Boston Boys - Fragmente von Vampyrsoul (Kurzgeschichten zur Boston Boys Reihe) ================================================================================ Kapitel 33: Samsa – Februar 2016 V ---------------------------------- Aus einer Weile Liegen und Kuscheln wurde irgendwann Einschlafen. Obwohl ich in der Nacht ein paar Mal wach wurde, konnte ich mich nicht dazu durchringen, das Bett oder gar die Wohnung zu verlassen. Stattdessen lag ich einfach in der Dunkelheit, starrte in das kaum erkennbare Gesicht mir gegenüber und fragte mich, ob ich das wirklich aufgeben wollte. Mindestens einmal wurde Tino ebenfalls wach, doch er verhielt sich ebenso laut- und bewegungslos. Lediglich seine geöffneten Augen verrieten, dass er mich in der Dunkelheit ansah. Ob ihn wohl ähnliche Gedanken plagten? Hatte er Angst vor meiner Entscheidung? Oder gar davor, ohne mich aufzuwachen? Tinos Wecker riss mich am Morgen aus dem Schlaf. Und wieder war ich nicht in der Lage, etwas zu sagen. Stattdessen beobachtete ich ihn, wie er aus dem Bett stieg, unsere Sachen sortierte, die noch am Boden lagen, und dann ins Bad schlürfte. Unsicher wartete ich auf seine Rückkehr, bereitete mich aber zumindest mental darauf vor, zügig ins Bad zu gehen, wenn er wiederkam, und mich danach anzuziehen, um mit ihm die Wohnung zu verlassen. Wie ich ihn kannte, hatte er gerade einmal Zeit zu duschen und Kaffee zum Mitnehmen aufzubrühen, bevor er sich auf den Weg machte. Aber zumindest Letzteres würde mir genug Zeit geben, mich kurz frisch zu machen. »Morgen«, grüßte er mich, als er zurückkam, und beugte sich kurz zu mir, um mir einen Kuss auf die Wange zu hauchen. Etwas überfordert von der Geste schaffte ich nur, den Gruß zu erwidern. Gleichzeitig beschloss ich, dass es sich wohl um Routine und Gewohnheit handelte. Schließlich verabschiedete er sich seit über einem Jahr so morgens bei mir. »Bleib ruhig noch im Bett, wenn du magst. Ich leg dir den Ersatzschlüssel auf den Küchentisch. Du kannst ihn dann im Briefkasten lassen.« »Danke.« Er wollte sich aufrichten, doch ich griff nach seiner Hand, hielt sie leicht fest und zog sanft daran, als er sich nicht befreite. Ein fragender Blick reichte, damit er verstand, was ich wollte und sich weiter zu mir beugte. »Mach’s gut.« Ich küsste ihn kurz auf die Lippen. Das Lächeln, das er mir schenkte, bevor er das Zimmer verließ, geriet etwas schief und in seinen Augen lag Traurigkeit. Ob er das dachte, was mir auch gerade bewusst wurde? Dieser kurze, gestohlene Kuss könnte auch unser letzter sein. Als er die Schlafzimmertür hinter sich zugezogen hatte, ließ ich mich seufzend mit dem Rücken gegen die Wand sinken. Ich musste mich entscheiden. Bald! Auch wenn Tino sagte, dass ich mir Zeit lassen konnte, so setzte ihm die Ungewissheit zu, das Lächeln und die Augenringe verrieten ihn. Und auch bei mir hinterließ die angespannte Situation ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut. Wirklich schlafen wäre eh nicht mehr drin gewesen, daher stand ich auf. Tino hatte die Wohnung vor einigen Minuten verlassen. Zuerst hatte ich geplant, mich in Ruhe fertig zu machen und die Wohnung recht bald zu verlassen, doch dann erwischte ich mich, mit dem mittlerweile kalten, aber unangetasteten Kaffee seit geraumer Zeit gedankenverloren auf dem Sofa zu sitzen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich sicher eine Stunde so zugebracht hatte. Also warf ich meine Pläne um. Ich brauchte bald eine Lösung und wenn ich nach Hause ging, lenkte ich mich eh nur ab, indem ich mich in Arbeit stürzte. Bei Tino hingegen war das nicht möglich, weil ich nicht die nötigen Materialien dort hatte. Es gab also nichts, was mich davon abhielt, mich mit der Frage nach unserer Beziehung zu beschäftigen. Zumindest in der Theorie. Praktisch ging auch dieser Plan nur so weit auf, dass ich meine Tasse in die Mikrowelle stellte und dann mein Notizbuch aus der Tasche zog, um kurz zu warten, bis der Kaffee wieder warm war. Jedoch übertönten meine Gedanken jedes Geräusch aus der Küche. Ich hatte das Notizbuch kurz vor unserem Urlaub in Maine angefangen und es schon gut gefüllt. Überrascht stellte ich beim Durchblättern fest, wie viele der kurzen Ideen und Notizen darin direkt oder indirekt mit Tino zusammenhingen. Nicht unbedingt mit ihm als Person, aber mit Gedanken, die er durch einen unbedachten Nebensatz angestoßen hatte, oder Dinge, die ich auf dem Weg zu ihm oder mit ihm gemeinsam passiert waren. Und dann war es bei genauerer Betrachtung doch gar nicht so überraschend. Schon immer waren es mir wichtige Menschen gewesen, die meine Ideen und Einfälle beeinflussten. Warum hätte Tino dabei eine Ausnahme bilden sollen? Spannender war, wie sie sich von den Entwürfen der letzten Jahre unterschieden: Sie ähnelten eher denen, die ich früher geschrieben hatte. Sehr stark verwinkelte Gedanken, eher metaphorische und versteckte Botschaften, stärkere Emotionen. Nicht gar so sehr klischeehaft wie damals, aber eben doch eher das, was ich für die Death Demons geschrieben hatte. Es war kein Geheimnis, wie ich zu meiner alten Form zurückgefunden hatte. Ich war mehr Ich, als ich es in den letzten Jahren gewesen war, fühlte mich sicherer, traute mich, zu träumen; von einem Leben, in dem vielleicht doch noch eine Karriere möglich war. Nicht einmal meine Zeit mit Toby und Roger hatte das für mich erreicht. Ich war noch nicht bereit gewesen und fühlte mich von ihnen zu sehr gedrängt und eingeengt. Immer wieder hatte ich mich versteckt, war notgedrungen wieder in mein Schneckenhaus gekrochen. Natürlich lag es nicht nur an Tino, aber ihm hatte ich zumindest zu verdanken, dass ich immer eine Person hatte, bei der ich mich sicher fühlte, die mir immer wieder glaubhaft versichern konnte, dass meine Wünsche und Bedürfnisse nicht falsch waren, auch wenn er nicht alle verstand. Paradoxerweise gab mir genau das die entscheidende Sicherheit, zu wissen, dass ich nicht in ein Loch fallen würde, sollte ich mich für einen Kontaktabbruch entscheiden. Wäre ich traurig? Ja, sicher, war ich auch in den letzten Wochen gewesen. Doch es würde – und hatte! – mich nicht vollkommen zurückgeworfen. Ich war mir sicher, mein Glück dann nicht am Boden eines Glases zu suchen, mich nicht in irgendeine hoffnungslose Beziehung zu begeben oder gar keine zuzulassen; selbst wenn ein kleiner Teil von mir all das weiterhin für eine gute Idee hielt und dieser sicher auch in Zukunft ab und zu die Oberhand gewinnen würde. So half mir das Blättern in dem Büchlein doch tatsächlich in meiner Entscheidung weiter. Sogar noch besser: Ich traf gleich drei Entscheidungen und war wild entschlossen, für alle sofort die nötigen Schritte vorzunehmen. Die erste Sache war sehr schnell erledigt – zumindest nachdem ich beim zweiten Versuch die richtige PIN eingegeben hatte, um mein Handy zu starten, das Tino netterweise geladen hatte. Es war nur eine kurze Nachricht an eben diesen, ob ich in seiner Wohnung auf ihn warten durfte, um mit ihm über meine Entscheidung zu sprechen. Für das Zweite brauchte ich etwas mehr Vorbereitung. Ich nahm mir eine neue Seite im Notizbuch und schrieb eine der bereits darin enthaltenen Ideen in Reinschrift, ergänzte ein paar wenige Dinge, bevor ich das Ganze abfotografierte. Gemeinsam mit zwei Sprachnachrichten – einer in der ich erklärte, worum es ging und was ich damit vorhatte, und eine weitere mit einem ersten Entwurf der Melodie – schickte ich das Bild an Lance. Ich hatte schon früher daran gedacht, diese Idee umzusetzen, mich jedoch bisher vor dem Risiko gescheut. Nun wollte ich zumindest die Meinung meines besten Freundes dazu hören. In der Zeit hatte mir auch Tino geantwortet, dass es in Ordnung war, er nach der Arbeit jedoch nur etwa eine Stunde Zeit hatte, weil er noch verabredet war. Mir sollte das reichen. Im Endeffekt hatten wir alles ausdiskutiert. Es stand lediglich meine Entscheidung aus. Bei der Gelegenheit ging ich die Nachrichten durch, die mich in der Zeit ohne Handy erreicht hatten. Tatsächlich war nichts Wichtiges dabei, was mich nicht bereits auf anderem Weg erreicht hatte. Dennoch prokrastinierte ich eine Weile, indem ich die Nachrichten sortierte. Dann startete ich einen dritten Versuch mit dem Kaffe, blieb diesmal neben der Mikrowelle stehen und konnte endlich die ersten Schlucke trinken, obwohl es mittlerweile schon mittags war. Da sich bei dem Gedanken auch mein Magen regte, beschloss ich einen kurzen Spaziergang zum Café um die die Ecke. Erneut schrieb ich Tino auf dem Weg nach draußen, diesmal um ihn zu fragen, ob ich ihm auch etwas für später holen sollte. Als ich endlich gegessen hatte und keine weiteren Ideen, wie ich mein drittes und schwerstes Vorhaben weiter hinauszögern konnte, setzte ich mich zurück auf die Couch und ging über mein Handy ins Internet. Ich musste ein wenig suchen, um die richtige Person zu finden, wurde jedoch fündig. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, wählte ich die angegebene Nummer. Die restliche Zeit, bis Tino nach Hause kam, hatte ich damit verbracht, mir zu überlegen, was genau ich ihm sagen wollte, und den Arbeiten am Song, auch wenn ich von Lance noch keine Antwort erhalten hatte. Tino holte sich den Bagel aus der Küche und setzte sich damit zu mir auf die Couch. Er rührte das Gebäck jedoch nicht an, sondern sah mich erwartungsvoll an. Hatte er überhaupt keine Angst, was ich ihm sagen würde? Ich griff nach seiner Hand, hielt sie leicht zwischen meinen. »Tino, würdest du überhaupt da weitermachen wollen, wo wir aufgehört haben? Das noch ausstehende Date? Dass ich weiterhin spontan hierher kommen kann? All das?« Sein Blick in meine Augen wurde eindringlicher, doch auch fragend. »Ja. Ich fand es gut so, wie es war. Ich hatte das Gefühl, dass das für uns beide galt.« Versichernd lächelte ich ihn an und nickte. »Ja, das ist auch so. Ich wollte nur ... Ich dachte, wenn du das nicht mehr wollen würdest oder irgendwas hättest ändern wollen, dass das jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, darüber zu reden. Weil wir eh gerade über sowas reden und so. Bevor wir in ein paar Monaten wieder von vorne anfangen.« Mit der freien Hand strich er leicht über meine Schulter. »Ich wäre nicht böse, wenn wir in ein paar Monaten wieder darüber reden, ob sich unsere Bedürfnisse geändert haben. Ich fände es sogar schön, wenn wir das einfach so regelmäßig tun würden. Also, wenn ich dich richtig verstehe, dass du weiterhin Kontakt möchtest?« Mit einem vorsichtigen Lächeln nickte ich und als er das Lächeln erwiderte, küsste ich seinen Handrücken. Die Hand an meiner Wange wanderte zu meinem Nacken, streichelte mich dort, bevor er mich zu sich zog und meinen Scheitel küsste. Erleichtert seufzte er. »Ich freue mich. Sehr. Ich hatte echt Angst, dass du wirklich nicht mehr wollen könntest.« Ich lehnte mich wieder etwas zurück, befreite mich dadurch von der Hand in meinem Nacken und ließ auch seine andere los. Langsam schüttelte ich den Kopf. »Nein. Ich möchte das. Und ich möchte mir das auch nicht mehr von meiner Angst kaputt machen lassen.« »Du klingst sehr ... entschlossen.« »Ja ...« Kurz wich ich seinem Blick aus, suchte ihn dann aber ganz bewusst. »Kannst du mir dabei helfen? Kannst du, wenn ich das nächste Mal scheinbar grundlos versuche wegzulaufen, mich daran erinnern, dass ich lieber mit dir darüber reden möchte? Ich ... vertraue dir, das nicht in einer Situation auszunutzen, in der ich wirklich gehen sollte.« »Bist du dir sicher, dass du das wirklich willst, und das nicht gerade purer Aktionismus ist?« Besorgt legte er den Kopf schief. »Nein.« Ich wusste es nicht sicher. Doch das war im Moment zweitrangig. »Aber ich glaube, dass es besser ist, wenn ich nicht einfach gehe. Du tust so viel für mich, du hast es zumindest verdient, dass ich dir erkläre, warum. Und ja, das macht mir eine scheiß Angst, dir dieses Vertrauen zu schenken. Trotzdem weiß ich, dass es die richtige Entscheidung ist.« »Das klingt, als hättest du es dir gut überlegt. Ich werde versuchen, verantwortungsvoll mit dem Vertrauen umzugehen. Ich hoffe trotzdem, dass es nicht dazu kommt.« »Ich auch.« Schief lächelte ich ihn an. »Oder, dass ich das zumindest bis dahin auch allein kann. Ich möchte es zumindest versuchen. Mir ist bewusst, dass ich nie wieder ganz ... gesund? werde, aber vielleicht schaffe ich es ja doch, mein Leben wieder etwas mehr in den Griff zu bekommen. Ich will es zumindest versuchen.« Bevor ich den nächsten Satz aussprechen konnte, brauchte ich eine kurze Pause und holte tief Luft. Es hatte definitiv viel zu lange gedauert, bis ich ihn nun endlich voller Überzeugung aussprechen konnte. »Deswegen habe ich mir Hilfe gesucht.« Überrascht riss er die Augen auf. »Du meinst ...?« Tief seufzend nickte ich. »Ich hab vorhin bei dem Therapeuten angerufen, bei dem ich vor einigen Jahren schon einmal war. Im Moment sind alle Termine voll und ich bin ja auch kein Notfall, aber ich bekomme auf jeden Fall in einigen Monaten einen Termin und kann dann regelmäßig hingehen. Ich will noch einmal mit ihm über die Panikattacken reden, auch wenn ich da mittlerweile sehr gut wieder rauskomme, aber eventuell hat er noch ein paar Tipps. Außerdem eben die Sache mit der Angst vor Nähe und vielleicht auch das mit dem Alkohol.« »Das klingt nach großen Plänen.« Ein leichtes Schmunzeln lag auf seinen Lippen. »Ich muss die Zeit, die ich bezahle, ja auch ausnutzen«, erwiderte ich scherzhaft. »Nein, ehrlich, ich will das wirklich angehen. Ich weiß, dass das nicht leicht und viel Arbeit für mich wird, aber ich kann es diesmal in meinem Tempo machen und mir Pausen nehmen, ohne Druck von außen.« »Ich seh schon, du hast dir das wirklich gründlich überlegt.« Er lächelte und ergänzte dann: »Ich bin stolz auf dich. Und wenn du mich brauchst, bin ich für dich da.« Ich drängte die Tränen zurück und ließ mich dann in Tinos Arme fallen. »Danke.« Zärtlich lehnte er seinen Kopf gegen meinen. Wir blieben eine Weile so sitzen, bis ich kurz auf die Uhr sah und feststellte, dass er bald wieder losmusste. Deshalb löste ich mich von ihm und forderte ihn auf, seinen Bagel zu essen. Währendessen redeten wir über seine Arbeit. »Bleibst du eigentlich hier?«, fragte Tino, während er sich für seine Verabredung anzog. »Nein. Ich werd nach Hause fahren. Ich will noch ein paar Dinge fertig machen. Aber wenn du magst, komm ich morgen Abend her?« »Ja, passt. Wenn du kein Problem damit hast, dass vermutlich Nick dann noch hier ist. Ansonsten komm einfach später. Magst du eigentlich wieder den Schlüssel mitnehmen? Dann kannst du spontan kommen.« Schmunzelnd küsste ich ihn. »Mit dir komme ich gern spontan. Aber ja, wenn es in Ordnung für dich ist, nehme ich den Schlüssel wieder. Und ich hab kein Problem mit Nick. Apropos, hat mein bester Freund sich beschwert, dass er dich kennenlernen möchte, wenn wir weiter in Kontakt bleiben.« »Dann bring ihn doch morgen mit. Und wenn wir die beiden rausgeworfen haben, dann können wir auch nochmal übers Kommen reden.« Tino legte mir die Hände auf den Hintern und zog mich ruckartig an sich. Ich streckte mich, um ihn zu küssen. »Klingt nach einem Plan. Ich frag ihn mal, ob es bei ihm morgen klappt.« »Gut. Und jetzt muss ich mich wirklich beeilen.« Bevor ich mich von ihm entfernte, küsste ich ihn noch einmal. »Dann will ich dir nicht im Weg stehen. Wir sehen uns morgen. Und danke dir. Für alles.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)