KiraNatural von KiraNear ================================================================================ Kapitel 4: Ein Fluss mit vielen Abzweigungen -------------------------------------------- Es gibt viele Arten von Autofahrern auf dieser Welt und obwohl ich die meiste Zeit meines Lebens in einem autofreien Haushalt verbracht hatte, habe ich auch schon die eine oder andere Erfahrung als Beifahrer gemacht. Auf der Seite des Autos kann man eine Fahrt schon mal ganz anders wahrnehmen, als man es als Fahrer tut oder gar als jemand, der nur hinten sitzt. Man kann der Navigator sein, der Gesprächspartner oder einfach nur da, um mit dem Fahrer ein angenehmes Schweigen zu teilen. Und ich bin schon mit den unterschiedlichsten Leuten gefahren. Manche waren vorsichtig, manche hatten bereits Jahrzehnte an Erfahrung oder sie fahren Auto, weil sie es halt müssen. Unterschiedliche Menschen, mit unterschiedlichen Fahrstilen eben. Doch unter ihnen gibt es auch Menschen, die gerne auf die Tube drücken, die Gas geben, als gäbe es kein Morgen mehr. Auch unter ihnen gibt es zwei Unterkategorien, wie ich habe feststellen dürfen. Die einen, die fahren schneller, weil es der Inbegriff des Fahrgefühls für sie ist. Gib ihnen eine leere, unkomplizierte Landstraße mit wenig Kurven und Gegenverkehr und sie können Gas geben, so viel sie wollen. Dennoch verlieren sie nie die Kontrolle über den Wagen, wissen immer, wann es angebracht ist, zu überholen oder auf eine höhere Geschwindigkeit zu verzichten. Obwohl sie die Fahrt zu einer halben Achterbahn machen, so fühlte ich mich nie unsicher bei ihnen. Und dann gibt es Menschen, die das Tempo lieben, aber das Feingefühl nicht besitzen. Die nicht spüren, wann es an der Zeit ist, den Bleifuß ein wenig leichter zu machen, wann man Gas geben sollte und wann man einfach nur ein Verkehrsrambo ist. Ich kannte eine solche Person und jedes Mal, wenn ich auf ihrem Beifahrersitz saß, habe ich mich gefragt, warum ich überhaupt eingestiegen war. Warum ich mich freiwillig auf die eine oder andere Seite drücken lasse, während sie gerade auf eine abenteuerliche Art die Kurve nahm. Es war stets eine brisante, rasante Fahrt und ich war froh, dass mein Magen kein empfindliches Pflänzchen war. Es ging mir schon eher ans Nervenkostüm und ich war hinterher froh, wenn die Achterbahnfahrt vorbei war.   Daher kam mir die Situation, in der wir vier uns befanden, vertrauter vor, als meine drei Mitstreiter es wohl vermutet hätten. Seit die Brüder am Krankenhaus diesen ominösen „alten Freund“ sehen konnten, hatte Dean Fersengeld gegeben und fuhr nun unkontrollierter durch die Straßen. Wir alle flogen zur Seite, mal zur einen, mal zur anderen und die Kurven nahm er besonders scharf. Ein weiteres Mal war ich froh, dass mein Magen sowas wegstecken konnte. Sich jetzt zu übergeben, war das letzte, was wir alle gebrauchen konnten. Obwohl ich durch diese holprige und rasante Fahrt keine wirkliche Kontrolle über meine Bewegungen hatte, versuchte ich einen Blick durch die Heckscheibe zu erhaschen. Dazu drehte ich mich nach hinten um und hielt mich an der Rückbank fest, um wenigstens irgendeinen festen Halt zu haben. Es war jedoch mehr mein Gurt, der mich an Ort und Stelle festhielt. Als ich endlich aus dem Auto herausschauen konnte, sah ich zunächst nichts Verdächtiges. Spaziergänger, die wohl ihre Erledigungen machten. Kinder, die miteinander spielten. Andere Autos als weitere Verkehrsteilnehmer, die uns folgten und schließlich abbogen. Bis auf einen Wagen. Es war ein Auto, was wie das Kind eines alten Alltagsautos und dem eines Sportwagens aussah. Das Logo fiel mir zuerst nicht auf, aber ich bemerkte schnell, dass es kein Ford oder Toyota war, wie ich sie in den USA sehr häufig gesehen hatte. Das Logo, es sah aus wie ein H in einem Kasten, kam mir bekannt vor, aber ich konnte mal wieder nicht den Finger drauflegen, was für eine Marke das sein sollte. Dafür konnte ich mir aber eine eigene Meinung zur Optik des Autos bilden. Das Auto schien offensichtlich seine besten Jahre hinter sich gebracht zu haben und wurde wohl nur noch herumgefahren, weil sein Besitzer sich kein neues Auto mehr leisten konnte. Auch das war ein Anblick, den ich in den USA des Öfteren gesehen hatte. Autos, die hier und beschädigt waren, aber trotzdem noch benutzt wurden. Wo Teile fehlten, wie ein Fensterscheibe, die dann durch eine Plastikplane ersetzt worden waren. Oder das eine oder andere Auto ohne Stoßstange. Autos, bei denen der deutsche TÜV nein sagen würde. Doch bei dem Auto, das ich sah, würde der TÜV nicht nur nein sagen, sondern in seinem Sessel rotieren. Zwar fehlten dem Auto keine Teile, aber es sah alles andere als gut aus. Viele rostige und zerkratze Stellen, nur hier und da konnte man erkennen, dass das Auto einmal eine schöne, blutrote Lackierung besessen hatte. Eines der Lichter war eingeschlagen worden und wie es im Inneren aussah, konnte ich als Laie nicht sagen, aber hören. Zumindest gab das Auto Geräusche von sich, bei denen ich mir sicher war, dass es diese nicht erzeugen sollte. Und die Tatsache, dass das Auto mehr aus Entschlossenheit noch einigermaßen straßentauglich war als aufgrund seines Zustands, war nicht der einzige Grund, warum mir das Auto überhaupt auffiel. Denn das Auto schien uns zu folgen. Zuerst dachte ich mir nichts, es hätte ja auch sein können, dass das Auto einfach in die gleiche Richtung fuhr wie wir, rein zufällig. Doch Dean fuhr ohne Plan, zumindest glaube ich das und das Auto folgte uns, egal, wie oft wir abbogen. Das war einfach zu auffällig und ich begann mich zu fragen, ob das nicht vielleicht sogar Absicht war, dass wir das mitbekamen. Im Augenwinkel konnte ich sehen, wie Andy sich ebenfalls umgedreht hatte, um einen Blick aus dem Heckscheibe zu bekommen. Er sah jedoch nicht wie ich minutenlang heraus, sondern nur wenige Augenblicke und drehte sich wieder zurück. „Der rote Honda … es ist der rote Honda“, sagte er leise genug, dass ich ihn gerade noch verstehen konnte. Gleichzeitig schlug ich mir innerlich die Hand an die Stirn, weil ich nicht darauf gekommen war, dass es sich bei dem Auto um einen Honda handelte. „Andy, alles in Ordnung?“, flüsterte ich ihm zu, als ich ein verdächtiges Geräusch aus seiner Richtung hörte. Ein Geräusch, das ich hasste, obwohl ich wusste, dass die Person es nicht mit Absicht machte. Sofort aktivierte sich mein Ekelgefühl und ist ein Geräusch, von dem ich bei jedem Mal hoffte, es danach nie wieder hören zu müssen. Und obwohl ich wusste, dass er nichts dafürkann, hoffe ich, dass Andy aufhören würde. Dass es einfach weggehen würde. Doch Andy hielt sich die Hand vor dem Mund und es waren mehrere Würgegeräusche von ihm zu hören. Oh nein, bitte nicht, nicht jetzt, nicht hier! Ein Blick in sein Gesicht zeigte mir, dass Andy kreidebleich geworden, sogar ein wenig grünlich angelaufen war. Meine Gedanken stolperten nun panisch in meinem Kopf umher. Mist, wir haben nicht mal Spucktüten hier… Andy, halte durch, bitte, tu es für uns! Tu es für dich! Und werde auf keinen Fall ohnmächtig, das könnte ich jetzt absolut nicht gebrauchen. Bilder aus der Vergangenheit, die ich wieder loswerden wollte, fluteten meinen Kopf und es dauerte ein paar Herzschläge, bis ich sie wieder soweit verdrängt hatte, dass ich mich auf die Situation vor mir konzentrieren konnte. Mist, was würden Menschen mit normalen sozialen Skills jetzt machen? Ich habe nichts, mit dem ich es auffangen kann und an sein Shirt komme ich auch nicht ran, um es ihm als Ersatzeimer zu geben. Dean wäre auch nicht so begeistert, zumal er dann zwei Flecken mit Erbrochenem wegreinigen lassen müsste. Nein, ich muss erstmal überlegen … ihm ist schlecht, nicht, weil er was Schlechtes gegessen hat, wir alle hatten das Gleiche und uns geht es gut. Nein, es muss mit diesem Honda zu tun haben. Ist das jemand, der ihn verfolgt? Ich verfluchte mich ein wenig, dass ich nicht auf den Fahrer oder die Fahrerin geachtet hatte, sondern nur auf das Aussehen des Autos. Ob das Absicht war? Man war damit zwar in einem auffälligen Auto unterwegs, aber man selbst war damit irgendwie unsichtbar. Aber der Zusammenhang war mehr als deutlich zu erkennen. Zumal er auch von „dem roten Honda“ geredet hatte, das Auto und der Fahrer oder die Fahrerin waren also keine Unbekannten von ihm, zu Andys Leidwesen. Und das schien ihm ziemlich auf den Magen zu schlagen. Während er noch immer mit sich und seinem Mageninhalt zu kämpfen schien, überlegte ich, ob und wie ich ihm helfen könnte. Sofern es das Geschaukel durch Deans wirre Fahrkünste es zuließen, schnallte ich mich ab und robbte langsam, Stück für Stück zu Andy herüber. Legte ihm eine Hand auf den Rücken, vorsichtig, damit er sich nicht erschrecken würde. Doch Andy zuckte nur kurz zusammen, offenbar konnte er sich daran erinnern, dass nicht einer seiner Verfolger neben ihm saß, sondern ich. Eine fremde Person, die ihm bisher sehr wohlgesonnen war. „Beruhige dich, versuche so tief wie möglich durch die Nase zu atmen. Langsam, aber tief. Am besten versuche, in den Magen zu atmen“, sagte ich leise zu ihm und streichelte ihm über den Rücken. Für einen kurzen Moment musste ich an den Kapitän der MS Anne aus den ersten Pokémonspielen denken, ihm musste man auch den Rücken streicheln oder massieren, um ihm gegen die Seeübelkeit zu helfen. Zwar hatte Andy keine Seeübelkeit, aber diese nette und freundliche Geste sollte ihn beruhigen, ihm zeigen, dass er nicht allein ist und das da jemand ist, der sich um ihn sorgt. Zwar kam ich mir gleichzeitig ein bisschen egoistisch vor, da vor allem meine Hauptmotivation war, nicht seinen Mageninhalt halb verdaut zu Sicht zu bekommen, aber in diesem Fall war das möglichweise auch für andere verständlich. Es dauerte ein bisschen, bis er seine Hand wieder von seinem Mund nehmen konnte, er hatte sich an meinen Rat gehalten und intensiv, aber langsam durch die Nase geatmet. Offenbar hatte es ihm wirklich geholfen, sogar noch ein bisschen besser, als ich es mir ausgemalt hatte. Das Grün war aus seinem Gesicht verschwunden, nur blass war er nach wie vor noch. Ich streichelte ihm trotzdem weiterhin den Rücken, weil ich das Gefühl hatte, dass es ihm guttat. Er sagte zwar nichts, aber ich nahm es einfach mal an. Sonst hätte er längst was gesagt oder irgendwie meinen Arm weggeschoben, aber nichts davon war passiert. Stattdessen ließ er es über sich ergehen, blickte stur auf den Sitz vor ihm und bewegte keinen Muskel. Lediglich seinen Mund bewegte er und als ich mein Ohr ein wenig näher an ihn heranhielt, konnte ich sogar verstehen, was er sagte. „Sie wird mich umbringen“, murmelte er immer wieder und wieder leise vor sich hin; und mir war sofort klar: Ah, das muss also eine Fahrerin in diesem komischen roten Auto gewesen sein. Ich wusste nicht, ob ich etwas sagen sollte oder nicht. Mir rauschte der eine oder andere Satz durch den Kopf, den andere Menschen in meiner Lage wohl sagen würden, aber mir kamen sie nicht so leicht über die Lippen. Vor allem, da ich nicht sagen konnte, ob und wie Andy darauf reagieren würde. Würde er nichts dazu sagen? Oder noch mehr daran verzweifeln? Würde daraus dann eine Diskussion entstehen, bei der sich die beiden Brüder noch irgendwie einmischen würden? Dafür hatte ich gerade eher weniger die Nerven. Die Brüder würden, so wie bisher, das Gespräch zwar schnell unterbinden, aber dennoch war es etwas, was ich gerade nicht gebrauchen konnte. Andy tat mir auf jeden Fall leid. Was auch immer er erlebt hatte, warum auch immer diese Frau oder der „alte Freund“ hinter ihm her waren, er hatte es nicht verdient. War er bereits mal von ihnen gefangen genommen worden und konnte ihnen entkommen? Was war der Grund? Eine richtige Antwort fand ich nicht darauf und da ich keine Lust auf einen weiteren Ritt im Gedankenkarussel hatte, versuchte ich nicht länger darüber nachzudenken. Da meine Handfläche langsam taub wurde, und Dean auch immer zackiger in die Kurven raste, hörte ich mit dem Streicheln auf. Für einen kurzen Moment befürchtete ich, Andys Übelkeit würde zurückkehren, aber das war nicht der Fall. Stattdessen starrte er einfach nur auf den Sitz. Vermutlich wollte er nun lieber allein bleiben. Daher robbte ich wieder auf meinen Sitz zurück, schnallte mich an und hoffte, dass diese rabiate Fahrt bald ihr Ende haben würde.   Wie viel Zeit nun genau vergangen war, konnte ich nicht sagen. Zumindest nicht auf die Minute genau, aber wenn ich dem Radio richtig zugehört hatte, kamen bereits zum zweiten Mal die Nachrichten zur vollen Stunde. Wir waren also eine Stunde umhergeirrt, doch ein Blick aus dem Fenster heraus konnte mir zeigen, wo wir uns befanden. Die Straßen, die Häuser, nichts von dem, was ich zu sehen bekam, sagte mir etwas. Waren wir in der nächsten Stadt? Oder noch weiter weggefahren? Ich konnte es nicht sagen. Irgendwas in mir hinderte mich daran, die Jungs zu fragen. Erst vor wenigen Minuten hatte Dean sein Fahrtempo gesenkt und überhaupt hatte ich das Gefühl, dass die Atmosphäre hier in dem Auto besser geworden ist. In einer Stunde kommt man viel mit dem Auto herum, doch in welche Himmelsrichtung wir gefahren waren, ob wir nicht auch noch unterwegs hier und da in eine andere Richtung abgebogen waren, das wusste ich nicht. Die meiste Zeit hatte ich auf Andy geachtet, er hatte zwar recht schnell mit dem Murmeln aufgehört, aber nicht mit dem Starren. Irgendwann hatte er sich aber zurückgelehnt und war eingeschlafen. Seine Atemzüge waren ruhig und normal, dennoch wollte ich ihn erstmal nicht aus den Augen lassen. So hatte ich ihn für eine Weile beobachtet, bis ich mir sicher war, dass er sicher war, dass er nicht im Schlaf an seinem Erbrochenen ersticken würde, was mich selbst auch ein wenig beruhigte. Danach hatte ich mir den Kopf zerbrochen, wer alles hinter ihm her sein könnte und was der Grund dafür war. Doch mir fiel nichts ein. Egal, wie sehr ich es versuchte, ich hatte einfach zu wenig Hintergrundwissen und kannte die Situation zu wenig, um genug Puzzleteile zusammenfügen zu können. Schließlich, auch wenn es mir schwerfiel, gab ich es auf und achtete wieder mehr auf meine Umgebung. Mein Tunnelblick verschwand und so hatte ich aus dem Fenster gesehen.  Um einen Anblick zu sehen, der mir absolut nichts sagte. Die Jungs vorne sahen auch viel entspannter aus, vor allem Sam saß nun wieder viel lockerer in seinem Sitz. Offenbar waren wir die Verfolger losgeworden und ein kurzer Blick nach hinten zeigte, dass uns auch dieser altersschwache Karren nicht mehr verfolgte. Als ich wieder nach vorne sah, erkannte ich, dass Sam mittlerweile sein Handy gezückt hatte und mit irgendjemanden telefonierte. Ob er da gerade Bobby anrief? Zumindest war das für mich die logischste Wahl. Oder war er angerufen worden? Mit einem Blick aus dem Fenster, mit dem ich zeigen wollte, dass mich gerade nichts interessierte, was in der Welt passierte, blickte ich hinaus. Das machte ich oft, entweder um zu lauschen oder weil ich einfach wirklich nur ins Nichts schauen wollte. Weil es entspannend war. Doch dieses Mal tat ich es, um Sam zu belauschen. Ich wusste, es war nicht richtig, aber die neugierige Seite in mir wollte es unbedingt wissen. Selbst wenn Sam hier nur alte Kochrezepte austauschen würde, meiner Neugier wäre nichts zu langweilig gewesen im Moment. „Ach was, das ist kein Problem, du kannst mich doch immer anrufen, das weißt du doch, Ellen“, antwortete Sam freundlich und ich konnte es zwar nicht sehen, aber hören, dass er lächelte. Oh, er spricht also nicht mit Bobby, sondern mit Ellen. Moment, war das nicht diese Mutter aus der Bar, in der viele Jäger rumhängen? Die hatte doch auch was drauf … wow, die letzte Szene mit ihr, als sie sich mit ihrer Tochter in die Luft gejagt hat, das war echt dramatisch. „Natürlich habe ich mich um deinen letzten Gefallen gekümmert, der wilde Hund sollte deiner Tante nun keinen Ärger mehr machen. Ja, wir haben ihm einfach eine Lebendfalle gestellt und dann den Behörden übergeben. Sie wird jetzt wieder ruhiger leben können, ohne den ganzen Lärm in der Nachbarschaft“, sagte er und ich zog im Inneren eine Augenbraue hoch. Wilder Hund? Tante? Behörden? Das klingt ja so, als hätte er sich um einen kleinen Fall in der Nachbarschaft gekümmert. Aber was meint er mit Hund? Normal kümmern die sich doch nicht um solche Dinge. Und meint er mit Behörden die Polizei? Mit der haben die doch normal nichts am Hut… sehr seltsam. Wieder gesellte sich mit Sams Worten ein weiteres Rätsel zu den vielen, zu denen ich keine Antwort oder Lösung finden konnte. Dass er Ellen größtenteils nur noch mit „Ja“ oder „Nein“ antwortete, half mir ebenfalls nicht weiter. Zumindest gab er mir damit keine weiteren Indizien, mit denen ich hätte arbeiten können. Auch wurde es richtig uninteressant, Sam beim Telefonieren zuzuhören und schenkte ich ihm nur noch mit einem halben Ohr Beachtung. Mit den Augen versuchte ich, einen Anhaltspunkt zu finden, doch die Häuser sahen aus wie die, die ich bereits in der einen oder anderen amerikanischen Stadt gesehen hatte. Auch die Menschen sahen alle gleich aus. Müssen wir nicht irgendwann mal zum Tanken? Genau das fragte ich mich, als wir schließlich zum Stehen kamen. Doch nicht, weil der Tank leer war, sonst hätte Dean ja längst was dazu gesagt, sondern weil uns eine rote Ampel aufhielt. Selbst die Kreuzung sah aus wie die vielen Kreuzungen, die ich damals in Texas zur Genüge tagein, tagaus gesehen hatte. Die Ampeln, die nicht neben uns standen, sondern über den Fahrern hingen und damit auch aus der Ferne gut zu sehen waren. Ich fand es schade, dass wir nicht auch hängende Ampeln hatten, wenigstens zusätzlich zu denen, die bereits existierten. Wie oft hatte ich es verflucht, wenn ich mit meinem kleinen Ford hinter einem großen Auto stand und wegen dem die Ampel nicht mehr sehen konnte. Da der Aufenthalt an der Ampel wohl etwas länger dauern würde, blickte ich von der Frontscheibe weg zu meiner eigenen neben mir und beobachtete die Autos, die im Querverkehr herumfuhren. Bis sich ein kleines Moped, oder etwas in der Art, sich neben uns an die Standlinie stellte. Ein kleines, gelbes Moped, das mir bekannt vorkam. Nicht, dass ich das Moped selbst kannte, aber die generelle Art hatte ich schon öfters gesehen. Nur, wie diese Art von Moped hieß, konnte ich nicht sagen. Mein Gefühl sagte mir, dass es sich um einen italienischen Roller handelte. Klein, verspielt und romantisch. Also genau ein Drittel von dem, was man Italienern im Klischee nachsagte. So starrte ich das Moped an und fragte mich, wie es sich wohl anfühlte, mit sowas zu fahren. Daher fiel mir auch erst nach wenigen Sekunden auf, dass der Fahrer zu mir herübersah. Also erwiderte ich den Blick … und hätte ich in diesem Moment was gehalten, ich hätte mir Mühe geben müssen, diese Sache nicht fallen zu lassen. Meine Augen öffneten sich und ich war dankbar für die Tatsache, dass mich von den Jungs keiner sehen konnte. Dean und Sam saßen mit dem Rücken zu mir, Sam war ohnehin mit seinem Telefonat beschäftigt. Andy dagegen ruhte sich immer noch aus, er hatte es aber auch verdient, mal abzuschalten und sich zu erholen. Ich dagegen starrte mit offenen Augen und blankem Gehirn auf den Fahrer dieses kleinen, gelben Mopeds und fragte mich, ob das ein Traum war. Zwar hatte ich ein Problem mit den Gesichtern und Namen anderer Leute, aber das eine oder andere Gesicht hatte sich instant in mein Gehirn gebrannt, so fest, dass ich es sofort erkennen würde. Und das Gesicht meines Lieblingsengels Nummer zwei gehörte dazu. Dort, mit einem Helm, der so gelb wie sein Moped war, saß der Erzengel Gabriel und blickte zu mir herüber. Sofort musste ich an Deans Kommentar bezüglich Castiel und den Hells Angels auf Mopeds denken, aber ich glaubte nicht, dass er das damit gemeint hatte. Langsam wurde mir mein Starren unangenehm, aber ich wollte auch nicht wegsehen. Ich befürchtete, würde ich auch nur einmal blinzeln, dann würde Gabriel verschwinden oder dort jemand anderes auf dem Moped hocken. Das wollte ich vermeiden. Gabriel schien das dagegen überhaupt nichts auszumachen, stattdessen hob er seine linke Hand und winkte zu mir herüber, offenbar wollte er mich damit grüßen. Unsicher, wie ich reagieren sollte, hob ich ebenfalls die Hand und erwiderte seine Geste. Lächelnd sah er mich an und immer mehr verstand ich, warum die Fangirls so auf ihn abgingen. Naja, er sah ja auch nicht schlecht aus, und sein Charakter war auch sehr … interessant und amüsant. Erst, als er an seinem Schnurrbart zu zupfen begann, fiel mir dieser auf. Zwar wusste ich nicht, was er mir mit dieser Geste sagen wollte, aber ich wusste, dass der Bart nicht echt war. Gabriels Hülle hatte nie einen Schnurrbart besessen, außer in dem Casa Erotica Video, wenn mich meine Erinnerung nicht im Stich ließ. ´ Viel Zeit darüber nachzudenken ließ er mir allerdings nicht, denn er befand sich auf der Links-Abbieger-Spur und seine Ampel war wohl gerade grün geworden. Denn er zwinkerte mir kurz zu, bevor er Gas nahm und an der Kreuzung abbog. Aufgrund der vielen Autos, die inzwischen stehen geblieben waren, verlor ich ihn ziemlich schnell aus den Augen. Krass, ich hab einfach mal so Gabriel gesehen. DEN Gabriel. Krass. Das ist ja schon fast wie ein Sechser im Lotto. Dass der überhaupt mit nem Moped unterwegs ist … aber Gabriel war ja schon immer ein wenig anders als die meisten anderen Engel, so wie Cass oder Balthazar. Oder dass er einen Helm tragen würde! Offenbar ist selbst einem Erzengel die Sicherheit im Straßenverkehr sehr wichtig. Während ich noch aus dem Fenster sah und dümmlich herumgrinste, weil mich Gabriels Anblick mehr als glücklich gemacht hatte, lauschte ich weiterhin. Andy gab keinen Ton von sich, er war noch weiterhin am Schlafen. Aber weder Dean noch Sam kommentierten Gabriels Auftritt, offenbar hatten sie ihn entweder nicht gesehen oder erkannt. Ob sie ihm schon mal begegnet sind? Oder ob sie ihn überhaupt kennen? Wenn ja, als was? Noch als Trickster oder schon als Gabriel? Doch es kam nichts und ich hielt es für das Beste, ihnen auch erst einmal nichts davon zu erzählen. Denn das hätte sicherlich Fragen aufgeworfen. Irgendeine dumme Ausrede für mein dümmliches Grinsen würde mir schon einfallen, da war ich mir sicher. Denn dieses wollte und wollte partout nicht von meinen Lippen weichen.   „In Ordnung, Ellen, ich melde mich wieder bei dir“, konnte ich Sam hören, dann nahm er das Handy von seinem Ohr und legte auf. Ich sah kurz zu ihm hin, doch da ich ihm nicht zu offensichtlich meine Aufmerksamkeit schenken wollte, sah ich wieder aus dem Fenster heraus. Nur schwer konnte ich mein Lächeln unterdrücken, doch je länger ich mich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte, desto leichter fiel es mir. Zu meinem Glück sah Sam gerade nicht nach hinten, wer weiß, ob ich das gut hätte begründen können. „Und, was wollte Ellen am Ende nun von dir?“, fragte Dean, ohne die Straße aus den Augen zu lassen. Offenbar hatte er deutlich besser aufgepasst und hingehört, als ich es getan hatte. Denn ich hatte keine Ahnung, was Dean damit meinte. Ich konnte erkennen, dass Sam sein Handy irgendwo hin verstaute, zumindest verriet es die Bewegung seiner Schultern. „Nichts Besonderes, sie hat nur gesagt, dass sie uns bei mehreren Kleinigkeiten unsere Hilfe brauchen würde“, sagte er und ich hatte das Gefühl, dass es alles andere als Kleinigkeiten sein konnte. Es war mit Sicherheit eher eine große Sache, denn mit Kleinigkeiten würde Ellen sicherlich allein fertig werden. Nein, hier ging es um größere Kaliber, wie Vampire, Werwölfe und derartiges. Doch das konnte er natürlich nicht in meiner Anwesenheit sagen. Also musste es als „Kleinigkeiten“ getarnt werden. Nur zu gerne wüsste ich, wobei die Brüder ihr helfen sollten, doch das konnte ich sie ja schlecht fragen. Oder wäre das möglich? Während ich noch darüber grübelte, wie ich die Jungs fragen könnte, dass es einfach nur nach purer Neugierde ohne Hintergedanken klang, sah ich, wie Sam sich nach hinten umdrehte. Er sah in Andys Richtung, während dieser noch immer selig vor sich hinschlummerte. Sam schien ein wenig erleichtert zu sein, doch auch Sorge stand ihm im Gesicht. Zumindest hielt ich es für Sorge. „Wir müssen uns auch noch um Andy kümmern. Er braucht ganz dringend unsere Hilfe, das kann so nicht weitergehen“, sagte Sam und Dean nickte nur. „Ich hab ihn, seit wir ihn auf dieser Straße angetroffen haben, noch nie so tief schlafen gesehen. Er muss völlig erschöpft sein. Aber hier, bei uns, ist er sicher. Dennoch, wir müssen eine Lösung finden und das am besten schnell.“ Dann, als ob es ihm wieder eingefallen war, drehte er sich wieder um, dieses Mal jedoch in meine Richtung. Er lächelte mich an und wollte mir wohl Mut machen oder mich trösten, diesen Gesichtsausdruck konnte ich noch schlechter deuten als den davor. „Keine Angst, dich hab ich nicht vergessen“, sagte er und ich blickte ihn an, versuchte ein Lächeln auf meine Lippen zu zaubern. Aber eigentlich hatte ich diese Angst nicht. Dennoch wollte ich ihm eine positive Rückmeldung geben. Ihm zeigen, dass mich seine Worte erreichten und dass er sich keine Sorgen machen müsste. „Wir werden so schnell wie möglich versuchen, dich in ein Krankenhaus zu bringen, damit du die Hilfe erhalten kannst, die du benötigst. Eventuell ist es auch nichts schlimmes, heutzutage kann man sehr viele körperliche und seelische Leiden behandeln als früher, du musst dir keine Gedanken machen. Entschuldigung, dass du all das hier mitmachen musst. Aber du bist sehr tapfer, dass du das bisher so mitmachen konntest, trotz deiner Umstände“, sagte Sam schon fast mitleidig. Ich dagegen fühlte mich einfach nur seltsam. Es war, als würde Sam mit einem Kind reden, aber vermutlich wollte er nur verhindern, dass ich mich aufregte oder dass sich meine „Symptome“ verschlimmern würden. Vielleicht dachte er, dass ich irgendein Trauma verarbeiten würde. Mir selbst war von einem Trauma nichts bekannt, oder von ähnlichen Dingen. Da hatte ich mich ja in eine schöne Sackgasse hineinmanövriert. Doch, bevor ich etwas erwidern konnte, kam Dean mir dazwischen. „Nein, Sammy, nicht jetzt“, meinte er und sein ernster Ton verriet mir, das er es auch so meinte, wie er es sagte. Verwirrt drehte sich Sam wieder nach vorne und sah seinen Bruder an. „Warum, nein? Kira braucht auf jeden Fall professionelle Hilfe, wenn nicht mindestens eine psychologische Beratung, die wir ihr beide nicht bieten können. Wir spielen damit auch mit ihrer Gesundheit.“ Dean schüttelte mit dem Kopf. „Wenn wir sie jetzt ins Krankenhaus bringen, dann spielen wir noch mehr mit ihrer Gesundheit, als dir lieb ist. Wir können sie gerne in professionelle Hände geben, aber erst, wenn wir sicher sind. Außerdem ist sie nicht aus Zucker, sie wird schon nicht zusammenbrechen. Bisher macht sie einen stabilen Eindruck auf mich“, sagte er und Sam sah sofort zu mir hinter, als würde er sich umgehend davon selbst überzeugen wollen. Als würde Dean etwas in mir sehen, was er nicht sah. Vielleicht fragte er sich, ob Sam mich zu sehr in Watte versuchte zu packen. „Und wann willst du sie dann hinbringen?“, fragte Sam ihn anschließend, kaum, war sein Blick von mir wieder weg. „Ganz einfach: Sobald wir genug Distanz zwischen diesem Ort und uns gebracht haben. Zur Not bringen wir sie in einem anderen Krankenhaus unter. Solange dieser Dreckssack hier herumlungert, ist es besser, wenn wir von hier verschwinden. Und damit meine ich uns alle, wir vier.“ Sam spielte mit seiner Lippe herum, vermutlich wollte er etwas darauf erwidern, doch entweder rang er mit sich oder ihm fehlten die passenden Worte. Oder er war der Meinung, dass sein Bruder recht hatte, konnte es sich aber nicht eingestehen. Es dauerte ein paar Minuten, bis er schließlich wieder zu Worten fand. „Wo möchtest du denn überhaupt hinfahren?“, wollte Sam von seinem älteren Bruder wissen. „Das wirst du schon sehen. Aber komm mir jetzt ja nicht mit Tipps, ich fahre, ich bestimme. Du kennst das Spiel“, sagte Dean entschlossen und ich musste an ein altes Zitat von ihm denken. Driver picks the music, Shotgun shuts his cakehole. Und offenbar wählt der Fahrer auch die Fahrtroute aus. Sam zuckte mit den Schultern, und drehte sich wieder zu mir um. „Tut mir leid, so wie es aussieht, wirst du noch ein wenig durchhalten müssen. Kannst du das? Wenn es dir zu viel wird, sag Bescheid, nicht, dass es mit … du weißt schon, den Stimmen schlimmer wird“, sagte er und ich konnte ihm ansehen, dass er sich wirklich Sorgen um mich machte. Das schlechte Gewissen nagte an mir und ich lächelte wieder ein bisschen, um ihm ein gutes Gefühl zu geben. „Danke, ja, es ist alles in Ordnung. Wenn es schlimmer werden sollte, werde ich mich melden“, sagte ich so ehrlich wie möglich und hoffte, dass mich diese Stimme in der Nacht nicht noch einmal einholen würde. Gleichzeitig war ich aber auch dankbar, weil ich dadurch mehr Zeit mit den Winchesters verbringen würde. Andy tat mir dagegen ziemlich leid und ich wünschte, ich wüsste, wie ich ihm helfen könnte. Doch ich fühlte mich so wie immer: Hilf- und ahnungslos.   Schließlich hatte ich eine Idee und überlegte, ob ich sie wirklich nennen sollte. Was hast du schon zu verlieren? Naja, käme es nicht ziemlich verdächtig herüber, wenn ich das Thema nun anschneide? Dann wüsste Sam ja, dass ich ihm zugehört habe. Ja, aber das war ja am Ende des Gesprächs. Wäre Andy wach gewesen, hätte er es sicherlich auch mitbekommen. Und dass man gar nichts mitbekommt, das ist ja nicht mal bei dir möglich. Nein, sag es ruhig, ich meine, was wäre deine Alternative? Dass die Jungs durch die Gegend fahren und dich dann irgendwo aussetzen? Das wäre eine Win-Win-Situation für alle, vielleicht sogar für Andy, weil er dann nicht mehr an die Frau oder den Mistkerl oder das Auto denken muss. Jetzt tu es einfach! Wie so oft, wenn ich mir über etwas uneinig war, redete ich mit mir selbst im Kopf, versuchte es abzuwägen und tat so, als ob eine Person mit mir darüber redete. Meistens war sie es, die mich dann dazu ermutigte oder dazu bewegte, irgendwas zu tun. Oder nicht zu tun. Je nach dem, um was es ging. In der Hoffnung, dass mein fiktiver Diskussionspartner recht hatte, atmete ich ein und versuchte so laut wie möglich zu reden, ohne aber den armen Andy aufzuwecken. „Ähm, ich hätte eine Idee, wie wir die ganze Situation lösen können. Und dann würde ich auch gerne noch etwas von euch wissen“, sagte ich und begann nervös mit meinen Fingern zu spielen. Auch spürte ich, wie sich meine Wangen aufwärmten. Das Rosa, dass sich nun in meinem Gesicht bildete, konnte ich mir nur zu gut vorstellen. „Oh? Ja klar, lass hören“, sagte Sam neugierig und ich glaubte, auch Dean spitzte ein wenig die Ohren. Doch ich wollte mich davon nicht irritieren lassen. „Naja, ich meine, ihr habt doch darüber geredet, dass ihr so weit wie möglich von diesem Ort wegwollt. Und du wurdest doch angerufen, dass jemand eure Hilfe braucht.“ Dass ich Ellens Name wegließ, war Absicht, denn ich wollte wie jemand wirken, der absolut keine Ahnung hat und dementsprechend nicht so viel aufgeschnappt hat. „Was hat sie denn für Probleme? Wenn sie weiter weg von hier sind, dann könnten wir doch hinfahren. Bis dahin hat der Mistkerl die Stadt sicherlich verlassen und wenn ihr mit dem Problem fertig seid, dann können wir ja wieder hierher zurückkommen.“ Da Sam nichts sagte, fasste ich meinen ganzen Mut zusammen und sprach weiter. „Naja, ich habe mir auch gedacht, wenn es wirklich nur eine Kleinigkeit ist, dann können wir euch vielleicht sogar ein bisschen dabei helfen? Ich kann zwar nicht so schwere Sachen tragen, also wäre bei einem Umzug oder so keine große Hilfe; aber, wenn ich helfen kann, dann helfe ich gerne. Und ich bin mir sicher, dass es Andy auf andere Gedanken bringen könnte. Vielleicht bekommt er ja seinen Kopf frei und weiß dann eventuell besser, wie er mit dieser ganzen Walmart-Kaufhausdetektiv-Sache umgehen soll. Das könnte ihm bestimmt helfen.“ Inzwischen waren meine Finger so warm wie meine Wangen, so fest, wie ich mit ihnen spielte und sie knetete. Für einen kurzen Moment bekam ich das Bedürfnis nach einem großen Tropfen Handcreme, damit es nicht ganz so seltsam aussah, was ich da gerade tat. „Außerdem hat mich das Ganze neugierig gemacht. Wie kommt es, dass ihr so vielen Leuten helfen wollt? Das ist in unserer Gesellschaft nicht so selbstverständlich. Ich bin nicht misstrauisch oder so, ich spüre einfach, dass ihr zwei gute Menschen seid. Also dass ihr uns nicht in der nächsten Ecke ausschlachten und unsere Organe dann auf dem Schwarzmarkt verkaufen wollt, denn sonst hättet ihr das sicherlich getan. Aber macht ihr das oft? Also Leuten helfen, die euch so über den Weg laufen? Wir mir und Andy? Was auch immer eure Beweggründe sind, die habt ihr sicherlich, naja, es ist auf jeden Fall eine sehr großartige Charaktereigenschaft. Bleibt ruhig so, damit seid ihr ein schöner Ausgleich zu dem allgemeinen Egoismus, der heutzutage so herrscht“, sagte ich, nahm mich aber selbst dabei nicht komplett heraus. „Ich möchte damit auch Danke sagen, nicht jeder hätte mich von dem Regen gerettet und mir trockene Kleidung gegeben. Oder mir Essen spendiert. Ohne euch wäre ich wohl entweder verhungert, verdurstet oder an einer Erkältung gestorben.“ Gleichzeitig brach ich mir gefühlt fast alle Finger und wünschte mir, ich würde aufhören zu reden. Doch die Worte sprudelten aus mir heraus. Sams Lächeln wurde dagegen noch einen Ticken wärmer und ich würde zu gerne Deans vollständigen Gesichtsausdruck sehen, auch, wenn dieser sich von der Mimik her wohl weniger deutlich ausdrücken würde. Daher spielte es keine große Rolle, dass ich nur seinen Hinterkopf und ein Stück seines Gesichts im Rückspiegel sehen konnte. Denn sagen tat mir beides nicht sehr viel. Dann begann Sam ein wenig zu lachen, ob es jedoch echt war oder nur gespielt, das wusste ich nicht. „Keine Angst, wir sind keine Verbrecher, die darauf auf sind, irgendwie mit euch beiden Geld zu machen. Wir sind einfach zwei nette Menschen, die wie du gerne helfen, wenn sie es können. Du hast ja auch festgestellt, dass die Welt eher egoistisch geprägt ist. Aber wenn man eine gute Tat gibt, gibt es eine sehr große Wahrscheinlichkeit, ebenfalls eine gute Tat zurückzubekommen. Das treibt uns an.“ Mittlerweile konnte ich Sams perfekte Zähne zwischen seinen Lippen herausblitzen sehen und spürte kurz ein bisschen Neid in mir. Vor allem, da meine Zähne ein weiterer Beweis für meine schlechten Gene waren. „Außerdem hattet ihr beide ja sonst niemanden und ihr scheint sehr viel Hilfe zu benötigen. Zwar werdet ihr am Ende professionelle Hilfe brauchen, besonders du, aber die ersten Schritte sind schon getan. Du bist uns auch nichts schuldig“, fügte Sam schnell hinzu, wobei ich ihnen diese ganzen Gefallen, die sie mir getan hatten, schon gerne irgendwie zurückzahlen würde. Wie war nochmal das Motto der Lennisters aus Game of Thrones? Ein Lennister begleicht stets seine Schuld – oder so? Ja, ich denke, ich werde es wie ein Lennister halten. Dennoch, um ihn ein wenig zu beruhigen, nickte ich ihm zu und sein Lächeln wirkte nun noch etwas glücklicher auf mich. Da auch seine Augen strahlten, wusste ich nun, dass es ernstgemeint war. Dass er nicht nur so tat, sondern wirklich lächelte. Sam hatte wohl, während er seine Erklärung von sich gegeben hatte, gleichzeitig über meinen Vorschlag nachgedacht und sich überlegt, wie viel er mir gegenüber preisgeben könnte. Er wusste, dass er nicht sehr viele Alternativen hatte, vor allem, da sein Bruder Andy und mich weiterhin in ihrer Nähe haben wollten. Vor allem, da Andys Verfolger nach wie vor hinter ihm her waren und vermutlich auch hinter mir nun. Einfach nur, weil wir beide miteinander zusammen in der Bushaltestelle waren und auch gemeinsam auf der Flucht. Noch einmal sah ich zu Dean, dieser blickte von der Straße zu seinem Bruder und wieder zurück. Und die Blicke, die er ihm zuwarf … sie wirkten, als wollte er sagen: Sam, pass auf deine Worte auf! Verrat nicht zu viel, am besten gar nicht. Gleichzeitig wusste er wohl nicht, wie er ihn dabei hindern könnte, immerhin war ich eine Außenstehende, für die alles so normal wirken sollte, wie es eben möglich war. Wie es die Umstände erlaubten. Daher blieben ihm nur seine Blicke, für den Moment. Ob Sam davon etwas mitbekam, konnte ich nicht sagen.   „Jedenfalls, dir danke für dein Angebot, ich denke, es ist wirklich eine gute Idee“, sagte Sam und Dean zog, wie ich im Rückspiegel erkennen konnte, eine Augenbraue hoch. Auf der anderen Seite war er es ja, der gesagt hatte, dass wir beide noch bleiben sollen. „Weißt du, es würde Andy wirklich guttun, wenn er auf andere Gedanken käme und auch mal eine andere Landschaft sehen würde. Ellen wohnt etwas weiter weg, bis wir hier wieder zurückkommen, ist vielleicht wirklich etwas mehr Gras über die Sache gewachsen. Außerdem sind wir beide ja noch da und können uns für ihn um dieses kleine Problem kümmern“, meinte Sam und ich hatte das Gefühl, wir alle wussten: Es war kein kleines Problem. Doch keiner der jetzt wachen Personen wollte sich das anmerken lassen. „Und wenn du uns schon als hilfsbereite Menschen loben willst, nun, der Titel sollte eigentlich an Ellen und ihre Tochter gehen“, sagte Sam und klang dabei mehr als bescheiden. Wieder ein Blick in den Rückspiegel, ich bekam langsam das Gefühl, dass ich Deans mahnende Blicke mit jedem Satz seines Bruders immer weiter verstärkten. Ob er wusste, dass ich seine Reflektion sehen konnte? Vermutlich nicht. Oder er dachte schlicht gerade nicht daran. Selbst Dean konnte nicht immer an alles denken. „Ellen ist eine sehr gute Freundin von unserer Familie, und wir verstehen uns auch gut mit ihrer Tochter. Du wirst die beiden sicherlich mögen, da bin ich mir sicher. Und sie dich auf jeden Fall. Andy kennen sie ja schon. Sie haben uns auch viel mehr geholfen, als wir es getan haben. Sie waren sehr oft für uns da und das rechnen wir ihnen ewig an. Wann immer Ellen uns braucht, sie muss uns nur anrufen und wir kommen. Wie gesagt, sie ist eine gute Freundin unserer Familie und vermutlich haben wir unsere Helferader von ihr geerbt, auch, wenn wir nicht verwandt sind“, sagte Sam und zwinkerte mir zu. Dann sagte er nichts mehr und offensichtlich reichte ihm das als Erklärung. Zwar hatte er nicht gesagt, um was für ein Problem es sich handelte oder hatte sich eine Lüge dafür überlegt, aber er ging davon aus, dass ich auch nicht weiter nachfragen würde. Er wusste, wie ich, dass wir im Moment keine Alternativen hatten und ich so oder so mit den Jungs mitkommen würde. Da Sam nicht weiter auf das Problem oder auf Ellen eingehen wollte, beschoss ich, es ihm gleichzutun. Zumindest nicht in der weiten Tiefe. „Dann freue ich mich darauf, sie kennenzulernen, wenn sie so eine nette Frau ist, wie du sie gerade beschrieben hast“, meinte ich, doch ein wenig wurde ich nervös. Zwar war Ellen für mich keine komplett fremde Person, dennoch ängstigte mich der Gedanke, mich mit einem Menschen zu treffen, mit dem ich noch nie zuvor zu tun hatte. Vor allem, da ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte. Was wohl ihr erster Eindruck von mir wäre, das konnte ich bei unbekannten Menschen nie einschätzen. Was sie denken, wenn sie mich das erste Mal sehen oder sprechen hörten. Und auch, welche Erwartungen sie an mich hätten. Sam, der einen viel höheren EQ als ich besitzen musste, sah mich mehr als freundlich an. „Du musst keine Angst haben, Ellen wird dich nicht beißen. Höchstens ein wenig zwicken“, sagte er und zwinkerte wieder. Doch dann schob er eilig nach: „Nein, im Ernst, du musst nicht nervös sein. Sei einfach freundlich zu ihr und sie wird es auf jeden Fall zu dir sein.“ Ich nickte ein wenig, um ihm zu zeigen, dass ich ihn gehört und verstanden habe, dennoch, das leichte nervöse Gefühl tief in meinem Bauch drin wollte trotzdem nicht weggehen. Dann versuchte ich an die Bar zu denken, an den Burger oder die Pommes, die ich dort essen würde und schon wurde das Gefühl eine Nuance kleiner.   Im Nachhinein könnte ich nicht sagen, wie viel er von unserem Gespräch mitbekommen hatte. Wann er aufgewacht war und wann sein Hirn noch schlaftrunken uns zugehört hatte, oder wann er schließlich richtig wach war. Vermutlich war er die ganze Zeit noch im Halbschlaf. Aber er hatte genug mitbekommen, um sich in das Gespräch einbringen zu wollen, auch, wenn es eigentlich bereits vorbei war. Sam hatte sich bereits wieder nach vorne umgedreht und ich sah wieder aus dem Fenster, als Andy etwas sagte. Oder genauer gesagt: eine Frage in den Raum stellte. „Hey, Sam, sag mal, was ist eigentlich aus dem letzten Fall geworden?“, fragte er ein wenig müde, aber laut und deutlich die Person auf dem Sitz vor ihm. Sofort bereitete sich eine seltsame Stimmung im Auto aus, ich blickte stur aus dem Fenster, da ich absolut keine Ahnung hatte, wie ich nun reagieren sollte. Den Brüdern ging es wohl nicht anders, Dean schwieg sich aus und Sam räusperte sich ein wenig, bevor er sagte: „Fall? Was genau meinst du damit, Andy?“ Er klang dabei viel weniger selbstsicher, als er es noch vor wenigen Augenblicken getan hatte. Immerhin hatte Andy hier tief ein Thema angeschnitten, welches eigentlich nicht für meine zarten, unschuldigen Ohren gedacht war. Doch offenbar war Andy zu müde oder hatte bereits vergessen, dass ich ebenfalls anwesend war. Vielleicht war es ja beides. „Ach Sam, du weißt doch genau, was ich meine, oder nicht?“, antwortete Andy nachdrücklich und sofort tat mir Sam leid. Er hatte sich so viel Mühe gegeben, mich aus der ganzen Sache herauszuhalten und mich so wenig wie möglich von ihrem Jägerleben herauszuhalten, nur, damit Andy mich mit einem Lasso ruckartig immer tiefer hineinzog. Das konnte ja was werden. „Ellen hat mir letztens am Telefon erzählt, dass sie euch beiden um irgendeine Hilfe bitten wollen würde. Hat sie euch erreicht?“ Da ich dachte, es wäre seltsam, wenn ich peinlich berührt aus dem Fenster blicken würde, sah ich nun zu Andy herüber, bemühte mich um einen neutralen, wie auch neugierigen Gesichtsausdruck. Dabei sah ich, dass dieser sich aufgerichtet hatte und Sam ansah. Dieser hatte sich nach wie vor nicht umgedreht und blickte wie sein Bruder nach vorne. Wenn auch aus anderen Gründen. „Ihr habt doch gerade über Ellen gesprochen und nun, sie ist wirklich eine sehr nette Frau, wisst ihr ja. Ich mache mir da schon ein wenig Sorgen, ich meine, wenn sie euch erreichen konnte, dann ist die Sache ja gut ausgegangen, oder? Aber ihr ist nichts passiert, sie ist nicht verletzt, oder? Sie war immer so nett zu mir, ich würde nicht wollen, dass ihr etwas passiert.“ Noch immer fühlte ich mich wie das fünfte Rad am Wagen, und ich kam mir vor, als würde Andy öffentlich seine Beziehungsprobleme mit Sam ansprechen. Dean räusperte sich mehr als auffällig laut, doch entweder war es Andy entgangen, oder es war im einfach egal. Denn er redete immer weiter und weiter, ganz so, als wäre ich nicht hier. „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie dankbar ich Ellen bin. Nicht nur, dass sie mich mit Essen versorgt und sich um meine Wunden gekümmert hat. Nein, ich habe ihr noch so viel mehr zu verdanken! Wisst ihr, wenn sie nicht gewesen wäre, zur richtigen Zeit am richtigen Ort, diese Dämonen hätten mich schon vor Wochen erwischt und kalt gemacht! Sie ist wirklich eine Heldin!“, stieß er atemlos aus und stoppte dann sich selbst. So fühlt es sich also an, wenn man gegenüber dem Geburtstagskind spoilert, dass es eine Überraschungsparty zu erwarten hat. Unangenehme Stille breitete sich im Wagen aus, niemand traute sich etwas zu sagen. Nicht einmal mehr Andy. Offenbar war ihm sein Fehler aufgefallen oder er war nun wieder wach genug, um zu bemerken, dass ich auch noch existierte. Dass ich nicht taub war oder dumm. Tatsachen, die den beiden Brüdern auch mehr als schmerzlich bewusst war. Das war absolut keine gute Idee und mein Mitleid für die Winchester füllte mich nun von Kopf bis Fuß. Dazu musste ich nicht mal großartig in den Rückspiegel gucken, die besorgten, fast schon verzweifelten Blicke, die sie nun untereinander austauschten, sprachen Bände. Doch wer sprach den Elefanten im Raum nur an? Sollte ich es tun? Würde einer der drei anwesenden Männern es tun? Andere Menschen hätten das hier längst in Frage gestellt, doch da ich um die Existenz solcher Monster wusste, überraschte mich Andys Erwähnung von Dämonen nicht sonderlich. Jedoch, die Rolle, die ich hier die ganze Zeit spielte, kannte solche Dinge nicht. Sie wusste nicht, dass Wesen wie Dämonen außerhalb von fiktiven Werken existierten, zumindest in dieser Welt. Dass mir das alles seltsam vorkommen würde, als es ohnehin der Fall war, war jedem hier klar. Dean räusperte sich so laut und so hart, dass ich mir Sorgen um seine Stimmbänder machte. Doch während ich noch überlegte, ob und wie ich das ansprach, drehte sich Sam zum wiederholten Mal zu mir um und sah mir direkt ins Gesicht. „Das war natürlich nur eine Metapher, die Andy hier benutzt hat“, sagte er und ich konnte es geradezu spüren, wie falsch sein Lächeln war. Er wollte damit nur seine Unsicherheit überspielen, die Andy ihm gerade in den Körper gepumpt hatte. „Ja, genau, tut mir leid, ich hab nicht nachgedacht. Dabei wäre es in deinem Zustand nicht gut, wenn ich dich so erschrecken würde“, sagte Andy und rieb mir ein wenig mit der Hand über die Schulter. Vermutlich wollte er die Geste wiederholen, die ich vorhin bei ihm getan hatte. „Es ist wirklich nur eine Metapher, eine schreckliche Angewohnheit von mir. Dämonen gibt es doch gar nicht, die sind nur reine Erfindung.“ Sein Tonfall war nicht sonderlich überzeugend, doch ich nickte trotzdem langsam und höflich. „Ich weiß, dass es keine Dämonen gibt, das sind Fantasiewesen“, sagte ich genauso langsam und hoffte, ich käme überzeugend rüber. Andy nickte aufgeregt und überließ es nun Sam, weitere Erklärungen zu tätigen. Oder er war einfach schneller. „Nun, was Andy damit meinte, das waren keine echten Dämonen, sondern einfach nur sehr schlechte Menschen. Du musst wissen, Ellen besitzt eine Bar und als eine weibliche Unternehmerin hat sie oft einfach sehr schwer. Irgendwann vor kurzem haben sich Menschen Dämonenmasken angezogen und haben ihren Laden mehrfach beschädigt. Sie wusste nicht mehr weiter und hat uns dann gebeten, ihr beim Vertreiben dieser „Dämonen“ zu helfen. Aber es waren echte Menschen und die sind weit weg. Wenn wir also bei Ellen ankommen, musst du keine Angst haben. Wenn es dich beruhigt, kann ich neben deinem Bett sitzen bleiben, bis du eingeschlafen bist, damit du keine Albträume bekommst“, sagte Sam und ich wiederholte mein Nicken von vorher. Niemand hätte Andy seine komische Geschichte abgenommen, selbst, wenn ich keine Ahnung gehabt hätte, wäre sie mir seltsam vorkommen. Sam musste das auch bewusst sein, aber er musste nun mit dem arbeiten, was er hatte. „Danke, ich denke, das wäre sehr nett“, sagte ich und bemühte mich um ein Lächeln. Wie immer fiel es mir schwer, wenn es nicht von alleine passierte. Dennoch tat ich so, als wäre ich mit der Erklärung zufrieden und Sam schien es mir anzumerken. Nach einem sanften Zwinkern, das noch mir galt, drehte er sich nach vorne um. Doch so recht wusste keiner, ob und was er noch sagen sollte und hing seinen Gedanken nach. Was das wohl für Dämonen waren, die die beiden bedroht haben? Da mir nichts weiter übrigblieb, dachte ich während der weiteren Fahrt über sämtliche Dämonen nach, die ich kannte und überlegte mir, welche von ihnen es gewesen sein könnte. Gleichzeitig blickte ich aus dem Fenster, ohne etwas von dem, was ich draußen sah, wirklich wahrzunehmen. Alles, was ich bemerkte, war die leise Musik aus dem Kassettenspieler und die üblichen Fahrgeräusche des Impalas. Abgesehen davon herrschte eine merkwürdige Stille. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)