Maskenball von blackNunSadako ================================================================================ Kapitel 2: Schlüsselwort ------------------------ „Kira... Nimm mich mit in dein Schattenreich.“   So finster sein Schatten, so hell meine Worte. Mein Flüstern so sanft, dass mich die Stille überwältigte. Doch Kira hörte mich. Und es veränderte alles.   Plötzlich wurde die wummernde Stille laut. Ein Herz zerschlug sie. In gläserne Scherben zersplittert, schnitt sich scheue Wärme durch die mächtige Kälte im Raum, drängte das Dunkel zurück. Die Illusion von Licht ließ mich klar sehen. Ich sah ihn. Nicht an. Ich sah ihn einfach nur.   Kira stand vor mir, warf ein Schattenbild auf mich. Ich blickte sitzend zu ihm auf, zu seiner Maske, erwartete etwas, von dem ich nicht wusste, was es war. Etwas Gefährliches... das mir jedoch nichts antat. In seiner sich mir nähernden Bewegung angehalten, verharrte er reglos vor mir. Beängstigend steinern. Seine Maske wie lebloser Marmor erscheinend. Wo zuvor noch seine düstere Aura herrschte, schien ihn nun etwas anderes zu umgeben. Desorientierung? Er wirkte neben sich, nicht bei sich, schien nicht hier, sondern woanders. Unerreichbar. Wo bist du? Die Kälte seiner Präsenz wandelte sich, flackerte spürbar, wie eine stürmende Flamme. Als würde sie nicht wissen, ob sie brennen oder verglühen sollte. Ich bildete mir ein, sein umschatteter Schemen auf mir schwand, stattdessen hinter ihm prangend. Als käme das Licht von mir. Seine Silhouette zweigeteilt, wie wenn seine Figur zwei Schatten warf. Die Furcht ließ mich halluzinieren, raubte mir den gesunden Menschenverstand. Ich hatte Angst, verdammt große Angst vor ihm. Selbst meine blasse Stimme zitterte stark.   „Kira?“, versuchte ich zu ihm durchzudringen, ohne Erfolg. Mit kräftigerer Stimme wagte ich es weiter. „Kira.“ Noch immer nichts. All meine Stimmstärke bündelnd, holte ich tief Luft. „Kira!“ Diesmal erreichte ich ihn. Seine Maske fixierte sich auf mich, wirkte so verloren, wie ich mich fühlte. Was ich hier tat, entzog sich aller Rationalität. Ich blieb.   Leere Momente verstrichen, die nur unsere Blicke füllten. Unsicher sah ich von einem Maskenloch auf Augenhöhe zum anderen, wusste nicht, was zu tun. Und seufzte lange, ehe ich ihm schüchtern entgegenkam. Locker klopfte ich auf die Sitzkiste neben mich, gewährte ihm, sich zu mir zu setzen. Er tat es nicht. Misstrauisch spannte sich seine Körperhaltung an, nahm an Erhabenheit zu, als wollte er mich einschüchtern, von sich wegtreiben, verjagen. Es erzielte Wirkung, machte mich nervöser, als ich eh schon war. Doch blieb ich entschlossen, atmete durch, schnaubte; „Nochmal frag ich dich nicht. Setz dich, bevor ich's mir anders überlege.“ Und mich der Mut verlässt.   Erst keine Reaktion, dann kam Leben in ihn. Viel zu schnell war er bei mir. Mit präzisen Bewegungen näherte er sich, nahm den Platz neben mir ein, vereinnahme meinen gesamten Fokus. Das Holz knackte fast lautlos, das Gewicht seiner kräftigen Muskeln hörbar. Seine Körperhitze drängte sich mir auf. Als wir einander die Nähe des anderen spürten, machte es etwas mit uns. Auf einmal schien er wieder wie er selbst, während ich derjenige war, der vor Zerrissenheit nicht wusste, wohin mit mir. Weg! Ich muss... Aber will nicht. Etwas hielt mich hier. Etwas im Raum? Eine unsichtbare Macht? Er?   Kiras Präsenz besaß von Natur aus eine tödliche Attraktivität. Die machtvolle Ausstrahlungskraft brachte mich so durcheinander, dass ich vergaß, wie gefährlich er war. Statt dem Psychopathen sah ich den Mann, der mich zum Psychopathen machte. Ich fühlte es. Wie er eine Störung in meiner Seele auslöste. Er der Illusionist, ich seine Leinwand.   Kira saß so dicht neben mir, dass seine breiteren Schultern beinahe die meinen berührten – was er jedoch verhinderte, indem er seinen Arm hinter mir auf dem leeren Regal auf Nackenhöhe ablegte. Nicht hilfreich! Seine Maske in meine Richtung gedreht, erkannte ich das große Vorhängeschloss, das an ihrer Rückseite angebracht war. Wozu-? „Zu deiner eigenen Sicherheit“, beantwortete er monoton meinen skeptischen Blick, der Verwirrung wich, „und meiner eigenen.“ Verstehend nickte ich, obwohl ich nichts verstand. Daraufhin zog er einen Mundwinkel nach oben. „Du wirst früh genug verstehen.“ Nach kurzem Schweigen setzte er erneut an. „Der Grund, warum ich hier bin“, stockte er, als würde er seine Worte gut überlegen, „ist-“   „Nicht!“, unterbrach ich ihn, „erzähl's mir nicht“, atmete ich aus, sah ihn mit nervös zuckenden Mundwinkeln halb-grinsend an. „Es ist okay. Du hast deine Gründe – ich meine. Unsere Motive sind unterschiedlich, aber sind wir beide zur gleichen Zeit hier. Das zählt.“   Wieder kehrte Tonlosigkeit ein. Jede Stille besaß ihren eigenen einzigartigen Klang, den Kira komponierte. Als würde er durch sie kommunizieren. Sie vermittelte Emotionen, die er nicht selbst aufbringen wollte. Oder konnte. Diese Stille besaß etwas Andächtiges. Die Düsternis schien besänftigt. Vorerst. Was sich in der Atmosphäre bemerkbar machte. Sie wurde milder. Kira beherrschte die Stimmung vollends, hier war er die Macht, einzig und allein. Das Klima lockerte auf, wirkte nicht mehr erdrückend, ganz im Gegenteil; gar schwerelos. Viel zu irreal.   Lässig legte er seinen Kopf in seinen Nacken, wobei das Maskenschloss leise klimperte. „Weißt du“, begann er ruhig und nachdenklich, blickte zur Decke, „ich habe lange keinen Besuch mehr erhalten... Es ist erfrischend.“ Eine humoristische Note zeichnete seine Worte. „Hätte ich dies gewusst, hätte ich etwas vorbereitet.“ Wachsam fragte ich ihn; „Und das wäre?“ „Pasta.“ „Pasta?“ Genussvoll summte er; „Nudeln nasche ich am liebsten.“ „Das... war zweideutig gemeint, oder?“ „Jop“, poppte er das P.   Sein Stimmton trug etwas Neckisches, was sich auf die Atmosphäre auswirkte. Sie nahm Verspieltheit an, beeinflusste mein emotionales Durcheinander. Der Manipulator ordnete es nach seinem Belieben. Ohne, dass ich es merkte.   Ein schiefes Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen. „Flirtest du gerade mit mir?“ Unmöglich. Niemals. Schräg lehnte er seine Maske zu mir. „Möchtest du, dass ich mit dir flirte?“ Dreh mir nicht meine Worte um! „Ich-“ überleg's dir gut, das ist eine Falle! „hätte nichts dagegen.“ Bin voll rein getappt!   Und sein verdorbenes Schmunzeln fraß meine Unschuld. Erwartungsvoll beschleunigte sich mein Puls. Mein gespannter Blick von ihm abgewandt, fixiert auf die Fesseln in der Wand, die mir wilde Phantasien vorgaukelten. Ich will nicht in seinem Folterkeller landen-! Moment. Da bin ich ja bereits... Was hat er mit mir vor?   Etwas absolut Unerwartetes. Schleichend wanderten seine Finger über das Holzbrett hinter uns, erreichten ihr Ziel; mich, schlüpften unter den Stoff meiner azurblauen Kappe und strichen federleicht über meinen Nacken, erfühlten meinen nervösen Puls. Die winzige Berührung schickte prickelnde Stromschläge durch meinen Körper. Das Konzentrieren fiel mir verdammt schwer. Angespannt bebten meine Lippen. „D-Du“, brachte ich hervor, „wie lange hast du keine Pasta mehr gehabt?“ Direkt und freiheraus; „Zu lange.“ Hab ich mir gedacht. Klarer Fall von unternudelt.   Beunruhigt verkrampfte ich mich unter seinen Fingern, die innehielten. „Ich werde nicht über dich herfallen“, versicherte er mir, „noch nicht.“ Sehr beruhigend. Sein versteckter Lippenzug umspielte Vergnügen, als er seine streichelnde Bewegung wieder aufnahm, in rauer Zärtlichkeit meine Haut ertastete. Wohlig seufzte ich, verriet mich. Hilfsbereit wie er nicht war, drückte er es mir voll rein. „Dir gefällt es, wenn ich dich berühre.“ Das angeberische Schmunzeln hab ich gehört! Lass das!   Murrend verschränkte ich meine Arme, wich seinem intensiven Blick aus. „Musstest du das aussprechen?“ „Gewiss“, betonte er das S scharf, „wie du errötest ist ein Augenschmaus.“ Leck mich- Halt. Nicht wortwörtlich gemeint!   Beleidigt drehte ich meinen Kopf weg, was ihm mehr Fläche zum Erkunden gab, die er ausnutzte. Langsam schlichen seine Fingerkuppen meine rechte Halsseite entlang, zielsicher über meine Halsschlagader, fanden hinter mein Ohr, drangen vor zu meinem Haaransatz, in dem sie sich kraulend vergruben. Es nahm mir meine Anspannung, nahm mir meine Angst. Wie schafft er das? Meine Sinne von seinem Fingergeschick betört, völlig versunken, gleichzeitig seinen kristallenen Stimmklängen lauschend.   „Ich werde nicht weitergehen. Mir genügt es, dich zu fühlen“, eröffnete er mir, wurde rauer und leiser, ging fast in ein Wispern über. „Ich habe lange keine menschliche Nähe erfahren... Dies ist mir überaus kostbar.“   Etwas Warmes sickerte in meine linke Brustseite, ließ meine Herzfrequenz in die Höhe schnellen. Zeitgleich ergriff mich ein tiefes Mitgefühl. Wie einsam ist Kira wirklich? Obwohl er so stark wirkte, hatte auch er eine brüchigere Seite, wie eine gläserne Maske, was ihn umso menschlicher machte. Jeder Mensch brauchte jemanden zum Mensch-sein.   Es mag so unbedeutend sein, diese oberflächlichen Berührungen, welche jedoch viel tiefer reichten, viel mehr Wichtigkeit besaßen. Die Zweisamkeit, die die Einsamkeit für einen Augenblick nichtig werden ließ. Zusammen ist man weniger einsam. Ich saß hier, inmitten einer Irrenanstalt, im gefährlichsten Trakt, womöglich mit einem Verrückten und fühlte mich seltsam. Wie in einem Paradox. Als ob ein Teil meiner Welt sich verrückt hätte und dennoch genau am richtigen Platz wäre. Bin ich irre geworden? Innerlich grinste ich mir selbst zu. Die Antwort war eindeutig. Gefühle sind die echten Irren.   „Du bist der Erste“, sprach er andächtig in die Ruhe, „der sich ehrlich für mich interessiert.“ Zweideutig gemeint? Lässig legte ich meinen Kappenschirm schief, blitze ihn aus einem Auge frech an. „Als Seelenklempner tauge ich nicht, aber wenn du ein undichtes Leck in deinem Blechkopf hast“, klopfte ich locker gegen seine Metallmaske, „lasse ich dich vielleicht unter meinen Regenschirm.“   Seine Maske ruhte ausdruckslos auf mir. „Tu das nicht.“ Etwas Warnendes schattierte seinen klaren Stimmton. „Es wird dich zu viel kosten.“ Von meiner Hochstimmung mitgerissen, antwortete ich scherzhaft; „Ich bin pleite. Einem Pleitevogel kann man bloß sein letztes Hemd nehmen.“ „Oder seine Unterwäsche“, stieg er wieder in die Spielerei ein. „Für heute erlaube ich dir, sie anzubehalten.“ „Wie nett von dir“, feixte ich, „soll das heißen, wir sehen uns wieder?“   „Nein“, zerschnitt das Wort die Harmonie. „Es ist nicht sicher...“ „Bei dir?“, spielte ich seine Warnung herunter, „schlimmer kann's nicht werden.“ Oder? Angst hin oder her – Ich helfe dir. Und wenn ich dir nur dazu dienen kann, deine Einsamkeit für einen Augenblick zu vertreiben.   Kurz schwieg er, bedachte mich mit einem gar reuigen Ausdruck, ehe er still seufzte. „Wenn dies dein Wunsch ist, werde ich ihn dir nicht verwehren.“   Ganz zufällig sah ich es. Es ließ alles aus meinem Gesicht weichen. „Eine Kamera?!“, starrte ich auf das Gerät in der Zimmerecke, dessen Linse eindeutig uns fokussierte. Verdammt, verdammt, verdammt-! „Sie nimmt nur Bild auf, kein Ton.“ Das beruhigt mich kein bisschen! Kira nahm seine Hand von meinem Nacken, gestikulierte etwas in Richtung der Kamera. Und erhielt Antwort. Die basstiefe Stimme aus dem Lautsprecher machte mir mehr Angst, als das gesamte Irrenhaus. Der Typ schien dunkel zu grinsen, hörbar. „Ihr habt fünf Minuten, bis die Wache auf ihrem Rundgang zu euch kommt. Ein Quickie geht noch.“ 'Quick-'? Moment. Hilft er uns?! Kira nickte, zeigte einen Daumen nach oben. Fünf Minuten? Ich hab zehn gebraucht, um hier reinzukommen!   „Geh“, wies er mich scharf an, schmunzelte jedoch, „ich erwarte dich bei Nachteinbruch.“ Blitzartig erhob ich mich, wollte schon aus dem Raum eilen, aber wurde aufgehalten, an Ort und Stelle gehalten. Spürte Kiras Hand, die mir zum Abschied die Kappe vom Kopf streifte und im Vorbeigehen durch mein Haar fuhr. Perplex schaute ich in an, während er einen Blick unter meine Kopfbedeckung erhaschte. „Welch attraktiver Anblick...“ Mit glühenden Wangen stürzte ich aus der Metalltür, die ich zuwarf und hektisch abschloss.   Ein letztes Mal sah ich durch das Schiebefenster. Das Bild stach mir ins Herz. Wie er sich zurück an seinen Platz begab, sich selbst fesselte und auf den Boden kniete. Zähneknirschend schob ich das Sichtfenster zu. Dann rannte ich, so schnell ich konnte, aus dem Keller raus. Genauestens darauf achtend, keine Spuren meines Besuches zu hinterlassen.   Als ich die Kellerluke mit dem Vorhängeschloss versah, es zuknackte, bemerkte ich aus der Ferne bereits das schwenkende Taschenlampenlicht, das sich mir zielsicher im Vorgarten näherte. Hastig suchte ich Schutz im Nachtdunkel, presste mich mit meinem Rücken gegen die schattige Schlossmauer und hielt den Atem an. Die Wache war riesig! Ein Muskel-Koloss mit je einem großen Pik-Tattoo auf seinen Bowlingkugeln-ähnelnden Schultern. Dem will ich nachts echt nicht allein begegnen- ...Oh. Das Taschenlampenlicht fiel auf die Kellerluke, verweilte zu lange dort, ließ mich leicht panisch werden. Hab ich das Schloss auch wirklich abgeschlossen? Dann griff er zum Funkgerät. „Alles ruhig, nichts auffällig.“ Schnell biss ich mir in meine Faust, unterdrückte das Prusten, das mir entweichen wollte. Im Gegensatz zu seiner bulligen Statur, klang seine Stimme wie ein hohes Mäusefiepsen, während man auf dessen Schweif trat. Die Taschenlampe schwenkte zu mir. Verfluchter-! Und wieder weg. Herzinfarkt!   Nach gefühlten fünf Herzaussetzern stampfte der Koloss davon, ließ die Erde unter seinen schweren Schritten erzittern und verschwand aus meiner Sichtweite. Erleichtert atmete ich die angehaltene Luft aus. Ich war unentdeckt geblieben. Ein Glück. Doch wie lange wird es anhalten? Bei meiner Pechsträhne, die 'mein Leben' hieß, war es nur eine Frage der Zeit, bis etwas schieflief.     --     Hier läuft was gehörig schief! Der Fremde, der mich empfing. Zurück in Shachis und meiner Schlafunterkunft, öffnete mir das unbekannte Gesicht, das mich mehrere Meter zurück aus der Wohnungstür stolpern ließ. Aus Reflex bewaffnete ich mich mit dem Nächstbesten, was ich zu greifen bekam – ein Besen – und hielt ihn drohend vor mich.   „Wer bist du und was machst du hier?“, forderte ich Antworten, musterte die Gruselgestalt vor mir. Die blasse Haut erinnerte an einen Zombie, mit hellblauen Rastalocken. Ist sein Mund zugenäht?! Die dünnen Fäden zogen sich zu einem gespenstischen Grinsen auseinander, weswegen ich den Besenstiel fester umklammerte. Ich war kurz davor, dem Kerl eine über die dämlich grinsende Rübe zu ziehen, hätte Shachis Kopf nicht plötzlich hinter ihm hervorgeragt.   Als könnte Shachi kein Wässerchen trügen, strahlte er mich in all seiner naiven Unterbelichtung an. „Das ist Heat“, stellte er den unheimlichen Kerl vor. „Ich hab ihn zu einer Übernachtungsparty eingeladen.“   „Du hast- Was?!“ Vor Schock fiel mir der Besen aus der Hand, der laut auf Boden schepperte. Mein 'dein-Ernst!?'-Blick bohrte sich in seine 'Was-denn?'-Unschuldsmiene. Stumm kommunizierten wir per Blickkontakt, bis mein Bruder es mit verbaler Überredung versuchte. „Darf er bleiben, Peng? Büdde?“, flehte Shachi mich aus weinerlichen Augen an. Wie das todtraurige Smiley von 'WhatsUp'. Komm mir nicht mit der Nummer, Freundchen! Jämmerlich zitterte seine Unterlippe, die er vorschob, übertrieben blinzelnd, meinem Gesicht immer näher kommend. Es sah echt bescheuert aus.   „Nein“, blieb ich eisern, betrachtete kritisch den Zombie, der angefangen hatte, den Besen mit dem Teppich zu vernähen. Eine Zwangsstörung? Dabei warf er mir einen trostlosen Blick zu, der durch sein makaberes Grinsen nur verstörender wirkte. Mit der Zunge fuhr er sich über seine Nähte, wobei ihm fast das Sabbern kam. „Ich hab's Hunger. Was gibt’s zu futtern?“, lispelte er, streckte seinen Riecher schnüffelnd in die Luft, sah Shachi und mich ausgehungert an. Es schüttelte mich. Übereilt packte ich den Zombie am geschnürten Korsett. „Hol dir was in der Kantine, oder so!“, schob ich ihn aus der Tür und pfefferte sie zu. Shachi winkte ihm fröhlich, wünschte; „einen guten Hunger und gute Nacht!“   Ich traktierte den Spinner mit einem fassungslosen Blick. „Was hast du dir dabei gedacht? Und wo hast du den eigentlich aufgegabelt?“ „Nichts“, zuckte er mit seinen Schultern und kaute schmatzend einen Zuckerwürfel, „hab ihn auf dem Gang von Station Drei getroffen.“ Station Drei? „Das ist eine der gefährlichen!“, wurde ich lauter, erhielt nur ein lapidares; „ich weiß.“ Gequält stöhnte ich. Nicht zu fassen.   Der Zuckerjunkie schob sich noch einen Würfel zwischen die Lippen. „Und wo warst du?“, wollte er wissen, sah mich neugierig an. Auf der gefährlichsten Station, allein mit einem- Niemals könnte ich ihm das sagen! Belügen konnte ich ihn auch nicht, also entschied ich mich für ein schlichtes: „Weg.“   Einen Moment starrte er mich intensiv an, bis er sich mit den drei Buchstaben begnügte und von sich aus erzählte. Vieles. Viel zu viel. Wie eine Schnellfeuerpistole schossen die Sätze über seine Lippen, dabei fuchtelte er wild in der Luft rum. „BlaBla alles sooo toll Blaaa.“ – Er sagte wirklich 'BlaBla.' Während er vor sich hin blubberte, lief ich Richtung Schlafzimmer und zog mich um, von dem Zuckerwasserfall verfolgt werdend. „Und dann hab ich einen rieeesigen“, breitete er seine Arme aus, „Bären gesehen! ...Leider hing er über einem Kamin“, trübte seine sonnige Stimme, die sich sofort wieder aufhellte. „Ich hab ihn trotzdem gestreichelt! Er heißt jetzt Flauschi.“ Shachis Angewohnheit, alles zu benennen – laut Shachi: 'Weil alles verdient hat, liebgehabt zu werden.'   Meine Jeansweste landete auf einem Stuhl, ehe ich mir mein schwarzes Muskelshirt über den Kopf streifte und es in selbige Richtung warf. Meine Halbstiefel kickte ich zum Doppelbett, auf dem ich mich in Boxershorts bekleidet legte. Im Hintergrund allzeit die quiekende Stimme meines Bruders, die an mein Ohr klopfte. Erinnert mich an das überfütterte Meerschweinchen, das Shachi mal hatte... 'Pixi' war zu flauschig zum laufen und ist im Käfig herumgekugelt. Als ich ihm gesagt hab, dass es ein prima Rollbraten wäre, hat er mich so erschüttert angeblickt, dass-   „Klopf, klopf, jemand da?“, tippte er gegen meine Wange, deren Mundwinkel hinab fielen. Bevor er mit irgendeinem Klopf-Klopf-Witz ankam, brummte ich ihm zu, teilte ihm so meine wenige Aufmerksamkeit mit. Und die Worte sprudelten weiter aus ihm raus. „Fluffy hab ich auch gesehen! Fluffy ist so nett! Dann hab ich mir ein Eis von Freezer geliehen und gegessen- Oh. Jetzt kann ich es ja gar nicht mehr zurückgeben... aber geschmeckt hat's!“ Stell das jemand ab. Gibt's keinen Aus-Knopf? „Und dann war ich in so einem Raum mit ganz vielen Akten.“ Wird's jetzt interessant? „Die hab ich neu sortiert, hab sie mit Glitzer-Stickern geschmückt und kleine Sonnen über die I-Punkte gemalt.“ So viel zu 'unentdeckt bleiben'. Muss ich's ihm erst aus der Nase ziehen? „Hast du was rausgefunden?“ „Jupp. Vieles.“ Und er schwieg, streckte sich ausgiebig. „Erzähl ich dir irgendwann mal. Gute Nacht.“ Ernsthaft?!   „Shachi-?“, sah ich neben mir auf die leise schnarchende Figur, die im Schlaf weiter brabbelte. Aus dem Dummy schlau zu werden, würde ein Studium auf Lebzeiten brauchen. Shachi ist und bleibt Shachi – Ein lächelnder Zuckerwürfel. Murmelnd rückte er mir auf die Pelle, „knuddeln“, schlang er seine schmalen Arme um meinen Oberkörper, zerquetschte mich in seiner viel zu aufdringlichen Umarmung, aus der ich mich vergebens freizukämpfen versuchte. Seine zerstreuten Haare kitzelten mich, sein schmatzender Mund drohte auf mich zu sabbern, seine klebrigen Finger betätschelten mich. Doch als ich auf ihn hinabsah, seine friedlich strahlenden Gesichtszüge sah, freute ich mich für ihn. Ging es ihm gut, dann mir auch. Eine Frage blieb: Wie zum Henker sollte ich in so einer Position schlafen? Bei den vielen Gedanken, die mir im Kopf spukten, sah es eh lausig für meine Nachtruhe aus. Immer wieder flackerte das Bild des gefesselten Mannes in meinem Geist auf. Schläft er überhaupt? So?   Und- Er hat mich attraktiv genannt!, brachte mich der Gedanke völlig aus dem Konzept. Mit einem Mal kam ich mir so dumm vor, dass ich gequält seufzte. So ein Besuch bei einem Psychopathen ist doch ganz normal... gar nicht! Was hat mich bloß dazu getrieben, ihn aufzusuchen? Warum bin ich nicht zu Law gegangen? Ob ich da sicherer gewesen wäre, ist fraglich... Wem kann ich hier überhaupt trauen? Mein Blick fiel erneut auf Shachi. Niemals würde ich ihm sagen, dass seine Anwesenheit mich beruhigte. Allein würde ich das hier nicht durchstehen. „Zusammen schaffen wir alles!“, platzte es plötzlich aus ihm heraus, erschreckte mich fast zu Tode. ...Und er schlief seelenruhig weiter! Meine Hand auf seinen Kopf legend, grinste ich ihm sanft zu. „Schlaf gut, Bruderheart.“     Gerade, als ich kurz weggedöst war, riss Shachi trällernd die Vorhänge auf. „Guten Morgen, liebe Sorgen~!“ Energiegeladen wirbelte er durchs Zimmer, während ich mir grummelnd das Kissen auf meine Ohren presste und die Decke über den Kopf zog. Er riss sie mir einfach weg! „Der frühe Pinguin fängt die Nudel!“, flötete er mir direkt ins Ohr. Woraufhin ich ihm das Kissen an die Sparbirne pfefferte. „Juhu~ Kissenschlacht!“ Rette mich einer vor dem ungenießbaren Weichkeks. Nachdem ich von einem Kissenberg begraben wurde, nur mein Kopf zwischen Zweien herausragte, strahlte mir Shachis viel zu gut gelaunte Visage entgegen. „Du bist ja wach!“, freute er sich, kassierte einen übermüdeten Giftblick von mir, der an seinem Sonnenschutz abprallte. „Ich mag dich auch, wenn du ein Muffel-Muffin bist.“ Dan-ke.   Benommen rieb ich mir den Schlaf aus den Augen, sah den Strahlemann vor mir an, der bereits in voller Bereitschaft vor mir stand und überflüssigerweise salutierte. „Ein neuer Tag, ein neues Glück, Aye!“ Mimose Shachi meldet sich zum Dienst. Der weiße Overall, den er trug, war unsere neue Arbeitskleidung. Auf dem Bruststoff prangte ein grinsender Smiley, dessen Gesicht durchgestrichen war – Das Firmenlogo der 'Familie'. Mit gebrummten Flüchen auf meinen Lippen trat ich mich aus dem Kissenberg frei, streckte meinen Rücken knackend durch und taumelte Richtung Kleiderschrank, wo ich blind nach meinem Overall griff, in den ich stieg. Alles mit geschlossenen Augen – Wodurch ich mir den kleinen Zeh am Stuhlbein anstieß. Verfluchtes Mistding! Auf einem Bein hüpfend, balancierte ich zum Badezimmer, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, putzte mir träge die Zähne und zog mir dann meine braunen Stiefel an. Zuletzt folgte meine Kappe, mit der ich mein verstrubbeltes Haar bändigte.   „Wie spät is'es?“, gähnte ich Shachi zu, der auf seine imaginäre Armbanduhr schaute. „Hm... vielleicht fünf?“ Fünf?! Eilig suchte ich nach einer Uhr, fand im Wohnzimmer eine Kuckucksuhr, deren Fenster aufsprang, ehe mir ein Vogel entgegen krächzte. Ein kleiner Pinguin – Shachis Werk, der in den frühen Morgenstunden nichts Besseres zu tun hatte, als umzudekorieren. Die Zeiger der Uhr zeigten eine inhumane Uhrzeit. „Gute Nacht“, nuschelte ich trocken, ließ mich wieder aufs Bett fallen, Gesicht voraus ins Kissen. Shachis innere Uhr tickt nicht richtig! Ich hab noch eine ganze Stunde! Das Problem: Schlafen war nun nicht mehr drin. Toll. Aber so tun als ob geht.   Shachi setzte sich auf die Bettkante. „Peng?“ Einfach ignorieren. „Da du jetzt schon wach bist...“ Bin ich nicht, bin ich nicht. „Wo warst du gestern Nacht wirklich?“ Die Erinnerung ließ mich meine Augen aufreißen. Mein Puls beschleunigte. Wie beim Verhör fühlte ich mich, als er leiser werdend fortfuhr. „Ich hab gesehen, wie du in den Vorgarten geschlichen bist“, nachdenklich verzog er seine Lippen, gegen die er mit seinem Zeigefinger tippte. „Danach warst du so anders... Hattest du etwa Bienchen-Summsebrumm?“ Ist das peinlich... Ja, ich hab ihm damals bei meinem Outing echt was von Bienen erzählt. Shachis Antwort: 'Mehr Bienchen, mehr Honig.' ...zu passend.   „Okay, okay!“, gab ich mich geschlagen, bevor Shachi einen neuen Peinlichkeit-Rekord aufstellen konnte. Ihm konnte ich nichts vormachen, mir blieb nur die Wahrheit. „Ich hab... jemanden besucht.“ Es fiel mir verdammt schwer, darüber zu reden, weil ich es selbst noch nicht begriff. Weswegen ich so undeutlich wie möglich murmelte, in der Hoffnung, dass Shachi mich nicht verstand. Natürlich tat er es doch. „Das ist aber nett von dir“, schmatzte er mir entgegen – wo hat er auf einmal die Zuckerflakes her? – gespannt sah er mich an, während er sich das versüßte Zeug reinschaufelte. „Wer ist denn die Glückliche?“ 'Biene.' „Es ist ein Er“, lehnte ich mich ans Kopfende und winkelte mein Bein an, auf dem ich meinen Arm locker stützte. „Und der Unglückliche bin ich.“   „Warum denn das? War der Besuch nicht schön?“ „Doch... das ist ja das Problem.“ „Kapier ich nicht.“ Nachdenklich summte er, leckte den Löffel ab, der zwischen seinen Lippen klemmte und schwenke ihn dann theatralisch in die Luft. „Du bist einfach zu pessimistisch. Willst du ihn beblümeln?“ 'Be-' Was? Perplex sah ich ihn an, woraufhin mir Shachi energisch auf die hängende Schulter klopfte. „Am anderen Ufer des Regenbogens wartet immer ein Honigtopf darauf, vernascht zu werden.“ Shachi ist kaputt gegangen. Wir haben ihn verloren. Er weilt nicht mehr unter uns.   Bevor ich mir seine Phantasie-Paranormalitäten weiter antun musste, klopfte es an der Haustür. Unser Abholdienst war da. „Ich geh!“, stürmte Shachi zur Tür, die er mit Schwung aufriss. Ich folgte ihm, lehnte mich mit meiner Schulter gegen die Schlafzimmertür, musterte den Unbekannten. Durch die violette Sonnenbrille sah ich seine Augen nicht, seine Erscheinung wirkte lässig, strahlte zugleich Ernsthaftigkeit aus. Dann stolperte er über die Fußmatte, was er mit einem professionellen Ton vertuschte. „Ihr seid die Frischlinge?“, fragte er uns prüfend, zündete sich eine Zigarette an. „Ein gut gemeinter Rat: Verschwindet von hie- Whoaa!“, klopfte er die Federn seines schwarzen Mantels aus, der Feuer gefangen hatte. Noch so ein Irrer. „Rocinante“, hielt er uns seine Hand hin, dessen Herzchen-Muster Ärmel noch immer glimmte. Shachi eilte zur Rettung, bewaffnet mit einem Wassereimer, den- Er ihm überkippte.   Es zischte. Rocinantes weinrote Kapuze tropfte an den Bändeln, deren Enden auch herzförmig waren. „Habt Dank“, schob er seine Sonnenbrille über seine Stirn, enthüllte seine Augen, sein rechtes zierte ein Halbstern-Tattoo. „Ich bin oft Feuer und Flamme“, fand ein kleines Lächeln seine geschminkten Lippen, ehe er wieder seriös wurde. „Wollt ihr ein Teil der Familie werden?“ „Niemals!“, schoss es aus meinem Mund, auf dessen Unterlippe ich mir biss. Ich und mein vorlautes Mundwerk. Shachi ergriff das Wort. „Mein Bruder und ich sind unsere eigene Familie.“   Zufrieden mit der Antwort, kehrte Rocinante uns den Rücken zu. „Bruderliebe“, sprach er leise zu sich selbst, „ist etwas Rares.“ Damit schritt er voran, verteilte kleine Pfützen auf seinem Weg, die Turmstufen hinab. Als wir die Tür zum Innenhof erreichten, fiel mir etwas ein. Etwas, was ich komplett verdrängt hatte. Bei unserer unerlaubten Nachtwanderung haben wir die Tür aufgeknackt! ...Warum hat sie ein neues Schloss? Rocinante hüllte sich in Schweigen. Das angehauchte Mundwinkelzucken sagte alles. Das hätte verdammt danebengehen können! Wir haben mehr Glück als Verstand. Aber warum ist er auf unserer Seite?   „Grüßt Law von mir“, winkte er uns über seine Schulter, deren Federn erneut brannten und entließ uns in unseren Morgendienst. Ich hatte das Gefühl, als ob unsere Begegnung mit Law etwas losgetreten hatte, in das wir immer weiter verstrickt wurden. Dabei kennen wir Law doch kaum... haben ihn nur ein einziges Mal gesehen... Wie schnell kann Verbundenheit entstehen? Nur die Zeit kann den zerbrechlichen Spross der Freundschaft blühen lassen.     Zunächst mussten wir uns auf die Arbeit konzentrieren, um nicht noch mehr aufzufallen. Shachi wurde auf Station Eins geschickt, ich auf die Zweite. Unsere Aufgabe bestand darin, die Leute zu wecken und zum Frühstück zu schicken. Der Stationsflur war recht kahl, die helle Tapete stark abgefleddert, bloß von ein paar hässlichen Wanddekorationen verziert, die die Schäden teils überdeckten. Schön wohnen war anders. Die gealterten Zimmertüren unpersönlich und einheitlich, ohne Namensschilder. Ich setzte mein freundlichstes Grinsen auf – eines der 'viel-zu-früh-viel-zu-wenig-Schlaf'-Sorte. Bemüht, meine Miesepetrigkeit zu verstecken, machte ich mich auf den Weg. So klopfte ich an die erste Tür, trat dann ein und stand blöd im Raum herum. Anders als Shachi – die gute-Morgen-Laune in Person – war ich echt mies darin, andere zu wecken, wo ich doch ein Vorzeige-Morgenmuffel war. Vielleicht konnte zumindest mein verknäultes Gesicht so abschreckend sein, dass es als Schock-Wecker funktionierte.   Mein Blick fiel im Halbdunkel auf das Bett, in dem jemand schlief. Ich räusperte mich, wollte so auf mich aufmerksam machen. Keine Reaktion, sodass ich mich erneut räusperte, lauter und deutlicher. „Halsbonbons helfen“, kicherte die alte Frau, die mich ansah, als wollte sie mir einen dicken Schmatzer verpassen. „Der Anblick eines solch reifen Früchtchens verjüngt einen um hundert Jahre! Wie wäre es mit etwas Omiliebe?“, zwinkerte sie mir zu, spitzte ihre spröden Lippen und- Ich war raus. Die Zimmertür hinter mir schneller wieder zu, als sie offen war. „Sie finden allein zum Esszimmer!“, rief ich der Tür noch zu und eilte zur nächsten. Nicht vergessen, Peng: Du bist hier in einem Irrenhaus, hier ist niemand normal.   Sicherheitshalber blieb ich diesmal im Türrahmen stehen, wandte mich von dort aus an den Patienten. „Morgen!“, hallte mein Rufen in den Raum, in dem sich jemand regte. „Morgen ist das Gestern von Übermorgen!“, bekam ich Antwort. „Zeit ist nur eine Illusion. Die Wahrheit ist eine Lüge! Alles Lügen!“, schaukelte der Mann mittleren Alters verstört auf der Stelle, fasste sich an den Kopf. „Es sind die Pillen! Die Pillen lügen!“ O-kay. Aber wenn er die Medikamente nimmt... macht es ihn dann nicht selbst zum Lügner? Vorsichtig sprach ich ihn an. „Die Pillen-“ „Psch!“, zischte er mir zu. „Sprich es nicht aus!“ Gar panisch sah er sich um. „Sie können dich hören. Sie sind überall!“ Die Kameras? „Die Fäden“, verzerrte eine Grimasse sein stoppeliges Gesicht, „wir alle tanzen auf ihnen.“ Gewaltsam rüttelte er am Bettgitter. „Wo sind meine Pillen!? Gebt sie mir! Ich brauche meine- Psch! Ich darf es nicht aussprechen... Darf nicht... Psch...“ Ich zwang mich ruhig zu bleiben, erklärte ihm; „Medikamentenausgabe ist beim Frühstück.“ Und verließ den Raum wieder. Innerlich schauderte es mich. Einen solch kaputten Menschen zu sehen, ließ mich nicht kalt. Was ich mir hier vorgenommen hatte, war kein Spaziergang für meine Nerven. Schwach werden, konnte ich mir nicht erlauben. Einmal atmete ich tief durch, bevor ich zur nächsten Tür ging.   „Tretet ein, tretet ein!“, wurde ich von einem stark behaarten Typ mit Fellohren hereingebeten, blieb wieder auf Sicherheitsabstand. „Der Zirkus hat rund um die Uhr geöffnet! Stimmt's, Richie?“, fragte er die Wand. „Du bist ein guter Löwe, mein Richie...“ Sein Blick schweifte zu mir. „Der Clown hat eine rote Nase“, lachte er leise und sprach dann im Flüsterton; „Aber erzähl's ihm nicht.“ Ich rang mich zu einem netten Ausdruck durch. „Ich werd's ihm nicht verraten.“ Und kam ihm verbal entgegen. „Gönn dir eine Pause, geh etwas essen... 'Richie' kann die Manege solang übernehmen.“ Psychologisches Denken: Lasse den Patienten im Glauben seiner Welt und begebe dich auf eine Ebene mit ihm. Es fruchtete. „Richie kann das. Richie ist eine Hauptattraktion!“, begann er die Wand lobend zu streicheln – mein Stichwort zu gehen.   Im nächsten Zimmer brannten viele Kerzen. Dürfen Patienten überhaupt mit Feuer hantieren? Der Mann mit einer Frisur, die nach einer Drei aussah, betrachtete die Kerzen wie hypnotisiert. „Wachs...“, schwärmte er, „Es ist zu schön, um es den Kerzen zu lassen, sie müssen abbrennen. Das Wachs muss frei sein!“ Er beachtete mich nicht, weswegen ich einen Schritt in den Kerzenschein trat, ihn ansprach. „Im Esszimmer gibt es auch Kerzen“, lockte ich seine Aufmerksamkeit, „viele Kerzen.“ Das erfreute ihn. „Freiheit dem Wachs!“ Als er zum Frühstück ging, löschte ich die Kerzen. Sicher ist sicher.   Stockdunkel war es im nächsten Raum. Das Licht vom Flur drang durch die Tür, enthüllte ihn. Den Kerl, der von der Decke hing. In einem Fledermauskostüm. Er öffnete seine Augen und sagte mit verstellt tiefer Stimme: „Ich bin Batman.“ Aaalles klar. Dann fing er an in hohen Tönen zu singen. „Ich häng ab~ nichts hält mich am Boden~“ Elegant sprang er herunter, landete adrett, kniend, und zog sein Cape über seine untere Gesichtshälfte, ehe er dem Licht entgegen zischte. Dann schlich er in einer Heldenpose an mir vorbei, als wäre er auf geheimer Mission. Genannt: 'Auf zum Bat-Frühstück!' Seufzend lüftete ich meine Kappe, sah ihm nach, wusste nicht ob ich weinen oder lachen sollte.   Auf meinem Rundgang begegnete ich vielen eigensinnigen Personen, jeder für sich in seiner eigenen Welt. Allesamt hatten sie eines gemeinsam: Die Medikamente, die sie einnahmen. Welche wusste ich nicht, würde es aber bei nächster Gelegenheit erforschen. Die Wirkung der Mittel erzielte zwar die Beruhigung, aber die Psychose schien sie nicht zu lindern. Absichtlich? Will die Anstalt die Patienten womöglich gar nicht heilen? Weil sie sonst Gelder und 'Mittel zum Zweck' verliert? Oder ist das merkwürdige Verhalten der Leute Normalzustand? Die Suche nach Hinweisen erwies sich als schwieriges Unterfangen. Dadurch, dass das Personal keinen Kontakt, außer dem Nötigsten, zu den Bewohnern haben durfte, konnte ich keine Befragungen durchführen und musste mich mit den wenigen Gesprächsfetzen begnügen. Was hat es mit 'den Fäden' auf sich? Kann ich den Worten von Geisteskranken trauen? Sind es nicht oftmals die Verrückten, die die Normalen sind?   Der Essenssaal war prunkvoll dekoriert, mit Gold, Girlanden und Kronleuchtern – an einem von ihnen hing der Fledermaus-Typ – der Esstisch reichlich gedeckt. Alle Bewohner von Station 1 und 2 aßen zusammen. Es erinnerte an ein makaberes Familienessen. Das Personal stand abseits, bewachte das Ganze. Shachi lief um den Tisch, faltete die Servietten und wünschte jedem einzelnen Teilnehmer einen 'guten Appetit', während ich den Leuten Kaffee nachgoss – und mir selbst zwei Tassen mit viel Milch nahm. Der Kaffee glich Wasser mit braunem Farbstoff, so verdünnt war er. Placebo-Effekt. So trank ich mein heißes Wasser mit Milch und beobachtete unauffällig das Geschehen. Mein Kappenschirm so weit über meine Augen gezogen, dass niemand mein Tun bemerkte. Mein Blick schweifte über die Angestellten.   Eine Frau in knappem Maid-Outfit fragte die Patienten regelmäßig, ob 'jemand sie brauchte.' Ein rundlicher Kerl mit Hasenzähnen und Propeller-Haaren wirkte eher gelangweilt, bohrte in der Nase herum und schien sich weniger für die Patienten und mehr für das Essen zu interessieren. Wohingegen ein konsequent wirkender Mann in schwarzem Mantel, mit mechanischem Aussehen und großer grauer Igel-Frisur strengstens alles überwachte. Sein Gesicht war hinter weißem Mundschutz und einer Rundbrille verborgen. Er hatte etwas Explosives an sich, als seine Laune plötzlich umsprang. „Buffalo, Baby 5!“, brüllte er den beiden Bediensteten zu, „haltet Abstand!“ „Jawohl, Gladius!“   Meine wachsamen Augen glitten über die Patienten, die sich rege unterhielten. Meist redeten sie aneinander vorbei, führten wirre Gespräche, die ich nicht verstand. Nur ein paar Sätze schnappte ich auf. „Die Karten haben zu mir gesprochen... Der Pechvogel wird von ihm heimgesucht werden.“ Sieht der Kartenleger mich an? „Von ihm? Dem Geist?“, kicherte ein Mädchen im Lolita-Kleid und drehte ihren schwarzen Sonnenschirm. „Die Geister sind lustig.“ „Geister? Mir zittern die Knochen. Yohohoho~ Und ich bestehe nur aus Knochen!“, lachte der schlanke, fast unterernährte Kerl mit Afro. „Zeit für ein Lied!“, begann er mit dem Besteck einen Rhythmus zu erzeugen und zu singen.   Am anderen Tischende formte ein Patient eine Figur aus Kartoffelbrei, ein anderer schnitzte aus einem Brötchen Kunst. Kreative Köpfe gab es unter den 'Anders-Menschen' viele. Mittig spielten zwei gegenübersitzende Frauen ein Ball-Spiel – mit einem Käsebällchen, das in rotem Wach verpackt war. „Wachs!“, griff die 3er-Frisur nach dem Käse, den er dicht an seine Brust hielt. „Was tut ihr dem armen Wachs an?“, streichelte er es. „So schön rot...“ Der Clown neben ihm schnaubte. „Was hast du über meine Nase gesagt?!“ Unruhe kam auf, was Gladius zu verhindern wusste. Er entzündete einen China-Böller, den er auf den Esstisch warf. Laut explodierte er, ließ Geschirr scheppern, schleuderte die Tischdekoration umher, stellte alle Anwesenden ruhig.   Ich verfolgte das Spektakel nicht weiter – durfte mich nicht einmischen – leerte meine 'Kaffee'-Tasse und begann mit Shachi zusammen abzuräumen. Mich beschlich das Gefühl, als würde der Kartenleser mich nicht mehr aus den Augen lassen. Nur Einbildung? Als ich zu ihm sah, ruhte sein Blick wieder auf den Karten, aber sein Grinsen war beunruhigend.   Anschließend waren wir dafür zuständig, die Leute zurück auf ihre Zimmer zu bringen. Heute war keine größere Aktivität geplant, Selbstbeschäftigung stand auf dem Plan. Heißt: Die Patienten wurden sich selbst überlassen. Über den Tag gab es keine nennenswerten Vorkommnisse. Zum Mittag- und Abendessen das gleiche Prozedere: Abholen, Aufpassen, Zurückbringen. Die trügerische Ruhe gab mir Zeit zum Nachdenken. Im Gegensatz zu gestern – wo wir von allem und jedem ferngehalten wurden – begegneten wir heute vielen neuen Gesichter. Von den Angestellten wurden wir meist ignoriert, wenn wir ein Wort wechselten, dann nur um strikte Anweisungen zu erhalten. Kein angenehmes Arbeitsverhältnis. Wir wurden nach wie vor wie Außenstehende behandelt. Hätte schlimmer kommen können.   Nach unserer Schicht sollten wir sofort zu unserer Wohnunterkunft zurück. Wir wurden regelrecht aus dem Herrenhaus gescheucht. Obwohl wir zum Personal gehörten, wurden wir zurück zum Turm eskortiert. 'Zu unserer eigenen Sicherheit.' Der Junge mit Highheels kicherte gehässig, als er uns durch den Innenhof führte. Sein Kichern ging mir echt auf die Nerven. „Was ist so lustig?“, fragte ich ihn knurrend und verschränkte meine Arme. Verhöhnend hielt er sich eine Hand vor den Mund, seine gehörnte Kappe wackelte weiterhin, deutete auf sein wenig unterdrücktes Lachen hin. „Doffy wird nicht erfreut sein.“ Was fürn Doofi? „Seine Strafe wird so grausam sein! ChäChä!“   Ich bezweifelte stark, dass der Kerl zu den Angestellten gehörte, so irre, wie der sich aufführte. Selbst nachdem er uns ans Ziel brachte, ebbte sein grässliches Kichern nicht ab. Die geschlossene Turmtür dämmte es kaum. Haben sich die Spinnenweben vermehrt?, bemerkte ich die vielen Fäden, die im Turm-Treppenhaus klebten. Sie glänzten im Sonnenuntergang, dessen rötliches Licht durch die kleinen Halbrundfenster ins Innere drang. „Wo ist Spinni hin?“, fragte sich Shachi traurig. Brummend murmelte ich; „Das will ich echt nicht wissen.“   Ein schweres Geräusch erbebte hinter uns. Jemand verriegelte die Turmtür, sperrte uns hier ein. Damit wir nicht nochmal rauskamen, auch nicht mit Shachis Dietrich namens 'Dieter'. Dieser Einfallsreichtum. In unserer Wohnung seufzte ich, sah aus dem Fenster, beobachtete die untergehende Sonne. Ich wurde nervös. Sobald die Nacht hereinbrach, sollte ich ihn wiedersehen. Aber wie, wenn ich nicht rauskomme? Vielleicht war es auch besser so. Kira wartet auf mich. Soll er doch warten, mir egal-! Nicht mal mich selbst kann ich belügen. Mein Kinn auf meiner Hand bettend, betrachtete ich die vorbeiziehenden Wolken, in denen ich hing. Aus dem Augenwinkel merkte ich es. Etwas Ungewöhnliches: Die Leiter, die vom Innenhof zu unserem Schlafzimmerfenster führte. Was zum-? Mich aus dem Fenster lehnend, am Fensterbrett abstützend, sah ich runter. Am unteren Ende der Treppe war ein billig bekritzeltes Schild aufgestellt: 'Vorsicht, Dacharbeiten!' Doch als ich zum Dach hochschaute, war es völlig unversehrt...   Das Schicksal meinte es nicht gut mit mir. Es wollte, dass ich zu ihm ging. Obwohl ich mir noch immer nicht sicher war, ob das eine gute Idee war. Das war es absolut nicht. Ich und meine Schnapsideen ... Prost!     --     Auf nächtlicher Pirsch, schlich ich auf Zehenspitzen durch den Vorgarten. „Penguin-ya.“ Und erschrak heftig. Muss der sich so anschleichen?! ...Sagt der Schleichende. Seelenruhig spazierte Law mir entgegen, während ich ihn perplex ansah. „Du- Wa- Hä?“ Sehr geistreicher Beitrag. Durchatmend versuchte ich es erneut. „Was machst du auf freiem Fuß? Und warum das 'Ya'?“ Mit seinem tätowierten Zeigefinger deutete er auf seine Schuhe. „Ich korrigiere: nicht 'auf freiem Fuß', ich trage Schuhe.“ Verfluchter Besserwisser! Du weißt genau, was ich meine! Auf meine erste Frage ging er nicht ein, aber auf die zweite. „Mein Therapeut hat mir geraten, nicht zu allem 'Nein' zu sagen... so übe ich mich im 'Ya'-Sagen.“ Indem er es an Namen hängt? ...O-kay.   Seine silbernen Augen bedachten mich mit Schadenfreude. „Du bist noch hier... oberhalb der Erde. Hast du dich bereits eingesargt?“ Hinter meinem Kappenschirm rollte ich meine Augen. „Wie soll ich mich denn einleben, wenn mich an jeder Ecke ein Irrer zu Tode erschreckt?“ „Oh?“, umspielte Amüsement seine Lippen, „Ich habe dich doch nicht etwa erschreckt? Dies tut mir außerordentlich unleid.“ „Das Wort gibt’s nicht mal!“ „Nun tut es dies.“   Der Gedankentrickser puzzelte sich seine eigene Perfektion zurecht. Trotzig verschränkte ich meine Arme. „Hmpf. Puzzle sind was für Streber!“ Auch darauf wusste Law eine neunmalkluge Antwort. „Das Gehirn eines Menschen besteht aus bis zu hundert Millionen Nervenzellen – betrachtet man sie in ihrer Gesamtkomplexität, ähneln sie einem Lebenspuzzle, welches nur ein Genie zu meistern weiß.“   Ich seufzte. „Das hängt mir zu hoch.“ Er schmunzelte. „Galgenhumor hängt höher.“ Ein humorloses Schnauben meinerseits; „Der flache Tiefflieger hat eine Bruchlandung hingelegt.“ „Touché“, hob er seine Plüschmütze an und ging wortlos seines Weges. Mitten im Gespräch!   „Warte“, rief ich ihm flüsternd zu, schaute mich nochmals nach Überwachungskameras um, „ich soll dich grüßen... von Rocinante.“ Der Name brachte ihn zum Anhalten. Nur kurz, ehe er weiter schritt. Seine Mützenkrempe über die Augen schiebend, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. „Verirre dich nicht im Labyrinth, Peng-ya.“ Was er damit wohl meint? „Pass du auch auf dich auf, Law-nayen“, betonte ich den Anhang belustigt. Über seine Schulter traf mich sein funkelnder Blick. „Ein Aye in einem Nein... wie raffiniert.“ Ein Lob? Von ihm?! Geht die Welt unter? Überrascht ließ er mich stehen. Mein Grinsen wich nicht von meinen Lippen. Ich fange echt an, den Kerl zu mögen. Oh nein. Was stimmt nicht mit mir?   Law war sogar so nett und hatte das Schloss der Luke für mich offen gelassen. Also wusste er, dass ich vorbeikam. Ob das etwas Gutes oder Schlechtes war, sei mal dahingestellt. Es wurde uns bisher viel zu einfach gemacht... Was mich nur noch misstrauischer machte. Es war, als ob sich das karmische Glück ansammelte, nur, um bald mit allem Unglück zurückzuschlagen.   Das drohende Unheil lauerte an jeder Ecke. Im finsteren Kellergewölbe schienen mich die dreckigen Wände auszulachen, mit unsichtbaren Fingern auf mich zu zeigen. Das unruhige Flackern der Lichter erschuf Schemen, die nicht da waren. Eilig zog ich meinen Kappenschirm tiefer, ging automatisch schneller durch den Kellerflur. Wer, außer Law und Kira, 'wohnt' eigentlich noch hier unten? Fragen, die ich mir auf dem Weg zu Kiras Tür stellte, um mich von meiner Nervosität abzulenken. Hoffentlich finde ich das nicht so schnell heraus. ...Zu laut gedacht. Als ich den dunklen Gang mit den Zellen passierte, hörte ich ein lautes Knurren hinter einer der Türen. Es klang grauenerregend, besaß nichts Menschliches, ließ mich kalt erschaudern. Verstört hetzte ich durch den Korridor, auf Kiras Tür fixiert, die ich blitzschnell aufschloss, um mich hinter ihr zu verstecken. Warum suche ich ausgerechnet bei ihm Schutz? Wie ein verschreckter Hase stemmte ich meinen Rücken gegen die Tür, hyperventilierte fast und-   „Welch süßlicher Anblick der Angst.“ W-Was? Mein panischer Blick auf Kira gerichtet, der auf dem abgenutzten Sofa saß, in einer bequemen Position mit verschränkten Armen, augenscheinlich schlafend. Habe ich mich verhört? Nur langsam beruhigte sich mein Puls, langsam sammelte ich mich wieder. Tief Ausatmend, lüftete ich meine Kappe und fuhr mir durch mein kurzes Haar. Schläft er wirklich? Unsicher winkte ich, wollte ihn auf mich aufmerksam machen. Keine Regung seinerseits. Schritt für Schritt traute ich mich zu ihm, betrachtete ihn genauer. Seine Atmung ruhig und stetig, hoben und senkten sich seine Schultern leicht. Sein Nacken auf der Sofalehne gebettet, vor seiner, gen Decke gerichteten Maske ein paar lose blonde Haarsträhnen, die sich in seinem Atemrhythmus mitbewegten. Fragend sah ich ihn an, mein Gesicht näherte sich seiner Maske. Näher, immer näher... Banalität Ahoi!   „Neugier ist tödlich.“ Vor Schreck stolperte ich nach vorne, zu weit vorgebeugt um nach hinten ausweichen zu können, fiel – auf ihn. Reflexartig stützte ich meine Hände links und rechts neben seinem Kopf ab, mit meinem Knie zwischen seinen Beinen. Nichts getroffen! Sprachlos starrte ich auf ihn herab, zu geschockt um mich zu rühren. Ich war ihm so nah, dass ich beinahe durch die Maskenlöcher schauen konnte. Kiras Augenfarbe ist- Legte er seine Maske schief. „Welch stürmische Begrüßung... Dass du gleich über mich herfällst...“ Verdammt seien seine Verführungskünste!   Mich aus meiner Starre reißend, murrte ich ihm verlegen zu. „Bild dir bloß nichts drauf ein!“ „Tue ich“, glitten seine Mundwinkel hörbar nach oben, ehe er den Fakt aussprach. „Und du hast es nicht abgestritten.“ Wie sich seine Brustmuskeln sichtbar anspannten, in aller Selbstverherrlichung – Ich betete, dass der einzelne Knopf seiner geschlossenen Bluse nicht platzte. Als er meinen Blick auf seine Muskeln bemerkte, ließ er sie extra provokant tanzen. Dan-ke. Das ist echt unnötig!   Schnell sah ich weg. „Ich steh nich so auf Muskeln“, nuschelte ich, immer leiser werdend. „Lüge“, durchschaute er mich sofort. Sein Finger fand unter mein Kinn, das er zurück zu seiner Maske dirigierte, der ich meinen giftigsten Blick schenkte. Völlig unberührt, sogar höchst amüsiert, schob er seine Beine weiter auseinander, sodass mein Knie in gefährliche Regionen rutschte. Absolut trocken, in aller Ernsthaftigkeit erwiderte er; „Einen Versuch, mir in die Weichteile zu treten, überlasse ich dir.“ Mein breites Grinsen sprach Bände. „Sehr gern. Aber nicht jetzt – Ich hebe mir die Gelegenheit für später auf.“ Dann, wenn er es am Wenigsten erwartet. Welcher Mann lässt sich freiwillig die Eier pulverisieren?   Lachend fragte ich ihn; „Masochistisch?“ „Sadistisch“, offenbarte er freiheraus, ließ mein Lachen verstummen. Schön, dass wir mal drüber geredet haben. Ist ja gar nicht privat. Ich errötete, bemüht, ihn in der peinlichen Position nicht irgendwo zu berühren. Echt schwer, aber machbar. Es nervte mich, dass er mich mit wenigen Worten so sehr aus der Fassung bringen konnte. Dass er so ein Flirt-Profi war und mich als Niete auf dem Gebiet hinstellte. Ich wollte ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen.   Volle Fahrt voraus, auf Flirtkurs! Ich kann das, krieg das hin. Irgendwie. Wie schwer kann flirten mit einem Psycho sein?   „D-Deine Haare sind...“ Gutaussehend? Wild? Rassig? „...blond.“ Voll verhauen!   Mich über meine eigene Unfähigkeit ärgernd, suchte ich schnell nach einem anderen Gesprächsthema. Eines, das passend, aber genauso peinlich war. „Was ist dein Typ?“, klang ich so desinteressiert wie möglich, biss mir unbewusst in die Innenlippe, kaute nervös auf ihr herum. Dass wir uns noch immer viel zu nah waren, verdrängte ich in den hintersten Teil meines Kopfes. Warum hab ich ihn das gefragt? Gespannt wartete ich auf seine Antwort, mit der er sich absichtlich Zeit ließ. Nachdenklich summte er, seinen intensiven Blick auf mir spürte ich in aller Deutlichkeit. Wie seine Augen meine Figur von unten bis oben entlang schweiften.   „Mein Beuteschema?“, wiederholt er, zögerte die nicht vorhandene Spannung unnötig in die Länge, ehe er mit der Sprache rausrückte. „Der impulsive Typ. Emotional, unberechenbar, wiederum leicht auszutricksen. Vielleicht auch etwas ungeschickt... und putzig, wenn er mich mit Blicken erdolchen will.“ Klingt so gar nicht nach mir. Ich konnte es nicht verhindern. Die Enttäuschung, die an mir nagte. Geknickt ließ ich meinen Kopf hängen, wodurch mein Kappenschirm über meine Augen fiel. Klasse. Hab ich mir wieder falsche Hoffnungen gemacht.   „Jedoch“, sprach er weiter, seine tiefe Stimme rauer werdend, ehe er meinen Kappenschirm hochschob, meine Augen mit seinen versteckten einfing, „möchte ich keinen Typ haben, sondern einen Mann.“ Mein Herz holperte. Seine ruchlose Stimme gehörte verboten. „Ein Mann, der mir in die Eier tritt, wenn ich es verdient habe.“   „Also doch masochistisch...“ „Nur in Notfällen.“ „Wenn Not am Mann ist?“ „Oder die Pasta hartgekocht.“ „Du denkst wieder pervers.“ „Jop.“   Beinahe glaubte ich, ihn lachen zu hören. Das verhaltene Geräusch so gedämmt, dass es eher einem unterschwelligen Bassdröhnen glich, welches seine Schultern zum Beben brachte. Er wirkte so losgelöst, so locker, dass ich mich automatisch entspannte. Haltlos sackte mein Kopf auf seine muskulöse Brust. „Wie machst du das?“, flüsterte ich in den weiten Kragen seiner gepunkteten Bluse. „Wie kannst du bei Verstand bleiben und ihn mir zeitgleich rauben?“ Seine Hand strich über meinen Rücken, drückte mich weiter an sich, während er mir durch ein Mundloch seiner Maske ins Ohr hauchte. „Ein Dieb verrät seine Tricks nicht.“   Gib zurück, was du gestohlen hast. Mild lächelnd schaute ich zu seiner Maske auf. Spürbare Minuten blieben wir so, fühlten die Nähe des anderen. Bis mein vorlautes Mundwerk alles ruinierte. „Verschone mich“, mimte ich die Opferrolle, grinste, „und kill mich nicht mit Killer-Sprüchen.“   Urplötzlich wandelte sich sein Wesen. Von harmlos zu gefahrvoll. Er drängte mich von sich herunter, nicht gewaltsam, aber bestimmend. Als wäre ich ihm zu nah gekommen, als hätte ich eine Grenze überschritten. Seine kalte Reaktion war beängstigend. Verwirrt landete ich im Sofapolster, das meinen Aufprall abfederte, sah ihn verwundert an. Der Schatten war wieder da, seine Aura dunkler. Kiras Präsenz kälter werdend, auf eine neutrale Temperatur sinkend.   „Lass uns essen“, wirkte auch sein klarer Stimmton kühler, wie ein trüb gehauchter Kristall. Ich verstand nicht, warum er auf einmal so anders war, tolerierte es vorerst, versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Und fragte; „Essen? Sag bloß-“ „Pasta.“ Natürlich. „Woher hast du-?“ „Kontakte.“ Er unterbrach mich viel zu oft. Als würde er vehement die Kontrolle behalten wollen, sie erzwingen.   So wenig Aufmerksamkeit wie möglich, gab er mir. Doch mehr, als wenn er mich völlig ignorierte. Gefassten Schrittes, seine Bewegungen absolut geräuschlos, ging er in das angrenzende Zimmer – die Küche? - und kam mit zwei Papptellern wieder. Auf ihnen etwas, was ungenießbar aussah. „Ein Fertig-Gericht?“ Nur ein zustimmender Laut, dann schwieg er komplett. Was hat er nur? Die sich intensivierende Stille besaß etwas Verfremdendes. Wenn es so still um ihn wurde, war höchste Vorsicht geboten.   Ich erkannte Kira kaum wieder. Auch wenn ich ihn nur flüchtig kannte, so war sein Verhalten erschreckend merkwürdig. Beunruhigt nahm ich das Plastikbesteck, mit dem ich in dem kalten Essen herumstochert. Selbst das leise Kratzgeräusch wurde von der erstickenden Stille verschluckt. Unwohl und fehl am Platz, so fühlte ich mich. Das kalte Anschweigen war unerträglich. Warum behandelt er mich plötzlich so abweisend? Habe ich etwas Falsch gemacht? Plagende Gedanken und Selbstzweifel. Das, was ich jetzt am Wenigsten gebrauchen konnte. Mein Blick zuckte verunsichert zu ihm. Wie eine Steinstatue wirkte er, fast leblos, seine Maske auf den unberührten Teller vor ihm gerichtet. Abermals bildete ich mir ein, dass seine Maske einen unsichtbaren Riss aufwies, mittig, sein Gesicht spaltend. Ein Trugbild meiner verängstigten Phantasie, in die ich mich flüchte. Ich hielt es nicht aus.   Zwischen meinen aufeinander gepressten Zähnen zitterte meine Stimme hervor. „Es ist besser, wenn ich gehe-“, wollte ich mich erheben. Doch seine pfeilschnellen Finger bohrten sich in meinen Unterarm. „Bleib.“ Die Schärfe seines Befehls war präzise und unmissverständlich. Dennoch hörte ich es heraus: Die Einsamkeit. Der winzige Unterton, der seine klare Stimme verfälschte. Ich konnte ihn jetzt nicht allein lassen.   Meine Hand fand seine. „Kira“, bei Erwähnung seines Namens zuckten seine mich festhaltenden Finger, „du tust mir weh.“   Sofort ließ er mich los, verlor kein Wort darüber, widmete sich stattdessen dem Pasta-Gericht, dessen Spaghetti-Nudeln er durch die Löcher seiner Maske verschwinden ließ. Sieht echt albern aus. In einer anderen Situation hätte ich darüber gelacht. Gerade war mir nicht danach zumute. Wieder fühlte ich mich alleingelassen mit meinen Gedanken, die sich überschlugen. Nebensächlich aß ich kleine Happen, warf ihm dauerhaft scheue Blicke zu, versuchte aus ihm schlau zu werden. Ich hatte nicht viel Ahnung von Psychologie, aber selbst ein Blinder erkannte, dass etwas mit ihm nicht stimmte.   All meinen Mut nahm ich zusammen, kämpfte gegen die dunkle Atmosphäre, die meine Stimme erneut zu erdrosseln drohte. „Was... kann ich tun, damit es dir besser geht?“, bot ich ihm vorsichtig meine Hilfe an. „Bleib“, wiederholte er monoton. Es klang nach einer abgespulten Kassette, die verzerrte. Bevor das schwere Schweigen erneut über uns einbrach, wehrte ich es weiter ab, übernahm den Gesprächspart. Und wählte das absolut unpassendste Thema. Weil mich das schlechte Essen an etwas erinnerte.   „Mein Ex“ Fettnäpfchen Hallo, hier komme ich! „ist ein Arschloch.“ Kira reagierte. Anders, als erwartet. Langsam, wie in Zeitlupe, drehte er seine Maske zu mir. „Soll ich ihn umbringen?“ Das Eis seiner Worte war spürbar. Er würde es tun. Ohne zu zögern.   Die Stimmung schwankte erneut Richtung Bedrohung, hätte ich sie nicht versucht zu retten. „Nicht nötig. Karma regelt!“, klang mein humorvoller Ton viel zu kläglich. Schepp grinsend, fuhr ich mit meinen Fingern beschämt meinen Kappenschirm entlang. „'Tschuldige, dass ich es angesprochen hab.“ Nuschelnd fügte ich hinzu; „Ich Idiot vermassel Dates immer.“   „Date?“, weckte das Wort seine vollste Aufmerksamkeit. Mit einem Mal war er wieder geistig anwesend. Seine sonst so gefasste Stimme klang überrascht. „Du betrachtest dies als Date?“   Verlegen brummte ich; „Naja, wir waren verabredet... ergo ist es ein Date“, erklärte ich logisch, zwang mich zu einem verkrampften Grinsen. „Ohne den Gruselfaktor, wär's echt romantisch.“   „Romantik wird überbewertet“, klang er verschlossen und gleichgültig, beinahe verfeindet. „Liebe ist eine Lüge.“   Ich hörte die unterschwellige Botschaft heraus. „Du glaubst nicht an die Liebe?“ „Nein.“ Vier Buchstaben in Eis gefroren. Das Dümmste, was ich hätte sagen können: „Heißt das, du bist Jungfrau?“ Kurz wurde es still, sehr still. Bis er trocken erwiderte; „Wassermann, von Sternzeichen.“   Auf meinen entgeisterten Blick folgte sein hörbares Amüsement. Aber das gedämmte Lachen seinerseits erstickte jäh. Als würde er es gewaltsam unterdrücken. Abgelöst von etwas Düsterem, das seinen in Diamant geschliffenen Stimmklang splitterte. Die Finsternis ergriff Besitz von der Stille. Kiras Aura die Dunkelheit selbst, ließ mich innerlich zusammenfahren.   „Hast du Angst?“, gierte er zu erfahren, „Vor mir?“ Warum fragt er mich das immer wieder? Intensiv belauerten mich seine Augen, die jede Regung von mir bewachten. Jede Lüge hätte er durchschaut. So blieb mir nur die Wahrheit.   „Nein“, schüttelte ich meinen Kopf, hielt seinem Blick entschlossen stand, „nicht vor dir, Kira.“ Er schien nicht zufrieden. „Was ist es dann, das dich fürchten lässt?“ Vieles, verdammt vieles. Ich war nicht der Mutigste, auch nicht der Coolste, war pessimistisch und impulsiv, hatte mehr Schwächen als Stärken. Ich war echt nicht gut im Umgang mit Gefühlen... wie sollte ich da meine Angst in Worte fassen? Gedankenvoll blickte ich seine Maske an, blickte durch sie durch, direkt in seine Augen.   „Wovor ich mich am meisten fürchte?“, wurde meine Stimme sanfter, zerrüttet von Zweifeln, die sich in Ehrlichkeit erhellten, „davor, dass ich dich an die andere Welt verliere.“ Interessiert legte er seine Maske schief, eindringlich meinen Worten folgend. „Dass sie unerreichbar für mich wird... Deine Welt... Du.“   Er hat mich dort, wo er mich haben will.   Hinter seiner Maske verzerrten seine Lippen, gezeichnet von dunkler Verführung. „Möchtest du, dass ich dich entführe?“, machte er mir ein Angebot, dessen Verlockung mein Herz erschaudern ließ. „Mich... entführen?“, brachte ich wie in Trance hervor, verfiel erneut seinem Bann, in den er mich zog. Keine Chance, ihm zu entkommen.   Ich spürte seine kalten Finger. Wie sie mich berührten, ganz anders als zuvor, viel kälter und bedrohlicher. Wie sie zu meiner Hand wanderten, über meinen Arm, meine Seite, meine Hüfte, zu meiner leeren Hosentasche. Es klirrte leise.   Und er stellte mich vor die Wahl. „Du hast den Schlüssel für meine Maske.“ Ließ er das Objekt in meine Hand fallen.   In düsterer Dominanz sein Flüstern, welches meine Sinne betörte. „Öffne sie.“   Die Tür zu meiner Welt.       . . .       Ein Schlüssel und ein Schloss. Beide füreinander geschaffen.   Und dennoch dazu bestimmt, ihr Dasein in Trennung zu fristen.   Sie müssen vereint werden. Aber wenn sie Eins sind, bricht das Schloss in Zwei.   Alles splittert, nichts überdauert. Die Zeit ist vergänglich, selbst das Ewig endlich.   Jedoch gibt es etwas, das sich festzuhalten lohnt: Die Erinnerung, die wir sind.   Jeder Moment mit dir, graviert sich in mein Leben, lässt mich dem Tode nah sein.   Ich falle. Immer tiefer. Ins schwarze Meer deines innersten Abgrunds, in dem ich zu ertrinken drohe.   Von Gift betrunken. Von dir vergiftet.   Es tut weh.   Die zerbrochenen Spiegel deiner Seelenscherben schneiden sich blutend in meine Brust.   Ich spüre dich. Fühle dein Gefängnis. Leide mit dir.   Dein Gefangener, in seelischen Fesseln.   Wer von uns ist wessen Schlüssel? Wer das Schloss, das bricht?   Kira... Zeig mir die Wahrheit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)