Boston Boys - Fragmente von Vampyrsoul (Kurzgeschichten zur Boston Boys Reihe) ================================================================================ Kapitel 15: Samsa - Dezember 2014 --------------------------------- »Nein, lass mich los! Verpiss dich!« Ich trat und schlug nach der Gestalt, die mich packte. Das hier war vorbei! Das sollte nie wieder passieren. Doch es war eine andere Gestalt. Nicht der grünäugige Dämon, der mich noch immer verfolgte. Sie war größer, nicht so schlaksig, stärker! Gegen sie hätte ich keine Chance, ich könnte mich noch so wehren. »Tino, nicht! Lass mich in Ruhe!« Vielleicht half es, ihren Namen zu rufen. Bei ihm hatte es manchmal geholfen. Manchmal ... Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, während mir aus den dunklen, fast schwarzen Augen vor mir Wut entgegensprang. »Ich will nicht. Bitte, Tino.« Ich hatte doch nichts falsch gemacht.   »Hey, Samsa. Samsa! Wach auf!« Die Bilder verblassten, die Gefühle blieben. In meiner Brust war es eng, die Luft reichte nicht, obwohl ich so schnell atmete. »Samsa, mach die Augen auf. Sieh mich an.« Einer der letzten klaren Gedanken, die ich fassen konnte, sagte mir, dass ich der Aufforderung nachkommen sollte, dass dort der Ausweg zu finden war. Die dunklen Augen aus meinem Traum waren direkt vor meinem Gesicht. Ich schrie. Unartikuliert. Laut. Magenerschütternd. Nein! Nein! Das Gesicht verschwand, doch die Stimme, die aus weiter Entfernung meinen Namen sprach und auf mich einredete, blieb. Ich konnte ausmachen, dass sie mich beruhigen wollte, doch allein ihr Klang hatte den gegenteiligen Effekt. Ich versuchte, mich an dem wenigen, was ich zwischen den Tränen und im Halbdunkel erkennen konnte, festzuhalten. Ich durfte nicht weiter abgleiten. Schlafzimmer. Tinos Schlafzimmer. Tinos Stimme. Die es gerade schlimmer machte. »Sei still! Geh raus!« Die Gestalt bewegte sich von mir weg, zur Tür hinaus. Ich bin allein. Ich bin allein. Ich bin allein. Ich fand langsam wieder vollständig ins Zimmer zurück, konnte meine Umgebung wahrnehmen. Das Kopfkissen unter meinem Kopf, die Bettdecke über meinem Körper, das Bettlaken unter mir. Durch das Fenster wehte ein kühler Wind über meine Hand. Es war so still, dass man ihn hören konnte. Und Tinos Fußschritte vor der Tür. Die Lichtquelle bestand aus Tinos Handy auf dem Nachttisch. Daneben eine Wasserflasche, mein eigenes Handy. Ich griff danach und rief die App auf, die ich so lange nicht mehr gebraucht hatte. Das Schlimmste war langsam überstanden, aber ich spürte, dass es noch immer am Rande meines Bewusstseins lauerte. Die Panikattacke konnte ich aushalten, aber ich durfte nicht erneut in diese Traumrealität abrutschen. Sanft leitete mich die Stimme aus dem Handy, half mir, mich wieder zu sammeln, die Vergangenheit von der Realität und den Traum von der Wirklichkeit zu trennen. Diesmal hatte mein Hirn sich richtig verstrickt.   Als es überstanden war, war ich fertig. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauerte, aber lange. Länger als sonst. Ich musste ... Ich schrieb Toby und Roger eine Nachricht, dass sie sich melden sollten, wenn sie wach waren. Zwar hätte ich auch Lance schreiben können, aber es war noch immer so ein Reflex. Es kostete mich viel Kraft, aufzustehen und zur Tür zu gehen. Noch immer traute ich meinen Sinnen nicht, mir nicht doch wieder einen Streich zu spielen. Doch ich musste mit Tino reden. Ich wusste, dass er sich Sorgen machte. Er saß auf dem Sofa, den Blick starr auf die Tür gerichtet, und sprang auf, sobald ich ins Zimmer kam. »Ist alles in Ordnung? Was war los?« Mit einer Handbewegung hielt ich ihn auf, bevor er mich in den Arm nehmen konnte. »Bitte, gerade nicht. Kann ich dir das morgen erklären? Ich bin fertig und wollte dir nur kurz Bescheid sagen, dass es wieder geht.« »Ja sicher. Kann ich etwas für dich tun?« »Nein, nicht wirklich. Wobei ... würde es dir etwas ausmachen, im Wohnzimmer zu schlafen? Oder ich. Ich glaub, ich halte die Nähe gerade nicht aus.« »Kein Problem, ich schlafe hier. Geh wieder ins Bett, okay?« Hilflos lächelte er mich an. Es war offensichtlich, dass er noch weniger damit umgehen konnte als ich. »Ja. Danke.«   Mein Handy weckte mich am nächsten Morgen. Ich nahm ab, ohne nachzusehen. Ich war sicher, dass der Anruf von Roger oder Toby kam. »Hey, Kleiner«, erklang Rogers sanfte Stimme. »Wie geht es dir?« »Mies. Aber besser als gestern.« »Das ist gut. Was ist passiert?« Ich atmete tief durch und versuchte, die Nacht zu rekonstruieren, ohne die Gefühle zu nah an mich heranzulassen. »Ich hatte wieder Albträume. Von damals. Aber diesmal war es anders. Es war nicht er ... es war Tino.« »Was?! Wieso?« Bevor ich Roger antworten konnte, klopfte es an der Tür. Vorsichtig steckte Tino den Kopf herein. »Morgen. Ehm, ich will nicht lauschen, aber ich hör dich hier im Wohnzimmer. Ist es okay, wenn ich reinkomme? Sonst geh ich in die Küche oder so?« Ich zögerte. Er ließ mir die Wahl. Wie eigentlich immer. Er hatte mich nie in eine Richtung gedrängt. Und wenn das mit uns weitergehen sollte, musste ich mit ihm darüber reden. Ich konnte nicht verhindern, dass es vielleicht wieder passierte. Warum also nicht gleich? »Komm rein. Roger, ich stell dich mal laut.« Tino setzte sich aufs Bett, streckte schon eine Hand nach mir aus, zog sie dann aber doch zurück. Ich rutschte zu ihm und legte meinen Kopf in seinen Schoß. »Ist schon okay.« Er seufzte erleichtert und fuhr mit einer Hand durch meine Haare. Mit der anderen deutete er auf das erleuchtete Display meines Handys. »Du hast das Bild geändert.« »Ja. Es war Zeit.« Nun zeigte das Kontaktbild nur noch Toby und Roger, wie sie sich kurz vor einem Kuss anlächelten. Ein anderes hatte ich gestern nicht gefunden. Aber das Wichtigste war: Sie waren angezogen und nur zu zweit. »Und du schienst das andere nicht zu mögen.« »So würde ich das nicht sagen. Ich fand es nur für Freunde etwas sehr intim. Das hat mich etwas irritiert.« »Was hattest du denn für ein Bild?«, meldete sich Roger wieder zu Wort, den ich fast vergessen hatte. Ich spürte das Blut in meinen Wangen. »Du erinnerst dich noch an den einen Abend, irgendwann letztes Jahr, als ihr unbedingt ein neues Bild von mir wolltet und wir dann mit den Handykameras rumgespielt haben. Das von uns drei.« »Oh«, kam es von Roger. Dann lachte er. »Immerhin zeigt es unsere Vorzüge.« Auch Tino lachte, wenn auch nicht ganz so heiter. »Auf eine Art, die ich so nicht erwartet habe, ja.« »Es tut mir leid. Ich bin an das Bild gewöhnt und einfach nicht auf die Idee gekommen, es zu ändern.« Eindringlich sprach ich auf ihn ein: »Aber glaub mir: Wir sind wirklich nur noch Freunde.« »Ja. Ja, ich weiß.« Tino lächelte leicht. »Aber gestern ...« »Sagt mal, braucht ihr mich wirklich noch?«, fragte Roger dazwischen. »Das klingt mir doch eher nach Privatgesprächen zwischen euch. Du kannst uns auch später noch schreiben.« Ich sah kurz versichernd zu Tino. Ja, wir würden schon allein schaffen, das zu besprechen. »Okay, ich meld mich nachher. Oder wenn ich dich doch nochmal brauche.« »Kein Problem. Bis dann.« Mein Display wurde schwarz. »So. Was ist mit gestern? Hatte das etwas mit deinem Albtraum zu tun?« Sanft strich er mir durch die Haare. »Ich hatte das Gefühl, dass du eifersüchtig bist, als du das Bild gesehen hast. Und mir nicht glaubst, dass wir nur noch Freunde ohne Extras sind.« Er seufzte. »Nicht wirklich eifersüchtig. Ich meine, was ich sage: Es ist für mich absolut egal, wie viele andere Menschen du neben mir hast, aber sei bitte ehrlich. Und du hast immer gesagt, dass es sonst nur ONS gibt. Als ich das Bild gesehen hab, war ich wütend, weil es eben nicht für deine Ehrlichkeit sprach. Aber du hast es mir erklärt und spätestens, als ich sie gestern kennengelernt habe, habe ich dir geglaubt.« Ich richtete mich etwas auf. »Aber du hast die ganze Zeit im Rainbow noch wütend gewirkt.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nur nicht so gern dort. Ich bin nur mitgekommen, weil ich deine Freunde kennenlernen wollte. Sonst bekommen mich dort keine zehn Pferde rein. Glaub mir, das war der einzige Grund, warum ich so schlecht gelaunt war. Tut mir leid, wenn ich dir damit die Stimmung kaputt gemacht habe.« »Okay. Dann gehen wir das nächste Mal woanders hin«, beschloss ich. »Ich glaub nämlich, auch Toby und Roger waren nicht so begeistert von dir. Ich möchte gern, dass sie dich richtig kennenlernen.« Er lächelte und küsste mich. »Gut, machen wir.« Ich kuschelte mich wieder an ihn. Ich wusste, was folgen würde, wollte es aber nicht selbst ansprechen. »Magst du mir dann sagen, was gestern Nacht los war? Und wie ich dir helfen kann?« Er sah wirklich besorgt aus. »Es ist nämlich echt nicht angenehm, aufzuwachen, weil du mich im Traum anflehst, dir nichts zu tun, und dann rausgeschickt zu werden. Du hattest wirklich Angst vor mir, oder?« Verdammt, ich hatte auch noch im Schlaf geschrien? Die Nacht musste für ihn mindestens genauso schlimm gewesen sein wie für mich. »Ja, ich ... Es ist echt schwer für mich, darüber zu reden. Ich mag wirklich nicht ins Detail gehen. Nicht im Moment.« Tino bestätigte mit einem Nicken, dass es für ihn in Ordnung war. »Mein erster Freund ... er war sehr eifersüchtig und besitzergreifend. Besonders, wenn es um Toby und Roger ging. Manchmal ist er ... er ...« »Hey«, Tino zog mich dichter an sich. »Ich denke, ich habe heute Nacht genug gehört, um mir ein Bild machen zu können. Du musst es nicht aussprechen, wenn du nicht kannst.« »Danke.« Egal wie lange es her war, es wurde kaum leichter, darüber zu reden. Er küsste mich auf die Stirn. »Und weil du dachtest, ich sei eifersüchtig, hast du geträumt, dass ich an seiner Stelle wäre?« »Ja. Als du mich dann aufgeweckt hast, hab ich mich erschreckt und kam nicht ganz aus dem Traum raus. Deine Stimme ... Ich wusste, dass du mich beruhigen willst, aber sie hat es schlimmer gemacht. Ich musste allein mit der Panik kämpfen.« »Also für den Fall, dass es nochmal passiert, soll ich dich allein lassen?« »Nein! Normalerweise wäre es gut, wenn du sicherstellst, dass ich in der Realität bleibe. Rede mit mir. Über das Hier und Jetzt. Stell mir Fragen und bestehe auf Antworten. Also sowas wie: Wo bist du? Was siehst du? Wenn ich Unsinn erzähle, berichtige mich. Erinnere mich daran, wo ich wirklich bin und was passiert. Wenn ich nicht antworten kann, dann erzähle mir solche Dinge. Sobald ich wieder in der Realität bin, komm ich notfalls auch allein klar, aber so lange bin ich auf deine Hilfe angewiesen.« Ich lächelte ihn schief an. Er wirkte wenig überzeugt. »Auch wenn du hyperventilierst? Ich hatte da ziemlich Angst um dich.« »Ja. Am besten gibst du mir dann mein Handy. Ich hab da eine App drauf, die mir beim Runterkommen hilft.« Ohne ihm meinen Entsperrcode zu zeigen, rief ich die App auf, um ihm zu verdeutlichen, wie sie aufgebaut war. »Im Regelfall bin ich dann aber auch in der Lage, auszudrücken, was ich brauche.« Er griff nach seinem eigenen Handy und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass er die App herunterlud. »Nur für den Fall«, erklärte er mit einem schiefen Lächeln. »Danke, dass du dich um mich sorgst.« Ich schmiegte mich fester an ihn. »Selbstverständlich. Ich bin froh, wenn ich weiß, was ich für dich tun kann. Hilflos daneben stehen, fühlt sich echt scheiße an.« Zärtlich streichelte er über meine Haare, bis ich mich aufrichtete und damit verdeutlichte, dass ich aufstehen wollte. Wenn ich nicht langsam aufstand, duschen ging und an etwas anderes dachte, würde es mir den ganzen Tag nachhängen. Mein Versprechen, später noch mit Roger zu telefonieren würde ich natürlich halten, aber erst nach ein wenig Ablenkung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)