »Perdóname. Aber wenn du mich so angehst, dann ist es etwas Wichtiges.« Nicht, dass das nicht schon allein durch einen Anruf meines Bruders deutlich genug war. Immerhin waren wir beide nicht die Menschen, die einfach so beim anderen anriefen. »Wir brauchen dringend deine Hilfe. Du hast Caroline und Maxime nicht adoptiert, oder? Kannst du uns sagen, wie ihr das rechtlich mit den Kindern und ihrem Vater geklärt habt?« Etwas verdutzt brauchte ich einen Moment, um seine Fragen zu verarbeiten. Ich konnte mir keinen Sinn dahinter erschließen. »Okay, hermanito, das klingt nicht nach einem Thema, das wir in fünf Minuten lösen können, und auch nicht nach etwas, das in dieser Zeit gelöst werden muss. Ich bin gerade mit Caroline beim Footballtraining. In etwa zehn Minuten sollte sie fertig sein. Was hältst du davon, wenn ich zurückrufe, sobald wir zu Hause sind und ich mir etwas länger einen Freiraum schaffen kann?« Mein Bruder seufzte am anderen Ende. »Ja, du hast recht. Danke dir. Wir hören uns später.« Ich hatte noch nicht einmal mein Handy wieder eingesteckt, da sah ich Caroline bereits auf mich zu rennen, dicht hinter ihr folgten Luuk, Brody und Kole. Mijita¹ hingen noch immer die Flaggenbänder vom Training am Gürtel und die Jungen versuchten, sie abzureißen. Zum Glück reichte ein kurzer, strenger Blick, damit sie abließen. Ihre Trainerin hatte ihnen und uns Eltern hinreichend eingebläut, dass solche Angriffe außerhalb des Spielfelds tabu waren. Die Kids sollten frühzeitig den Respekt vor dem Sport erlernen. Wenn sie später nicht mehr mit Flaggen, sondern echten Tackles spielten, durften sie das auch nicht einfach so. »Seid ihr schon fertig?« »Ja. Mark ist beim letzten Spielzug umgeknickt und deshalb haben wir früher Schluss gemacht. Dabei hätten wir das Spiel noch gewinnen können!« Mit beleidigt verkniffenem Gesicht sah Caroline zu Luuk. »Habt ihr aber nicht«, erklärte dieser mit seiner so typischen, ruhigen Art. Manchmal war mir dieses gerade einmal 8-jährige Kind schon fast unheimlich. Endlich kamen auch die Eltern der Jungen bei uns an. Alfie musterte mich sofort eingehend. »Ist etwas passiert? Du siehst besorgt aus, Eloy.« »Ich bin nicht sicher. Ich muss gleich zu Hause nochmal zurückrufen.« »Dann lass uns zügig fahren. Luuk, Schuhe aus, die sind zu matschig. Ich möchte nicht, dass du Eloy das Auto schmutzig machst.« Jetta darauf hinzuweisen, dass meine eigenen Kinder das schon ganz gut alleine schafften, hätte nichts gebracht. Eilig verabschiedete sich Caroline von Alfie und seinen Jungs, dann nahm sie Luuks Hand und rannte mit ihm voraus zu unserem Auto. Da er und seine Mutter in unserer direkten Nachbarschaft wohnten, nahmen wir sie meistens zum Training mit. »Können wir noch unser Schwesterchen mit in den Call nehmen?«, fragte mein Bruder, bevor ich ihn und seine Frau grüßen konnte. Verwirrt stimmte ich zu. Klar hatte ich nichts dagegen, auch mit unserer Schwester zu reden, aber ich wusste auch noch immer nicht, worum genau es überhaupt gehen sollte. Also außer irgendwas über die Fürsorge für meine Kinder. Hatten meine Geschwister jetzt doch plötzlich ein Problem damit? Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Noch bevor aus meinen Lautsprechern der Wahlton erklang, baute sich die Verbindung mit dem Account meiner Schwester auf. Offenbar hatte Lázaro ihr schon vorher Bescheid gegeben. Langsam hatte ich das Gefühl, etwas wirklich Wichtiges verpasst zu haben. »Sorry, die jüngeren Kinder nehmen Noemí gerade voll in Beschlag. Sie kommt später dazu. Ich hoffe, das ist okay. Und hi Shirley!«, begrüßte uns mein Schwager. »Ich hätte zwar gern die Meinung von euch beiden gehört, aber ich denke, das passt schon. Sonst kannst du sie ja auch fragen«, erklärte Shirley. Also war sie es, die diese Familienkonferenz einberufen hatte? Ich war gespannt. »Eloy, wir bräuchten deine Hilfe. Kannst du uns erklären, wie ihr das mit dem Vater von Maxime und Caroline geklärt habt, dass sie bei dir bleiben können? Habt ihr dafür irgendwas unterschrieben? Kannst du alles für die Kinder unterschreiben, was ihr so braucht?«, wandte sie sich ohne weiteren Übergang direkt an mich. »Ich bin nicht ganz sicher, was genau du wissen möchtest. Ich bin vom Gericht verfügter Vormund für die beiden, also ja, ich darf und muss alles für sie entscheiden, was sonst ihr Vater entscheiden würde. Ich kann ihn nach seiner Meinung fragen, aber letztendlich hat er kein Mitspracherecht mehr.« Mir wäre es ja lieber gewesen, hätten wir weiterhin gemeinsam Entscheidungen treffen können, aber leider hatte das vor einigen Jahren nicht mehr geklappt, sodass ich mich gezwungen gesehen hatte, die Vormundschaft zu beantragen. Zum Glück hatte Peter nach einiger Beratung mit seinem Anwalt zugestimmt, sodass uns wenigstens ein Rechtsstreit erspart geblieben war. »Lediglich bei sehr großen medizinischen Eingriffen oder wenn es nicht mehr möglich ist, den Besuchskontakt mit ihrem Vater allein mit ihm zu regeln, muss ich das noch zusätzlich mit dem Gericht absprechen. Warum?« »Hast du mitbekommen, was im Moment hier in Texas passiert? Ich meine im Bezug auf Gesetzesentwürfe.« Jonathan wirkte für ihn ungewohnt besorgt. Dennoch hatte ich keine Ahnung, worauf er hinauswollte, weshalb ich den Kopf schüttelte. »Das Klima hier wird für trans Personen gerade sehr unangenehm. Shirley und ich werden nach New Mexiko übersiedeln, bevor es für sie zu gefährlich wird«, erklärte Lázaro. Schnell ergänzte mein Schwager: »Und wir überlegen, ob sie nuestre hije² nicht besser mitnehmen sollten. Es soll Eltern hier verboten werden, ihre Kinder in der Transition zu unterstützen, beziehungsweise soll diese Unterstützung als Kindesmissbrauch eingestuft werden. Wir sehen im Moment keine Möglichkeit, dass nuestre hije hier wirklich glücklich werden kann. Aber wir können auch nicht mit der ganzen Familie umziehen. Nicht im Moment. Es hat so lange gebraucht, eine geeignete Umgebung für Fonsi zu schaffen, ihn da jetzt wieder rauszureißen, selbst für sein Geschwister, ist im Moment noch keine Option für uns.« Verstehen nickte ich. Es war sicher nicht leicht, die Bedürfnisse von fünf Kindern gegeneinander abzuwägen. »Wartet mal kurz.« Ich ging zur Schlafzimmertür, an der es geklopft hatte. »Was ist denn, mijita?« »Kannst du mir die Haare machen?« Sie hielt mir ein Bild entgegen, um zu zeigen, was sie wollte. »Frag bitte Leonardo. Ich bin gerade am Telefonieren.« Traurig senkte sie den Kopf. »Aber Leonardo flechtet das immer so eng, dass es wehtut. Bitte, papá! Ich quatsche auch nicht dazwischen. Versprochen!« Seufzend öffnete ich die Tür etwas weiter, um sie einzulassen. Grinsend schlang sie die Arme um mich. »Danke.« Sie zog sich eine große Plastikkiste neben meinen Schreibtischstuhl und setzte sich darauf. Kurz lächelte sie in die Kamera und winkte, dann hielt sie mir das Bild und einige Haargummis auffordernd entgegen. »Bist du dir sicher, dass es gut ist, wenn Caroline zuhört?«, fragte Jonathan besorgt. Ich setzte mich wieder, warf einen kurzen Blick auf Caroline, dann nickte ich ernst. »Wenn euer Kind alt genug ist, solchen Hass abzubekommen, dann ist meines alt genug, zu erfahren, wie sehr manche Menschen hassen.« »Find ich gut!«, unterstützte mich Shirley. Caroline forderte meine Aufmerksamkeit, indem sie auf mein Knie tippte. Mit großen, besorgten Kinderaugen sah sie zu mir auf. »Was ist passiert?« Kurz erklärte ich ihr, was ihre Tanten und Onkel mir bisher erzählt hatten. »Was sagen denn eure Kinder dazu?«, fragte ich, nachdem ich fertig erklärt hatte. Nebenbei studierte ich das Bild der Frisur. Ich bekam das sicher nicht genauso hin und erst recht nicht so ordentlich, aber bis morgen für die Schule würde es wohl halten. »Mit nuestre hije haben wir noch nicht gesprochen, weil wir noch nicht sicher sind, ob wir überhaupt eine gute Möglichkeit finden. Fonsi und Mila sind von sich aus zu uns gekommen, weil die Großen das natürlich auch selbst in den Nachrichten mitbekommen. Fonsi möchte vor allem, dass es seinem kleinen Geschwister gut geht, kann sich aber auch nicht wirklich vorstellen, im Moment umzuziehen. Seine Schwester ... sie hat vorgeschlagen, mit ihrem Zwillingsbruder in Texas zu bleiben, damit wir mit den anderen Kindern umziehen können.« Jonathan schüttelte leicht den Kopf. »Die beiden werden zwar nächstes Jahr 18, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie allein hierbleiben sollen. Mila kann nicht ihr Leben nach ihrem Bruder ausrichten.« Mein Bruder und ich stimmten ihm zu. Früher war es niedlich gewesen, wenn sich Milagros um ihren Bruder gekümmert hatte, wenn sonst niemand zu ihm durchgedrungen war, aber je älter sie wurde, umso mehr hatte sie sich nur nach ihm gerichtet. Das konnte nicht gut sein; für beide nicht. »Wollt ihr dann nicht erstmal das Kind fragen, ob elle³ das überhaupt wollen würde?« Immerhin war elle auch schon elf und konnte sich zumindest äußern. Bei Caroline und Maxime hatte ich gute Erfahrungen gemacht, sie mit einzubeziehen, wenn es darum ging, wo sie leben wollten und in welcher Konstellation, auch wenn sie rechtlich zu jung waren, um mitzuentscheiden. Als ich ihnen erklärt hatte, dass Peter gegen meinen Willen bestimmt hatte, dass sie wieder zu ihm ziehen sollten, hatten beide deutlich gemacht, dass sie bei mir bleiben wollten, also hatte ich mich schlaugemacht, was ich tun konnte. In der Folge hatte ich ihnen erklärt, dass ich sie dann entweder adoptieren oder die Vormundschaft beantragen musste und welchen Unterschied das für sie machte. Caroline war es egal gewesen, sie hatte nur Angst geäußert, dass ihr Vater irgendwann versuchen könnte, die Vormundschaft rückgängig zu machen. Ihr Bruder dagegen hatte vehement darauf bestanden, dass Peter weiterhin sein Vater bleiben sollte, auch wenn er nie wieder zu ihm zurückwollte. Also hatte ich Carolines Angst zerstreut, indem ich ihr erklärte, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass Peter jemals wieder irgendwelche Erziehungsrechte erhalten würde, zumal sein eigener Anwalt mir gegenüber klargemacht hatte, dass er dies niemals befürworten würde. Und wenn sie doch irgendwann wirklich wollten, dass ich sie adoptierte, dann würde ich das tun. Ich war mir sicher, dass es das war, was Mat für seine Patenkinder gewollt hätte. »Wir werden auf jeden Fall fragen, aber wir wollen wirklich lieber erstmal wissen, was möglich ist.« »Wie ihr meint.« Also erklärte ich ihnen, welche Möglichkeiten es zumindest hier in Massachusetts gab: Erziehungsvollmacht, wie ich es anfänglich mit Peter gemacht hatte, bei der die letztendliche Entscheidungsgewalt bei den Eltern blieb, Vormundschaft, bei der immer das Gericht involviert war und auch regelmäßige Berichte fällig wurden, oder Adoption. »Im Endeffekt bleiben euch auch nur die letzten zwei Optionen, weil mit der Vollmacht habt ihr die Entscheidung als Eltern getroffen. Wenn die den Scheiß wirklich durchziehen wollen, kann ich mir nicht vorstellen, dass ihr damit eine Chance habt. Vormundschaft wird wohl auch schwer, weil zumindest hier dürfen Vormünder erst nach frühestens zwei Jahren mit den Kindern in einen anderen Bundesstaat ziehen und auch nur nach Erlaubnis des Gerichts. Bliebe also nur Adoption und ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr das wollt. Zumal das echt schwierig wird, weil das ja nicht ohne weiteren Grund geht, und dann bekommt ihr sehr sicher Probleme, dass auch die anderen Kinder von euch weg sollen.« Niedergeschlagen seufzte Jonathan und auch mein Bruder legte eine Hand tröstend auf die Schulter seiner Frau. »Tut mir leid. Wenn es in Texas nicht sehr anders läuft, dann wird es wirklich schwierig. Außer ihr habt Glück und das Gericht in New Mexiko gibt euch recht, dass es für das Kind zu gefährlich ist, in Texas zu bleiben, und strebt darüber eine Vormundschaft an. Aber ehrlich gesagt kann ich mir das nicht vorstellen.« Ich hätte ihnen gern mehr Mut gemacht, aber ich sah keine Chance, dass das Kind mit nach New Mexiko ging, ohne dass Noemí und Jonathan weiterhin Gefahr liefen, dass ihnen jemand an den Karren pisste, weil sie ihr Kind unterstützten. »Kann ... elle nicht zu uns?«, fragte mich Caroline flehend, wobei sie kurz nachdenken musste, um nicht den Namen des Kindes zu nennen, das sich mit diesem nicht mehr wohlfühlte, aber noch keinen neuen hatte. Ich ließ die Haarsträhne los, die ich gerade in der Hand hielt, und strich sanft über ihren Oberarm. »Das ändert leider nichts.« »Wir schauen uns die Situation hier noch einmal genauer an und suchen weiter nach einer Lösung. Danke euch für eure Hilfe. Ich geh mal Noemí helfen«, verabschiedete sich Jonathan und unterbrach die Verbindung, bevor wir uns wirklich verabschieden konnten. Betreten schwiegen wir eine Weile. Ich konnte verstehen, dass Jonathan nicht zufrieden und niedergeschlagen war. Hätte ich meine Kinder in Gefahr gesehen und wüsste keine Möglichkeit, ihnen zu helfen, wäre es mir nicht anders gegangen. »Bist du denn in New Mexiko sicher?«, fragte ich letztlich Shirley. Sie lächelte zart. »Zumindest auf absehbare Zeit sicherer. Wirklich sicher bin ich wohl nirgendwo, aber die Prognosen zeigen zumindest, dass es für die nächsten Jahre halbwegs sicher sein sollte.« Unsicher nickte ich. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Es war für mich nicht nachvollziehbar, auch wenn mir natürlich bewusst war, dass es mir irgendwann genauso gehen könnte; dass dieselben Kräfte die Shirley und Noemís und Jonathans Kind zusetzten, es auch auf mich und meine Familie abgesehen hatten, dass sie nicht bei trans Personen haltmachen würden. Doch es fühlte sich so fern und kaum real an. Kapitel 49: Eloy – November 2017 -------------------------------- »Leo! Fuck! ¡Oh, dios mío!« Fluchend entließ ich meine Leidenschaft und sackte dann zusammen. Leonardo kicherte leise. »Ich hab doch gesagt, du sollst dich nicht bewegen«, murrte ich gegen seinen Nacken, sog dabei seinen herben Geruch auf. »Wenn die Kinder jetzt wach sind, ist es deine Schuld.« »Mhm, klar. Weil ich auch so rumgeschrien hab.« Da er angestrengt klang, rutschte ich von seinem Rücken und strich mit der Hand über die weiche Haut. Im Gegensatz zu meiner war sie zumindest an dieser Stelle absolut faltenfrei. Bei ihm zeigten sich gerade einmal die ersten im Gesicht. Er drehte das Gesicht zu mir und lächelte mich glücklich an. Ich konnte nicht anders, als mit der Hand zu seinen wilden Locken zu wandern und sie darin zu vergraben. Genießerisch schloss er die Augen und lehnte sich dagegen. Ich erhob mich etwas, küsste seinen Hals, den er dabei etwas streckte, was ihm ein wohliges Seufzen entlockte. Flüsternd erkundigte ich mich: »Warum hörst du eigentlich nie, wenn ich dir etwas sage?« »Weil es sich besser anfühlt, wenn ich dir nicht die ganze Arbeit überlasse«, antwortete er, ohne die Augen zu öffnen. Sanft küsste ich sein Ohr. »Und was bringt dir das, wenn du deshalb auf das Happy End verzichten musst?« Nur leicht schlug er die Augen auf, schnurrte fast schon, als er fragte: »Du willst mich also an der ausgestreckten Hand verhungern lassen?« »Sollte ich wohl, hm? Immerhin ist es nicht das erste Mal, dass du mich so ärgerst.« Er seufzte zufrieden, kam näher und stahl sich einen Kuss. Er griff nach meinem Arm und führte meine Hand zu seinem Hintern. »Du hast recht, vielleicht solltest du das. Aber kannst du das auch?« Ich griff zu, knetete seine Kehrseite. Natürlich hatte er recht. Ich würde ihn nicht verhungern lassen, auch wenn er es verdient hätte. »Dann dreh dich mal um.« »Gibt’s du mir bitte das Handtuch?« Er drehte sich halb auf die Seite und deutete hinter mich. Ich erhob mich und griff es mir von der Kommode, dann drapierte ich es so, dass er mit seinem schönen Hinterteil darauflag, als er sich vollständig auf den Rücken drehte. Ich hockte mich zwischen seine Beine, hob sie etwas an und beugte mich über ihn. Grinsend sah er zu mir auf. »Was wird das?« »Vielleicht möchte ich es auf eine zweite Runde ankommen lassen?« Ich küsste mich seinen Oberkörper hinab. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber so viel Zeit haben wir nicht mehr. Wir müssen die Kinder in zwanzig Minuten wecken.« »Spielverderber«, raunte ich, begab mich dann aber tiefer. Leider hatte er recht, das schaffte ich nicht mehr, zumal wir noch duschen mussten. Dann eben nur ein schneller Blowjob, damit auch er gut in den Tag starten konnte. Leise öffnete ich die Tür und betrat das Zimmer. Vorsichtig zog ich die Decke zurück und küsste den Kinderkopf, der darunter zum Vorschein kam. »Aufstehen, Großer.« Erst als er sich regte, schaltete ich die Nachttischlampe auf die kleinste Stufe. Maxime blinzelte und ließ sich noch zweimal über den Kopf streicheln, bevor er sich in alle Richtungen streckte. Mit einem herzhaften Gähnen richtete er sich auf. »Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?« Er rieb sich über die Augen und nickte. Einen Moment wartete ich, ob er noch etwas antworten wollte, doch nichts geschah. Schade, früher hatte er noch ab und zu erzählt, was er geträumt hatte, doch mittlerweile tat er das kaum noch. Meist nur, wenn er Alpträume gehabt hatte. »Brauchst du Hilfe beim Anziehen?«, fragte ich, als er sich aus dem Bett schälte. Er war zwar schon fast neun, doch an schlechten Tagen brauchte er noch etwas Hilfe. Und diese häuften sich besonders, wenn er und seine Schwester am vorangegangenen Wochenende bei ihrem Vater gewesen waren. »Nein, danke.« Er tippte auf die Lampe, um das Licht heller zu stellen, und ging dann zum Stuhl, auf dem wir am Vorabend seine Sachen bereitgelegt hatten. Ich lächelte ihm zu und verließ das Zimmer, wobei ich die Tür hinter mir ranzog. Wenn er keine Hilfe benötigte, wollte ich ihm die Privatsphäre gönnen. Als ich am zweiten Kinderzimmer vorbeikam, hielt ich kurz an und warf einen Blick durch die Tür. Hier war das Licht noch gedimmt und Leonardo saß auf dem Bettrand, hielt Caroline im Arm und streichelte ihr über den Rücken. Ich ging hinein und küsste sie ebenfalls auf das Haupt. Leise fragte ich: »Wie lange braucht ihr?« Leonardo sah auf. »Viertel Stunde.« Ich nickte und entfernte mich dann leise. Caroline war schwer aus dem Bett zu bekommen, aber da wir uns die Arbeit teilten, konnten wir es uns erlauben, sie kuscheln zu lassen, bis sie für den Tag bereit war. In der Küche suchte ich alles für das Frühstück zusammen und schaltete den Herd an. Während ich darauf wartete, dass die Pfanne heiß wurde, nahm ich mein Handy vom Ladegerät und schaltete es ein. Ein paar Nachrichten in Maximes Klassen-WhatsApp-Gruppe, aber nichts, was dringend erschien. Außerdem die Mutter von Carolines bestem Freund, die fragte, ob sie ihn vorbeibringen könnte, damit wir ihn zur Bushaltestelle mitnahmen, sie musste wie so oft früher das Haus verlassen. Selbstverständlich war das kein Problem. Ich half ihr gern und sie hätte dasselbe für mich getan; besser: Sie hatte oft dasselbe für mich getan, als ich noch mit Caroline und Maxime allein gewesen war. »Eloy, kannst du dir das mal ansehen?« Maxime legte sein Heft auf den Küchentisch. Ich ging zu ihm hinüber. »Was gibt es denn?« Er zeigte mir eine Aufgabe, die im Heft markiert war, und bat, dass ich sie kontrollierte. Seufzend willigte ich ein. Es war immer wieder unheimlich, wie selbstständig er für sein Alter war. Selten bekam ich seine Hausaufgaben zu Gesicht, lediglich wenn er nicht allein weiterkam. Wären es nur die Hausaufgaben gewesen, wäre das nur halb so schlimm gewesen, ich hätte ihn einfach nur für besonders ehrgeizig oder begabt gehalten, doch auch in anderen Bereichen war er seinen Altersgenossen weit voraus. Vermutlich hatte er schon als kleines Kind häufiger Verantwortung tragen müssen, als es gut für ihn war. »So weit ich das sehe, ist das alles richtig. Vielleicht fragst du aber gleich nochmal Leonardo.« Mathehausaufgaben waren nicht wirklich mein Gebiet. Was er gerade lernte, war so ziemlich das Letzte, was ich zu meiner Schulzeit verstanden hatte. »Na gut.« Er klappte das Heft vorerst zu und sah mir beim Kochen zu. Als ich mich mit dem fertigen Essen umdrehte, um es auf den Tisch zu stellen, sah Maxime nicht mehr zu mir, sondern auf den leeren Teller vor ihm. Mit dem Finger zeichnete er unsichtbare Muster auf das Porzellan. »Was ist?« Besorgt streichelte ich über seine Haare, nachdem ich das Essen abgestellt hatte. Er hatte zwar etwas enttäuscht gewirkt, dass ich ihm nicht mit seiner Aufgabe helfen konnte, aber ich hatte nicht erwartet, dass die Enttäuschung so tief ging. »Ich wollte dich nur fragen ... Ich will nicht, dass ...« Als Schritte im Flur zu hören waren, brach Maxime seinen Satz ab und sah wieder auf seinen Teller zurück. »Caro ist gleich so weit«, sagte Leonardo beim Hereinkommen. Einen Moment sah ich zwischen Maxime und meinem Partner hin und her, wusste nicht ganz, was ich aus der Situation machen sollte. War etwas zwischen ihnen vorgefallen? Maxime schüttelte den Kopf, als müsste er lästige Gedanken loswerden, dann sah er zu Leonardo und lächelte. »Morgen! Kannst du dir gleich meine Hausaufgaben ansehen? Ich bin mir nicht sicher, ob das so richtig ist. So wie Mr. Welter die Aufgabe vormacht, verstehe ich sie nicht. Das macht so gar keinen Sinn und ist viel zu kompliziert! Und obwohl ich jedes Mal dasselbe rausbekomme, sagt er, ich darf sie so nicht lösen!« »Ich schau mir das gern gleich mit dir zusammen an. Vielleicht finden wir zusammen raus, was Mr. Welter möchte. Aber erstmal sollten wir essen.« Maxime nickte, schnappte sich sein Heft und lief damit aus der Küche. Noch immer reichlich irritiert hatte ich mir die Szene angesehen und wusste nicht, was ich davon halten sollte. Leonardo drehte seinen Kopf zu mir. »Ist alles in Ordnung?« »Ich bin nicht sicher ... Lass mich einmal kurz nach Maxime sehen. Irgendwas stimmte bei ihm nicht. Fang ruhig schon mit Caroline an.« Ich war schon fast aus der Küche raus, da fiel mir noch ein: »Ach ja, falls es länger dauert: Jetta bringt Luuk gleich vorbei, sie muss früher zur Arbeit.« »Okay. Dann hab ich ein Auge auf das dynamische Duo, damit sie uns nicht schon vor dem Kindergarten die Bude auf den Kopf stellen.« Dankbar lächelte ich ihn an und ging dann zu Maxime, der schon wieder auf dem Rückweg war. Ich hielt ihn auf, indem ich die Hand auf seine Brusthöhe hielt. Leise fragte ich: »Hast du noch Gesprächsbedarf?« Nach kurzem Zögern nickte er und folgte mir in sein Zimmer. Ich schloss die Tür und setzte mich neben ihm aufs Bett. »Was gibt es, was du nicht vor Leonardo erzählen magst?« Für eine Weile starrte Maxime auf seine Finger, verschränkte sie immer wieder ineinander. Dann sah er auf und ihm standen leichte Tränen in den Augen. »Ich will nicht, das Leonardo nächste Woche mitkommt! Ich will wieder mit dir allein gehen!« Als ich nach einem Moment begriff, was er wollte, nahm ich ihn eilig in den Arm. »Aber natürlich gehen wir wieder zusammen, bichito. Wie kommst du denn darauf, dass Leonardo mitkommt?« »Du hast es in den Kalender für uns alle eingetragen.« Ja, hatte ich. Zusammen mit allen anderen Geburtstagen. Ich hatte nicht erwartet, dass das für Maxime bedeutete, dass es ein Termin für uns alle war. »Weil in der Spalte alle Geburtstage eingetragen sind. Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Es tut mir leid. Möchtest du, dass ich den Termin für uns beide noch einmal genauer eintrage und für Leonardo und Caroline einen anderen?« Langsam hob er den Kopf und obwohl ihm noch immer dicke Tränen über die Wangen rollten, lächelte er leicht. »Ja.« »Gut. Das machen wir gleich zusammen.« Mit dem Daumen wischte ich die feuchten Spuren fort. »Wie lange hat dich das jetzt schon geärgert?« »Seit letzter Woche.« Ich seufzte. »Bichito, auch wenn Leonardo bei uns wohnt, kannst du mir trotzdem sagen, wenn du etwas mit mir allein machen möchtest.« »Ich wollte nicht, dass er auch noch traurig wird.« »Das ist lieb, aber Leonardo versteht das. Und du musst nichts tun, was du nicht möchtest, nur weil es jemand anders traurig machen könnte.« Auch wenn es leider das war, was sein Vater von ihm erwartete. »Aber dann wärst du noch trauriger gewesen.« Mit großen, runden Augen sah er mich an. Liebevoll sah ich den kleinen Jungen an, der mittlerweile fast auf meinen Schoß gerutscht war. Er war seinem Onkel einfach viel zu ähnlich. »Du hast recht. Ich bin im Moment wieder sehr traurig.« Jedes Jahr erinnerten mich die Vorbereitungen auf Thanksgiving an meinen Mann, denn es bedeutete auch, dass sein Geburtstag näher rückte. Egal wie sehr ich versuchte, den Geist des Día de Muertos zu erhalten, dieses Datum erinnerte mich zu sehr daran, dass er keinen weiteren mit uns feiern würde. Mit seiner kleinen Hand griff Maxime nach meiner und flüsterte: »Ich auch.« Erneut nahm ich ihn in den Arm. »Du vermisst Mat auch sehr, oder?« Er nickte und wieder fühlte ich eine feuchte Spur an meinem Arm. Kaum hörbar murmelte er: »Ich kann mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern.« »Das ist okay, bichito. Du warst noch so jung. Das ist ganz normal.« Ich drückte ihn etwas von mir weg und tippt mit dem Finger an die Stelle über seinem Herzen. »Wichtig ist, dass du dich hier an ihn erinnerst.« »Okay.« Tapfer nickte er. »Er ist sicher sehr stolz auf dich.« Ich gab ihm einen Kuss auf den Haaransatz und stand dann auf. »Komm, wir tragen unseren Besuch bei ihm richtig in den Kalender ein.« Eilig folgte mir Maxime in die Küche. Ich holte den Kalender von der Wand, damit er in unsere beiden Spalten »Friedhof« eintragen konnte. Als mich Leonardos Blick traf, formte er stumm mit den Lippen: »Alles okay?« Ich nickte ihm leicht lächelnd zu. Ja, es war okay. Nicht alles, aber meine Familie war glücklich. Und das war mir das Wichtigste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)