Macht von Kerstin-san ================================================================================ Kapitel 1: Macht ---------------- Die Macht war ein zweischneidiges Schwert. Gewöhnliche Menschen sehnten sich zwar häufig nach ihr, doch gleichzeitig begegneten sie jenen, die sie besaßen, oftmals mit Spott und Ablehnung. Eine Mischung aus Neid, Furcht und Frustration schlich sich bei diesen Leuten ein. Das Gefühl, dass es zutiefst ungerecht war, dass Menschen mit Macht über so viele Dinge bestimmen konnten, während sie selbst nur untätig daneben standen und den Entscheidungen anderer ausgeliefert waren, nagte beständig an ihnen. Es sorgte dafür, dass sie sich ohnmächtig fühlten.   Menschen, die über Macht verfügten, vergaßen hingegen häufig, wie es war, machtlos zu sein. Der permanente Dauerzustand trübte ihre Sinne. Macht der Gewohnheit nannte man das dann. Wer sich sicher sein konnte, alles, was er wollte, auch zu bekommen, dachte nicht mehr allzu oft darüber nach, wie sein Leben ausgesehen hatte, bevor er sich dieses Mittels bedienen konnte.   Und doch gab es sie: Die seltenen Momente, wenn selbst machtvollen Menschen auf einmal wieder schmerzlich bewusst wurde, wie es war, sich absolut hilflos zu fühlen. Wenn man erkannte, dass einem nicht einmal die Macht, über die man gebot, weiterhelfen konnte.   Nachdenklich schwenkte Mycroft Holmes sein Whiskyglas und beobachtete wie die dunkel gefärbte Flüssigkeit darin munter umherwirbelte, selbst dann noch, als er das Trinkgefäß schon längst wieder still hielt. Er nahm einen Schluck und stellte das Glas anschließend abrupt zurück auf den Glastisch. Ein wenig zu abrupt vielleicht, denn der Alkohol spritzte empor und einige Tropfen verteilten sich auf dem Tisch, wo sie Mycroft im gedimmten Licht der Lampen höhnisch anzuglitzern schienen.   Auch mit der Macht war das so. Man zupfte an einem Faden oder drehte an einem bestimmten Rädchen und setzte somit unweigerlich eine Kettenreaktion in Gang. Meistens vorhersehbar und damit einkalkulierbar, aber manchmal trat ein unvorhergesehenes Hindernis auf und ließ plötzlich alles aus dem Ruder laufen.   Müde fuhr sich der älteste Sprössling der Familie Holmes mit beiden Händen durch das Gesicht und lehnte sich langsam in seinen weichen Sessel zurück, ehe er seinen Blick gedankenversunken zur Decke gleiten ließ.   Machtvolle Menschen waren es auch gewohnt, unbequeme Entscheidungen zu treffen. Schwierige Entschlüsse, die aber unumgänglich waren. Das Für und Wider der einzelnen Optionen wurde abgewogen, ehe rational entschieden wurde. Mycroft Holmes beschäftigte sich nur selten mit den negativen Konsequenzen, die seine getroffenen Entscheidungen zur Folge gehabt hatten, weil es in den meisten Fällen ein bewusst in Kauf genommenes Risiko gewesen war. Die Auswirkungen betrafen Leute, die er zumeist nicht persönlich kannte oder zu denen er kaum einen Bezug hatte. Das machte es einfacher. Problematisch wurde es oft erst dann, wenn Menschen betroffen waren, die einem nahe standen. Wenn man selbst sehen konnte, welche fatalen Auswirkungen eine Entscheidung, die zwar rational gesehen mit den besten Absichten getroffen worden war, mitunter haben konnte. Dieses persönliche Versagen war das Schlimmste. Man fühlte sich dann nur noch hilflos. Hilflos und so durchschnittlich. So gewöhnlich. Man war gezwungen, tatenlos zusehen zu müssen, wie alles seinen Lauf nahm. Das Einzige, um das man sich dann noch bemühen konnte, war der Versuch der Schadensbegrenzung. Das verzweifelte Bestreben, das Durcheinander wenigstens etwas einzudämmen. Diese persönlichen Verwicklungen galt es daher unter allen Umständen zu vermeiden. Aber das war nicht immer möglich. Jeder hatte seine Schwachpunkte. Seine ganz persönliche Achillesferse, die einen zu Fall bringen konnte.   Sherlock war seine Achillesferse. Hilflos mitansehen zu müssen, wie sich sein kleiner Bruder wieder einmal in einem weiteren Drogenrausch verlor... Mycroft schloss gequält die Augen und nahm mit zitternden Händen einen weiteren Schluck. Dieses Mal setzte er das Glas sehr bedächtig wieder ab und ballte seine Finger zu einer Faust, um das verräterische Beben zu unterdrücken.   Und es war seine Schuld. Ganz gleich, was sein jüngerer Bruder dazu sagen mochte. Er hatte gewusst, dass Sherlock seit der Sache mit Magnussen gefährlich nahe daran gewesen war, die Kontrolle zu verlieren. So dicht am Abgrund, aber er war davon überzeugt gewesen, dass Sherlock rechtzeitig stehen bleiben würde und seiner Hilfe nicht bedurfte. Stattdessen war sein kleiner Bruder begierig einen Schritt nach vorne getreten und er hatte es erst bemerkt, als es schon zu spät war. Somit eindeutig eine seiner seltenen Fehleinschätzungen. Das Einzige, was nun blieb, war zu versuchen, alles wieder in den Griff zu bekommen. Das Chaos zu kontrollieren, ehe es noch weiter um sich greifen konnte.   Nur wie er das anstellen sollte, war ihm nicht ganz klar. Er fühlte sich verantwortlich und zugleich seltsam machtlos. Er war Sherlocks großer Bruder, der stets im Hintergrund die Fäden zog. Wenn irgendetwas schief ging, verließ sich jeder darauf, dass er Sherlock aus seinen Problemen heraushelfen würde. Sogar Sherlock vertraute darauf. Solltest du dich nicht um meine Begnadigung kümmern, wie sich das für einen großen Bruder gehört? Es war lediglich dem Zusammentreffen gemeinsamer Interessen verschiedener höherer Stellen zu verdanken gewesen, dass es letzten Endes nicht auf seine alleinige Intervention in dieser Sache angekommen war. Dennoch: Eine Begnadigung hätte keine große Herausforderung dargestellt. Diese Macht besaß er zweifelsohne. Was jedoch die sowieso schon komplizierten Beziehung zwischen ihm und Sherlock anging... Zögerlich tastete Mycroft nach dem kleinen Notizbuch, in dem er sorgsam die einzelnen Bestandteile von Sherlocks Liste aufbewahrt hatte. Behutsam setzte er die Papierschnipsel wieder zusammen, ehe seine Augen prüfend über die fahrig dahingekrakelten Worte glitten. Immerhin hatte sein Bruder sich an diese Vereinbarung gehalten. Dennoch war er schon lange nicht mehr in der Position, dass Sherlock sich ohne Gegenwehr von ihm helfen ließ, sich seine Bitten wirklich zu Herzen nahm oder von sich aus seine Hilfe suchte. Alles, was er im Moment tun konnte, war, so gut es ging, seine schützende Hand über ihn zu halten und aus dem Hintergrund heraus ein Sicherungsnetz um ihn herum zu ziehen, dass das nächste Mal hoffentlich nicht versagen würde. Und wenn das bedeutete, dass er sich dabei auf John Watson verlassen musste, weil Sherlock dem Arzt mehr vertraute als seinem eigenen Bruder, dann würde er das tun. Für alles andere würde er sich wie gewöhnlich auf sich selbst verlassen müssen. Auch das war etwas, was Menschen in Machtpositionen gelernt hatten: Im Endeffekt war man doch immer auf sich allein gestellt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)