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Between the Lines - Chapter 2

It's more than just words
von

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Keine Ruhe inmitten des Sturms

Kapitel 1 Keine Ruhe inmitten des Sturms
 

„Ich würde gern das auf Seite 167 ausprobieren.“

„Würdest du?“

„Oh ja...und vielleicht steigern wir uns dabei auf Seite 69?“ Ich verdrehe ungehalten die Augen, als ich Kains rauer Stimme dabei zu höre, wie sie mir die Anspielungen aus dem Buch durch das Telefon zu säuselt. Und ich gestehe, dass ich mir nur schwer ein Grinsen verkneifen kann, während sich die Inhalte der genannten Seiten ebenso vor meinem inneren Auge abspielen. Wesentlich nackter als ich sie in Erinnerung habe. Die Tatsache, dass Kain dank seines eidetischen Gedächtnisses dazu noch jede der Seiten auswendig weiß, macht es nicht unbedingt einfacher zu widerstehen. Der Schwarzhaarige ist definitiv mein Verhängnis. Ich atme geräuschvoll ein und blicke zu Jeff, meinen Mitbewohner und Jugendfreund, der neben mir steht und euphorisch mit den Augenbrauen wackelt. Dabei hat er gar nicht mitbekommen, worum es geht.

„Komm erst mal zurück auf den Campus, dann reden wir weiter“, würge ich das Telefonat ab, weil Kain mir daraufhin eindrücklich verdeutlichen will, dass ihm etwas anderes als Reden vorschwebt. Seufzend schiebe ich das Telefon in meine Hosentasche und lausche einen Moment lang dem leisen Ton, der aus meinen Kopfhörern dringt, die um meinem Hals liegen. Das Lied erkenne ich nicht. Es ist auch viel zu laut hier. Jeff und ich stehen in der überfüllten Mensa und machen einer Horde Erstsemestern Platz, die sich gierig über die Dessertstation hermachen. Hier steht alles, was einen auf schnellstem Weg Karies und verklebte Arterien verschafft. Es gibt eine neue Puddingsorte, die so gar nicht schmackhaft aussieht, weil sie mir mit einem unnatürlichen, quietschigen rosa entgegen leuchtet. Ich bin mir nicht mal sicher, um welche Sorte es sich handelt. Erdbeere. Himbeeren. Kotzbeere. Irgendetwas aus dieser Kategorie. Wieder sehe ich meinen Mitbewohner an, welcher grinst, als hätte er jedes Wort meines Telefonats gehört. Zum Glück hat er das nicht.

„Was?“, frage ich mit deutlich einschüchternder Stimme, greife mein sparsam gefülltes Tablett mit beiden Händen und gehe zur Kasse, ohne Nachtisch und ohne Jeffs Antwort abzuwarten. In den meisten Fällen will ich sowieso nicht wissen, was in seinem Kopf vorgeht. In der letzten Zeit schon gar nicht, denn es gibt nur drei Themen, denen sich mein Kindheitsfreund ausschweifend widmet. Wut auf Abel. Scham wegen Jake und das eigenartige, unanständige Interesse an mir und dem Schwarzhaarigen.

„Nichts“, ruft mir Jeff unnötigerweise hinterher, greift sich einen Nachtisch, der grün und wackelig ist und eilt mir nach. Noch bevor ich an der Kasse stehe, beginnt mein Handy im Zwanzigsekundentakt zu vibrieren. Kain tippt wirklich schnell und ist, obwohl ich ihn ignoriere, sehr ausdauernd. So einen Nachrichtenmarathon hatten wir bereits gestern Abend und das endete damit, dass ich vor lauter Anspannung nicht mehr einschlafen konnte.

„Wann kommt er denn wieder?“, fragt Jeff, platziert sein Tablett hinter meinem und inspiziert die reichhaltige Auswahl an Schokoriegeln.

„Keine Ahnung“, entgegne ich und bezahle zur Verwunderung des anderen Mannes unsere beiden Essen mit meiner Mensakarte.

„Wie keine Ahnung? Hast du nicht gefragt? Du hattest ihn doch gerade am Handy“, kommentiert Jeff ungläubig und sieht sich nach einem freien Tisch um. Ich folge ihm schulterzuckend.

„Und?“ Offensichtlich habe ich nicht danach gefragt. Allerdings impliziert mir Jeffs Blick, dass ich es hätte tun müssen. Wozu nachfragen und Kain auf die Nerven gehen, wenn ich weiß, dass er normalerweise in den letzten Direktzug steigt und dieser am späten Abend am Hauptbahnhof ankommt? Noch dazu sagt er mir Bescheid, wenn er es nicht schafft. „Frag ihn doch einfach selbst, wenn du es genau wissen willst“, schlage ich vor und ziehe einen der unbequemen Stühle mit dem Fuß zurück, als wir einen Tisch gefunden haben. Jeff raunt und tut es mir mit dem gegenüberliegenden Sitzplatz gleich.

„Mir doch egal, wann er kommt, aber meinst du nicht, dass du wissen solltest, wann dein Freu...“ Ich unterbreche ihn, in dem ich meinen Teller geräuschvoll auf dem Tisch abstelle und das Tablett auf den Boden.

„..denspender... uh uhu uhu...Das ist so lächerlich, Robin. Ihr zwei seid lächerlich.“ Freudenspender ist fast noch schlimmer, als das andere. Ich erkenne den Vorwurf in Jeffs Blick und ich verdrehe nur die Augen, während ich ihm andeute, dass ich meine Kopfhörer aufsetze, wenn er nicht damit aufhört. Es wirkt. Nichts hasst er mehr, als schweigsame Mittagessen und das ist nicht nur eine Vermutung, sondern eine empirisch bewiesene Tatsache. Genauso sehr, wie ich es hasse, mit ihm über den Status und die Betitelung meines momentanen Bettgefährten zu plaudern.
 

Mein Handy vibriert dank Kains sexuellem Enthusiasmus die ganze Zeit munter weiter in meiner Hosentasche und ich versuche das Geräusch und die Aufregung in meinem Inneren zu ignorieren. Ich war schon mal besser darin. Bevor der Sturm losgebrochen ist und mich mitriss. Seit Mitte September verbringt Kain drei Tage die Woche in der Firma, bei der er seine Abschlussarbeit schreibt. Montagmorgen fährt er hin und Mittwochabend wieder zurück zum Campus. Ein Arrangement, was ihm die Möglichkeit gibt, seine letzten Vorlesungen abzuschließen und Vorort an seinem Forschungsthema zu arbeiten. Es ist im Grunde perfekt. Er wird sogar bezahlt und hat ein kleines Apartment gestellt bekommen, in dem er wohnen kann. Besser geht es nicht. Ich atme angestrengt aus und jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, merke ich, wie sich ein verbissenes Lächeln auf meine Lippen schleicht, welches ich schnellstmöglich vor allen anderen und vor allem vor Jeff verstecken muss. Für Kain ist das Ganze eine wunderbare Möglichkeit. Jeder bestätigte es und von jedem bekam er absoluten Zuspruch. Letztendlich sogar von mir. Was hätte ich auch anderes sagen sollen? Schließlich ist das eine Möglichkeit, für die Studenten töten würden. Also, alles gut und schön. Alles perfekt. Großartig. Fantastisch. Ich komme nur nicht darüber hinweg, dass es ausgerechnet die Firma sein musste, deren Chef der Vater des rothaarigen Miststücks ist. Erneut echot dieser Fakt durch meinen Kopf und legt für einen kurzen Augenblick mein Gehirn lahm. Blackout im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich sehe jedes Mal schwarz und die eben noch zitierte Liste an Euphorien wird immer bitterer.

Warum? Warum ausgerechnet sie? Das wiederholt sich stetig und in Endlosschleife in meinem Kopf und passend dazu offenbarten sich bisher für das bemitleidenswerte Fragespiel nur die schwarzhumoristischen Antworten, die ich mir angestrengt selbst gebe. Und sie befriedigen mich nicht. Sie beruhigen mich auch nicht. Vor allem dann nicht, wenn ich von Jeff höre, dass Kains Ex plötzlich auffällig oft nach Hause fährt, um bei ihrer Familie zu sein. Mit Kain darüber gesprochen habe ich nicht und werde es auch nicht. Er hat in der Vergangenheit schon genug von meinen auffällig irrationalen Verhalten im Zusammenhang mit der Rothaarigen mitbekommen und braucht sicherlich keine zusätzliche Bestätigung dafür, dass ich nicht ganz rund laufe. Er würde mir auch nur mit seiner typischen Kain-Ernsthaftigkeit versichern, dass es nichts bedeutet. So, wie er es immer macht. Überhaupt ist Vermeidung das Gebot der Stunde und nicht nur im Zusammenhang mit dieser Thematik. Denn dank dieses überaus zuvorkommenden Arbeitsarrangements sind gemeinsame Moment genauso selten, wie zuvor.

Kain und ich. Es nur zu denken, ist höchst aufwühlend für mich, denn abgesehen von der Tatsache, dass wir weiter munter miteinander rumschäkern, haben wir keineswegs geklärt, wie es mit uns weitergeht. Nichts wurde wirklich ausgesprochen oder betitelt. Weder in dem Moment in der Mensa, noch später. Wir meiden das Wort Beziehung förmlich, so als wäre es einer der unverzeihlichen Flüche aus Harry Potter. Ich weiß nicht, ob Kain damit verhindern will, dass er erneut meine ganzen verdammten Unsicherheiten abbekommt oder ob er durch das momentane Umhertingeln einfach keine Zeit findet, um darüber nachzudenken, was er von mir erwartet. Vielleicht erwartet er auch gar nichts und noch dazu bin ich mir nicht sicher, was ich mir eigentlich selbst von alldem erhoffe. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass er sich mit mir keinen Gefallen tut, auch wenn ich ebenso wenig möchte, dass er mich absägt. Denn ich genieße es. Den Sex. Seine Nähe. Kurzum einfach ihn. Egal, wie sehr ich es zu negieren versuche. Wenn er Montagmorgen fährt, bin ich enttäuscht und wenn er Mittwoch zurückkehrt, bin ich positiv erregt. Jeff hat Recht, wir sind lächerlich. Vor allem ich.
 

Ächzend, aber in einer glatten, schnellen und durchaus grazilen Bewegung, stibitze ich Jeffs Nachtisch von seinem Tablett. Danach sonne ich mich in der Bilderbuch-Fassungslosigkeit seines Gesichtes und ignoriere mit Leichtigkeit sein Gezeter. Er hätte damit rechnen müssen, denn meine Aktion hat sich klar angedeutet. Immerhin hab ich ihn bezahlt.

Nun, da Jeff Abel, mein vormaliges Studienobjekt und seinen Lebensabschnittsgefährten, in der Altlastentonne entsorgt hat, brauche ich jemand Neues und eröffne die Runde `Wackelpudding gegen Wackeldackel`. Passend dazu lehne ich mich so weit zurück, dass Jeff aus seiner Position heraus weder an mich, noch an das Schälchen mit dem Dessert rankommt und fühle mich heute dem evolutionären Prozess seltsam überlegen. Meteorit statt Dinosaurier. Ich war schon immer ein harter Brocken. Es ist berauschend. Vor allem als Jeff tatsächlich einen Versuch unternimmt, sich weit über den Tisch lehnt und wie erwartet scheitert. Ein Punkt für den Wackelpudding. Ich schenke meinem Mitbewohner einen bemitleidenden Ausdruck und lasse den Nachtisch in meiner Hand effektvoll zittern. Jeffs Blick könnte mich töten, wenn ich mir nicht nach all den Jahren schon längst eine Immunität entwickelt hätte.

„Wie läuft´s eigentlich mit Jake?“, frage ich, ehe ich einen Happen von dem Waldmeisterdessert absteche und auch dieses Stück enthusiastisch auf dem Löffel wackeln lasse. Den Rhythmus passend zum Takt von Sia´s Song ´Elastic heard´, der gerade aus meinen Kopfhörern dringt, die um meinen Hals liegen. ´Wanted to fight this war without weapons´. Immer einen Versuch wert, habe ich mir sagen lassen, aber nicht meine Stärke.

Nur an einer kleinen Stelle des grünen Happens befindet sich etwas der vanilligen Soße und mein Hals kitzelt voller Vorfreude auf die süße Leckerei. Als meine Zungenspitze dagegen tippt, durchfährt mich der erwartete anregende Schauer, der mir für einen Moment die Lider schließt. Ich schwelge, während Jeff meinen durch Lebensmittel erzeugten Höhepunkt des Tages mit theatralischen Seufzern untermalt.

„Jake ist der Meinung, dass ich noch mehr Abstand brauche. Abstand!“, betont er auffällig, „Dass ich mir Zeit nehmen soll, hat er gesagt. Immerhin sei die Trennung noch nicht so lange her und ich soll mir erst über ein paar Sachen klar werden.“ Für mich klingt Jakes Einwand mehr als plausibel. Dennoch sage ich nichts, sondern sehe dabei zu, wie Jeffs blonder Haarschopf hin und her wackelt und wie er ruppig versucht, ein Stück von seinem Fleischersatz abzutrennen. „Ich weiß nicht mal, worüber ich mir klar werden soll. Das mit Abel ist vorbei. Aus die Maus. Ganz einfach“, plappert er weiter und es klingt endgültiger, als es wirklich ist. Es ist auch weniger einfach, als er es gern hätte. Seine Trennung ist zwar eine Weile her, aber trotzdem scheint es noch immer reichlich Chaos zu geben. Ich gestehe, dass ich mittlerweile nicht mehr ganz im Bilde bin, weil mein Gehirn bei der Thematik von ganz allein abschaltet und Jeffs Gemecker oftmals nur zur Geräuschuntermalung wird. Kurzum, Abel ist hartnäckiger als gedacht und Jeff unerträglich nachgiebig, ob er es zugibt oder nicht. Zu dem bin ich der Überzeugung, dass ich nach einem dieser stundenlangen Gespräche zwischen den beiden Blonden einen exponentiell gewachsenen Fuselbart an dem Mund meines Jugendfreundes erkannt habe. Ich kann Jake also durchaus verstehen und würde mir dieses nervige Chaos auch nicht geben wollen. Es ist echt müßig.

Immerhin ist mein wankelmütiger Mitbewohner nicht vollkommen schwachgeworden. Was zu meinem Leidwesen dazu führt, dass er sexuell so unausgeglichen ist, dass er mich nur noch nervt. Früher schob ich die auffälligen Zickereien auf Jeffs Charakter. Heute weiß ich es besser. Es ist schlichtweg sexuelle Frustration.

Ich genehmige mir einen weiteren Löffel der Süßspeise und sehe dabei zu, wie Jeffs Haupt meinen Nachtisch imitiert und irgendwas vor sich hin brummelt. Es klingt verdächtig nach Vorwürfen, die sich garantiert an den ITler richten. Denn in Jeffs Augen hat Jake einen Rückzieher gemacht. Ich hingegen denke, er hat einfach nur einen Gang runtergeschaltet und Jeff ist zu aufgedreht, um das zu erkennen. Jakes Interesse an ihm besteht nämlich weiterhin. Er ruft ihn an. Sie treffen sich. Sie mögen sich. Das erkenne selbst ich.

„Heißt dein Schweigen, du gibst ihm recht?“, patzt mein Jugendfreund mich plötzlich an und würfelt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe auf und runzele die Stirn, während ich versuche, nicht ad hoc zurück zu bellen. Sexlosigkeit macht uns beide unausstehlich.

„Würdest du immer wieder auf seinen Ex treffen wollen?“, frage ich gerade heraus und lasse mir den Waldmeistergeschmack auf der Zunge zergehen, während mir rotes Haar in den Sinn kommt und meine Gedärme ein unmögliches Kunststück vollführen, ohne in ihre organische Position zurückzukehren. Ein sehr unangenehmes Gefühl, welches mir verdeutlicht, dass ich so ziemlich dasselbe Problem habe, wie Jake. Um mich selbst davon abzulenken, lasse ich meinen Blick durch die volle Mensa schweifen.

„Natürlich nicht! Aber was soll ich denn machen? Ich kann Abel ja schlecht vom Campus verbannen.“ Wenn das möglich wäre, hätte ich das schon vor geraumer Zeit getan und ganz ohne Jeffs Zustimmung.
 

„Apropos...“ Ich deute an meinem Zimmerkumpel vorbei zum Eingang der Mensa, wo sich der Besprochene anschickt, allen anderen nützlichen Lebewesen die Luft weg zu atmen. Jeff folgt meinem Fingerzeig und duckt sich, sobald er Abel entdeckt. Er wünscht sich vermutlich nichts sehnlicher, als in seinem Mittag verschwinden zu können, aber der trockene Pflanzenbratling auf seinem Teller hat weder die Raffinesse, noch die Konsistenz, um als Versteck herzuhalten. Er würde nicht mal als Wurfwaffe dienen, da er schon bei Abels stumpfsinnigen Blick in seine Bestandteile zerfällt. Ich greife mir eine Erbse von meinem Teller und werfe sie gegen seine Hand. Jeff reagiert und sieht mich empört an.

„Was soll das denn?“, fragt er entrüstet und streicht sich imaginäre Butterspuren vom Handrücken.

„Ich wollte dich nur darauf hinweisen, dass deine Verschwindetaktik ineffizient ist“, erkläre ich, beraube ihm des letzten Funkens der Hoffnung und bemerke, wie er seine Lippen fest aufeinander presst.

„Ach wirklich? Vielen Dank auch“; zischt er leise, „Schön, dass du deinen Spaß hast.“ Ich gestikuliere ein scherzhaftes Gelächter und vollführe ein simuliertes Klopfen auf der Tischplatte. Reichlich übertrieben, aber ich habe wirklich meinen Spaß. Jeff verdreht meisterlich die Augen, während er still meinem Schauspiel beiwohnt. Ich gebe zu, dass ich keine große Hilfe bin, aber wann war ich das je? Ich räuspere mich und lehne mich samt Wackelschale nach vorn und setze ein ernstes Gesicht auf.

„Hör einfach auf, den netten Kerl zu mimen und sage ihm klipp und klar, was Sache ist...“ Parallel zu meinem Hinweis schaufele ich eine neue Portion auf den Löffel und deute dann bekräftigend in seine Richtung. Der grüne Wackelpudding erzittert bestätigend. Zwei zu null für meinen Nachtisch.

„Klipp und klar. Was denkst du denn, was ich die ganze Zeit mache?“, äfft er mich erst nach und dann an.

„Anscheinend machst du es nicht klar genug. Sag ihm, dass du jemand anderen hast. Punkt!“, rate ich ihm. Nicht zum ersten Mal. Jeff entflieht ein Knurren, was tief aus seiner Kehle dringt. Der Aggressionspunkt geht definitiv an meinen Mitbewohner und auch das bestätigt mein wabbeliger Nachtisch mit einem lustigen Zittern.

„Hab ich aber nicht!“, motzt Jeff resigniert.

„Das weiß er aber nicht“, entgegne ich. Wir starren uns intensiv an, bis ich anfange, spielerisch mit den Lidern zu flattern, da Jeffs unbegründete Nervosität und Verzweiflung den Schelm in mir reizt.

„Wer hat dich eigentlich zum Expe...“, setzt Jeff an und wird von der tranigen Stimme meines einstigen Versuchsobjektes unterbrochen.

„Können wir reden.“ Es ist keine Bitte, sondern eine Aufforderung. Mich begrüßt Abel erst nach einem Moment des Abwartens und mit dem schlichten Beweis, dass er sich meinen Namen gemerkt hat.

„Du siehst doch, dass wir gerade essen, oder?“, sage ich, statt die Begrüßung zu erwidern, komme Jeff zuvor und hebe meinen vollen Löffel. Seine mattblauen Augen haften sich auf den Nachtisch und sind so nichtsaussagend, wie eh und je. Er braucht erstaunlich Lange, um zu begreifen, dass ich mich entgegen meiner sonstigen Gewohnheit einmische.

„Seh ich, aber ich möchte trotzdem mit ihm reden...“

„Und ich möchte, dass du dich einfach in Luft auflöst. Puff....“ Mein verbalisiertes Geräusch untermale ich mit einer lustigen kleinen Handbewegung. Jeff starrt mich an und ich bin mir nicht ganz sicher, mit welcher Intension. Bei Abel weiß ich es, ohne hinzusehen. Wut. Wahlweise auch Zorn ertränkt im absolut nichtssagenden Weißbrotgesicht. Der Blonde hat so viel Charakter und Ausdruck, wie ein Milchbrötchen. Sehr passend, wenn man darüber nachdenkt, dass dieses Gebäck aus massig Luft und leeren Kalorien besteht und in Anbetracht dieser Tatsache sollte ihm meine Bitte sehr leicht fallen.

„War Puff nicht klar genug? Soll ich es dir aufmalen? Anscheinend kriegen wir beide nicht, was wir wollen“, setze ich nach, als mir Abel zu lange für eine Erwiderung braucht und auch keinerlei Anstalten macht, wegzugehen. Ich wiederhole sogar meine niedliche kleine Handbewegung. Zweimal. Kein Effekt. Seufzend lasse ich den Löffel zurück in die Schale fallen.

„Gott Jeff, wie hast du es hingekriegt, mit dem zu streiten, das ist ja als würde man einer Kuh beim Kauen zuschauen.“ Etwas Hartes trifft meine Hand, als der leicht gehässige Kommentar endet und überrascht entgleitet mir die kleine Schüssel samt Löffel. Es klirrt laut und ich sehe dabei zu, wie sich der Nachtisch auf dem Boden der Mensa verteilt. In der nächsten Sekunde bin ich auf den Beinen und knalle beide Hände gegen Abels Brust. Nur mit halber Kraft. Er strauchelt dennoch, fängt sich und bleibt dicht vor mir stehen.

„Fick dich, Robin.“

„Wow, damit hast du gerade deinen halben Wortschatz bemüht, oder?“, gebe ich bissig retour und nehme eine Bewegung neben mir wahr. Nicht nur ich bin aufgesprungen, sondern auch Jeff.

„Nicht.“ Es ist ein Flüstern, welches nur an mich gerichtet ist und ich beiße die Zähne zusammen. Seine Hand legt sich auf meine Schulter, so dass jedes weitere verbale Ausarten im Keim erstickt wird. Danach wendet er sich an Abel, der mich hasserfüllt anstarrt.

„Ich möchte jetzt nicht mit dir reden. Geh bitte.“ Arschloch, ergänze ich gedanklich und bin der Überzeugung, dass Jeff wieder mal zu freundlich ist. Mit erstaunlich funkelndem Blick in mattem Blau zieht Abel ab und ich merke sofort, wie sich Jeffs Griff auf meiner Schulter verstärkt, bis es schmerzt. Sein Zeigefinger bohrt sich direkt in eine weiche Stelle unterhalb meines Schlüsselbeins.

„Au verdammt...“, stoße ich quengelig aus und drehe mich aus der fiesen Berührung. Davon kriege ich sicher einen blauen Fleck.

„Musste das wirklich sein?“, harscht Jeff mich an.

„Willst du darauf ehrliche eine Antwort?“, frage ich retour, streiche mir über die malträtierte Stelle und lasse mich zurück auf den Stuhl fallen. Mein Blick wandert wehmütig zu dem am Boden liegenden Wackelmatsch.

„Allein dafür hätte er einen Arschtritt verdient“, kommentiere ich, als sich Jeff wieder hinsetzt und den Anschein macht, als wäre ihm der Appetit gehörig vergangen. Er unterstreicht diesen Eindruck noch, indem er die Hände vor der Brust verschränkt und sein sieben-Tage-Regenwetter-Gesicht aufsetzt. Es fehlen nur noch die Gummistiefel.

„Und du hättest einen für deine fiesen Äußerungen verdient.“

„Erzähl keine Märchen, du hast das genossen...“

„Hab ich nicht“, wehrt er sich halbgar. Ich weiß es besser.

„Ach komm, Abel hat es verdient, wenn er dich nicht in Ruhe lässt. Als ob du dich einfach so von ihm bequatschen lässt und alles vergisst, was in der Beziehung falsch gelaufen ist. Du bist doch kein Goldfisch. So ein Vollhonk“, schmettere ich jeden weiteren Einwand ab und hebe endlich die runtergefallene Schale auf. Jeff wirft mir eine Packung Taschentücher zu, mit deren Hilfe ich die Sauerei halbwegs vom Boden entfernt bekomme. Den unschmeichelhaften Vollhonk lässt er unkommentiert und ich hänge gedanklich noch ein paar weniger nette Beschreibungen mit ran. Er weiß, dass ich Recht habe. Danach bringen wir unsere Tabletts weg, da keiner von uns beiden das Bedürfnis verspürt, länger zu bleiben.
 

Zurück im Wohnheim lese ich die versäumten Nachrichten des Schwarzhaarigen und hasse mich ein wenig für das dümmliche Grinsen auf meinen Lippen als ich lese, welch Fantastereien in Kains Kopf herum schwirren. Noch schlimmer ist allerdings, dass meine ausgeprägte Vorstellungskraft dafür sorgt, dass sich die nächsten Seiten eines nicht gewollten Buches von ganz allein schreiben. Ich höre meine Lektorin Brigitta in meinen Gedanken quietschen und bin mir sicher, dass sie ein dankender Abnehmer für derlei Inhalte wäre. Vielleicht sollte ich es einfach machen. All das ekstatische, versaute Zeug aus meinem Kopf holen und schmuddelige Anthologien füllen. Sex sells, sagt man das nicht? Hört man das nicht überall? Wäre es mal so einfach. Sex ist nicht alles, wie ich lernen musste. Dennoch ist es ein eigenartiger Gedanke, der sich erst vor kurzem in meinem Kopf festgesetzt hat und glasklar dem Schwarzhaarigen geschuldet ist. Ihm und seinem `Ich will mehr`-Geständnis.

Das Buch, welches ich ihm damals als Reaktion darauf gab, war weniger Fiktion, sondern viel mehr ein stilles Bekenntnis zu den Dingen, die zwischen uns passiert sind. Es sprach von meiner Seite aus ungewöhnlich offene Worte und er hatte es ohne nachzuhaken innerhalb eines Tages ausgelesen. Jedoch nicht mehr.

Möglicherweise reicht es ihm als Antwort als Sicherheit und er hakt deshalb nicht nach. Doch reicht es mir? Einerseits ist es nur gut für mich, dass wir nicht darüber sprechen, denn es erspart mir weitere nervige Diskussionen. Andererseits macht es mich extrem unwirsch.

Erneut von der Situation eingeholt, stehe ich gedankenversunken von meinem Schreibtisch auf, greife mir ein frisches Handtuch sowie ein paar Klamotten und verschwinde unter Jeffs fragenden Blicken in die Duschräume. In der letzten Zeit mache ich das öfter. So, als könnte das kontinuierliche Rauschen des Wassers meine Gedanken besänftigen oder sogar hinfort spülen. Für den Moment profitiere ich tatsächlich von der beruhigenden Wirkung. Jedoch ist es nichts weiter als die Bekämpfung eines Symptoms, nicht die der Ursache.

Wieder lasse ich fast zwanzig Minuten lang das warme Wasser auf mich niederrieseln, halte meine Augen geschlossen, während sich die Hitze von meinem Nacken bis in meine Gliedmaßen ausbreitet. Der erste Moment, als das erhitzte Wasser auf meine kalte Haut trifft, ist fast schmerzhaft. Doch auch das lenkt mich ab und ist damit herzlich willkommen. Ich verabscheue es, unsicher zu sein und ich hasse, dass Kain genau das in mir verursacht.
 

Beim Haare Trockenrubbeln laufe ich gemächlich zurück ins Wohnheimzimmer. Achte dabei nur geringfügig auf meinen Weg, weil ich davon ausgehe, dass man mir schon ausweichen wird. Doch weit gefehlt. In letzter Sekunde registriere ich die braunen Lederstiefel, die in meinem nach unten gerichteten Blickfeld auftauchen und bleibe erschrocken stehen.

„Huch...“, entflieht es mir irritiert als ich merke, wie unsere Schuhe aneinander stoßen und ich in einem Anflug der Dysbalance kurz, vor und wieder zurück schwanke. Ich schaue in Sinas amüsiertes Gesicht, während ich ihr für einen Moment sehr nahe komme. Mich erfasst so gleich ein blumiger, fast zuckriger Duft und die blonde Wohnheimbewohnerin beißt sich auf die Unterlippe, als ich sie unbeeindruckt mustere. Ich ziehe das Handtuch von meinem Kopf und weiche dezent einen Schritt zurück, höre aber nicht damit auf, sie anzusehen. Sie ist wie immer auffällig stark geschminkt und freizügig gekleidet. Doch diesmal ist es fast annehmbar, was ich ihr mit einer hochgezogenen und eindeutigen Augenbraue kommuniziere. Sie versteht es kommentarlos. Seit unserem unvollendeten Stelldichein haben sich ihre Annäherungsversuche zum Glück reduziert. Dennoch lässt sie es sich nicht nehmen, mich ab und an zu reizen. In jeder erdenklichen Weise. Manchmal aggressiv und übertrieben, aber meistens neckend und spielerisch. Ich gestehe, dass ich das Spiel hin und wieder gern mitspiele. Allerdings vermeide ich eine zu auffällige Reaktion im Beisein von Kain, der nichts von unserem unbekümmerten Zusammentreffen vor ein paar Monaten weiß. Denke ich jedenfalls.

„Hi“, grüßt sie lächelnd und lässt ihren Blick einmal über meine schlichte Erscheinung wandern. Eine eher lieblose, fast schwache Retourkutsche, die mich nicht mal ansatzweise kitzelt. Heute habe ich keine Lust auf dieses Spielchen. Ich mache einen Schritt zur Seite und sie folgt, stellt sich mir wieder in den Weg.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, frage ich daraufhin in einem erstaunlich neutralen Tonfall, kann aber nicht verhindern, dass ich vorher angestrengt und symptomatisch die Luft ausstoße.

„Hm, ich wüsste da ein paar Dinge, bei denen du mir definitiv zur Hand gehen kannst“, kommentiert sie grinsend und beißt sich lasziv auf die Unterlippe, um mir die sexuelle Intention zu verdeutlich. Ich würde ihr gern mitteilen, dass sie etwas falsch macht, wenn das nötig ist.

„Kommt da noch etwas Sinnvolles?“, frage ich ungerührt und sehe dabei zu, wie sie sich provokativ eine blonde Strähne hinter das Ohr streicht. Nichts weiter als Getue. Unbeeindruckt starte ich ein Ausweichmanöver und erneut werde ich von ihren weiblichen Kurven blockiert. Atmen. Einfach nur atmen, erinnere ich mich selbst. Ein. Aus. Ein. Aus.

„Ist ja gut. An deiner Geduld solltest du definitiv arbeiten.“ Sie ist nicht die erste, die das sagt und wird nicht die Letzte sein. Nicht mal heute. „Ich will Kaworu kontaktieren. Gib mir seine Nummer.“, fordert sie. Fast sofort sehe ich den schlanken Japaner vor mir und augenblicklich läuten meine Alarmglocken.

„Seit wann brauchst du denn Hilfe, um Kerle aufzureißen?“

„Seit du mir das Herz gebrochen hast.“, gibt sie theatralisch von sich und ihre Hand bettet sich über ihre Brust. Eins plus für das anschauliche Laientheater.

„Red keinen Scheiß, das lässt sich so wenig brechen, wie meins. Wir sind aus Gummi.“

„Wie bitte?“, fragt sie ungläubig.

„Stahl und Stein kann jeder. Neodym-katalysierter Polybutadienkautschuk... ist viel cooler.“

„Bist du fertig?“

„Ich gebe dir seine Telefonnummer nicht...“

„Wieso nicht?“

„Wieso sollte ich?“, entgegne ich wie selbstverständlich und sehe sie weiterhin emotionslos an. „Noch nie etwas von der Datenschutzrichtlinie gehört? Oder Privatsphäre?“ Sie stößt auffällig die Luft aus und stemmt dann ihre Hände in die Hüfte, um vorab ihren noch nicht präsentierten Standpunkt zu verdeutlichen. Dabei hüpfen ihre blonden Locken rhythmisch umher und ich bin für einen kurzen Moment versucht, sie weg zu schnipsen.

„Ich will gar nichts von Kaworu. Er ist süß, aber ich würde ihn vermutlich kaputtmachen. Das weißt du genauso gut, wie ich...“, sagt sie. Ihre ehrliche Aussage erzeugt tatsächlich ein reichlich blödes Grinsen in meinem Gesicht. Sie würde ihn definitiv für alle Zeiten und bis ins nächste Leben hinein beschädigen. Noch ein Grund mehr, mich zu weigern. Ich frage mich, wieso sie ihm nicht, wie jeder andere auch, einfach über den Weg laufen kann?

„Aha.“

„Ich möchte ihn nur fragen, ob er mir den Kontakt zu seiner Schwester herstellen kann. Sie spielt in einer Band, die ich großartig finde und ich kann den Pianisten gut leiden.“

„Aha. Pianist?“ Band? In meinem Kopf passt das nicht ganz zusammen und genauso skeptisch sehe ich sie auch an. Sie versteht es ohne eine weitere Erklärung meinerseits.

„Deine Meinung dazu will ich nicht hören, also spar sie dir.“ Ich schlucke meine Erwiderung nur halbherzig runter und blase dabei die Wangen auf. Sie sieht mir geduldig dabei zu, wie ich langsam die Luft auspuste.

„Aber...“, setze ich spielerisch an, als genug Zeit verstrichen ist und sie fährt mir sofort in die Parade.

„Telefonnummer, ja oder nein?“

„Nein.“, erwidere ich ebenso deutlich. Missverständnisse ausgeschlossen. Klare Kommunikation ist doch etwas Feines. Sina stößt die Luft aus. Nur diesmal aus der Nase.

„Robin...“, entflieht ihr hell. Meine Mundwinkel zucken. Was sagt es über mich aus, dass ich darauf stehe, wenn andere meinen Namen derartig verzweifelt ausrufen? Statt darauf zu reagieren, sehe ich sie einfach nur an, ergötze mich an dem vielfältigen aufeinander folgenden Stimmungstheater in ihrem Gesicht. Ich sehe lächelnd dabei zu, wie sie kehrt macht und in ihrem Zimmer verschwindet. Lena macht das auch. Liegt es an mir? Sicher nicht. Ob ich Frauen jemals verstehe werden? Vermutlich nicht. Gut, dass es mir egal ist.
 

Leicht amüsiert öffne ich die Tür zum Wohnheimzimmer und sehe, wie in diesem Moment ein T-Shirt von Jeffs Seite zu meiner fliegt. Vielleicht war es auch ein Pullover oder ein Hemd.

„Bitte sag mir, dass du nicht schon wieder umräumst“, flehe ich genervt, als ich den Raum betrete und neben meinem Mitbewohner stehen bleibe. Jeff steht vor seinem Kleiderschrank, dreht sich langsam zu mir um und legt seinen Kopf schief, während seine Schultern nach unten sacken. Er sagt nichts, sondern runzelt nur seine Stirn. Ich fühle mich durch den gewonnenen Schlagabtausch mit Sina unbesiegbar, also gebe ich nicht nach und bohre mit meinen Blicken weiter nach.

„Mache ich nicht. Ich versuche nur ein passendes Outfit für morgen zu finden.“ Morgen. Die Party. Ich schüttele mich unwillkürlich und hänge das feuchte Handtuch über die Heizung. Danach setze ich mich auf mein Bett. Ich greife nach den bereitgelegten Sockenknäul und ziehe es mir über die kalten Füße. Einen roten und einen mintgrünen.

„Wenn du jetzt sagst, du hast nichts zum Anziehen, dann sperre ich dich über Nacht in den Schrank. Auf Garantie“, drohe ich ruhig.

„Pff, versuchs doch!“, entgegnet er neckend und erhebt die Fäuste in eine Kampfposition. „Und das ist nicht das Problem.“ Ich bin froh, dass er es nicht erläutert, denn egal, wie oft er es versucht, ich werde es niemals verstehen. Für mich ist diese ganze Bekleidungsgeschichte ganz simpel. Hose an. Pullover an. Fertig. Alles andere ist optional.

„Und wieso machst du das nicht morgen? Du änderst bis dahin sowieso mindestens fünfmal deine Meinung.“ Manchmal passt Jeff die Farben seiner Kleidung seiner aktuellen Stimmung an. Wirklich verrückt.

„Ich habe morgen den ganzen Tag zu tun und kann nur zum Duschen und Umziehen herkommen. Also kann ich mich nicht fünfmal umentscheiden“, murrt er mich an und ich hebe abwehrend meine Hände in die Luft. Alle Erfahrung sagt mir, dass Jeff trotzdem Zeit findet, um sich wankelmütig zu zeigen. Trotzdem belasse ich es dabei.

„Ist ja gut... brauchst du Hilfe?“, biete ich an und rutsche auf meinem Bett zurück, sodass ich gemütlich gegen die Wand gelehnt sitzen kann und lege lässig meine Unterschenkel übereinander. Ich wackele kurz mit den bunt bestrumpften Zehen, während mein Mitbewohner unschlüssig rumsteht. Vermutlich hat Jeff verlernt, eigene Entscheidungen zu treffen, weil er das ganze letzte Jahr Abel mit seinen Klamottendramen quälen konnte. Er dreht sich wieder um und greift mit beiden Händen an seinen rechten Beckenknochen, als würde ihm die Geduld ausgehen. Noch dazu ist es ein schnelles ablehnendes Umdrehen, doch er sagt nichts. Stattdessen öffnet sich sein Mund ein klein wenig, schließt sich wieder und eine seiner Augenbrauen wandert nach oben, ehe er mich mustert.

„Okay, dann nicht.“, gebe ich nach, als ich mir sicher bin, dass sein skeptischer Blick daher rührt, dass sich als Statement meine gesamte nichtige Garderobe vor seinen inneren Augen wie ein Film abspielt. Reichlich mühsam stehe ich von meinem Bett auf, streiche die Decke glatt und setze mich an den Schreibtisch. Das vorhin geflogene T-Shirt ist auf meinem Stuhl gelandet und ich werfe es ungalant zurück in Jeffs Hälfte. Ich spüre seinen Blick in meinem Rücken und setze mir demonstrativ die Kopfhörer auf. Die Musik schalte ich nicht an und nach einem weiteren Moment spüre ich Jeffs warme Arme, die sich um meinen Hals legen. Er trägt das Parfüm, welches ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe und riecht zusätzlich noch nach Zimt. Vermutlich ist es das Weihnachtsgebäck, was er letztens unbedingt kaufen musste. Im November. Allerdings würde Jeff auch im Hochsommer Spekulatiuskekse essen, wenn es denn welche gäbe. Ich patte seinen Unterarm, während sich gedanklich manifestiert, dass mein Jugendfreund einen an der Klatsche hat. Nicht, dass ich das nicht längst wusste.

„Entschuldige und danke für das Angebot...“, sagt er halblaut, sodass ich es auch durch meine Ohrschützer höre, „... aber ich denke, du bist, was das angeht, wirklich keine Hilfe...“ Wow, Zuckerbrot und Peitsche. Von wem hat er das gelernt? Es folgt ein Kichern und dann knuddelt er mich fester, eher er mich loslässt. Ich drehe mich nicht zu ihm um, sondern lasse ihn einen meiner unschicklichen Paradefinger sehen. Danach setze ich mich an eine fällige Hausaufgabe für meinen Studium Generale-Kurs. Um zu verhindern, dass die Studenten im Fachsumpf versinken, muss man für ein paar Punkte auch Kurse aus anderen Themenbereichen wählen. Den Horizont erweitern und so weiter. Bla Bla. Lauter nutzfreies Zeug. Dieses Semester blieb mir nichts anderes übrig, als mich durch die Fülle der Nichtigkeit zu wühlen und mich für eine der zeitraubenden Seminare zu entscheiden. Es wurde Internetrecht und Marketing. Es schien mir das kleinste Übel, doch mittlerweile bin ich mir da auch nicht mehr so sicher. Ich hätte doch lieber kreatives Schreiben nehmen sollen. Allerdings hätte es mich instant gekillt, wenn ich dort nicht mit der erwarteten Note rauskäme. Also ergebe ich mich dem zähen Paragraphenwust des Internetrechts in der Erwartung, dort einfach nur auswendig zu lernen. Nur leider ist das Thema schrecklich langweilig und verbraucht den letzten Rest meiner Konzentrationsfähigkeit.

Mein Blick geht unwillkürlich zur Uhr, als die Abfahrtszeit für Kains Zug näher rückt und mein Zeigefinger tippt ein paar Mal unruhig gegen die Leertaste, ohne sie zu betätigen. Für einen Moment denke ich, dass es doch ganz gut gewesen wäre, wenn ich mich nach dem Stand seiner heutigen To-Do-Liste erkundigt hätte. Doch ich verwerfe den Gedanken ebenso schnell wieder. Kain kommt, wenn er kommt. Ganz einfach.
 

Zehn Minuten später regt sich mein Telefon. Eine Nachricht zu diesem Zeitpunkt ist kein gutes Zeichen und als ich sie lese, bestätigt sich meine Vermutung.

-Hab den Zug verpasst. Schaffe es nicht vor morgen früh.- Ich lese den Text ein paar Mal, so als würde sich irgendwas am Inhalt ändern, wenn ich die Worte nur oft genug in meinem Kopf wiederhole. Natürlich ein Trugschluss, gespeist von der irrationellen Hoffnung, die sich in meinem Brustkorb zentriert. So viel zu `Kain kommt, wenn er kommt`. Wieder bildet sich ein bestimmtes Wort in meinem Kopf, welches mich einfach nicht loslässt. Lächerlich. Meine Enttäuschung ist lächerlich. Denn eigentlich macht es keinen Unterschied, ob er heute Abend hier aufschlägt oder erst morgen Vormittag. Es ist auch nicht das erste Mal, dass er den Zug vor lauter Geschäftigkeit verpasst. Kains Anforderungen an sich selbst sind gigantisch. Er will es besonders gut machen und beweisen, dass das Vertrauen, was man in ihn setzt, gerechtfertigt ist. Seine Zeitpläne sind straff und er ist manchmal so konzentriert, dass er alles um sich herum vergisst. Mir geht es nicht anders, wenn ich in ein Projekt vertieft bin. Es ist vollkommen normal. Total in Ordnung. Weshalb es mich umso mehr überrascht, dass ich eine so explizite Ernüchterung in mir brennen spüre. Morgen früh wird er direkt vom Bahnhof zur Vorlesung müssen und kaum Zeit haben. So wie ich es einschätze, wird er es nicht zum Mittagessen schaffen und abends steht diese vermaledeite Party an, auf die ich so sehr möchte, wie ein Schneemann in die Wüste ein Nickerchen präferiert. Ob ich will oder nicht, es gab keine Chance, es abzulehnen. Jeff offerierte mir die Party über Jake, dessen Cousine wohl die Gastgeberin ist und dann kam ein paar Tage später auch noch die entzückende Inderin auf mich zu. Wie immer lieblich, zauberhaft und mit diesen kleinen hübschen Spielereien im Haar. Ich habe noch immer nicht gelernt, ihr zu widerstehen und als sie mir mit ihren schönen braunen Augen verdeutlichte, wie sehr sie es freuen würde, wenn ich auch komme, konnte ich meine obligatorische Ablehnungsrede nur noch effektlos vor mich hin wimmern. Wie ich Partys hasse. Wie ich Menschen hasse, die Partys veranstalten. Letztendlich ergab ich mich vollends dem Herdentierverhalten, als auch Kain vorschlug dorthin zugehen, weil er unbedingt mal wieder das Tanzbein schwingen will. Nichts davon erzeugte freudiges Erwarten in mir und doch gab ich nach. Nun hab ich den Salat.
 

Noch einmal lese ich die Nachricht des Schwarzhaarigen. Ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll. Ich scrolle zur vorigen Woche und schaue, was ich ihm beim letzten Mal geschrieben habe, als er den Zug verpasste. Es ist wenig erhellend und leider auch nicht kopierbar, weil ich ihn schlecht ein zweites Mal darum bitten kann, mir am Morgen dasselbe Buch nochmal aus der Bibliothek mitzubringen. Ein anderes brauche ich leider nicht. Ignorieren kann ich ihn auch nicht. Ich seufze leise, aber ergeben und ziehe die Schublade meines Schreibtischs auf. Ich hole die Packung Zigaretten hervor, die ich darin verwahre, weil ich genau weiß, dass auch ich hin und wieder schwache Moment habe. So wie jetzt.

Draußen schiebe ich mir eine der zylindrischen Krebserreger zwischen die Lippen, setze mich auf die freie Bank vor dem Eingang und lasse meinen Kopf nach hinten kippen. Ich stecke sie mir nicht an, sondern nuckele eine Weile das Filterpapier weich. Der Himmel ist grau und genauso matschig, wie die Gedanken in meinem Kopf. Es wird langsam dunkel und kalt. Ich versinke tiefer in die von allen gehasste übergroße Strickjacke, die von Kain mal als totes Tier bezeichnet wurde. Der Zigarette widerstehe ich heldenhaft.

Mein Handy vibriert erneut und zögernd ziehe ich es aus meiner Hosentasche. Diesmal zeigt mir das Display eine Nachricht von Lena an und mein Körper lehnt sich entspannt wieder zurück. Ich habe nicht mal gemerkt, dass ich mich aufgerichtet habe.

- Was willst du zum Geburtstag?-, fragt sie mich. Hier weiß ich die Antwort sofort.

- Ruhe-

- Böh-

- Mehr Ruhe-

- Mäh-

- Seelenfrieden- Die Reaktion darauf dauert etwas länger als die vorigen.

- Reichen dir auch Gummibärchen? Ich habe einen Laden mit vielen verschiedenen Geschmacksrichtungen gefunden.- Ich kann nicht anders, als leicht zu grinsen. Ich mache mir nicht viel aus meinem Geburtstag und dieses Beschenken ist mehr als überflüssig für mich. Ich weiß nicht, wie oft ich es ihr schon gesagt habe. Dennoch versucht sie es immer wieder, obwohl ich nie etwas Nützliches erwidere.

- Tu was du nicht lassen kannst-, antworte ich ihr. Mein Blick bleibt erneut an Kains Nachricht hängen, als ich beschließe, alle weiteren Zeilen von meinem genetisch übereinstimmenden Familiengummibärchen zu ignorieren. Seufzend tippe ich mehrere Varianten einer herunterspielenden Antwort, überlege am Längsten bei `Shit Happens´ und entscheide mich letztendlich für ´Ist dann wohl so. Pass auf dich auf.´. Direkt nach dem Senden lege ich das Telefon zur Seite und versuche den bitteren Geschmack zu verdrängen, der sich in meinem Mund ausbreitet. Wieder lasse ich die Zigarette zwischen meinen Lippen wippen und schließe die Augen. Ich fühle mich schon jetzt, wie ein vollkommener Idiot und das gefällt mir gar nicht.

Ich bleibe noch eine Weile sitzen, genieße die kühle Luft auf meiner Haut, die langsam aber sicher auch die Hitze aus meinem Gedanken verdrängt und gehe erst zurück ins Wohnheimzimmer, als meine Finger eiskalt sind. Die Zigarette landet ungeraucht im Müll.

Jeff hat Wort gehalten und kein größeres Klamottendesaster angerichtet. Seine Laune hat sich allerdings nicht gebessert und er sitzt unzufrieden vor seinem neuen Laptop. Seine muffelige Sitzhaltung sieht reichlich anstrengend aus, weshalb ich trotz kalter Hände zum Kühlschrank gehe und uns beiden ein Eis heraushole. Erst lehnt er ab. Doch sein Widerstand schmilzt schnell. Eis geht immer. Der orbitofrontale Kortex lügt nicht, was das angeht. Mein ganz eigenes Lebensmotto. Und es wirkt. Noch während des Essens beginnt Jeff enthusiastisch über all das zu schnattern, was ihm gerade durch den Kopf geht und obwohl ich für einen Sekundenbruchteil an meinen Verstand zweifele, unterbreche ich ihn kein einziges Mal. Es passiert selten, aber im Moment kommt mir die leichtlebige Geräuschkulisse sehr entgegen.

Jeff geht eine halbe Stunde nach mir ins Bett und schläft lange, bevor ich es tue. Ich drehe mich im Fünfminutentakt von der einen Seite auf den Rücken, auf die Seite, auf den Bauch. So, wie es meine Mutter zu Weihnachten mit Rouladen macht. Meine Gedanken sind lange unstet und drehen sich energisch im Kreis. Ich hielt die Metaphern mit dem Karussell immer für abgedroschen und klischeehaft, doch in diesem Moment empfinde ich sie als seltsam passend. Irgendwann schaltet auch mein Kopf in Slow Motion und ich schaffe es wegzudösen.
 

Es ist nur ein unterschwelliges Knarzen, welches ich im Halbschlaf wahrnehme und mich weckt. Das Schließen der Tür. Zurückhaltende Schritte. Ich drücke mein Gesicht dichter ins Kissen, nachdem ich mich auf die andere Seite drehe und mit dem Rücken zum Raum liege. Vermutlich ist Jeff auf Wanderschaft. Das Rascheln einer Jacke ist zu hören und das Auftreffen der Plastikschoner eines Rucksacks, den vor meinem Schreibtisch abstellt. Es folgt das leise Tapsgeräusch von baren Füßen auf kühlem Grund und ich weiß, wer es ist, ohne noch langer darüber nachdenken zu müssen. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Kain. Ich erkenne ihn an jedem noch so klitzekleinen Geräusch. Die Art und der Rhythmus seines Gangs. Doch es ist nicht nur das, sondern auch sein Geruch, der sich um mich legt, als er näher kommt. Wie warmer sanfter Nebel mit einer dezenten Note von Ingwer und Zitrone. Meine Fingerspitzen beginnen verräterisch zu kribbeln. Jede Welle belebt meinen Körper mit aufreizendem Tumult. Ich reagiere dennoch nur träge, als Kain sich zu mir aufs Bett setzt und taste fahrig nach meinem Telefon, welches theoretisch unter meinem Kopfkissen liegt. Ich finde es nicht und suche auch nicht weiter, als erste kalte Akzente auf meine Haut treffen. Kain hebt die Decke an, legt zunächst meine Schulter und dann meine Waden frei. Gemächlich stiehlt er sich unter die Decke, streckt seine langen Glieder und ich höre ein sanftes Raunen über seine Lippen perlen. Ich beiße die Zähne zusammen und gebe nichts weiter als murmelige Laute von mir, ehe ich es schaffe, richtige Worte zu formulieren.

„Nrghn, kalt... kalt...wm... machst du...“, nuschele ich einen halben Satz zusammen. Kain reagiert nicht auf mein Gebrabbel, sondern raschelt ungehemmt mit der Decke und justiert seinen langen Körper hinter meinem.

„Hast du kein eigenes Bett?“, klage ich matt. Diesmal aber deutlicher und zusammenhängend.

„Will aber in deins...“, murmelt er ruhig, sanft und ein wenig verschwörerisch. Wie immer entwaffnend. Er ist viel zu geschafft, um auf meine Zankereien einzugehen.

Ich starte einen neuen Versuch, mein Handy zu finden und schaffe es, die Uhrzeit zu erhaschen. Es ist weit nach Mitternacht und bevor ich erfragen kann, wie er hergekommen ist und was er hier macht, regt sich Kain.

„Wärme mich!“, verlangt er neckend. Ich brumme undefiniert, aber nicht ablehnend. Kain reagiert mit einem leisen Lacher. Ich spüre, wie seine Hand unter mein Schlafshirt gleitet und an meiner Brust liegen bleibt. Ich lasse meine Augen geschlossen und beginne unwillkürlich, tiefer zu atmen. Kains flache Hand drückt sich dabei noch etwas fester gegen mein Sternum, saugt meine Reaktionen in sich ein. Die Kälte hält nicht lange an, sondern macht Stück für Stück der berauschenden Hitze Platz, die der Leib des anderen Mannes entwickelt. Einzig Kains Nähe macht das mit mir und ich kann nicht verhindern, dass ein sanftes Keuchen der Zufriedenheit von meinen Lippen perlt.

„Wie bist du hergekommen?“, erkundige ich mich murmelnd und lehne mich zurück, sodass ich seine starke Brust komplett an meinem Rücken spüre.

„Bummelzüge. Sie sind hin und wieder ganz praktisch... musste nur dreimal umsteigen“, erklärt er mit schwerer Zunge, trotzdem spüre ich ihn in meinem Rücken grinsen. Ich habe fast etwas Mitleid mit ihm. Es wäre nicht nötig gewesen, doch das tiefe Kribbeln in meinem Bauch bestätigt das Gegenteil.

„Willst du nicht lieber in dein eigenes Bett gehen?“, frage ich träge. Kains Gesicht drückt sich in meinen Nacken und ich spüre seinen warmen Atem über meine Haut prickeln. Seine Nase ist leicht kühl und reibt über die feinen Härchen an meinem Haaransatz. Danach pieksen mich die Bartstoppeln seines Kinns. Kain brummt sanft und tief. Direkt an meinem Ohr. Mein Körper summt, als hörte er Musik. Das Alles setzt heftige Schauer in Gang, die sich in Wellen durch meine Glieder arbeiten. Mich pushen und heben, aber zur selben Zeit in eine tiefe Entspanntheit wiegen.

„Warum sollte ich das wollen?“, erfragt er ruhig, nachdem er einen hauchzarten Kuss auf eine besonders empfindliche Stelle meines Halses haucht. Meine Atmung wird schwerer und tiefer. Mein Körper schreit nach Aufmerksamkeit. Schreit nach ihm, obwohl meine Äußerungen schon wieder das Gegenteil behaupten.

„Weil...“, setze ich an, versuche meine Gedanken zu ordnen und stoppe, als es nicht funktioniert. Mein Gehirn ist schwerfällig und wattiert. Ich bin müde und zugleich aufgeregt angespannt.

„Weil?“, wiederholt er. Wieder fühle ich seinen warmen Atem auf meiner Haut und das abgesoffene Gefühl meines Gedankenmotors wird nur noch prekärer. Überhaupt fühle ich mich vollkommen benebelt, weil sich jeder Zentimeter seines langen, muskulösen Körpers an meinen presst und ich lechze danach.

„Es gibt viele Gründe...“, sage ich letztendlich. Etwas zu schnell, weil ich befürchte, die Worte auf halber Strecke wieder zu vergessen. Ich weiß auch in der Sekunde des Aussprechens, dass es keinen Effekt auf Kain haben wird, denn er hat längst gelernt, meinen daher gesagten Worten wenig Beachtung zu schenken und mehr darauf zu hören, was mein Körper sagt. Und dieser schreit gerade lauter als ich es mit meinem Mund könnte.

„Ach ja, und welche sind das?“

„Jeff.“, sage ich das, was mir als erstes einfällt. Eine argumentative Fehlleistung ersten Grades. Kains Blick wandert zu dem Bett meines Mitbewohners und ich bin mir fast sicher, dass er selbstgefällig grinst. Auch, wenn ich es nicht sehe.

„Den stört es nicht, dass ich hier liege.“, flüstert er. Einwand abgeschmettert. Ich schnaube schwach, weil er Recht hat und ich im Grunde damit gerechnet habe. Ich gebe aber nicht auf.

„Zu kleines Bett“, argumentiere ich als nächstes. Zwei Kerle gleichzeitig in diesem schmalen Bett ist äußerst unbequem. Zumal Kain mehr als die Hälfte des Platzes einnimmt. Außerdem bin ich mir sicher, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit an einem Hitzeschlag sterbe, wenn er sich die ganze Nacht an mich drückt und kontinuierlich seine Temperatur an mich abgibt. Die wenigen bisherigen Male, in denen das vorgekommen ist, waren, was das angeht, wirklich eine Herausforderung für mich. Ich bin es nicht gewohnt, mit jemanden das Bett zu teilen. Weder in großformatigen Schlafstätten, noch in den schmalen, wie wir sie in den Wohnheimen haben. Noch dazu ist mein Temperaturregler fein und präzise auf Selbsterhalt abgestimmt und alles Zusätzliche bewirkt nur Chaos.

„Ich kann etwas rutschen, wenn du mehr Platz brauchst.“ Entwaffnend, wie eh und je. Und mächtig gelogen. Wenn er auch nur eine Winzigkeit nach hinten rutscht, macht er einen gnadenlosen Abgang. „Ich habe auch eine Kissenfunktion. Die kannst du ja mal versuchen...“ Kains angebliche Multifunktionalität überrascht mich wenig. Ich murre als Antwort und merke, wie sich mein Körper leicht anspannt, als sich seine Hände unter mein Schlafshirt schieben. Ich fühle die vertraute Rauheit seiner Fingerkuppen und schmelze in die Berührung. Ich schließe meine Augen und erlaube mir die stärker werdende Wärme zu genießen, die sich von dem anderen Körper auf mich überträgt. Es fühlt sich gut an. Seine Nähe fühlt sich gut an. Ich setze meine nichtigen Argumentationen nicht fort und konzentriere mich nur noch auf den Körper hinter mir. Warm. Stark und beruhigend. Er ist hier, geht mir durch den Kopf. Wieder und wieder als ein stetiges Echo und tilgt auch den letzten Rest der Unruhe, die seit seiner Nachricht in mir schwelte.

„Nur ein bisschen... okay?“, flüstert Kain und kuschelt sich dichter. Ich antworte nicht, rege mich nicht. Ich atme nur. Ruhig und stetig. Genau, wie er. Tief und entspannt. Er ist hier. Ich lächele. Genauso schlafen wir ein und ich erwache am Morgen in derselben Position.
 

Seine Wärme ist überall. Sie dringt tief in mich ein, umhüllt mich und hält mein Gehirn trotz Schlaf in einem eher matschigen Zustand. Kain ist in der Nacht etwas tiefer gerutscht und schmiegt sein Gesicht zwischen meine Schulterblätter. Die Stelle ist besonders heiß, leicht schwitzig und unwillkürlich entziehe ich mich der Berührung. In dieser Position müssen Kains Füße über die untere Bettkante ragen. Vermutlich ist das sein Hitzeausgleich.

Fahrig taste ich nach meinem Telefon und finde es in der Vertiefung zur Wand. Automatisch betätige den Aktivierungsknopf und wundere mich im ersten Moment darüber, dass es dunkel bleibt. Erst als ich auch ein Auge öffne, erkenne ich die Umrisse. Mein Blick ist verschwommen und ich erkenne nur, dass die vordere Zahl der Uhrzeit noch einstellig ist. Das reicht mir aus.

„Wie spät ist es?“, höre ich hinter mir fragen. Seine Stimme ist rau und undeutlich. Ich antworte nicht, sondern halte das angeschaltet Handy über meine Schulter. Kain greift danach, berührt meine Finger. Der kurze Kontakt tanzt über meine Haut, wie ein farbenfroher Gewittersturm. Prickelnd. Kribbelnd. Pulsierend. Es lässt meinen Körper elektrisiert beben. Doch statt gemächlichem Raunen vernehme ich ein scharfes Lufteinziehen hinter mir und der warme Körper ist plötzlich weg.

„Mist! Meine Vorlesung geht gleich los und ich muss noch mal ins Wohnheim.“ Ich drehe mich auf den Rücken und genau in die angewärmte Kuhle, die Kains Körper dort hinterlassen hat. Mit nur einem geöffneten Auge sehe ich dabei zu, wie er seine abgelegten Habseligkeiten einsammelt und setze mich langsam auf. Nun merke ich, dass die bewegungslose Nacht nicht spurlos an mir vorübergegangen ist. Ich bin steif. Arme. Beine. Kopf. Alles. Ich bekomme schlechte Laune.

„Wärst du gleich in dein eigenes Zimmer gegangen, hättest du jetzt nicht so einen Stress...“, kommentiere ich gähnend, streiche mir durch die wuscheligen Haare und neige meinen Kopf hin und her. Kain hält prompt in seiner Bewegung inne und starrt mich an. Ich schaue unverwandt zurück, beobachte, wie er auf das Bett zukommt und sich mir entgegen beugt.

„Dann wäre ich aber nicht in den Genuss gekommen heute Morgen dein doofes Gesicht zu sehen.“, patzt er flüsternd zurück. Doofes Gesicht? Das habe ich wohl verdient. „Und das hätte ich schade gefunden...“, hängt er noch mit ran, lässt seine Zunge schnalzen und greift nach seinem Handy, welches auf meinem Nachtisch liegt. Ich murre und verdrehe die müden Augen, während er sich die Socken und die Schuhe anzieht. Ich fasse mir in den Nacken und drücke meine Finger in die schmerzenden Stellen. Trotzdem schaffe ich es nicht, das dümmliche Grinsen aus meinem doofen Gesicht zu wischen. So viel Stupidität. Es muss ein neuer Rekord sein.

„Bis nachher...“, sagt Kain und verschwindet durch die Tür, ohne dass ich etwas erwidern kann. Auch das habe ich verdient. Es hat sich im Grunde nichts geändert. Das ist gut für mich. Das ist das, was ich will. Oder?
 

Ich lasse mich zurück auf die Matratze fallen, drehe mich samt Kopfkissen auf den Bauch und beiße in den nach Kain riechenden Stoff. Geräuschlos hasse ich mich selbst ein bisschen, weil ich durchaus merke, dass Kain es nur gut meint. Er sucht meine Nähe und er ist mitten in der Nacht noch hierher gefahren. Mit Bummelzügen! Ob er es für mich getan hat? Nur für mein doofes Gesicht? Der Gedanke ist angenehmer, als mir lieb ist.

„War das Kain?", murmelt mein Zimmergenosse laut, aber verschlafen, hascht nach Aufmerksamkeit und unterbricht meine mittlerweile feuchte Beißorgie. Seine Anwesenheit habe ich fast schon vergessen und das obwohl er in der Nacht noch mein Hauptargument gegen Kains Verbleib gewesen war. Ich luge unter dem Kissen hervor, spüre den angesabberten Stoff an meiner Wange und kann auf der anderen Seite des Zimmers nur einen Deckenhügel mit Armen und Beinen erkennen.

„War der Weihnachtsmann.“, kommentiere ich lapidar und höre, wie Jeff geräuschvoll beginnt seinen Körper zu strecken.

„Ich dachte, der lebt am Nordpol?“, quasselt er.

„Nein, unter deinem Bett und mit den Staubflusen baut er Schneemänner.“

„Hmm. Jeder braucht ein Hobby“, sagt Jeff schlicht, ohne auf den Irrsinn unseres Gesprächs einzugehen und schält sich langsam aus der Decke. Wieder strecken sich seine Glieder und er lässt seine Füße geräuschvoll knacken. Er sieht sich mit nur einem Auge aufmerksam im Zimmer um, so als könnte er Kain doch noch irgendwo entdecken und kratzt sich am Hals. Ich sehe ihm dabei zu und rühre mich keinen Millimeter aus meiner Decke heraus. Muss ich auch nicht. Denn im Gegensatz zu den anderen beiden habe ich donnerstags keine Vorlesung und nur alle zwei Wochen eine Übung. Diese Woche nicht. Als kann ich den ganzen Tag damit zu bringen, nichts zu tun. Wahlweise auch zu grübeln oder vor Langeweile zu sterben. Am Anfang des Semesters werden die Aufgaben nämlich nur Schubweise rausgegeben. Später explosiv und alle auf einmal. Normalerweise würde ich eine solche Gelegenheit nutzen, um an meinen Romanen zu schreiben, aber Karsten, mein Verleger, hat mir mehr oder weniger deutlich gemacht, dass er im nächsten halben Jahr nichts von mir erwartet, weil ich so motiviert vorgearbeitet habe. Ich lache nach wie vor bei der Erinnerung daran, wie seine Augenbrauen nach oben flippten als er ´Motiviert vorgearbeitet´ sagte. Im Grunde hat er mir höflich mitgeteilt, dass ich mit meinem letzten, etwas unerwarteten Roman, die Frühjahrsplanung torpedierte. Es wäre sein gutes Recht gewesen, Nein zu sagen und ich hätte mich nicht beschwert. Okay, vielleicht doch, aber nur weil sie immer noch nicht davon abgelassen haben, mich in dieses Verlags-Symposium-Marketing-Konvention-Dingels zu integrieren, welches für den nächsten Sommer geplant ist. Ich dachte mit meiner letzten Performance beim strategischen Meeting habe ich bewiesen, dass ich das denkbar ungünstigste Werbeschild für den Verlag bin, aber scheinbar hat ihnen meine Fuck-you-Happy-End-Einstellung auch noch gefallen. Ich sei der perfekte Konterpart zu den sonstigen sonnigen, rosaroten Liebesrepräsentanten, die der Verlag bunkert. So hat es Brigitta ausgedrückt. Dass auch meine Bücher unter der Fülle von übertriebener Herzschmerzmethapern ächzen, schien vollkommen vergessen. Noch dazu weiß ich bis heute nicht, ob ich es hätte als Beleidigung oder als Kompliment auffassen sollen. Vor allem als meine verrückte Lektorin die Hälfte der Zeit wie im Wahn kicherte, während sie von Podiumsdiskussionen und Meet and Greets sprach. Manchmal glaube ich, dass sie es genießt, mich zu foltern. Mein Gehirn schwankt auch noch immer zwischen bekräftigen Niemalsrufen und angsterfüllten Was-wenn-doch-Momenten hin und her. Sie kennen meine Einstellung dazu, allen voran Brigitta und sie ist es auch, die genau weiß, wie sie mich einlullen kann. Wahr ist aber auch, dass ohne sie und ihrem unerschöpflichen Optimismus meine Bücher nie so weit gekommen wären. Ich verdanke ihr sehr viel und habe selten die Gelegenheit, ihr etwas zurückzuzahlen. Ich werde mich also fügen. Allein schon für Brigitta. Auch, wenn sie das nicht erfahren muss. Ergeben seufzend, greife nach meinem Handy und tippe eine Nachricht an sie.

- Hab eine neue Idee.- Die Antwort folgt prompt.

- Hoffe es ist etwas Schmutziges- Professionalität in Hochform. Wofür steht das Auberginen-Emoji?

- Möglich. Wann bist du wieder in der Stadt?- Sie tippt. Sie tippt lange.

- Oh, du, meine kleine Toffifee, endlich erhörst du meine Gebete. Ich schaufele mir für die nächste Woche einen Termin frei. Mach mir eine Leseprobe fertig. Ich gebe dir Bescheid.- Sie beendet ihre Nachricht mit einer Fülle an zuckrigen Emojis, von denen ich die Hälfte noch nie gesehen habe. Ich kann den flötenden Ton ihrer Stimme förmlich in meinem Kopf hören und genauso merke ich, dass meine Zähne zu pochen beginnen. Ich schäle mich mit juckender Haut aus der Decke, greife mir ein paar Klamotten und verschwinde in den Sanitärbereich. Ich bin nicht allein. Jeff ist ebenfalls hier und befindet sich mit zwei anderen Kerlen in einer Diskussion über das Für und Wider von Kondomen mit Geschmack. Ich frage nicht nach, wie sie auf die Thematik gekommen sind und beteilige mich auch nicht an der Fortführung.

Meine Zähne putze ich mir zweimal. Vor dem Gesicht waschen und danach. Ich würde es ein drittes Mal tun, aber ich ertrage die dummen Gespräche der anderen Anwesenden nicht länger und suche eilig das Weite. Zurück im Zimmer durchsuche ich mein Bett nach den kaum benutzten Socken vom Vorabend und schalte meinen Rechner ein. Noch während ich darüber nachdenke, wie ich die Zeit rumkriege, öffne ich das Fenster und lasse frische Luft rein. Auch Jeff trudelt wieder ein, plaudert ekelhaft fröhlich vor sich hin und ich lehne seine Einladung für ein gemeinsames Frühstück dankend ab. Ich habe keinen richtigen Hunger und besorge mir lieber etwas Richtiges für das Mittagessen. Abgesehen davon würde ich Jeff vermutlich, bevor wir in der Mensa ankommen, meucheln und irgendwo im Beet verbuddeln. Mein Handy rettet mich oder eher Jeff, als mir Brigitta einen Terminvorschlag für die kommende Woche macht. Ich bestätige diesen und ignoriere danach mein Telefon weitgehend, weil meine Lektorin eine gewichtige Ladung Karies über mir ausschüttet. Ich erledige gelangweilt ein paar Aufgaben für die Uni, ziehe mir später, statt eines ordentlichen Mittagsessens nur ein paar Brote mit Butter und Frischkäse aus dem Ökomaten in unserer Lobby und gönne mir gleich zwei Eis aus dem Gefriereschrank. Zur gleichen Zeit. Mein evolutionäres Hochgefühl wird nur von der Tatsache gedämpft, dass sich Kain noch mit keinem Wort bei mir gemeldet hat und es mir auffällt. Wieso sollte er auch? Wir haben uns heute Morgen gesehen und ich war wie immer nicht sehr zuvorkommend.

Zum Nachmittag hin geht meine eisgehobene Laune vollkommen flöten und ich brauche dringend Bewegung. Ich bin unruhig und angespannt. Ich fühle mich rastlos und das nicht erst seit heute. Ohne länger darüber nachzudenken, krame ich meinen Basketball unter dem Bett hervor, ziehe mir eine bequeme Stoffhose an und mache mich auf den Weg zum Sportplatz.
 

Mein erster Wurf trifft und ich fühle, wie ein Schauer der Zufriedenheit durch meinen Körper strömt, der es kompensiert, dass die nächsten drei Würfe daneben gehen. Auch der vierte und fünfte. Das ist weniger zufriedenstellend, aber weiterhin tragbar. Vor allem als ich merke, dass niemand sonst in der Nähe ist und meine Fehlwürfe bemerkt. Nur ein paar von diesen verrückten Läufern, die ihre Runden auf dem Sportplatz drehen, sind zu sehen und die haben gewiss andere Probleme, als mich zu beobachten. Ich dribbele einen Moment auf der Stelle, atme tief ein und versuche es erneut. Mit weniger Konzentration klappt es besser. Als der Ball durch den schlichten Metallring kippt, reiße ich meine Faust hoch und verkneife mir im letzten Moment einen begleitenden Ausruf des überzogenen Egoschmeichelns. Stattdessen flüstere ich es nur, sehe mich unauffällig um und folge meinem weggehüpften Ball. Im Grunde hätte ich mich nicht einmal zusammenreißen müssen, denn niemand interessiert es am Anfang des Semesters, wenn ein Verrückter auf dem Basketballplatz rumbrüllt. Die Toleranzen für den Alkoholpegel der Studenten an dieser Uni sind erschreckend hoch.

Nach nur zehn weiteren Minuten sind meine Fingerspitzen eiskalt und ich habe das Bedürfnis, sie wie kleine Pfötchen in meinen Pulloverärmeln zu verstecken. Trotz der Frostbeulen bewege ich mich unaufhörlich zwischen den Körben hin und her und spüre endlich, wie sich mein Herzschlag beschleunigt. Es fühlt sich gut an. Das dumpfe Rauschen in meinen Ohren ist laut. Das pochende Dröhnen in meiner Brust ist betörend und belebend. Es sorgt dafür, dass für diesen Moment das Echo in meinem Kopf alles übertönt. Es ist genau das, was ich brauche. Es ist genau das, was ich will. Endlich etwas Ruhe inmitten des Sturms.

Ich gebe mir die beste Mühe, mich wirklich auszupowern, merke alsbald, wie sich trotz der Kälte Schweiß von meiner Schläfe löst und mache weiter. Mittlerweile ist es bereits dunkel und es fällt mir immer schwerer, den abgenutzten Korbring zu erkennen. Das eigentlich daran befestigte grobe Netz fehlt schon ewig.

Ohne auf meinen Mitbewohner zu achten, werfe ich den Ball auf das Bett und schnappe mir das abgelegte Handtuch, ehe ich wieder aus dem Zimmer verschwinde. Ich schwinge meinen verschwitzten Körper unter die Dusche und habe danke der angenehmen Wärme nur noch weniger Enthusiasmus zu der Party zu gehen, als vorher. Was kommt eigentlich nach Nullbock? Minuselan? Defizitschwung? Ich bilde ganz sicher meine eigene Kategorie, was das angeht. Mood Robin. Der Blick in den Spiegel nach der Dusche sagt mir, dass mein Gesicht auch den passenden Emoji dazu liefert. Ich hasse Partys. Es kann mir schon per Definition keinen Spaß machen. Zwangsloses Fest. Am Arsch. Trotzdem lasse ich mich dazu herab, mich zu rasieren und putze mir artig die Zähne.
 

Zurück im Zimmer sind es seine langen Beine, die ich zuerst bemerke. Sie sind in eine schwarze Jeans gehüllt und bilden damit eine präsente Hürde, die ich nehmen muss, wenn ich zu meinem Bett will. Mich unter der Bettdecke verkriechen ist also keine Option mehr. Ich bleibe im Türrahmen stehen und lausche. Jeff scheint nicht hier zu sein, denn ich höre keine Stimmen oder Gespräche. Wenn Kain schon hier ist, habe ich länger Körbe geworfen, als ich dachte. Als ich das Zimmer letztendlich betrete, erkenne ich, dass er auf meinem Schreibtischstuhl lümmelt und mit gemäßigtem Schwung den Basketball zwischen seinen Händen hin und her wirft. Seine Bewegungen wirken kontrolliert und bedacht. Er ist ein Sportler durch und durch und die aufploppende Visualisierung, was seine wissende Hände noch alles anstellen können, versuche ich schnellstmöglich wieder zu verdrängen. Dank der heiteren Gruppenabendplanung haben wir keine Zeit für irgendwas. Ich werde mich definitiv betrinken.

„Ich wusste gar nicht, dass du spielst?“, sagt er und lächelt mich an. Er wirft den Ball hoch und fängt ihn wieder auf. Ich folge dem runden Objekt mit meinem Blick, wie ein zahmes, dressiertes Frettchen. Oder Maskottchen? Ich atme tiefer ein als ich müsste, blase frustriert die Wangen auf und schüttele den Kopf.

„Ich besitze nur einen Ball“, sage ich und bin nicht gewillt, meine Schulsportkapriolen vor ihm auszubreiten. Nachher zeigt Jeff ihm noch das Tanzvideo aus dem letzten Schuljahr und das wäre mein absoluter Untergang. Kain richtet sich elegant und fließend auf, blickt auf sein Handy und schiebt es zurück in seine Hosentasche. Er trägt die Strickjacke mit dem diagonalen Reißverschluss, der zur Hälfte geöffnet ist und ein dunkelblaues Hemd offenbart. Er bleibt direkt vor mir stehen, verschränkt beide Arme mit Ball hinter seinem Rücken und als ich einen Schritt zur Seite mache, folgt er mir. Seinen braunen Augen blicken mir auffordernd entgegen, doch ich weiche erneut aus.

„Wo ist Jeff?“, frage ich ausweichend und schmeiße das Handtuch auf den Schreibtischstuhl, der schwungvoll eine halbe Drehung vollführt und durch die Rückenlehne vom Schreibtisch gestoppt wird.

„Seine Haare in Form bringen, nehme ich an...“, sagt er, zuckt mit den Schultern und bringt den Ball erneut in die Luft, fängt ihn und wirft ihn gleich wieder hoch. Diesmal mit einer deutlichen Rotation. Mir ist noch nie aufgefallen, wie groß seine Hände sind. Deutlich größer als meine eigenen. Ich kommentiere seine Aussage lediglich mit einem lustlosen Raunen und verschränke die Arme locker vor meinem Bauch. Kain mustert mich und ich drehe mich demonstrativ zu meinen wenig aussagekräftigen Kleiderschrank um, um nicht mit ihm reden zu müssen. Meine noch immer am Nullpunkt verweilende Laune macht mich nicht entscheidungsfreudiger. Sie macht mich auch zu keinem besseren Gesprächspartner. Im Gegenteil. Ich lasse meinen Finger über einen Stapel Pullover wandern und verweile bei dem Dunkelroten, den mir Jeff gegeben hat.

„Ehrlich, so soll es laufen?“, fragt er ruhig, „Ich dachte, wir wären schon etwas weiter und...“

„Sind wir das?“, unterbreche ich ihn harsch, aber in neutralem Tonfall. Ich wirke lässig, bin aber bis zum Bersten angespannt. Und er merkt es. Natürlich merkt er es. Ich ziehe den Pullover raus und greife nach irgendeiner Jeans, werfe beides ich auf das Bett.

„Was ist los?“, erkundigt er sich ruhig.

„Nichts.“ Kain ist nicht der Typ, der es damit auf sich beruhen lässt.

„Du hast keine Lust auf die Party.“

„Nein.“ Keine Neuigkeit. Trotzdem beruhigt es mich, dass Kain anscheinend nichts anderes hinter meiner Laune vermutet, als meinen allgemeinen Unwillen.

„Spatz,...“ Oder doch? Damit hat er sofort meine Aufmerksamkeit. So wie sonst auch. Ich drehe mich zu ihm um, lehne mich gegen den Schreibtisch und stütze mich mit beiden Armen darauf ab. Ich schwöre, dass ich es nicht beabsichtige, ihn provokativ anzublicken, aber ich tue es und ich kann deutlich sehen, was es in dem anderen Mann anrichtet. Kain seufzt und kommt auf mich zu. Diesmal weiche ich nicht zurück. Ich beobachte jede seiner Regungen, erkenne das Senken seiner Lider und wie seine Zunge minimal über seine Unterlippe streicht. Es ist kein richtiges Anfeuchten, kein bewusstes Aufmerksamkeitserhaschen. Nur eine überbrückende Geste. Er sammelt sich, ordnet seine Gedanken und sorgt dafür, dass meine Nervosität steigt.

„Würdest du bitte einfach mit mir reden? Ich weiß, dass das nicht deine Stärke ist, aber es hilft enorm. Und ich dachte wirklich, dass wir über diese Spielchen hinweg sind. Direkt und ehrlich, schon vergessen?“, erinnert er an eine unserer vorigen Abmachungen. Eine, die wir nach einem größeren Streit geschlossen haben. Wie könnte ich es vergessen? Aber um ehrlich zu sein, fällt es mir schwerer, als ich dachte.

„Du hast es doch schon herausgefunden und es ist nicht wichtig...“, tue ich es erneut ab. Kain mustert mich eindringlich, atmet schwer ein und greift nach meinem Shirt. In Höhe meines Sternums zerknüddelt er den Stoff in seiner Faust und zieht mich damit dichter an sich heran. Es ist eine seltsam sanfte Geste und das trotz der verräterischen Aggressivität, für die sie steht. Als ich ihm näher komme, atme ich tief ein. Kain riecht nach Seife, Regen und seinen Ingwerbonbons. Meine Geschmacksknospen beginnen angeregt zu kribbeln, ganz ohne das physische Erlebnis von Zitrone und Ingwer. Es ist reine Erinnerung und sie macht mich fertig.

„Spatz, ich möchte auch die Dinge hören, die für dich unwichtig sind. Egal, was es ist.“ Ich blicke direkt in seine warmen braunen Augen und könnte schworen, dass irgendwas in mir schmilzt. Vermutlich mein Verstand.

„Musst du so sein?“, raune ich heiser, ergeben und klammere mich an den letzten Fitzel meines Resthirns. Ich bin erledigt. Hinüber. Komplett am Arsch. Wenn er hier ist, macht er mich verrückt.

„Du stehst drauf!“

„Pff.“ Ich stoße bezeichnend die Luft aus.

„Okay, du willst nicht, dann fange ich an. Weißt du, woran ich, seit ich mitten in der Nacht hier angekommen bin, denke?“ Die Pause, die folgt, ist obligatorisch. Ich reagiere absichtlich nicht. Ich muss es auch nicht. „An eine Begrüßung von dir.“

„Ich hab dich heute Morgen nicht rausgeworfen, reicht das nicht?“

„Nein, und das hast du auch nur nicht, weil ich es nicht zugelassen habe“, korrigiert er und hat vollkommen Recht. Ich sage nichts dazu, sondern beschließe das Spiel dieses Mal mitzuspielen. Mein Gehirn ist eh schon weich gekocht.

„Okay! Wie du willst. Hi.“, erfülle ich ihm seinen Wunsch. Die Begrüßungsphrase schmücke ich mit einer etwas lasziveren Note für das I.

„Ein Hi? Ehrlich?“ Er wirkt nicht befriedigt.

„Hey?“, starte ich einen weiteren Versuch.

„Denkst du wirklich, dass das Hey eine vollwertige, richtige Begrüßung ist?“

„Heyt man sich heutzutage nicht mehr an? Ich dachte, damit liegt man im Trend. Man hört es überall. Hey. Hey. Hey...“ Jedem einzelnen meiner Beispiel-Heys gebe ich eine andere, übertriebene Betonung und damit auch eine klare andere Bedeutung. Kain nickt, während er mir geduldig dabei zuhört, wie ich noch zwei weitere Beispiele bringe und zieht dann eine Schnute. Ich kann nicht erkennen, was er in diesem Moment wirklich denkt. Nicht mal erahnen. Ich weiß nur, dass es etwas anderes sein muss, als mir in diesen Momenten in den Sinn käme.

„Das machst du mit Absicht, oder?“, flüstert er mir zu. Seine Stimme ist rau und tief. So mag ich sie. Seine Geduld ist endlos und das Wissen darum erfüllt mich widererwartend mit einem warmen Gefühl, welches mich letztendlich so irritiert, dass ich nachgebe.

„Ist ja gut. Was wäre denn deiner Meinung nach eine richtige, vollwertige Begrüßung?“, interveniere ich, aber nicht ohne im Jeff-Style mit den Augen zu rollen. Kain lässt meine gespielte Reaktion kalt und ich wehre mich nicht, als er die letzten Zentimeter zwischen uns tilgt und seinen Körper noch näher an meinen bringt. Stattdessen konzentriere ich mich auf das kitzelnde Gefühl, welches die Härchen auf meinen Armen verursachen, spüre das sanfte Zwirbeln, welches über meine Rippen flieht und in meinen Beinen verebbt. Seine Nähe zwingt mich jedes Mal in die Knie, auch wenn ich es ungern zu gebe. Ich halte sogar ein wenig die Luft an, während mich sein Blick fokussiert und ich gespannt darauf warte, dass er mir einen weiteren meiner Irrglauben demontiert.

„Ein Kuss.“
 

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BÄMM! 🤪 Wir starten mit dem zweiten Chapter der Robin und Kain - Chaoten-Saga.

Ich wünsche euch viel Spaß beim Weiterlesen und Haare raufen!
 

Einen lieben Dank an euch! Ihr seid alle großartig und einfach die Besten!

das del

Mission: unflirtable

Kapitel 2 Mission: unflirtable
 

So simpel. So unspektakulär und doch fühlt es sich gewichtig an. Ein Kuss, wiederholt es sich in meinem Kopf und mein Blick richtet sich automatisch auf Kains Lippen, so als würde die passende Antwort direkt dort zu finden sein. Vielleicht ist sie es auch. Denn seine Lippen wirken weich und wohlig und ich weiß, dass sie nicht nur so aussehen, sondern sich genauso soft anfühlen. Ein Kuss ist die logische Konsequenz. Ich bin mir fast sicher. Kain lässt die letzten Zentimeter zwischen uns verweilen, während sein ruhiger Atem die Spannung und meine Sehnsucht schürt. Ein simpler Kuss und doch spüre ich, wie das schwerfällige Ding in meiner Brust die Vibration annimmt, die zwischen uns herrschen und sie noch schneller wiedergibt. Dann küsst er mich. Einfach nur seine Lippen auf meinem. Sanft und warm. Verweilend. Es ist unaufgeregt, zärtlich und schön. Haut auf Haut. Mein Herz versteht die Entspanntheit nicht, wummert und rast. Auch mein Verstand zieht nach. Der Kuss ist der Richtige für diesen Moment und doch giere ich schnell nach mehr. Wie so oft in letzter Zeit. Ich schmecke das Aroma vertrauter Zuneigung, als er zärtlich an meiner Oberlippe nippt, fühle die erregenden Explosionen in meinen Lenden, noch bevor er an meiner Unterlippe verweilt. Meine Finger greifen fester in den Stoff seiner Strickjacke, ziehen ihn unwillkürlich dichter an mich heran. Auch, wenn es nur die wenigen verbliebenen Zentimeter sind, die uns trennen.

Kains Augen sind geschlossen, als er den Kuss löst und ich dabei zusehe, wie seine Zunge, ihrer Wirkung bewusst, über die eben noch von mir geküsste Stelle leckt. Sie hinterlässt eine feuchte Spur und es fällt mir schwer, mich zurückzuhalten. Kain hat es genossen. Er hat darauf gewartet und wenn ich ehrlich bin, ich auch.

„Schon viel besser“, summt er bestätigend und mein Bauch kribbelt vielsagend. Dieser elende Verräter. Ich rolle als Gegeneffekt mit den Augen und wende meinen Blick von ihm ab, fixiere einen Punkt im Nirgendwo, der hoffentlich den beginnenden Sturm in mir erstickt.

„Wenn du das meinst...“, murmele ich, klinge fast trotzig und wünschte, Kain würde nicht mehr in mein Gesagtes hineininterpretieren, als meine obligatorische Standardreaktion. Ich wünschte es und bin mir doch sicher, dass er genau das nicht macht. Sein forschender Blick bestätigt es mir.

„Okay, Spatz, was beschäftigt dich?“ Du! Wir! Meine Gedanken schreien abrupt. Doch mein Mund bleibt geschlossen und statt zu antworten, fliehe ich an ihm vorbei auf mein Bett zu. Was auch besser ist, denn dank des Stimmungsgewitters in meinem Inneren durchläuft mein Gesicht einen unpassend passenden Mimikparcour, den ich beim besten Willen nicht unterdrücken kann. Übermannt von meinen eigenen verräterischen Gedankenwellen fühle ich mich seltsam ausgepowert und verletzlich. Nichts, was ich dem Schwarzhaarigen ungefiltert aufbürden will. Ich greife nach den abgelegten Klamotten und ziehe mir das Langarmshirt über den Kopf, welches ich nach der Dusche übergeworfen habe und entblöße meinen tätowierten Rücken. Ich spüre noch immer ein tiefsitzendes Bedenken in Form eines flauen Kribbelns und das, obwohl ich weiß, dass es für Kain längst nicht mehr neu ist.

„Dich nervt doch nicht nur die Party, oder? Was noch?“, versucht es Kain erneut und diesmal direkt. Er klingt trotzdem ruhig und besonnen. Besorgt und fürsorglich. Ich hasse es. Kain muss wirklich einen sechsten Sinn haben. Im Gegensatz zu mir. Ich seufze lautlos und streife mir den roten Pullover über. Danach setze ich mich aufs Bett, wechsele Hose und Socken ohne Kain zu antworten und stehe danach eine Weile unmotiviert vor meinem Nachtschrank rum, während ich darüber nachdenke, wie viel ich trinken muss, damit ich den Abend überstehe, ohne den Eindruck zu vermitteln, dass ich emotional bedürftig bin.

„Spatz, du...“

„Was?“, frage ich übertrieben gereizt. Kain sieht mich an, erwidert aber nichts. Wieder hat er diesen Blick, den ich immer noch nicht wirklich deuten kann. Ist er jetzt sauer? Enttäuscht? Genervt? Hungrig? Also meine Mimik ist deutlicher. Überhaupt empfinde ich das Spektrum meiner negativen Gesichtsausdrücke allgemein als umfangreicher. Ich stelle mal dahin, ob das als positiv gewertet werden kann.

„Dein Pullover. Du hast ihn falsch rum an.“, sagt er schlicht. Es formt sich dieses bestimmte Lächeln in seinem Gesicht, welches eindeutig amüsiert und zu gleich warm und wohlig ist. Ich blicke verwundert an mir hinab und erkenne die Nähte am Saum des unteren Randes und als ich nach hinten greife, ertaste ich das Markenetikett, welches mich darauf hinweist, dass ich ihn nur bei 30 Grad waschen darf und per Hand. Der Pullover ist anspruchsvoller als jedes Haustier. Ich wende Kain den Rücken zu. Doch bevor ich das Oberteil umdrehen kann, spüre ich ihn hinter mir. Seine Arme tauchen auf beiden Seiten meines Körpers auf und betten sich über meinen Bauch. Seine gesamte Länge presst sich gegen meine Kehrseite und das stetig wärmer werdende Gefühl benebelt mir den Verstand. Genauso wie seine Lippen, die sich in meinen Nacken drücken. Federleichte Küsse, dort platziert, wo ich mich am wenigsten dagegen wehren kann und von wo das Kribbeln seine Reise durch meinen ganzen Körper antreten kann. Ich verspüre nur noch weniger Lust, dieses Zimmer zu verlassen, als der Schauer über meine Brust fegt und reine erregende Verwüstung in meinem Bauch hinterlässt. Jede Faser meines Körpers bettelt augenblicklich nach Aufmerksamkeit und ich weiß, dass Kain alles genau beobachtet. Er haucht einen Kuss auf den oberen Wirbel in meinem Nacken und die Reibung des Pullovers an meinen Brustwarzen wird unerträglich. Die kleinen Reize kaschen mich und die großen treiben mich weiter in die Untiefen seiner ersehnten Berührungen.

Ich drehe meinen Kopf zur Seite, spüre den Hauch seiner Lippen an meiner Wange und erhalte damit seine Aufmerksamkeit. Er stoppt mit seinen Berührungen und ich vernehme das leise Summen, welches aus seiner Kehle dringt. Kains warme braune Augen sind nur zur Hälfte geöffnet. Ich greife nach hinten in seinen Nacken und gleite mit meinen Fingern in seine weichen, unfrisierten Haare. Damit ziehe ich seinen Mund zurück auf meinen. Der Kuss ist tief und heiß. In dieser Position ist Kains Größe unglaublich praktisch. Er hat keinerlei Probleme, meine Mund zu plündern, zu erforschen und zu necken. Ich genieße das abwechslungsreiche Spiel, das Tippen und Bitten. Das zärtliche Streicheln, welches so viel Chaos in meinem Körper hinterlässt.
 

Ich drehe mich zu ihm um, greife automatisch an seine Gürtelschnalle und lockere das feste Leder, ohne ihn öffnen. Zwei meiner Finger schieben sich am Stoff der Strickjacke vorbei und tauchen hinein in die Hitze seiner Hose. Ich spüre feste Muskeln seines Unterbauches, die Hitze seiner Haut und ich will sie schmecken. Mit der anderen Hand greife ich eine der Jeansschlaufen und ziehe mich dichter in die berauschende Wärme. Jedoch nur so lange, bis Kain mich stoppt. Seine Hände gleiten flach über meine Brustmuskeln, streichen nach oben über meine Schlüsselbeine und stoppen auf beiden Seiten an meinem Trapezmuskel. Sie sind warm und schwer. Sie haben erdenden Effekt auf mich, der mir gerade so gar nicht passt.

„Du arbeitest wirklich hart gegen unsere eigentlichen Pläne... nicht, dass es mich überrascht“, bemerkt er amüsiert.

„Unsere Pläne?“, frage ich dümmlich und kämpfe gegen den Nebel in meinem Kopf an.

„Die Party, auf die wir gemeinsam wollen?"

„Du und Jeff wollt…meine Pläne sehen anders aus", entgegne ich und erinnere daran, dass ich noch immer kein Herdentier bin. Ich bin das Kuriosum, was man nach Jahrtausenden in der Wüste ausgräbt und man sich fragt, wie es dahin gekommen ist, weil das Gebiet schon immer ein Ozean war. Oder so ähnlich. Ich gestehe, dass ich Jeffs Geographiefreunden besser zuhören sollte.

„Ist das so?“

„Pff, ja, sie sagen mir wesentlich mehr zu“, stelle ich nonchalant fest.

„Ach ja? Und wovon reden wir genau? Mal mir ein Bild mit Worten...“, fordert er mich neckend auf und ich unterdrücke einen bekennenden Seufzer. Es ist nicht das erste Mal, dass ich feststelle, dass Kain es mag, wenn ich meine Fantasien in lautmalerische Worte packe. Es ist so ein Ding zwischen uns. Auch wenn es mir bisweilen eher die eigenen Schamgrenze aufzeigt. Trotzdem genießen wir es durchaus beide. Heute jedoch nicht.

„Ähm... ficken", kreiere ich freimütig. Ich nutze dafür all die blümelige Geilheit, die mich aktuell durchschwimmt. Es ist schwer, sich auf solche Dinge zu konzentrieren, wenn sich das Blut aus dem Gehirn verabschiedet und langsam, aber freudig erwartend in andere Regionen aufmacht.

„Wie plump“, raunt er enttäuscht, aber ohne sich aus meinen Berührungen zu drehen. Stattdessen tippt er mir sogar gegen den flachen Bauch, wandert mit den Fingern von meinem Bauchnabel zu meinem Sternum. Er wiederholt seine Worte flüsternd.

„Sagt der, dessen Feingefühl bis vor wenigen Wochen gerade so einen Fingerhut füllte.“ Ich erinnere mich gut an Kains machohafte Phrasen, die schon damals nicht so richtig ins Bild passten. Ich ficke dich, weil es mir Spaß macht, echot eines seiner Highlights durch meinen Kopf und ich muss mir schon wieder verkneifen, mit den Augen zu rollen. Kain hat zwar das eidetische Gedächtnis, aber ich habe, was solche Sprüche angeht, das Erinnerungsvermögen eines Elefanten. Wie zur Bestätigung beißt er sich verräterisch auf die Unterlippe, weil er weiß, was ich andeute und lächelt zurückhaltend, fast etwas beschämt. Es hinterlässt eine Spur Befriedigung.

„Ich gebe unumwunden zu, dass das kein Glanzstück war“, gesteht er hochtrabend, „Allerdings nehmen wir uns beide nichts, was das angeht und das weißt du auch.“ Auch das ist wahr. Aber ich habe nie den Versuch unternommen, dahingehend einen anderen Eindruck zu erwecken. Ich stehe zu ungehobelt und barsch. Leider weiß Kain dank meiner Bücher, dass ich auch anders kann oder zu mindestens weiß, wie in der Theorie funktioniert. Wenn ich es will. Ich will nur nicht oft. Auch jetzt nicht. Ein schlichter, schneller Fick würde mir reichen und daraus mache ich kein Geheimnis. Kain jedoch versteht meine fehlende, geäußerte Zustimmung als Aufforderung zur Erklärung.

„Du weißt doch, die ganze Situation war auch für mich eher unerwartet... irgendwie neu und verwirrend... und das musste ich erst verarbeiten“, erklärt er weiter, „Es tut mir leid, dass ich dabei so ein unqualifiziertes Zeug von mir gegeben habe.“

„Heißt das, du wolltest mich damit beeindrucken?“, hake ich amüsiert nach.

„Nein, eigentlich wollte ich mich nur nicht verletzlicher machen, als ohnehin schon.“

„Indem du den Arsch spielst? Eine eher hinkende Technik, oder?“

„Bist du doch vertraut mit.“ Ein Zaunpfahl. Er ist groß und prägnant und ich ignoriere ihn wohlwissend.

„Du weißt, wie man die Stimmung hebt“, kommentiere ich sarkastisch, seufze ernüchtert und wende zum ersten Mal mein Gesicht ab. Auch wenn seine Worte wahr sind, will man sie selten so unverblümt vor den Kopf geschlagen bekommen. Ich schließe meine Augen, merke aber sofort, wie sich Kains Gesicht dichter an meines beugt. Seine Lippen berühren meine Wange. Nur kurz und federleicht, dann legen sie sich gegen meine Schläfe und in meiner Brust wird es plötzlich warm.

„Du weißt, dass ich Recht habe...“, flüstert er.

„Ow, ich bitte dich...“, entflieht es mir missfällig. So ein Schmu. Kain lacht tief und wohlig auf und erneut treffen seine Lippen meine Schläfe.

„Also, wenn du mich fragst, hast du jetzt zwei Möglichkeiten... Entweder du gibst mir dieses Mal recht... oder...“ Option Nummer zwei. Definitiv. Ich muss nämlich gar nichts zugeben. Dennoch warte ich geduldig ab, was seiner Meinung nach die zweite Möglichkeit ist.

„Oder was?“

„Oder wir gehen einfach zu der Party und könnten dabei etwas Spaß haben.“

„Du könntest. Für mein Persönlichkeitsprofil gibt es dafür nämlich keine produktiven Schnittstellen“, widerspreche ich skeptisch und ignoriere geflissentlich, dass diese Option überhaupt nichts mit dem eigentlichen Sachverhalt zu tun hat. Zudem ist mir sehr wohl klar, dass ich mit meinem Kommentar eine der Lachhaftigkeiten bediene, die die anderen Jungs öfter über mir ausbreiten. Humankybernetik am Arsch. Jeff hat mich letztens wirklich gefragt, ob ich es plane, mein Update zu zelebrieren. Und zu meiner Schande hat es tatsächlich eine Weile gedauert, bis mir klar wurde, dass er meinen anstehenden Geburtstag meint. Danach hat sich mein Kindheitsfreund eine geschlagene halbe Stunde herzlich über meinen Gesichtsausdruck amüsiert. Mit Schenkelklopfen und Gegröle. Es passiert selten, dass Jeff die Oberhand hat. An diesem Tag war es so und irgendwie werde ich ihm das noch heimzahlen müssen.

„Schnittstellen?“, wiederholt Kain den IT-Begriff verwundert, „Ich dachte, Jeff steht auf den Computerfritzen und nicht du...“

„Natürlich! Nur ich habe den Kollateralschaden. Denn glaub mir, Jeff hat plötzlich ein gigantisches Interesse an Computern. Wunder, oh, Wunder.“ Den letzten Rest formuliere ich schwungvoll und meine Lippen formen ein halbherziges Grinsen. Ich habe meinen Jugendfreund schon lange nicht mehr so engagiert gesehen. Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass er die Hälfte der Zeit gar nicht weiß, wovon er eigentlich spricht und nur Glück hat, dass ich es auch nicht weiß.

„Nun ja, es schadet nicht, sich für die Belange bestimmter anderer zu interessieren.“ Erneut so eine hinkende Zaunpfahlrhetorik. Ich habe das Gefühl, ich habe irgendetwas verpasst.

„Und die dadurch bewirkte Langeweile ist eine der häufigsten Todesursachen. Okay, vielleicht ist es auch Mord.“

„Spatz...“ Schon wieder. Fast schon symptomatisch. Ich beiße die Zähne zusammen und Kain bemerkt es.

„Okay, genug davon. Tu mir einen Gefallen und sprich mir nach: Ich werde versuchen, auf der Party Spaß zu haben“, sagt er lächelnd. Ich kneife ad hoc meine Augenbraue zusammen und sehe ihn mehr als zweifelnd an.

„Im Ernst?“, frage ich wenig überzeugt und auch nicht gewillt, ihm diesen Gefallen zu tun.

„Komm schon!“, fordert er mich auf und zieht eine lächerliche Schnute, die mich einen Moment lang besinnungslos schmunzeln lässt. Ich erinnere mich jedoch schnell eines Besseren.

„Ich kann dir einzig eine physische Anwesenheit bestätigen. Nicht mehr und nicht weniger.“ Kain mustert mich kritisch und so zuversichtlich, wie ich mich fühle. Er sollte es annehmen, immerhin habe ich gerade versichert, dass ich wirklich mitkomme. Nicht, dass der von Jeff abgesegnete Pullover und mein Wille, mit ihm zu diskutieren, schon Andeutung genug waren.

„Wirklich?“, hakt Kain unzufrieden nach und ich hisse meine Arme, um ihm zu verdeutlichen, dass mir die Hände gebunden sind. Wenn auch nur metaphorisch.

„Tu du mir einen Gefallen und sag mir, wie ich es schaffe, dass du aufhörst, mich zu nerven?“, entgegne ich stattdessen. Der Schwarzhaarige schenkt mir ein vielversprechendes Lächeln und erneut merke ich, wie etwas in mir seinen Aggregatzustand zu wechseln beginnt. Herrje.

„Du könntest nachher mit mir tanzen...“, schlägt er vor und klingt dabei weniger lustig, als ich es gern hätte. Es ist ihm ernst, auch wenn das von dem feinen Lächeln auf seinen Lippen kaschiert werden soll. Tanzen? Ich? Nur, wenn die Hölle zu friert oder man mich zum Tanzbär umprogrammiert. Dann aber bitte mit dem passenden rosaroten Tutu.

„Ich tanze nicht“, sage ich schlicht.

„Du könntest ja mal eine Ausnahme machen.“ Bevor ich darauf antworten kann, werden wir von meinem Mitbewohner unterbrochen.

„Hört auf zu flirten und kommt endlich“, ruft uns Jeff durch die geschlossene Tür zu und hämmert seine flache Hand zwei Mal gegen das Holz. Flirten? Wer flirtet hier? Wir diskutieren. Blutrünstig und brutal.

Vielleicht schaffe ich es, Jeff auf dem Weg zur Party irgendwo in einen Graben zu schubsen. Aus Versehen, natürlich. Das versaute Outfit wäre meine süße Rache für diese Lächerlichkeit und garantiert mir etwas Spaß. Noch dazu wäre Jeff im Schlamm etwas, was ich schon seit gut sieben Jahren nicht mehr erleben durfte. Während in meinen Kopf die teuflischen Pläne handcoloriert und detailreich Form annehmen, starre ich die Tür an und reagiere erst, als Kains Augenbrauen rhythmisch nach oben zucken.

„Flirten?“, entflieht ihm giggelnd, fast hicksend. Er betätigt die Türklinke, während er zu lachen anfängt. „Als ob du wüsstest, wie man flirtet...oder merkst, wenn man es mir dir macht.“ Den letzten Teil hängt Kain mit ran, während er laut lachend auf Jeff zu schlendert und mich überrumpelt zurücklässt.

„Ich kann flirten“, rufe ich ihm hinter, ohne zu wissen, warum ich das Bedürfnis habe, das klarzustellen, „Ich finde es nur sinnlos.“ Den letzten Teil murmele ich in meinen nicht vorhandenen Bart und greife nach meiner Jacke. Und ich merke sehr wohl, wenn man mit mir flirtet. Ich hab es bei Sina gemerkt, was zugegebenermaßen keine Leistung war, weil sie mich schon bei einem der ersten Aufeinandertreffen unverhohlen küsste und ich mich nicht wehren konnte, weil ich betrunken war.

Ich taste zuletzt nach meinem Portmonee und spüre die Packung Zigaretten vom gestrigen Abend in meiner Innentasche. Ich belasse sie dort und schlüpfe in meine Schuhe, während bereits im Flur danach gefragt wird, ob ich mich verlaufen habe. Als wäre ich ein Hamster. Meine Laune bessert sich nicht. Ich bin mir nicht sicher, was ich mir gerade mehr herbeisehne. Schlaf, Sex oder einen schnellen schmerzlosen Tod. Ich werfe meinem Bett einen letzten wehmütigen Blick zu und weiß, dass ich die falsche Entscheidung getroffen habe.
 

Auf dem Weg zur Party setze ich meine mit Kain begonnene Ablehnungstirade fort. Nur dass ich es diesmal mit Sprache und weniger mit Körpereinsatz versuche. Dass Partys eine Ausgeburt der Hölle sind, bleibt hierbei der wenig überraschende Grundtenor. Allerdings gehen mir auf der Hälfte des Weges bereits die markanten, negativen Adjektive aus und Jeff macht keinerlei Anstalten, sich von meiner pessimistischen Einstellung anstecken zu lassen. Im Gegenteil, es scheint förmlich an ihm abzuprallen und ich vermute stark, dass das mit dem unvermeidlichen Aufeinandertreffen mit dem ITler zusammenhängt. Tragisch für mich. Dabei gebe ich wirklich alles. Ich bin abgrundtief mäkelig, aber nichts passiert. Ich verliere langsam meinen einzigartigen Charme. Dann spüre ich plötzlich Kains Hand an meinem unteren Rücken und verstumme. Er lehnt sich beim Gehen näher an mich heran, berührt mit der Nasenspitze meine Haare und atmet warm gegen die Helix meines Ohres.

„Gib auf, Motzspatz. Das ist die falsche Taktik. Jeff kennt dich zu gut, als dass er sich davon beeinflussen lässt.“ Genau ins Schwarze und nichts, was ich nicht selbst weiß. Ich werfe Kain einen beleidigten Blick zu und mache abrupt einen Schritt zur Seite als ich bemerke, dass sich Jeff zu uns umdreht. Vermutlich, weil er sich über die eingetretene Stille wundert. Mein Mitbewohner läuft unbeeindruckt rückwärts weiter und beobachtet uns kritisch. Ich präsentiere ihm meinen Mittelfinger ohne dass Kain es bemerkt und Jeff formt mit seinem Mund deutlich ein paar provokante Worte als Antwort. Danach grinst er, dreht sich um und hopst weiter. An einer der oberen Stellen meiner Dislike-Liste stehen fröhliche Menschen und Jeff kriegt jetzt seine eigene Spalte.

„Ach übrigens...“, beginnt Kain neben mir, „Du hast den Pullover immer noch falsch rum an...“ Als Beweisführung greift er mir in den Nacken und zieht an dem im Wind wehenden Etikett. Als er seine Hand lachend wegzieht, streift er dabei meinen Hals und entfacht zum wiederholten Mal an diesem Tag ein tiefschwelendes Feuer in meinem Unterbauch. Ich fluche einmal laut und den Rest des Weges leise.
 

Die Adresse der Location ist in der Nähe des Campus und nach 20 Minuten Fußweg haben wir sie erreicht. Es ist eines dieser herkömmlichen Mehrfamilienhäuser, welches sich Reih für Reih in ein einheitliches Gesamtbild einfügt. Fast bieder und irgendwie gleichgültig. Es ist nicht die klassische Partygegend. Trotzdem bleiben wir vor einem dieser Häuser stehen. Auf dem ersten Blick kann ich sehen, dass gut 60 Prozent des Hauses und der Flur hell erleuchtet sind. Ich habe keine Chance, länger darüber zu philosophieren, denn Jeff betritt scheufrei das Gebäude und Kain drückt eine seiner großen Hände auffordernd in meinen Rücken, sodass ich regelrecht in den Hausflur geschoben werde. Es ist wie befürchtet. Das Grauen, echot durch meinen Kopf und ich muss es sogleich revidieren. Dem Grauen tue ich damit definitiv Unrecht. Denn das Bild, welches sich vor mir offenbart, ist garantiert ein zusätzlicher Höllenkreis. Die Musik ist schon beim Eintritt in das Wohngebäude unter meiner Würde. Pop-Rock. ´So much for my happy ending´, brüllt Avril Lavigne im passenden Moment durch die Lautsprecher einer der geöffneten Wohnungen und spricht mir damit aus der Seele. Überall auf der Treppe tummeln sich Menschen, schwatzen und grölen. Ich würde kehrt machen, doch Kain läuft dicht hinter mir, sodass ich spüren kann, wie sich seine breiten Schultern hinter mir zur Mauer aufbauen. Flucht fast ausgeschlossen. Mission: impossible akzeptiert. Ich werde das hier überleben. Komme was wolle. Mein Ehrgeiz schrumpft, als ich in der zweiten Etage merke, dass meine vorige Annahme zutrifft. Das gesamte Haus ist involviert und feiert scheinbar durchgängig Partys.

„Vergiss nicht hin und wieder zu lächeln.“, belehrt mich Kain aus dem Hinterhalt und haucht mir dabei direkt ins Ohr. Er schiebt mich in eine der Wohnungen, in die auch Jeff verschwunden ist, befördert mich aus meiner Jacke und findet sogleich jemanden, den er begrüßen kann. Auch Jeff scheint bereits von der Menge verschlungen und mein Unwohlsein steigert sich exponentiell. Ich quäle mir eines dieser von Kain verlangten Mundgestiken ab, sehe mich dabei um. Es ist niemand zu sehen, den ich kenne oder wenigstens erkenne. Kain hat noch nicht gemerkt, dass ich ihm nicht gefolgt bin, also setze ich mich ab und suche die Küche. Ich brauche Alkohol. Am besten viel davon.
 

Die Küche ist nicht allzu schwer zu finden. Die meisten Wohnungen älterer Gebäude sind nach einem ähnlichen Grundprinzip aufgebaut und dem habe ich zu verdanken, dass ich nicht erst durch das überfüllte Wohnzimmer streifen muss oder versehentlich in ein besetztes Schlafzimmer stolpere. Allerdings nimmt sich auch die Küche nichts, was die Überbelegung angeht. Ich atme ein und erst wieder aus, als ich vor der improvisierten Bar ankomme. Ihres Zeichens eine vollgestellte und vollgekleckerte Küchenzeile. Ich hasse es so sehr. Alles. Und jeden. Wirklich jeden. Ohne Ausnahme. Ich resigniere und mache mich auf die Suche nach etwas für mich Konsumierbarem. Neben unzähligen Mixbieren und gewöhnlichen Hopfengebräue stehen natürlich etliche harte Sache parat. Aber auch Wein und anderes zuckersüßes Schlabberzeug. Ich gestehe mir eine leichte Überforderung ein.

„Hey, bist du nicht Sharis Biofritze?“, werde ich unerwarteterweise von der Seite angequatscht. Ich schenke der Person nur einen kurzen Seitenblick. Es ist Mark, Sharis Freund, der neben mir steht und ein Glas mit einer grünen undefinierbaren Flüssigkeit schwenkt.

„Biochemiker.“, korrigiere ich kurzangebunden und setze unbeirrt meine Suche nach dem Wodka fort. Gin. Korn. Rum. Robbie Bubble. Gin. Brauner Rum. Kurzum eine Menge Ethanol. Ich drehe eine Flasche nach der anderen um. Aber ich finde nicht das, was ich suche. So viel zum Spaß.

„Machst du nicht das Gleiche wie Shari? Ihr hattet doch dieses Tutorium zusammen?“, plappert er weiter.

„Nicht mal im Ansatz. Das Tutorium gehört lediglich zu ihren Wahlpflichtfächern, welche als Exkurs auch die Biochemie abdecken. Daher meine Wenigkeit...“, erkläre ich und spare mir jegliche Differenzierung. Ich bin mir fast sicher, dass Shari ihm das genauso erzählt hat. Mark nickt verstehend und lehnt sich mit dem Rücken gegen den Küchenschrank. Wenn es keinen Wodka gibt, brauche ich etwas anderes. Erneut fällt mein Blick auf das grüne Zeug in Marks Glas.

Er schiebt mir verstehend den Blue Curacao, O-saft und den eben vermissten Wodka zu. Marks Ansehen ist gerade ein paar Punkte gestiegen, jedoch nicht aus dem Keller herausgekommen. Sein letztmaliges Androhen einer Trachtprügel, weil ich Shari ein bisschen geärgert habe, hat ihn Sympathien gekostet. Mal davon abgesehen, dass kaum jemand mit Pluspunkten bei mir anfängt. Bis auf Shari selbst. Ich greife mir ein eigenes sauberes Glas, stelle es vor uns ab und bekenne stoisch meine Hilfsbedürftigkeit, in dem ich auf sein Getränk und dann auf den leeren Raum meines Glases zeige. Ohne mit mir zu diskutieren, zieht er es zu sich ran und öffnet den Wodka.

„Was ist das eigentlich?“, frage ich reichlich spät.

„Grüne Wiese oder Grashopper, je nachdem, in welchem Fachbereich man sich tummelt.“ Bei diesen Namen brauche ich noch einen Schluck Wodka mehr und deute es dem anderen Mann direkt an. Für Mediziner heißt der Drink vermutlich Infektionsstufe vier. Rotzgrün.

Während Mark mein Getränk vollendet, bemerke ich aus dem Augenwinkel heraus Jeff, der seinen ITler gefunden hat und wie erwartet selig vor sich hingrient. Ich sehe einen Moment dabei zu, wie er an Jakes Lippen klebt, als wären sie benetzt mit wohlschmeckenden Honig. Meine Stirn ist gerunzelt, aber in meinem Kopf explodieren die Beobachtungen in feinsäuberlich formulierten Passagen und Annahmen. Sein Mund. Die süßeste aller Verlockungen. Ob er an ihm nippt, wenn sie miteinander allein sind? Ob er mit der Zunge neckend die Konturen entlang leckt und japsend darauf hofft, dass sein Gegenüber den nächsten Schritt wagt und ihre Lippen miteinander vereint? Er spürt das Prickeln, welches erwartend über seinen eigenen Mund tanzt und gierige Ekstase schürt, Leidenschaft entfacht. Ihr Herzschlag synchronisiert mit jedem vergehenden Moment in der freudigen Erwartung auf das Tilgen des heißen Verlangens.

Die Szenerie flattert durch meinen Kopf als weiterer potenzieller Stoff für meine anzügliche Anthologie. Wie in einem Film spielt es sich ab und diesmal schaffe ich es nicht, die mir bekannten Gesichter auszublenden. Ich sehe Jeff und Jake. Bis ins Detail. Ich muss verrückt sein. Ich komme gedanklich erst zurück, als das kalte Glas gegen meinen Arm gedrückt wird.

„Bitteschön, ein Wodkatrauma im Gras.“ Der Inhalt ist wesentlich satter gefärbt als Marks, was den geringeren Orangensaftanteil verdeutlicht. Ich nehme direkt einen großen Schluck und verziehe keine Miene. Allerdings nur zur Show. Es ist fürchterlich. Der Wodka ist billig und brennt sich ohne Widerstand direkt bis zu meinem Enddarm vor. Jedenfalls gefühlt. Vermutlich hat er den gesamten Magen-Darmpart einfach ausgelassen und sich in Sekundenschnelle durch meinen Körper geätzt. Ich kann kaum atmen und unterdrücke ein verräterisches Husten. Vielleicht falle ich einfach Tod um, dann erspare ich mir den Rest des Abends und wäre nicht mal traurig. Mein Magen gibt daraufhin ein verärgertes Geräusch von sich und mir damit zu verstehen, dass er mir meinen eigentlichen Partyüberlebensplan nicht gestattet. Ich ignoriere ihn so lange, wie möglich. So viel steht fest.

„Meine Güte. Du bist hart im Nehmen und scheinbar nicht freiwillig hier.“, kommentiert Mark meine Verzweiflungstat und mustert mich mit hochgezogener Augenbraue. Beeindruckt ist er nicht, sondern geradeso amüsiert.

„Wie hast du das nur herausgefunden... ich habe mir solche Mühe gegeben. Ich habe sogar gelächelt.“, entgegne ich trocken.

„Wann?“

„Letzte Woche.“ Ich gebe ein klägliches Beispiel für die angesprochene Gesichtsmimik, schaffe gerade so die rechte Seite anzuheben und erinnere mehr an Two-Face, als an den Joker. Mark lacht. Offen und ehrlich.

„Solltest du üben. Ist nur als ES-Konkurrenz überzeugend.“ Der nächste Clown. Was für ein Zirkus. Er selbst nimmt einen Schluck aus seinem Glas und streicht sich durch die braunen Haare. Sein Lächeln wird etwas breiter, als ein großer brünetter Kerl mit mehreren Tüten Knabbereien in der Menge auftaucht und nach einem kurzen Blick auf uns zu steuert.

„Hier bist du. Ich habe heimlich die Vorräte geplündert. Marika wird mich killen, aber egal...“, sagt der Knabberzeuglieferant liebevoll. Ich versuche, sie nicht allzu offensichtlich zu belauschen. Doch es funktioniert nur semioptimal.

„Hier, Sweety“ Der große Brünette öffnet die mitgebrachte Packung Salzstangen, reicht Mark ein paar der Sticks und mahnt ihn an, diese auch zu essen. Das macht er ebenso zärtlich und rührend, wie ihm auch der Kosename von den Lippen perlt. Die beiden sind definitiv ein Paar und ich meine mich daran zu erinnern, dass ich sie sogar schon zusammen auf dem Campus gesehen habe. Nun starre ich sie ungeniert an, bis Marks Kerl wieder verschwindet. Und ich starre noch immer, als Sharis Kumpel meinen Blick bemerkt und scheinbar genau versteht, weshalb ich so schaue. Sweety? Ich wiederhole den Kosenamen nur gedanklich, aber forme es nebenher unbeabsichtigt mit dem Mund.

„Guck nicht so, das ist nur ein Probelauf. Ich Sweety, er Honey.“, erläutert er und runzelt seine Stirn, „Ist nicht gut, oder?“ Scheinbar sorgt sein eigener Schmusename für wenig Begeisterung bei ihm. Das sollte ihm zu denken geben.

„Bist du sein Haustier?“, erkundige ich mich in der Annahme, dass seine Frage nicht rhetorisch gemeint war. Mark hebt eine Augenbraue und lässt seinen Kopf zur Seite kippen. Er antwortet nicht sofort und das ist höchst bedenklich.

„Naja... wenn er nur im Handtuch bekleidet aus der Dusche kommt, dann mache ich hin und wieder Männchen.“ Das gehört eindeutig zu den Dingen, die ich nie wissen wollte.

„Das ist auf so vielen Ebenen traurig.“, kommentiere ich. Nach dieser Party brauche ich definitiv eine Therapie. Eine mit viel Eis und Pudding und so wenig Menschen, wie möglich. Mark gibt ein glucksendes Geräusch von sich und knabbert an seinen Salzstangen.

„Jeder sollte zu seinen Schwächen stehen. Meine ist dieser Kerl da und deswegen darf er auch wochenlang einen Kosenamen für mich suchen, ohne, dass ich ihn meuchelmorde“, erklärt Mark mit diesem dezent verrückten Lächeln auf den Lippen, welches nur schwerverliebte haben. Ich beiße die Zähne zusammen, um kein Würgegeräusch zu machen.

„DAS nenne ich hart im Nehmen.“, echoe ich stattdessen seine vormalige Bemerkung nach und ernte ein ungerührtes Schulterzucken. Mark knuspert energisch ein paar der Salzstangen weg und lässt sich danach von jemanden auf die Tanzfläche zitieren, den ich nicht kenne.

Ich lecke bedächtig über den Rand meines Glases und schaue noch immer unzufrieden in die Menge. Danach nehme ich einen weiteren großen Schluck meiner Traumawiese und verziehe hemmungslos das Gesicht. Ich schmecke das intensive Aroma des Wodkas, welcher erneut mit einem russischen Volkstanz über meine Zunge fegt. Er kühlt meine Lippen und entfacht zur selben Zeit ein Feuer in meinem Rachen, welches sich ungehindert tiefer kämpft. Gesteigert wird das Ganze durch die feinherbe Säure des Orangensafts. Eigentlich ist es gar nicht schlecht. Aber es sollte definitiv besserer Wodka sein. Richtiger russischer oder polnischer. Es ist ein Unterschied von Tag und Nacht.

„Ich hoffe, das hast du dir selbst gemixt...“

„Ja, Papa.“, gebe ich unbeeindruckt retour und sehe zu Jeff, der mir grinsend ein geschlossenes Bier hinhält. Ich lehne ab und halte ihm stattdessen mein farbenfrohes Mixgetränk hin. Mein Kindheitsfreund schnuppert und schüttelt direkt seinen Kopf.

„Uff, legst du es darauf an, dich zu besaufen?“

„Plan A, bis zum Umfallen.“ Darauf ein weiterer Schluck.

„Ach komm, früher waren wir auf weitaus schlimmeren Partys und die hast du auch überstanden, ohne dich volllaufen zu lassen.“ Und ich bereue es zutiefst. Der Gedanke spiegelt sich eins zu eins in meinem Gesicht wider. Jeff kichert neben mir, tippt seine Schulter gegen meine und ich mustere ihn zweifelnd. Meine Erinnerungen an diese ganze Thematik sind definitiv anders als seine. Wesentlich rauchiger und gespickt mit einigen Blackouts. Es gibt auch nichts, woran ich mich unbedingt zurückerinnern will. Jeff allerdings schon. Er wird in der letzten Zeit oft nostalgisch und ich lasse ihn dann einfach reden. Genauso, wie jetzt. Ich lehne mich zurück an die Küchenzeile, nippe an meinem Glas und merke, wie die gesprächige Geräuschuntermalung neben mir langsam aber sicher zu einem monotonen Rauschen wird. Suchend gleiten meine Augen über die heitere Ansammlung von Körpern. Überall stehen kleine Gruppen von Menschen mit Gesichtern, die ich teilweise sogar zu ordnen kann. Sie gehören in meinen oder auch Jeffs Fachbereich. Viele kenne ich aber nicht, obwohl ich es vielleicht müsste. Namen merke ich mir sowieso nicht.

„...Robin. Hörst du mir zu?“ Mit der Nennung meines Namens und dem deutlichen Stups gegen meine Hüfte wird das Rauschen in meinem Kopf plötzlich wieder klar.

„Entschuldige, bin kurz eingenickt.“, kommentiere ich gelangweilt und halte nicht damit hinterm Berg, dass mich diese Party genauso mitreißt, wie prophezeit. Jeff boxt mir gegen den Arm.

„Du bist echt... Du versuchst es nicht mal“, motzt er berechtigt und ich stecke ihm einfach nur meine mittlerweile grüne Zunge entgegen. Jeff kichert erheitert. Wenn er angetrunken ist, ist es so viel einfacher, ihn mit Quatsch abzulenken.

„Wo ist eigentlich Kain hin?“

„Durch den Kleiderschrank nach Narnia.“, antworte ich gespielt weinerlich und schniefe trocken.

„Du weißt es also nicht?“

„Nur die Auserwählten dürfen nach Narnia.“, erwidere ich nicht weniger wehleidig als vorher. Jeff seufzt seinen spektakulärsten Seufzer und rollt zusätzlich mit den Augen. Ein absolutes Schauspiel. Danach lächelt er und der sich anbahnende Effekt ist sogleich zur Nichte gemacht.

„Du bist schrecklich, weißt du das?“ Es lässt mich vollkommen ungerührt.

„Und du brauchst endlich wieder Sex. Du bist anhänglich und gehst mir auf die Nerven. Geh irgendwo spielen“, kontere ich einfach. Doch statt eines empörten Ausrufs legt mir Jeff seinen Arm um die Schulter, zieht mich näher und stößt geräuschvoll die Luft aus.

„Und ich hätte gern Sex. Am liebsten sofort.“ Der Alkohol hat schon grandiose Arbeit geleistet und seine Zunge gelockert.

„Warum sagst du das mir? Geh, flirte und verführ Jake. Gibt es dafür nicht die Enter(n)-Taste?“ Okay, der war platt. Jeff grinst trotzdem.

„Ich würde gern. Wirklich, ich habe es versucht... Er ist so anständig. Es ist zum Verrücktwerden.“, jammert Jeff mitleidiger, als ich es jemals könnte und legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab, „Gott, ich würde ihn am liebsten einfach in den Garderobenschrank zerren, auf die Knie fallen, sobald die Tür ins Schloss fällt und ihm...“ Seine Lippen machen ein ploppendes Geräusch und er schließt die Augen. Diesmal ist seine Stimme fest und deutlich.

„Jeff...“, stoße ich verzweifelt und lauter aus als beabsichtigt und versuche, mir die Ohren zu zuhalten. Was mit dem Glas in der Hand und seinem Kopf auf meiner Schulter leider ineffektiv ist. Mein Jugendfreund beginnt lauthals zu lachen und entlässt mich nicht aus seinem Griff. Das Bild mit allen Details entsteht ganz von allein. Selbst das berauschende Gefühl der Aufregung und der Hitze rollt durch meinen Körper, als ich mir vorstelle, wie sich die Szenerie zusammenfügt. Das schwere Atmen. Die flinken, wissenden Finger. Das erregende Prickeln der Aufregung, weil jeden Moment die Entdeckung droht. Ich kriege es garantiert nie wieder aus meinem Kopf.

„Die Schuhe putzen“, sagt Jeff zwischen mehreren Lachern, „Ich meine, seine Schuhe putzen. Was du wieder denkst!“ Nicht lustig.

„Ich will nach Narnia.“, rufe ich aus und halte mir nun die Augen zu. Ich wimmere gespielt auf.

„Du willst also zu Kain. Sehr interessant“, flüstert Jeff plötzlich direkt in mein Ohr. Seine Stimme ist keineswegs erheitert, sondern unerwartet ruhig. Ich lasse meine Hände sinken, stoppe mit der freien kurz bei meinen Lippen und für einen Moment muss es so aussehen, als würde ich mir den Mund zu halten. Dann sehe ich ihn verblüfft an. Jeff grinst süffisant und meint es als deutliche Provokation, so, wie er es in der letzten Zeit öfter macht. Er will genau wissen, was das mit mir und Kain ist. Dabei weiß ich es doch selbst nicht und das lässt mich jedes Mal schroff reagieren.

„Weißt du was, fick dich doch selbst!“, erwidere ich nach diesem Schema barsch und meine es auch so. Ich leere das Glas mit nur einem Zug, lecke mir die Lippen und strecke ihm danach die Zunge raus. Jeffs unterschwellige Andeutungen sind mehr als nervig. Und sie verunsichern mich.

„Wenn ich noch mehr selbst Hand anlege, habe ich bald eine Sehnenscheidenentzündung“, scherzt Jeff einfach weiter und nun habe ich die Faxen dicke. Ich löse mich aus seinem Griff und höre ihn, während ich in einen anderen Raum wechsele, erheitert gackern und mehrmals ‚Es war nur ein Scherz' und ´Dein Pullover` rufen. Ich werfe im Gehen einen kurzen Blick nach unten. Verdammt. Ich trage das Oberteil immer noch falsch rum. Ich brauche dringend eine Zigarette und greife mir direkt an die Hosentasche. Ein Griff ins Leere. Die Notfallpackung befindet sich in meiner Jacke und ich weiß nicht, wo Kain sie hingetan hat.
 

Ich mache mich auf die Suche und finde eine lauschige Kammer, in der ich mich ordentlich anziehen kann. Doch meine Jacke kann ich nirgendwo entdecken. Die logische Konsequenz daraus ist, dass ich einfach jemanden mit Zigaretten finden muss. Auf einer Party sollte das kein Problem sein. Meine Lunge vollführt einen Hüpfer, der je nach Gefühlslage unterschiedlich ausgelegt werden kann. Meine momentane Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit identifiziert es als ein freudiges Erwarten und nicht als das mahnende Wimmern, was es eigentlich ist. Ich husche unbemerkt und schnell nach unten. Doch auf dem letzten Treppenabsatz werde ich langsamer. Es ist ihre Stimme, die ich zuerst erkenne und das trotz der Geräuschkakophonie, die im Aufgang herrscht. Sie hat mir gerade noch gefehlt. Achtsam beuge ich mich nach vorn, um so besser an der aufsteigenden Treppe vorbei zuschauen und sehe ihre roten Haare regelrecht aufleuchten. Es ist wie das imaginäre Stoppschild. Der ultimative Warnhinweis und natürlich kann ich erahnen, welches Bild sich mir gleich bietet. Mein Herz macht einen Satz nach vorn, prallt gegen seinen Knochenkäfig und schmerzt. Natürlich ist es Kain, den ich neben ihr sehe. Wer auch sonst. Auf einem Festival mit tausenden Teilnehmern findet sie ihn und das innerhalb von wenigen Minuten. Wieso ist sie eigentlich hier? Welch dumme Frage, wieso sollte sie nicht hier sein. Immerhin ist die Hälfte der Biofachschaft hier und sie bildet sich ein, beliebt zu sein. Seit unserer größeren Handgreiflichkeit mit der Tasche sind wir nicht mehr wirklich aufeinandergetroffen. Was aber mehr oder weniger damit zu tun hat, dass wir es tunlichst vermeiden, uns über den Weg zu laufen. Nicht, dass ich das nicht vorher schon gelebt hatte. Nur jetzt noch ein wenig penibler. Da Kain die Hälfte der Woche nicht auf dem Campus ist, funktioniert das auch sehr gut. Allerdings befriedigt mich dieser Fakt eher wenig. Zumal ich nicht weiß, was Kain ihr erzählt hat. Ob er ihr überhaupt etwas erzählt hat oder ob er des Friedens Willen einfach hofft, dass wir nie wieder aufeinandertreffen. Alles in allem strotzt es nur so vor Lächerlichkeit. Ich sollte darüber lachen, drüberstehen und doch schlägt mein Herz wild und heftig. Es rast und nicht im guten Sinne. Für einen Augenblick wähnt sich die Zurückhaltung und ich denke darüber nach, wie geplant nach draußen zu gehen, mir eine Zigarette zu suchen oder zwei. Es einfach ignorieren, so wie es mir Kain und Jeff raten würden. Doch meine Füße bewegen sich nicht nach vorn. Stattdessen mache ich einen Schritt zurück und stehe so, dass mich keiner der Beiden aus ihrer Position heraus sehen kann. Ich erkenne nur noch einzelne Teile ihrer Körper, aber das Wichtigste ist, ich höre sie. Leise, aber trotzdem deutlich.

„Sag es meinem Vater selbst, dann muss ich dich nicht immer damit nerven.“

„Weil es dir auch so viel aus macht. Wie kommt er überhaupt auf die Idee?“

„Es ist nur eine nette Geste.“

„Klar, hör bitte auf, mit ihm über mich zu reden.“ Die Rothaarige verschränkt die Arme vor der Brust und tippt mit ihren langen Fingernägeln einen unmelodischen Takt in ihre bleiche Haut.

„Er mag dich und fragt ganz allein nach dir. Ich habe wirklich nichts damit zu tun!“, wehrt sie es empört ab. Alles nur Show. Ich glaube ihr kein Wort und Kain hoffentlich auch nicht. Ihr Ton ist wie immer flirtend, wenn sie mit Kain spricht und das macht mich rasend. Wie auf Kommando lässt sie ihre schlanken Finger über den Reißverschluss seiner Strickjacke gleiten und bleibt etwa auf der Mitte stehen. Ich erkenne, wie sie mehrfach sachte gegen das Metall tippt und ihn unentwegt ansieht. Unwillkürlich beuge ich mich weiter runter, um nun doch ihre Gesichter zu sehen. Kain erwidert ihren Blick nicht, lässt ihre Berührung aber weiterhin zu. Während ich das beobachte, kann ich nicht verhindern, dass ich meine Hand langsam zu einer Faust balle.

„Kannst du bitte damit aufhören. Wir haben doch darüber geredet.“, sagt er höflich. Wie er das immer wieder hinkriegt, ist ein echtes Wunder für mich. Ich wäre längst bissig und verachtend. Sie rollt effekthascherisch mit den Augen, macht aber keinerlei Anstalten, ihre Finger von ihm zu nehmen. Sie ist so falsch. Kain wiederholt mahnend ihren Namen. Dann greift er nach ihrer Hand und schiebt sie davon.

„Ja. Ja. Wir sind kein Paar mehr. Du hast kein Interesse mehr und urplötzlich sind dir meine Annäherungen unangenehm...Ich weiß, ich weiß.“, meckert sie.

„Nicht schon wieder... So habe ich es nie gesagt“, entflieht es Kain genervt und er streicht sich mit der kompletten Hand einmal über den Mund.

„Nicht in dem Wortlaut, aber ich weiß, wer dir das eingeredet hat.“

„Ach kommt, das ist nicht wahr und selbst, wenn es so wäre, geht es dich nichts an.“

„Aber den Nerv, mich um Dinge zu bitten hast du noch...“

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, weil ich davon ausging, dass ich dich ohne Gegenleistung um einen kleinen Gefallen bitten kann.“, perlt es sarkastisch von seinen Lippen. Ein Gefallen? Worum er sie wohl gebeten hat? Gefallen sind nie gut. Ich merke, wie sich meine Zehen unruhig auf und ab bewegen und dabei gegen das harte Material des Schuhs drücken. Sie verkrampfen sich, als sie sich eine gefühlte Ewigkeit lang nur anstarren.

„Okay, du hast gewonnen. Ich melde mich bei dir, wenn ich was weiß.“

„Danke. War das wirklich so schwer?“, entgegnet Kain leicht grollend. Er greift nach ihrer Hand als dankende Geste und das rothaarige Biest lässt es sich nicht nehmen, diese kleine Geste vollkommen auszukosten. Zusätzlich drückt sie ihm einen Kuss auf die Wange, als es der Moment zu lässt, den Kain mit einem weiteren genervten Entfliehen ihres Namens kommentiert. Ich beiße die Zähne zusammen und obwohl ich ganz genau höre, dass er damit nicht einverstanden ist, reißt mich das hässliche Gefühl mit sich. Es brodelt und schwelt, allerdings bin ich diesmal beherrscht genug, um mich davon nicht zu einer Dummheit provozieren zu lassen. Also trete ich an die frische Luft und atme tief ein. Es hilft. Ein bisschen. Die Kälte der Nacht ist eine Wohltat für mein erhitztes Gemüt. Ich hasse das Biest trotzdem. Und ich hasse, dass Kain weiterhin Kontakt zu ihr hat. Ich hasse, dass sie mich derartig beeinflussen kann und das ich nicht fähig bin, es zu vergessen. Sie ist nur eine Ex. Nicht mehr und nicht weniger.

„Fuck!“, murre ich in die Nacht und merke, wie mich das Rauchen-Bedürfnis vollkommen übermannt.
 

Ich finde schnell jemanden, von dem ich mir eine Zigarette schnorren kann. Während er mir beim Anzünden assistiert, versucht er es mit Small Talk und lässt sich zu meinem Glück mit wenigen ´Hm´ und ´Ahas` und Gesten zu friedenstellen. Ich ziehe den Rauch tief in meine Lunge, spüre das beißende Kitzeln und merke keinerlei Befriedigung. Ich kriege sogar ein schlechtes Gewissen, weil ich sowohl Jeff, meiner Schwester und manch anderen wiederholt zugesichert habe, dass ich wirklich aufhöre. Gut, ich meinte, ich gebe mir Mühe und das tue ich. Die meiste Zeit jedenfalls und vor allem dann, wenn Kain nicht mit Rothaarigen spricht. Bevor der Zigarettenkerl geht, erbettele ich mir eine weitere und behalte sie erstmal in der Hand. Als ich allein bin, sehe ich automatisch die Straßen entlang, aus der wir vorhin hierhergekommen sind. Flucht, schreit es in Großbuchstaben in meinem Kopf. Ich würde am liebsten einfach gehen und all diese idiotischen Gedanken ignorieren. Doch ich weiß, dass es nichts an der Situation ändert. Wie hat es ein weiser Indianer einst gesagt: Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden. Und das trifft den Nagel auf dem Kopf und lässt mich Ernüchterung spüren. Noch dazu bin ich selbst schuld daran. Es ist eine selbst herbeigeführte Schwebe, weil ich noch immer nicht laut ausgesprochen habe, was ich will und vielleicht auch erwarte. Obwohl mich Kain danach gefragt hat. Obwohl ich ganz genau begreife, warum mir jedes Auftauchen der Rothaarigen ein Loch in die Brust brennt. Obwohl ich seit Wochen wieder und wieder diese Diskussion mit mir selbst führe. Wie uneins kann man sich eigentlich sein? Es kann nicht gesund sein, aber ich schaffe es einfach nicht, die scharfe Stimme in meinem Kopf zu verdrängen, welche mich davor warnt, mich zu sehr fallen zu lassen. Auch Kains Bekundung hatte nichts daran geändert, dass mich die Unsicherheit schier auffrisst. Ich bin so zwiegespalten wie eh und je. Aber trotzdem ist die Stimme auch etwas leiser geworden. Etwas versöhnlicher. Ob sie jemals verstummt? Vielleicht wird sie das nie.
 

„Robin?“, fragt jemand hinter mir. Ich wende mich erschrocken um und sehe mich einer hübschen Chinesin gegenüber, deren Gesicht mir sofort bekannt vorkommt. Trotzdem funktionieren meine Gesichtserkennung und mein Namensgedächtnis wieder mal nur mittelmäßig. Anscheinend sieht sie, wie sich meine Gehirnwindungen abmühen.

„Kara. Kara Wang.“, klärt sie auf. Es klickt.

„Ah, entschuldige bitte. Ich habs nicht so mit Namen.“, gestehe ich ehrlich. Sie ist ebenfalls Autorin und eine meiner stärksten Konkurrentinnen im Verlag. Ich traf sie das erste Mal bei dieser aberwitzigen Symposiumsbesprechung, zu der mich Brigitta gezwungen hat. Damals hatten wir Telefonnummern ausgetauscht, aber weiter keinen Kontakt gehabt.

„Schon gut.“, beschwichtigt sie und winkt ab.

„Was machst du hier?“, frage ich nach einem Moment des Zögerns und Wunderns. Sie hier anzutreffen, ist mehr als eigenartig und unerwartet.

„Ich bin auf einer Party.“, entgegnet sie lapidar, „Marika ist eine Freundin von mir... die Veranstalterin?“ Die ich nicht kenne, da ich selbst lediglich ein Mitbringsel bin. Ich scheine weiterhin recht dämlich aus der Wäsche zu gucken, denn ohne, dass ich sie auffordere, setzt sie weitere Erklärungen hinterher. Sie hat ebenfalls hier an der Uni studiert und ist mittlerweile graduiert. Sie ist noch in der Stadt gemeldet, lebt aber überwiegend bei ihrem Partner außerhalb. Das Schreiben vereinfacht die Ortsunabhängigkeit und das kann ich nur abnicken.

„... und Brigitta hat sowieso ihre Wege, um zubekommen, was sie will...“ Damit endet ihre Plauderattacke und sie lacht auf. Ich kann es nur bestätigen und schiebe mir die ungerauchte Zigarette hinters Ohr, die bis eben noch meinen unruhigen Fingern ausgesetzt war. Ein paar der Tabakkrümel sind zu Boden gerieselt und ich kann das Aroma deutlich riechen.

„Denkst du auch manchmal, sie hat einen sechsten Sinn?“, frage ich Kara und spiele darauf an, dass Brigitta das Talent hat, immer dann anzurufen, wenn man es am Wenigsten gebrauchen kann.

„Sieben... den Nervsinn noch dazu.“ Nun lache ich. Es führt eins zum anderen und ich finde mich in einer unerwarteten echten Unterhaltung wieder. Es ist eine nette Abwechslung, mal mit jemanden über diesen Teil meines Lebens plaudern zu können. Zwar weiß Kain von meinem Autorendasein und auch Brigitta ist er zu meinem Leidwesen schon begegnet, aber trotzdem versuche ich das Thema in seine Anwesenheit weitestgehend zu meiden.

„Brigitta in all ihrem Größenwahn“, gebe ich wissend von mir, als Kara von einer weiteren Schote berichtet. Ich sehe, wie ihr Gesicht von Sekunde zu Sekunde entspannter und amüsierter wird.

„Sie ist ein Pitbull.“, bestätigt sie lachend.

„Oh ja.“ Kara hat viele ganz ähnliche Erfahrungen mit unserer gemeinsamen Lektorin gemacht. Gute, verrückte und auch schlechte. Aber grundsätzlich sind wir beide voller Lob für sie. Ich weiß nicht, wie lange wir letztendlich zusammenstehen, doch nach einer Weile wechseln wir zurück in den Flur, weil es dort wärmer ist und bald darauf wird sie von einer Freundin mit kirschroten Haaren weggeschnappt. Ich werfe einen Blick auf mein Handy und stelle fest, dass sowohl Jeff als auch Kain versucht haben, mich zu erreichen. Eine Antwort bekommt keiner von beiden. Jeff, weil er mich nervt und Kain, weil ich noch immer Frustrationen darüber schiebe, dass er, statt dem Drachen dem Kopf abzuschlagen, mit ihr geliebäugelt hat. Ich benehme mich wie ein Idiot und fühle mich auch so. Es ist ernüchternd und ätzend.

Das Handy wandert ungenutzt zurück in meine Hosentasche und ich erklimme die Treppe, um in dieselbe Wohnung zurückzukehren, in die man mich zuerst verfrachtet hat. Der Anblick, welches sich mir bietet, hat sich nicht geändert. Ich habe sogar das Gefühl, dass dieselben Leute an den gleichen Stellen stehen, wie vorhin. Wieder trabe ich in die Küche, finde den Wodka diesmal ohne große Suche und fülle ein neues Glas mit der klaren Flüssigkeit. Zunächst schnuppere ich daran und bin mir sicher, dass ich danach keine Nasenhaarentfernung mehr nötig habe. Nach dem ersten paar Schlucken fühle ich alsbald das vertraute warme Kribbeln in meinen Gliedmaßen und den feinen Nebel, der sich in meinem Gehirn ausbreitet. Ich bin ein Leichtgewicht, was den Alkohol betrifft und merke es deutlich. Es ist genau das, was ich will und brauche. Ich leere das Glas in einem großen Zug und ächze. Er schmeckt so scheiße.
 

„Was würdest du für den kleinen Hunger zwischendurch empfehlen? Brezeln, Erdnussflips oder Mäusespeck?“, fragt mich eine liebliche Stimme und ich schaue zu der Person, die neben mir aufgetaucht ist, wie ein hübscher kleiner Geist. Shari hält eine Dose Cola in der Hand, beäugt die Knabbereien und stupst mir auffordernd mit der eigenen Schulter gegen den Arm. Ich bin wie schon so oft für einen Moment von der naiven Schönheit verzaubert, die sie umgibt. Ihre langen schwarzen Haare trägt sie weitestgehend offen. Nur an den Seiten erkenne ich filigran geflochtene Zöpfe, die am Hinterkopf zusammenführt sind und dort offen in sanften Wellen hinab fließen. Ich spüre den Scheiterhaufen deutlich unter meinen Sohlen brennen, während mein Gehirn äußerst unanständige Dinge malt. Ich würde in Flammen aufgehen, wie ein Feuerball und ohne weiteres verpuffen. Schon allein wegen des Alkohols.

„Chips mit Pizzageschmack?“, gebe ich von mir, mehr fragend als ratend und greife nach der erspähten Tüte. Ich runzele die Stirn, als ich erneut die Geschmacksrichtung erlese. Pizzageschmack? Was ist mit Paprika und Salz passiert?

„Du sollt meine Palette nicht erweitern, sondern konstruktiv reduzieren“, bemerkt sie lachend und nimmt damit jeglicher Grübelei die Luft zum Atmen. Shari trägt eine langärmelige hellrote Bluse mit kleinen weißen Punkten und eine schlichte dunkelblaue Jeans, die etwas zu groß ist, aber ihrer Silhouette keinen Schaden zufügt. Als sie sich einen Erdnussflip zwischen die schönen Lippen steckt und vorher mit der Zungenspitze dagegen stupst, fühle ich bereits den obligatorischen Zuckerschock, den sie mir stets verpasst.

„Ich glaube kaum, dass meine Meinung Gewicht hatte. Deine Entscheidung war längst gefallen.“, sage ich und deute auf die Erdnussknabberei, die in ihrem Mund verschwindet. Shari grinst bestätigend und vertilgt einen weiteren Flip.

„Und bei dir alles okay?“, fragt sie neugierig und linst in das leere Glas in meiner Hand.

„Ja, alles prima.“, sage ich einen Tick zu euphorisch. Sie glaubt mir kein Wort. Ich versuche es mit einem Lächeln und verschlimmere es nur noch.

„Wow, dein Blick ist derselbe wie damals, als ich den chemischen Aufbau von D-Glucose und D-Galactose verwechselt habe.“, zwitschert sie giggelnd. Ich fasse mir getroffen an die Brust, als sie das Monosacchariden-Desaster aus dem Tutorium erwähnt und keinerlei Reue zeigt.

„Genau in die Wunde... Shari, welch Frevel.“, gebe ich getroffen von mir.

„Der Aufbau sieht bis auf eine Stelle vollkommen gleich aus“, beschwert sie sich und führt damit die Diskussion weiter, die wir auch damals begonnen hatten. Ich weiche auch jetzt keinen Millimeter von meiner Position ab. Sie klopft mir mit der flachen Hand gegen das Schlüsselbeinende meiner Schulter, so als würde es ihr Argument verstärken. Keine Chance.

„Gar nicht wahr. Es ist, als setzt du Eisbären mit Erdbeeren gleich.“, wimmere ich theatralisch und höre mit Genugtuung, wie die hübsche Inderin bei dem Vergleich aus vollem Halse zu lachen beginnt. Sie zieht etliche Blick auf sich und ich verstehe gut, wieso. Sie ist zauberhaft, lacht unbedarft und ohne Scheu. Noch immer giggelnd schlägt Shari sich die Hände vor den Mund und verbirgt so, dass einige feuchte Erdnussflipskrümel an ihren Lippen und Zähnen kleben. Ich spiele mit dem leeren Glas und entscheide, dass ich noch mehr Wodka brauche. Kurzentschlossen greife ich nach der Flasche und fülle zwei Fingerbreit ins Glas. Als sie sich beruhigt, streicht sie sich mit der Hand über den Mund.

„Mit dir macht studieren wirklich Spaß“, flötet sie und meint es so. „Und schön, dass du hergekommen bist. Ich war mir nicht sicher, ob ich dich wirklich erweichen konnte.“

„Du warst ein weiterer Tropfen auf dem heißen Stein. Mein Mitbewohner fing schon vorher an mich deswegen zu nerven.“ Ich mache eine ausladende Geste durch den Raum, die mit Sicherheit auch Jeff einschließt, der sich irgendwo in diesem Haus rumtummelt.

„Jeff, oder? Der süße Blonde?“ Ich beiße bei der Beschreibung meines Jugendfreundes sichtbar skeptisch die Zähne zusammen und lache kurz auf. Jeff ist ja vieles, aber süß? Okay, in den Augen einer 20-Jährigen ist Jeff möglicherweise süß. Das gestehe ich ihr zu, wenn man ihn jedoch wiederholt schnarchen gehört hat, dann weicht das liebliche Bild schnell einem Albtraumszenario. Shari piekt mir ihren Finger in die Seite und kichert herzerwärmend. Anscheinend kann heute jeder meine Gedanken lesen. Außer Kain.

„Ja, genau. Jeff.“, bestätige ich nun doch noch, „Aber ich beschreibe ihn eher mit chaotisch, nervig und nicht mit süß.“ Shari lächelt, greift sich ein paar neue Flips und hebt ihre Hand in meine Nähe. Ich nehme einen Schluck vom Wodka und greife mir eines der dargebotenen Knabbereien. Meinen Magen neben dem Wodka noch etwas anderes zu präsentieren, ist vielleicht gar keine schlechte Idee.

„Er versteht sich sehr gut mit Jake, oder?“, sagt Shari plötzlich und legt dabei ihren hübschen Kopf schief. Ihr grübelnder Gesichtsausdruck und der forsche Blick wundern mich. Doch als sie sich einen weiteren Erdnussflip in den Mund steckt, werden ihre Augen wieder weich. Sie knuspert fröhlich vor sich hin und ich frage mich, was ich mit dieser Aussage anfangen soll.

„Ich bin sehr froh, dass er nach Mark endlich wieder jemand Interessantes gefunden hat.“, sagt sie, ohne dass ich letztendlich nachhaken muss. Ich nicke beständig, bis mir klar wird, was sie gerade geäußert hat.

„Warte kurz! Jake und Mark?“

„Ja, die beiden hatten im vorletzten Sommer so ein Ding am Laufen“, sagt sie unaufgeregt, Mark? Mister Sweety? Interessant. Ich grinse schief. Ein Ding laufen haben. Ich verstehe ganz genau, was diese Beschreibung meint und stelle daher keine weiteren Fragen.

„Sollte ich Jeff vor irgendwas warnen?“, frage ich stattdessen. Da Mark augenscheinlich mit Honey zusammen ist, ist es wohl mit dem ITler nicht gutgelaufen. Vielleicht kommt daher Jakes´ Zurückhaltung?

„Hm? Nein, wieso?“ fragt sie zuckersüß und so herzerwärmend naiv, dass ich verzweifelt die Augen schließe. Unfassbar. Ich höre, wie sie sich einen weiteren Snack in den Mund schiebt und sehe dann dabei zu, wie sie ihre Finger sauber leckt. Shari macht mich fertig. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass mich irgendeine dieser höheren Kräfte wirklich hassen muss. Abgrundtief und bösartig. Anders kann ich es mir nicht erklären. Shari ist im Grunde ein Klischee schlechthin. Naiv, aber unbeschreiblich sexy. Sie ist allerdings nicht dämlich, so wie es gern in etlichen Romanen kombiniert wird. Was wiederum sehr beruhigend ist, weil sie nicht Gefahr läuft, blindlings irgendwo reinzurennen und es später zu bereuen.

„Jake ist ein Guter...“

„Gut zu wissen.“, sage ich schlicht und hänge meinen Gedanken nach.

„Genau, wie Kain...“ Nun sehe ich sie verwundert an und sie deutet hinter mich zum Übergang zum Wohnzimmer.
 

Im nächsten Augenblick suchen meine Augen schon nach dem Angesprochenen und finden ihn überraschend schnell. Kain steht zusammen mit einem seiner Kommilitonen ein paar Meter von mir und Shari entfernt und als würde er es bemerken, sieht er auf. Sein Blick wandert von mir zu Shari. Ihr schenkt er ein Lächeln und einen übertriebenen Winker. Es fehlt nur noch ein Zwinkern. Dann lächelt er für mich und es lässt etwas in meinen Bauch vibrieren. Das Gefühl ist tief und warm und es arbeitet sich bis in die kleinsten Fasern meines Körpers vor. Meine Fingerspitzen kitzeln. Meine Zehen pulsieren und ich fühle mich für einen Moment, als wäre ich aus einem meiner verdammten Kitschromane gefallen. Erschießt mich doch endlich. Ich wende mich ab und sehe zu Shari. Es wird nicht besser. Auch sie lächelt mich an und der Stein in meiner Brust hüpft aufgeregt. Verräterisch. Ich stelle seufzend mein Glas auf der Arbeitsfläche ab, entschuldige mich bei Shari und gehe auf Kain zu, während mir das auffällige Kichern der hübschen Inderin folgt. Neben ihm bleibe ich stehen, schaue bewusst an ihm vorbei und warte so lange, bis Kains vormaliger Gesprächspartner das Weite sucht. Etwas meines besonderen Charmes ist mir doch noch erhalten geblieben.

„Hey du, doch noch da?“, begrüßt mich Kain locker und sieht dem anderen nur kurz nach.

„Jap.“ Ich lasse das P ploppen.

„Jeff war der Überzeugung, dass du heimlich einen Abflug gemacht hast... und sein wir mal ehrlich, du hättest das definitiv drauf.“, erzählt er und lehnt sich lässig an die Wand. Das erklärt die Anrufe. Vermutlich hat mein Zimmerkumpan wieder gedacht, ich könnte irgendwo im Graben vor mich hin verwesen oder derartiges. Jeff ist schrecklich theatralisch. Er dachte wohl auch, dass ich ihn ignorieren würde, Kain aber nicht. Falsch gedacht.

„Und ich war mehrmals kurz davor...“, gestehe ich ohne weiteres.

„Ach ja?“

„Ja, immerhin warst du unauffindbar und hier sind überall Menschen. Jeff nervt. Und... Menschen... du weißt schon...“, beende ich die Aufzählung der allgegenwärtigen Vermeidungsgründe und sehe auf.

„Immer diese Menschen!“, kommentiert er, „Sie haben dich gefressen, wie ich sehe... bei lebendigem Leib.“ Nicht witzig. Ich lache falsch auf. Während Kains Augenbrauen mehrfach neckend nach oben Zucken und er wissend grinst. Ich greife nach dem Zipper seines Reißverschlusses und weiß nicht so recht, was ich hier eigentlich mache. Ich weiß nicht mal, wieso ich überhaupt das Bedürfnis verspürt habe, zu Kain zugehen. Was erwarte ich von ihm? Dass er mich rettet? Dass er den Abend damit verbringt, sich meine schlechte Laune an zu tun? Nein, das ist es nicht, was ich will. Ich lasse den Zipper wieder los, hafte meinen Blick auf den diagonalen Reißverschluss und verschränke die Arme locker vor meinem Bauch.

„Ich hatte nicht den Eindruck, dass du dich langweilst...“, sagt er und ich sehe auf, „Du hast dich draußen recht angeregt mit jemanden unterhalten.“ Kain hat mich mit Kara gesehen. Hat er mich gesucht? Im nächsten Augenblick greift er nach der Zigarette hinter meinem Ohr und nimmt sie zwischen Zeige- und Mittelfinger. Ertappt. Ich greife danach, doch er weicht dem Versuch gekonnt aus.

„Und Shari und du habt euch auch gut amüsiert. Nicht wahr?“, bekundet er in einem lockeren Tonfall und seine Augen haften sich an meine Lippen. Ich erkenne die andere stille Frage ebenso deutlich und schmecke gleich darauf kalten verräterischen Rauch auf meiner Zunge. Er ist bitter.

„Ist ne Party, oder? Das sollte ich doch. Also, Unterhaltungen führen, Spaß haben... etcetera pp“, wiederhole ich monoton all die Dinge, die mir Jeff und Kain auf den Weg hierher eingetrichtert haben. Kain hatte auch ohne mich seinen Spaß à la `Drachenzähmen leicht gemacht´, wieso also sollte ich mich rechtfertigen? Ich sehe Kain unverwandt an und erkenne einen seltsamen Ausdruck in seinen warmen, braunen Iriden. Ich würde gern wissen, was gerade in seinem Kopf vorgeht und schaffe es dennoch nicht, die Frage zu auszusprechen.

„So, so. Du tust also nur, was wir dir aufgetragen haben, ja? Nun gut, dann wirst du folgerichtig jetzt mit mir tanzen...“

„Oww, nein, ... nein, das ist nicht die Schlussfolgerung daraus.“, sage ich entgeistert und schüttele vehement meinen Kopf. Kains Grinsen wird immer breiter, wenn nicht sogar etwas perfide. Er nickt passend zu meiner verneinenden Geste. Wir müssen selten dämlich aussehen.

„Oh, doch...“

„Nicht wirklich...“

„Aber tanzen macht Spaß.“

„Nicht wirklich!“, wehre ich mit demselben Wortlaut ab. Unbewusst greife ich abermals nach Kains verführerisch wirkenden Reißverschlusszipper. Ich selbst habe nichts an mir, woran ich ablenkend pfriemeln könnte. Ich öffne den Reißverschluss seiner Strickjacke durch die Bewegung etwas mehr und lege das T-Shirt-Motiv frei. Das Batmanemblem. Kurz blicke ich auf und sehe Kain schmunzeln. Den passenden Gürtel trägt er heute nicht und es ist auch gut so, denn daran kann man sich auch perfekt festhalten. Ich verkneife mir ein Lächeln. Nun bin ich fast glücklich darüber, dass hier so viele Leute rumrennen, denn niemand nimmt von uns Notiz.

„Was wird das? Versuchst du gerade zu flirten?“, erkundigt sich Kain, nachdem er eine Weile meine wandernden Finger beobachtet. Ich stocke, weil mir mit einem Mal bewusst wird, dass die Rothaarige vorhin fast dasselbe getan hat. Ein kalter Schauer erfasst mich mit der vollen Ernüchterung.

„Nicht wirklich.“, entgegne ich schnell und ziehe meine Hand weg.

„Doch, doch, du versuchst zu flirten, um nicht mit mir tanzen zu müssen.“, sagt er amüsiert. Ich beiße mir auf die Unterlippe und weiche seinem Blick aus. So lange, bis ich spüre, wie er sich dichter zu mir heranbeugt und sein Atem kitzelnd meinen Hals trifft. „Du weißt schon, dass ich es dadurch nur noch mehr will.“

Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst...

Kapitel 3 Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst...
 

Die Haut an meinem Hals pulsiert und bebt. Ich schließe meine Augen, um dem Gefühl nicht zu verfallen. Doch ich erreiche das Gegenteil. Die Empfindung, so klein sie auch ist, wird zum starken Widerhall. Die Vibrationen in meiner Brust werden heftiger und schlagen Wellen bis in meine Fingerspitzen und Zehen. Mein gesamter Körper steht in Flammen und das nur wegen der provokativ geflirteten Worte des anderen Mannes. Ob ich mich jemals an diese überfordernden Gefühle gewöhnen werde? Will ich es? Es ist berauschend und aufregend, wäre es nur nicht ebenso flatterhaft.

Ich weiß mit den vorherrschenden Gefühlen nicht umzugehen, denn sie machen mich schwach. Auf vielerlei Art. Ich schlucke kaum merklich, weil sich mein Mund trocken anfühlt. Kain fixiert mich mit seinen warmen braunen Augen und ich schlucke ein weiteres Mal.

„Wie viel hast du eigentlich schon getrunken?“, frage ich, um von der Tatsache abzulenken, dass mein eigener Alkoholpegel stetig meine Gehirnleistung dimmt.

„Komme ich dir etwa betrunken vor?“, fragt er skeptisch, hebt seine Augenbraue und verschränkt locker seine Arme vor der muskulösen Brust.

„Da du Unsinn redest... durchaus, ja“, provoziere ich ihn ein klein wenig weiter. Das feine Lächeln, welches sich dabei auf meine Lippen legt, kann ich nicht verhindern und schiebe es auf das Hochgefühl des Alkohols.

„Unsinn?“

„Wahnsinn?“, versuche ich amüsiert. Eins von beidem. Kain rollt offensichtlich mit den Augen.

„Ablenkungsversuche“, stellt Kain schneller fest als mir lieb ist und bringt meine Ausreden auf den Punkt.

„Mitnichten. Wie heißt es so schön... immer das Gleiche tun und andere Ergebnisse erwarten...“, zitiere ich einen Teil des bekannten Spruchs von Albert Einstein, der meiner Meinung nach in diesem Fall wirklich zutreffend ist. Mittlerweile sollte dem Schwarzhaarigen klar sein, dass Tanzen und ich einfach nicht zusammenpassen. Ich würde sogar behaupten, dass sich jeder Satz mit dieser Wortkombination zur absoluten Absurdität degradiert. Kain wirkt unbeeindruckt.

„Gut, dann eben Nägel mit Köpfen...“ Ehe ich nachhaken oder auch nur auf die halbgare Sprichwörterschubserei reagieren kann, spüre ich seine warme, große Hand um meinen Handgelenken, die mich plötzlich in Bewegung bringt.

„Huch.“ Mein Gehirn braucht mittlerweile, dem Wodka geschuldet, schon etwas länger. Ich stolpere ihm hinterher und pralle regelrecht gegen ihn als er plötzlich wieder stehen bleibt. Mitten im Wohnzimmer. Inmitten von tanzenden Leibern. Das ist nicht sein Ernst? Ich sehe mich unwillkürlich um aber entdecke bis auf Jeff und Jake keine bekannten Gesichter. Trotzdem spüre ich, wie mein Herz stolpert und enthusiastisch einen Rammbock imitiert. Kain versucht die Lücke zwischen uns zu schließen, indem er nach zwei der Gürtelschlaufen meiner Jeans greift und seine Zeigefinger dort einhakt.

Im nächsten Moment setzt ein äußerst vertrautes Lied ein und ich bin nicht der Einzige, der es sofort erkennt. Kain stoppt in seiner Bewegung, belässt seine Hände aber wo sie sind.

„Das Lied ist wie ein heimsuchender Poltergeist...“, äußere ich, wende meinen Blick ab und versuche mein Bestes, um nicht dem Ohrwurm zu verfallen. `And that's when you need me there. With you I'll always share. ` Ein Kampf gegen Wackelpudding, denn wirklich jeder wird von diesem Song gepackt, heimgesucht und durchgeschüttelt.

„Because...“, singt Kain plötzlich dicht an meinem Ohr weiter, „´When the sun shines, we'll shine together. Told you I'd be here forever`...“ Sein Gesang mündet in Gesumme. Tief und rau. Ich merke, wie sich die Haut auf meinen Armen aufrichtet und atme stockend aus, als auch mein Nacken zu pulsieren beginnt. Noch immer stehen wir beieinander. Mit so viel Abstand, dass es gewöhnlich aussieht und doch so dicht, dass ein einziger wissender Blick alles offenlegen würde. Ich spüre, wie mein Herz bei dem Gedanken nur noch heftiger zu schlagen beginnt, aber nicht aus Unbehaglichkeit. Es ist Spannung. Es ist ein reiner Rausch gepaart mit gleisender Aufregung und feinherber Ernüchterung. Denn da ist dieser Teil in mir, der es nicht zulassen will, der denkt, dass ich zurücktreten sollte. ´You can run into my arms. It's OK, don't be alarmed. Come here to me. There's no distance in between our love.´, setzt sich der Song fort und hüllt uns zwei in eine Blase der unausgesprochenen Worte. Ich schaue auf und werde von seinem intensiven Blick gefangen genommen. Alles, was ich in diesem Augenblick sehe, ist offen, ehrlich und unmissverständlich. Warum bin ich mir noch immer unsicher? Warum vertraue ich nicht auf das, was ich ganz deutlich sehen kann? Warum ergibt es für mich keinen Sinn?

Kain lächelt und vollführt Ansätze von tänzelnden Bewegungen. Seine Hüfte kreist und ich sehe dabei zu, wie er spielend näher rutscht, sich etwas dreht und im nächsten Moment sein Becken gegen meine Hüfte stößt. Seine Augenbrauen wackeln auffordernd. Er gibt nicht auf.

„Nur einen Tanz. Du musst gar nichts tun... nur locker dastehen und ein bisschen shaken.“ Er macht es mir vor, zieht dafür die Ellenbogen an die Seite heran, ballt lockere Fäuste und wackelt mit dem ganzen Körper, während seine Arme eine Lokomotive imitieren. Ich amüsiere mich spontan darüber, wie es ein derartig großer Kerl schafft, putzig auszusehen und hasse mich im selben Moment dafür. „Was?“, fragt er mit einem unschuldigen Blick nach dieser eindrucksvollen Demonstration und ich presse mittlerweile die Lippen aufeinander, um diese lästigen rosaroten Gedanken zu verdrängen. Kain macht es einem manchmal echt schwer.

„Ich hielt dich immer für einen Mufasa-Typ, aber gerade bist du Timon und Pumba... Und ja, ich meine beide zusammen und es ist kein Kompliment“, offenbare ich ihm meine Gedanken in abgewandelter Form. Kain scheint von meinem König der Löwen-Vergleich unbeeindruckt und wackelt lediglich mit seinem Haupt, was seine Haare durcheinanderbringt.

„Hakuna matata, du Möchtegern-Scar“, erwidert er schnippisch und stupst ein weiteres Mal seine Hüfte gegen meine. „Komm schon...“ Ein flehendes Flüstern. Ein weiterer Versuch. Ich bin Granit. Halt. Kautschuk. Kain gibt nicht auf. Diesmal fasst er zusätzlich nach meinen Ellenbogen, führt mich sachte in seine Richtung und beginnt, sich im Takt des Liedes zu bewegen. Rihanna ist passé und Robin Schulz mit `Sugar´ setzt ein. Wieder ist es so ein halbgarer Hinweis des Universums.
 

Ich bin kurz davor, mich meinem Schicksal hinzunehmen und mich diesem Tanz zu ergeben.

„..... obin...“ Mit einem Mal trifft mich von hinten ein anderer Körper, der mich fast in die Knie zwingt. Zwei Arme legen sich auf meinen Schultern ab und dann hängt ein achtzig Kilo schwerer Geologe um meinem Hals wie ein Kartoffelsack auf Halbmast. Jeffs warmer Atem streicht über meine Wange und ist so alkoholisch, dass ich das Gefühl habe, allein dadurch noch betrunkener zu werden.

„Fuck... Jeff, was zum Teufel...“, fluche ich laut. Ich ächze unter dem plötzlichen Gewicht und greife nach seinen Unterarmen, jedoch nicht um ihn wegzudrücken, sondern um eine halbwegs stabile Position zu bekommen. Kains Hände helfen mir ebenfalls dabei, drücken sich gegen meine Brust und verhindern, dass ich vornüberkippe. Ich sehe auf, entdecke einen Hauch Besorgnis und Enttäuschung in Kains Gesicht. Er startet einen halbherzigen Versuch, mir irgendwie zu helfen, doch er lässt seine Hände wieder sinken.

„Keine...Ussfli...mehr...“, brabbelt das Anhängsel in den Stoff meines adoptierten Pullovers und ich verstehe erwarteter Weise kein Wort. Kain scheinbar auch nicht, denn auch seine Stirn runzelt sich verwundert über den Wortsalat. Jeff winselt jämmerlich, um seinem Gesagten mehr Nachdruck zu verleihen und macht es nicht verständlicher.

„Geht’s auch etwas deutlicher?“, entfährt es mir schroff und mäßig genervt. Kain wirft mir einen vielsagenden Blick zu, den ich mit einem Schnauben kommentiere. Freundlich bin ich erst morgen wieder.

„Es gibt keine Erdnussflips mehr“, wiederholt mein Mitbewohner lallend. Aber halbwegs deutlich. Dafür hebt er kurz den Kopf an und lässt ihn ermattet zurückfallen. Erdnussflips? Wirklich?

„Und du denkst, ich habe welche in der Tasche?“ Der Kopf in meinem Nacken wackelt ein paar Mal hin und her. Er weiß also noch, dass ich kein Erdnussflipsautomat bin. Immerhin.

„Jeff, wo hast du Jake gelassen?“, hakt Kain nach und sieht sich genauso wie ich kurz um.

„Sucht Flips...“, folgt Jeffs genuschelte Antwort. Danach reibt er seine Wange über einen der Wirbel in meinem Rücken, was mir ein unangenehmes Kitzeln beschert.

„...und wird sie vermutlich niemals finden...“, führe ich Jeffs Satz fort. Ich schüttele mich leicht, aber das scheint Jeff wenig zu stören. Vermutlich ist der ITler vor dem betrunkenen Quasselkopp geflohen und ich werde ihn dafür keinesfalls verurteilen. Ein betrunkener Jeff kann bisweilen grundnervige Züge annehmen. Ich erinnere mich gut an unseren letzten Alkoholexkurs, der dazu führte, dass er mir eine Glitzersteinlektion verpasste, von der ich einzig das Wort Glimmerschiefer behalten habe.

„Kannst du mir Flips kaufen?“, bettelt Jeff mit sanfter Stimme und mein inneres Seufzen wird lauter.

„Nein, kann ich nicht“, erwidere ich und sehe verzweifelt zu dem Schwarzhaarigen. Wo sollte ich um diese Uhrzeit Erdnussflips herbekommen? Wie sollte ich jetzt noch an einen Ort kommen, wo es Knabbereien gibt? Jeff brummt frustriert und ich kann ihm nur beipflichten. Allerdings aus völlig komplementären Gründen.

„Ich will aber Flips.“ Von Brummbär zu Schmollmaus in nur drei Sekunden. Neuer Rekord.

„Und ich will Pudding. Tja, das Leben ist scheiße“, gebe ich wenig mitfühlend retour, „Kannst du nicht einfach etwas anderes essen?“ Die Auswahl war groß und Jeffs Appetit normalerweise nicht derartig spezifisch. Allerdings frage ich mich gleich darauf, wieso ich überhaupt versuche, vernünftig mit einem Betrunkenen zu reden. Jeder Hamster ist aufnahmefähiger als mein Jugendfreund in diesem Moment.

„Nein.“ Deutlich. Jeff festigt seinen Klammergriff um meinem Hals. Ich sehe immer noch zu Kain, der uns schweigsam beobachtet und ein wenig abwesend scheint. Erst, als ich die Hand hebe, sieht er mich an und greift instinktiv nach meinen wackelnden Fingern.

„Vielleicht sollten wir ihn ins Wohnheim zurückbringen...“, schlägt er vor und zieht sein Handy aus der Hosentasche, um auf die Uhr zusehen. Meine Hand lässt er dabei los.

„Nur, wenn du ihn trägst.“ Wie jeder Betrunkene verhält sich Jeff wie ein kleines Kind. Für nur 100 Meter Weg benötigt man die dreifache Dauer, denn sie drehen sich dauernd um, halten an und laufen zurück. Drehen sich im Kreis und singen. Gut, das macht Jeff auch so. Aber darauf habe ich keinen Bock. Es ist spät. Ich bin müde und mein Gehirn fühlt sich an, als wäre es in Formaldehyd eingelegt. Hierlassen kann ich Jeff aber auch nicht. Ein Dilemma par excellence.

„Ich dachte eigentlich an ein Taxi.“, erläutert Kain seinen Vorschlag und wackelt mit dem Handy vor meiner Nase herum. Oh. Ein Taxi. Das nenne ich wirklich hilfreich.

Ich merke immer mehr, dass mir der Kartoffelsack wirklich zu schwer wird und bin dankbar, dass Kain sofort mit der Organisation beginnt. Es dauert einen Moment, bis ich meinen Jugendfreund davon überzeugt habe, dass ich ihn nicht die Treppe runtertragen kann. Nach einer demonstrativen Zurschaustellung meiner Nudelarme und der Feststellung, dass mein Wissen um seine Jugendsünden hilfreiche Drohungen sind, setzen wir uns in Bewegung. Kain weißt mich zwischendurch daraufhin, dass er uns bei allen verabschiedet und unsere Jacken holt. Auf dem Weg nach unten muss ich Jeff hin und wieder stützen und mehrmals hartnäckig intervenieren, weil er der Überzeugung ist, noch nicht genügend Konversation betrieben zu haben. Ich argumentiere vehement. Mit nur mäßigem Erfolg. Trotzdem schaffe ich es, ihn nach unten zubringen.

„Schau, ein Drei-Köpfiger-Affe“, rufe ich halblaut, deute in den Nachthimmel und lasse Jeff draußen ins Gras rutschen. Ich sehe mit Genugtuung dabei zu, wie er brav nach oben starrt und reibe mir mit der Hand über den Nacken, weil ich sein Phantomgewicht auf meinem Rücken spüre. Ich schließe die Augen, seufze und atme die frische, kühle Nachtluft ein.
 

Eigentlich hätte ich das sein sollen. Ich hätte dort sitzen und betrunken unsinniges Zeug labern sollen. Der ungenießbare Wodka hat einen schlechten Job getan und ich fluche leise vor mich hin, weil ich mich wegen des ausbleibenden Rauschzustands übermäßig geschafft fühle. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es weit nach Mitternacht ist und ich verspüre das dringende Bedürfnis, dem Deckenburritotum zu frönen und leise die Stupidität des modernen Seins zu bejammern.

„Hallo.“ Ich öffne träge die Augen und sehe zur Seite. Es ist Jake, der neben mir aufgetaucht ist und sich mit der Hand durch die dunklen Haare streicht. Ich kann nicht verhindern, dass mein Blick einen Moment lang bei ihm verweilt. Auch er sieht geschafft aus. Irgendwie angespannt. Sein Gesichtsausdruck ist auffällig besorgt und seine Augen haften sich an den am Boden sitzenden Jeff.

„Hey“, erwidere ich auf seine Begrüßung und schaue zurück zu meinem Jugendfreund, der mittlerweile auf seinem Handy rumtippt. Als er es sich ans Ohr hält, beginnt der Mann neben mir zu vibrieren und wie zur Bestätigung zieht Jake auch sein Handy hervor. Er schaut auf den eingehenden Anruf und grinst verlegen. Einerseits fange ich an, mich stellvertretend für meinen Mitbewohner zu schämen. Andererseits wird es mir eine diabolische Freude sein, Jeff morgen damit aufzuziehen.

„Jeff?“, rufe ich und versuche ihn darauf aufmerksam zu machen, dass der ITler direkt hinter ihm steht.

„Pscht, ich telefoniere mit Jake...“, watscht er mich harsch lallend ab und kichert im Nachgang. Er dreht sich nicht mal um, sondern winkt nur ungelenk rückwärts. Jakes macht keine Anstalten ranzugehen. Jeff brabbelt irgendwas Undeutliches, legt auf und versucht es gleich darauf erneut. Ich streiche mir mit der Hand über das Gesicht. Das Lachen kann ich mir nur mit viel Mühe verkneifen. Das werde ich ihm morgen definitiv erzählen. In all der peinlichen Pracht und Heiterkeit. Bevor Jake auf den anderen zugehen kann, um auf sich aufmerksam zu machen, halte ich ihn zurück.

„Lass gut sein. Kain und ich bringen ihn zurück ins Wohnheim. Das ist das Beste."

„Okay,.. aber ich könnte euch..."

„Nicht nötig", fahre ich ihm über den Mund, bevor er den Satz zu Ende bringen kann. Es ist eher unbeabsichtigt schroff. Jake ist sichtbar irritiert und zögert.

„Ich habe nicht...“, setzt er erneut an, „Jeff hat mit einem Mal angefangen, mit jedem anzustoßen und dann... ging's plötzlich ruckzuck. Und ich wollte noch, dass er etwas isst, aber er wollte nur diese doofen Erdnussflips und die konnte ich nicht finden“ Er klingt dabei wirklich ein wenig verzweifelt, aber vor allem gestresst. Ich kann gut nachempfinden, wie er sich fühlt und bleibe nur cool, weil ich weitaus mehr Erfahrung mit diesem Jeff habe als er. Jake hat nichts falsch gemacht und er muss sich in keiner Weise rechtfertigen. Schon gar nicht vor mir.

„Die hat Shari alle gegessen... und ich wollte nichts andeuten“, erwidere ich schlicht und sehe zu meinem Jugendfreund, der seelenruhig im Gras sitzt und sich die Hose einsaut. Vermutlich erweitert er gerade seine Steinchensammlung, denn er beugt sich vor und streckt stetig seine Hand nach etwas aus, was vermutlich nur er spannend findet.

„Du kennst Shari?", fragt Jake erstaunt.

„Ja... und auch Mark", gebe ich Preis. Ich kenne Mark nicht wirklich, aber das muss er nicht wissen. Bei der Erwähnung des anderen Mannes sehe ich ihn deutlich zusammenschrumpfen, was bei seiner Größe durchaus eine Leistung ist. Noch dazu weicht er prompt meinem Blick aus. Es geht fast nicht verräterischer. Das mit Mark war also kein wie von Shari betiteltes harmloses Ding gewesen. Jedenfalls nicht, wenn man sich die Reaktion des ITlers so anschaut.

„Jaaaaaake...“, ertönt es plötzlich. Jeff hat sich aufgerappelt und wankt begeistert auf uns zu. Ungeniert hängt er sich an Jakes Hals und ich schaue skeptisch dabei zu, wie der größere Mann fast behutsam dafür sorgt, dass mein Jugendfreund nicht die Fassung verliert. Er zieht Jeffs Pullover zurecht, stabilisiert seinen Stand und tätschelt liebevoll dessen Rücken, während der Blonde jammernd davon berichtet, dass ich ihm keine Erdnussflips kaufen will. Zweimal. Wow, ich bin echt der schlimmste Kumpel aller Zeiten. Nun weiß es die ganze Welt. Oder zu mindestens die Partygesellschaft. Ein wenig mehr Respekt empfinde ich für Jake, als er sich ohne Umschweife dafür entschuldigt, dass auch er keine Flips für ihn finden konnte. Unnötig, denn Jeff ist längst selig und lächelt dem anderen Mann glücklich entgegen. Er ist so verliebt, dass ich gedanklich einen Zahnarzttermin mache, um zu verhindern, dass ich bald ohne Kauleiste dastehe. Ich wende mich von dem verschmolzenen Turtelhaufen ab und sehe Kain in diesem Moment aus der Tür kommen.

„Gut, Jake hat euch gefunden...“, stellt er fest, als er auf uns zu kommt und reicht mir die Jacke, „Habe ihn unterwegs getroffen... Oh, das Taxi ist in fünf Minuten da.“ Es dauert keine fünf Minuten, bis das Taxi kommt, aber zehn, bis sich Jeff von Jake gelöst hat. Ich schubse meinen Jugendfreund mit dem Oberkörper voran auf den Rücksitz als er sich beim Einsteigen anstellt wie ein Fünftklässler beim Bockspringen und überhöre sein Gezeter. Aber nicht Kains Kichern. Ihm schenke ich einen vielsagenden Blick, der leider keine Wirkung zeigt. Bevor ich neben Jeff Platz nehme, spüre ich Kains warme Hand an meinem unteren Rücken als beschwichtigende Geste und lasse ihn hinter mir die Tür schließen. Immerhin endet der Partyabend ohne große Katastrophen. Und was ganz wichtig ist, sie endet.
 

Mein alkoholvernichtender Mitbewohner lässt seinen Kopf, sobald ich sitze, auf meine Schulter kippen, murmelt etwas Unverständliches und gähnt. Er ist warm und im betrunkenen Zustand wie immer schrecklich anhänglich. Ich lasse meinen Kopf erschöpft gegen die Stütze fallen, schließe die Augen und merke, wie mich die Müdigkeit trifft, wie ein Bumerang. Es fällt mir unsagbar schwer, mich nicht von der Wärme des anderen Körpers einlullen zu lassen und auch der Alkohol in meinem Blut trägt dazu bei, dass ich innerlich die weiße Flagge schwenke. Erst als Jeff beginnt, neben mir auf dem Sitz rumzurutschen und mehrere Male seinen Ellenbogen in meinen Rippen stößt, sehe ich auf.

„Was machst du da?“, frage ich genervt und betone jedes einzelne Wort besonders deutlich. Jeff stoppt und hält in seiner Bewegung inne. Er grinst mir entgegen und ich merke, wie er es diesmal schafft, seine Hand in die Hosentasche zuschieben. Ich spüre die Bewegung an meiner Hüfte, werfe einen Blick in den vorderen Teil des Wagens und kann sehen, wie uns der Taxifahrer einen Moment lang durch den Rückspiegel hindurch mustert.

„Schau mal, ein Chert oder ein Radiolarit", flüstert mein betrunkener Mitbewohner enthusiastisch und hält mir seine ausgestreckte Hand hin.

„Weder noch. Ist nur `ne Schnecke, Jeff", entgegne ich müde, nachdem ich kurz überschlage, dass die zwei Begriffe aus seinem Geologenrepertoire stammen müssen. Ich habe keine Ahnung, was er genau meint.

„Oh, eine Schnecke“, flieht es verblüfft über Jeffs Lippen, als er selbst noch mal genauer hinschaut, „Bei uns wird sie es besser haben.“

„Sicher? Genaugenommen hast du sie entführt und wahrscheinlich ist sie jetzt schwer traumatisiert“, gebe ich zu bedenken. Mein Kopf fällt ermattet zurück und trotzdem denke ich weiter an Siliciumdioxid und wie sich Sand unter nackten Füßen anfühlt. Ich brauche Urlaub.

„Oh man...“, entflieht ihm gequält und sein Zeigefinger drückt sich lax in meine Wange, „Du bist schrecklich, weißt du das?“ Ich lasse seine Aussage unkommentiert. Ich bin nun mal geradeaus und stehe nicht auf Beschönigung. Jeffs Hand bleibt nach mehreren kleinen Klopfern schlaff auf meinem Oberschenkel liegen.

Wir fahren nur ein paar Minuten und doch reicht es aus, um jeglichen Rest der alkoholisch angeregten Überreizung aus meinem System zu vertreiben und sie durch steinerne Müdigkeit zu ersetzen. Als wir am Wohnheim ankommen steigt Kain als erstes aus und zieht den halb schlafenden Jeff aus dem Auto. Ich bezahle den Fahrer, ehe ich die letzte Tür des Wagens schließe und wir sehen schweigend dem Taxi nach.

„Ich hätte das bezahlt...“, murmelt Kain. Ich winke ab.

„Kein Ding... gab Tantiemen", teile ich ruhig mit, grinse dümmlich, als ich Kains verschmitztes Lächeln registriere. Zum Glück hakt er nicht weiter nach. Seufzend sehe ich zu meinem Mitbewohner, der mehr oder weniger in Kains Armen hängt und den Eindruck vermittelt, zu schlafen. Wir rütteln beide an ihm rum bis er murrt.
 

Oben angekommen, hat Jeff seine Lebensgeister vollständig zurückerlangt und meine dabei vermutlich absorbiert. Sein abruptes Wachsein kollidiert förmlich mit meiner Müdigkeit und man braucht kein Meistermathematiker sein, um eins und eins zusammenzurechnen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als verständnislos dabei zu zusehen, wie er angeregt ins Zimmer stürmt und die Nacht zum Tag erklärt. Kain bleibt dicht hinter mir stehen und auch sein Elan liegt maximal eine Stufe über meinem. Wenn überhaupt.

„Oh oh, lass uns einen Filmeabend machen! Ich habe alle Filme von Harry Potter auf meinem neuen Laptop!“, sprudelt es aufgeregt aus Jeff heraus, während er ein paar der abgelegten Klamotten von seinem Bett räumt. Genau genommen stößt er sie lapidar über die Kante und klatscht danach in die Hände. Zaubern ist anders.

„Es ist mitten in der Nacht, Jeff“, bemerkt Kain höchst diplomatisch.

„Umso besser... die Stimmung!“

„Nein“, mische ich mich ein, bevor der Schwarzhaarige mit einem weiteren Weichspülerargument nachlegen kann. Genug ist genug, denn mit diesem Jeff ist keine vernünftige Konversation zuführen.

„Doch.“

„Nein.“

„Doch.“

„Nein!“

„Aber...“

„Nein!!! Hinlegen!“, befehle ich streng und sehe dabei zu, wie der blonde Mann stoppt, starrt und instant auf sein Bett kippt. Ein wahrhaft komödienhafter Anblick, der mich nicht zum Lachen bringt. Jeff streckt mir die Zunge raus, sobald er sein Kissen umklammert und wir liefern uns einen dezenten Blicke-Blitzkrieg, bei dem ich als Sieger hervorgehe. Darüber freuen werde ich mich morgen früh, wenn ich einen halbwegs erträglichen Zustand zurückerlangt habe. Wieder blitzt Jeffs Zunge hervor. Ich verdrehe die Augen und schiebe Kain aus dem Zimmer, der nichts Sinnvolleres beizusteuern hat als Gelächter.
 

„Danke für deine Hilfe beim Herschaffen“, sage ich draußen und schließe die Tür hinter mir. Ich gähne, ohne mich vor Kain zurückzuhalten und lasse auch nicht erkennen, ob mein Dank sarkastisch oder aufrichtig gemeint ist.

„Kein Ding“, erwidert er lächelnd, „Wie geht es dir?“ Er tippt mir sanft gegen die Stirn.

„Ich bezeichne Schnecken nicht als Steine... prima, nehme ich an.“ Sicher bin ich mir nicht. Wer weiß, welche hinterhältigen Tricks der Wodka noch im Petto hat.

„Was?“, fragt Kain irritiert.

„Jeff hat vorhin im Taxi...“, beginne ich und belehre mich selbst eines Besseren, „Ist nicht wichtig, vergiss es einfach wieder... Mir geht’s gut.“ Im nächsten Moment schrecken wir zusammen, als aus dem Zimmer ein lautes Poltern ertönt. Es dauert etwas, doch dann ruft uns Jeff ein 'Nichts passiert' zu und Musik geht an.

„Nicht zu fassen.“, murmele ich geschafft.

„Soll ich euch wirklich allein lassen?"

„Ja, ist nicht mein erstes Rodeo mit dem betrunkenen Clown da drin", beschwichtige ich und bin mir ziemlich sicher, dass er bald den Punkt erreicht hat, an dem er einfach wieder umfällt und schläft. Das passiert so schnell wie das Betrunkensein.

„Wenn du das sagst...“ Kain klingt skeptisch, führt es aber nicht aus. Ich sehe ihn ruhig an, suche nach etwas in seinem Blick, was ich selbst nicht richtig benennen kann und doch finde. Manchmal ist es so deutlich, dass es mich schier erdrückt und dann wieder nur eine hintergründige Präsenz. Sanft und zärtlich. Kain schenkt mir in diesem Moment ein Lächeln und setzt damit die feinkitzelnde Maschinerie der Erregung in Gang. Meine Atmung wird ein klein wenig flacher und ich schaffe es nicht, meinen Blick von ihm zu lösen. Von seinem Mund. Seinen Lippen.

Kains Daumen legt sich unter mein Kinn und er drückt es sanft nach oben, sodass ich aufsehe. Kain haucht mir einen Kuss auf die Lippen und ich nehme zum ersten Mal seit langem wieder das Aroma von Ingwer und Zitrone wahr. Er muss einen seiner Bonbons im Auto gegessen haben und ich fühle mich seltsam beruhigt. Der vertraute Geschmack lullt mich in eine tiefgreifende Sicherheit. Die warme Berührung seiner Hand vermittelt Vertrauen. Was macht er nur mit mir?

„Du schuldest mir einen Tanz“, sagt er ruhig und schenkt mir ein weiteres Lächeln. Es ist tief und warm. Es erschafft ein kleines, aber heftiges Flattern in meiner Brust.

„Nur, wenn die Hölle zu friert... oder...“ Ich schaffe es nicht, meine eigenen Gedanken zu stoppen.

„Oder?“

„Oder...vielleicht morgen Abend", ergänze ich, wohlwissend, dass es bei einem Vielleicht bleibt.

„Morgen ist schlecht, ich hab schon ein Date...", berichtet er und obwohl ich es nicht will, setzt meine Atmung kurz aus, " ... Marvin fühlt sich vernachlässigt." Die Ergänzung folgt unbedarft und doch bin ich mir sicher, dass er die Pause absichtlich gesetzt hat. Ich beiße die Zähne zusammen und weiche seinem Blick aus.

„Ist das so? Die Steroide scheinen nun auch seinen Verstand zu schrumpfen.", kommentiere ich absichtlich bissig.

„Wirklich? Muss das immer sein? Er hat dir gar nichts getan.", folgt es prompt.

„Er heißt Marvin.", begründe ich. Mein Argument ist reichlich fadenscheinig und ich weiß es auch. "...und die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit.", füge ich hinzu und mache es damit nicht besser. Auch, wenn es stimmt.

„Und das ist dein Freibrief?“

„Ach komm, ich will nicht wissen, wie er über mich redet.“ Kains huschender Seitenblick ist mir Antwort genug.

„Ich sage zu dir dasselbe, wie zu ihm... Mach es besser, dann wird es besser.“ Mister Moralapostel. Ich verdrehe effekthascherisch die Augen bei diesem scheinheiligen Glückskeksspruch.

„Jetzt bist du auch noch Rafiki.“

„Ist das der Affe?“

„Mandrill.“

„Das sind Affen.“

„Ja, hab es nur spezifiziert.“

„Du weißt schon, dass du mich wahnsinnig machst?“, erwidert er.

„Frag lieber nicht, wie ich mich fühle.“, kommentiere ich trocken und weise still auf die momentane Situation hin und wer zu einem Teil daran Schuld hat, dass ich mich darin befinde.

„Armer Spatz!“ Gnadenlos unglaubwürdig. „Hat denn dein Modell seit neusten ein Emotionssimulationssynthesierungsprogramm?"

„Im Ernst?", frage ich ungläubig, nachdem er grundlos dieses hochkomplexe aber absurde Schachtelwort von der Stange lässt. Er will clever klingen und schafft es tatsächlich auch. Trotz des Alkohols in seinem Kreislauf. Allerdings brauche ich auch länger, wegen des Alkohols in meinem Blutkreislauf. Ich fühle mich eindeutig verkohlt. Und das in mehrfacher Hinsicht. Wieso schon wieder Roboter? Wieso ständig Spatz? Und noch viel wesentlicher ist, was hat das Synthetisieren in dem Wort verloren?

Kain hat eindeutig zu viel Zeit im Labor verbracht und das meint nicht nur der ebenfalls vernachlässigte Sexsympathisant in mir. Er grinst mir schelmisch entgegen und macht erneut einen überaus selbstgefälligen Eindruck. Ich möchte ihn kneifen. Und ich will Pudding essen. Aber nichts von alledem wird heute Nacht geschehen.

„Trägst du auf Arbeit eigentlich einen Kittel?“ Mit Freude sehe ich, wie Kains Gesichtsausdruck bei dieser kleinen Abschweifung umschlägt. Denn mit dieser Frage hat er nicht gerechnet und strauchelt. Für mich hingegen wird das Bild von Kain in seiner Arbeitskleidung, wie er grüblerisch auf Testresultate starrt, immer klarer und verführerischer.

„Ähm... ja, natürlich.“

„Hm...“, raune ich nur und bemerke, wie er mich irritiert anstarrt. Ich führe meine Gedanken nicht weiter aus, sondern verschränke locker meine Arme vor der Brust.

„Hm was?“, hakt er ungeduldig nach, als ich nicht weiter darauf eingehe.

„Nichts... Aber du könntest ihn mal mitbringen.“

„Was?“ Es dauert einen Moment, bis sich das gleiche implizierte Bild auch in seinem Kopf malt. Diesen Zeitpunkt erkenne ich ganz genau in seinen Augen. Seine Pupillen weiten sich. Es ist wie ein feines Blitzen. Ein angeregter Schimmer, welcher sich mit einem minimalen Heben seines linken Mundwinkels paart. Ich sehe, wie seine Vorderzähne langsam über die empfindliche Haut seiner Unterlippe gleiten und bemerke, dass er sich noch dichter zu mir heran beugt. Kain presst die Lippen aufeinander und ihm entflieht ein feines Lachen.

„Was, was?“, frage ich ruhig, ein bisschen schelmisch stichelnd. Den sonst so abgebrühten Mann aus der Bahn zu werfen, bereitet mir ein diebisches Vergnügen. Ich sehe dabei zu, wie Kains Blick zwischen meinen Augen und Mund hin und her wechselt. Ich weiß, wie gern er mir klarmachen will, wie sehr ihn meine Fantasie anspricht und es doch nicht tun wird.
 

Die Musik im Zimmer wird ruhiger. Jeff ist in seiner melancholischen Phase angekommen und ich bin mir sicher, dass er gleich tief und fest schläft. Ich sehe zur Tür, so, als könnte ich damit wirklich sicher gehen, dass er keinen Mist baut und zucke leicht zusammen, als Jeff plötzlich aus vollem Hals zu singen beginnt.

´Not really sure how to feel about it. Something in the way you move. Makes me feel like I can't live without you.` Wir beide starren ungläubig die Tür an, hören dem leicht schiefen Gesang zu und ich bin der Erste, der seinen Blick zurück auf den Mann vor sich richtet. `It takes me all the way. I want you to stay´. Ich betrachte Kains Gesicht im Profil, ehe auch er sich wieder zu mir dreht.

„Wenigstens nicht Umbrella...“, witzelt er und grinst. Ich hätte nicht mal gewusst, dass das ein weiterer Rihanna-Song ist. Doch allein die Erwähnung setzt die Rädchen in meinem Kopf in Gang. Ich schaue abwesend auf die leichten Bartstoppeln auf seinem Kinn und versuche das Echo des Ohrwurms zu verdrängen. Unwillkürlich strecke ich meine Hand nach ihm aus. Mit den Fingerspitzen streiche ich über die Stoppeln an seiner Wange und entdecke zwischen den vielen bereits weichen schwarzen Haaren kleine rote. Es ist mir vorher noch nie aufgefallen. Irgendwie süß. Ich weiß, dass es ein mutiertes MC1R-Gen ist, das dazu führt, dass auch dunkelhaarige Menschen rötliche Haare ausprägen können. Ich stehe auf diese niedlichen Melanine, die dafür sorgen. Kain hat möglicherweise ein paar rotblonde Verwandte, aber wissen tue ich es nicht. Er spricht nicht sehr viel über seine Familie. Etwas, in dem wir uns ähneln, auch wenn wir es aus unterschiedlichen Beweggründen vermeiden.

„Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragt er und verschränkt seine Finger mit meinen. Ich hefte meinen Blick auf die ungewohnte Berührung. Sein Daumen streichelt über meinen Handrücken und sein kleiner Finger auch. Seine Hand ist warm, stark und trotz seiner rauen Fingerkuppen angenehm und wohltuend. Ich mag, wie es sich anfühlt. Sicher. Beständig. Irgendwie klar. Und doch regt sich die imaginäre Warnleuchte in meinem Kopf.

„Quicki?“, sage ich das Nächstliegende. Oder auch das Dümmste, was mir durch den Kopf schießt.

„Jetzt? Hier? Mitten auf dem Flur?“, fragt er skeptisch. Er nimmt es nicht ernst. Wie sollte er auch? Ich bin selbst nicht sicher, warum ich gerade das gesagt habe. Ich wollte gestern nicht mal mit ihm in einem Bett schlafen, weil Jeff noch im Raum war. Vielleicht wirkt der Wodka doch.

„Manchmal ist es so offensichtlich, dass du lügst“, entgegnet Kain wissend. Eigentlich war es keine richtige Lüge, aber es war auch nicht die ganze Wahrheit. Ich habe an Sex gedacht, nur nicht in diesem Moment.

„Also kein Quicki?“ Ich gebe mir keine Blöße. Kain stößt laut die Luft aus.

„Geh pennen“, fordert er mich stattdessen auf und macht Anstalten zu gehen. Doch ich greife ihm an den Kragen seiner Jacke und ziehe ihn ruckartig an mich heran. Kain strauchelt leicht, fängt sich aber.

„Dann schuldest du mir einen Fick“, sage ich provokativ, direkt und als Retoure. Kain sieht mich direkt an und grinst.

„Okay! Tanzen und ficken, damit kann ich sehr gut leben.“, entgegnet er ebenso offensiv. Er greift erneut nach meinem Kinn, küsst mich schmatzend auf den Mund und wendet sich zum Gehen ab. Bevor er um die Ecke zur Treppe nach unten abbiegt, dreht er sich noch einmal zu mir um und winkt wie ein Grundschüler. Der Kerl macht mich fertig. Ich schaffe es erst zu grinsen, als er nicht mehr zu sehen ist und wage mich danach in die Höhle des berauschten Löwen. Bevor ich mich ins Bett lege, erreicht mich Kains Nachricht, dass er gut im Wohnheim angekommen ist und darauf hofft, dass wir uns am Sonntag sehen. Ich schaue zu meinem Mitbewohner, der halbnackt auf seinem Bett liegt und sich nicht entscheiden kann, ob er hellwach oder klinisch Tod ist.

-Jeff ist da.-, tippe ich ihm als Hinweis, dass es keinerlei Chance auf Zweisamkeit geben wird. Tanzen und Sex sind damit ausgeschlossen.

-Ist mir egal.- Mir leider nicht. Ich wünsche ihm eine gute Nacht, lege das Handy auf dem Nachttisch ab und falle ins Bett. Ich schlafe fast sofort ein.

Die nächsten Tage verlaufen weitestgehend unspektakulär und zelebrieren den herkömmlichen Uni-Trott. Es ist wie ankündigt relativ kainlos und der Sonntag ein weiteres Hängen und Würgen mit der universitären Herdenunterbringung, die letztendlich in fast prophezeiter Dreisamkeit endet. Jeff hat zwar seine Steincheneskapaden vom Partyabend vergessen, aber nicht die euphorische Androhung eines Harry Potter- Marathons. Dass der schwarzhaarige Sportler ebenso entzückt zustimmt, lässt meinen scheintheatralischen Motzversuch schnell im Keim ersticken. Leider nimmt er mir das Kissen aus der Hand, ehe ich es mir erfolgreich ins Gesicht drücken kann. Ich schlafe ein, während Ron Schnecken spuckt und Montagmorgen sitzt Kain bereits im Zug. Im Grunde eine Woche, wie jede andere, doch ich war noch nie unsteter. Es fühlte sich noch nie zermürbender an. Kein gutes Zeichen, oder?

-

Am Dienstagabend verspürt mein Mitbewohner das plötzliche Bedürfnis danach, Pizza selber machen zu wollen und trotz meiner berechtigten Hinweise, dass bestellte Pizza wesentlich schneller, einfacher und vermutlich auch schmackhafter sein würde, stehe ich kurz vor Ladenschluss mit Jeff vor der Käsetheke. Mozzarella und Emmentaler als Gegenspieler von Cheddar und Gouda. Alles Käse und Laktoseintoleranz ist etwas für Anfänger. Letztendlich gewinnt eine Packung mit der Aufschrift Pizzakäse, die sich weigert preiszugeben, was daran eigentlich die Pizzatauglichkeit ausmacht. Ich befürchte, dass nicht mal echter Käse drin ist, aber Jeff ignoriert mich und meine Meinung geflissentlich und sammelt pfeifend weiteren Belag ein. Schinken. Salami. Tomaten. Oliven. Kein Thunfisch, aber Zwiebeln. Ich frage schon lange nicht mehr nach dem Sinn dahinter. Als Nachtisch packt er Pudding ein und ich bin für den Heimweg brav und friedlich. Manchmal bin ich das Haustier, was er nie hatte.

In der Gemeinschaftsküche sind trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit noch ein paar andere Studenten, die kochen oder sich mit belegten Broten verköstigen. Jeff krempelt seine Ärmel hoch und ich schiebe ihm den gekauften Fertigteig zu, zu dem ich ihn überreden konnte und stoße wiederholt auf taube Ohren als ich anmerke, dass wir nie im Leben ein ganzes Blech Pizza essen können. Der Teig ist schnell ausgebreitet und genauso fix mit dem Tomatensud und den restlichen Zutaten belegt. Jeff spart nicht am Käse und argumentiert damit, dass er Nervenfutter braucht. Er plappert munter weiter und ich lasse den Plaudersturm über mich ergehen, wie der brave Kumpel, der ich sonst nicht bin. Ich habe früh gemerkt, dass ich meinen Mitbewohner in diesem Quatschwahn sowieso nicht stoppen kann und er mit periodischem Nicken vollkommen zufrieden ist. Ich löffele den ersten Becher Pudding aus, während ich ihm mit halbem Ohre beim Update an der IT-Front zuhöre und er das Blech im Ofen verschwinden lässt. Es ist zu Jeffs Leidwesen noch immer nicht der Stellungskrieg, den er sich wünscht. Mein einziger Gedanke ist, wie ich ihn unauffällig darauf aufmerksam machen kann, dass er die nächsten Dates mit Jake so plant, dass ich eine Chance habe, mit Kain ins Bett zugehen. Sexlosigkeit war vorher nie so anstrengend. Ich hänge diesem Gedanken noch immer nach, als wir die fertige Pizza aus dem Ofen holen und uns ein erstes Stück genehmigen. Nach dem großen Knall mit Abel ist das Zimmer der beiden höheren Semester keine Ausweichmöglichkeit für uns und Jeff ist leider weniger fremdgesellig als ich dachte. Früher ist mir nicht aufgefallen, wie oft er eigentlich da ist, wie viel Zeit er in unserem Zimmer verbringt und wie blind ich gewesen sein muss, nicht zu merken, dass er mit jemanden zusammen gewesen war. Mehr als ein halbes Jahr lang. Unfassbar.

„Ach und stell dir vor, Jenny und Maik haben...“, schwatzt Jeff gutgelaunt und ich brauche einen Moment, bis ich merke, dass er schon wieder das Thema gewechselt hat. Er streckt seine langen schlanken Finger nach einem weiteren Stück der fettigen Leckerei aus und befördert sie inmitten des Satzes in seinen Mund. Ich sehe von meinem Stück auf und warte geduldig ab, bis er fertig kaut. „...geheiratet.“ Der Gefühlsrausch bleibt wie erwartet aus.

„Aha.“, entgegne ich mit dem Enthusiasmus eines Käsebrots. Ich erinnere mich nur dunkel an Personen mit diesen Namen. Jemand aus unserer Parallelklasse hieß Maik. In der anderen gab es einen Mike. Und eine Meike gab es auch. Für sie würde ich mich freuen. Jenny sagt mir im ersten Moment nichts mehr und Jeff hält es nicht für nötig, es zu detaillieren. Der witzige Namensdialog schreibt sich trotzdem von ganz allein in meinem Kopf.

„Er hat mir erzählt, dass sie sich durch Zufall Anfang des Jahres wieder gesehen haben und es war Liebe auf dem, nun ja, zweiten Blick“, lacht er auf, „Aber letzte Woche haben sie geheiratet. Ist das nicht romantisch?“ Jeff seufzt beflügelt.

„Das ist nicht romantisch, sondern fahrlässig.“

„Du wieder...Wieso sagst du das?“

„Das sage ich zu jedem, der auf die Idee kommt, nach nur zehn Monaten zu heiraten.“

„Gut, dass du niemals in so eine Verlegenheit kommen wirst“, kommentiert der Blonde resigniert und entfernt sich ein paar der Käsefäden vom Kinn. Er erwischt nicht alle und ich helfe auch nicht, sie zu finden.

„Ach komm, niemand, der halbwegs bei Verstand ist, würde sowas machen.“, entgegne ich, ohne auch nur einen Millimeter von meiner Einstellung abzurücken.

„Ich denke, wenn man liebt, dann liebt man und kann solche Entscheidungen auch unabhängig von Zeiträumen treffen.“ Erbärmlich romantisch und hoffnungslos naiv.

„Aber wie will man sich denn nach so kurzer Zeit wirklich sicher sein? Man kennt sich doch gar nicht.“ Ich versuche es spottend klingen zu lassen und merke selbst, dass es aus meinem Mund ungewöhnlich ernst klingt.

„Kann man sich denn jemals wirklich sicher sein?“, gibt er die Frage zurück und sieht mich mit seinen blauen, ehrlichen Augen an. Ich habe plötzlich keinen großen Appetit mehr und lasse das Stück Pizza wieder auf meinen Teller zurücksinken. Stattdessen greife ich nach der Wasserflasche und befeuchte meine trockenen Lippen.

„Weiß Kain wegen Du-weißt-schon-was Bescheid?“, fragt Jeff nach einem Moment der einvernehmlichen Stille. Ich runzele die Stirn, weiß aber, was er meint. Nun hat mein Geburtstag tatsächlich die Stufe zum unverzeihlichen Fluch erklommen. Nie wieder Harry Potter. Meine Nicht-Reaktion ist ihm Hinweis genug. „Denkst du nicht, dass er es wissen sollte?“

„Wozu denn?“, erwidere ich lieblos und frage mich, wieso ich diese Diskussion führen muss. Ich nehme einen weiteren Schluck vom Wasser. Dass mich die Frage tatsächlich beschäftigt, merkt man nur daran, dass ich die Beine übereinanderschlage und die Flasche in meiner Hand kleine Knautschgeräusche von sich gibt.

„Na ja...“, beginnt er und leckt sich Tomatensoße vom Handballen, während er abwägt, wie er mir seine Gedanken am besten mitteilt, „vielleicht solltest du... nach all den Jahren des Ignorierens ausprobieren, wie es wäre, deinen Geburtstag mit jemanden zu verbringen, den du gut leiden kannst... Du musst es ja nicht feiern nennen.“

„Ich habe ihn auch schon mit dir verbracht...mehrfach“, merke ich an. Jeff blinzelt überrascht.

„Awww,...“, quietscht er vielsagend und ich möchte ihn mit irgendwas bewerfen. Doch stattdessen verdrehe ich die Augen und lasse Jeff seinen Moment. Soll er doch glauben, was er will. „Und das ist nicht das Gleiche. Also nimm es als kleine Inspiration für das Knüpfen stabiler Beziehungen!“ Ein neuer Wink mit dem Zaun, der mir lediglich ein Knurren abringt. Als ob er der Experte für gute Beziehungen ist. Dennoch hat er irgendwie Recht. Mit Kain wäre es etwas anderes. Seit unserer Jugend hat sich Jeff stets selbst zu meinem Geburtstag eingeladen und dafür gesorgt, dass ich, ohne zu feiern, dennoch irgendwas erlebte. Meistens waren es ganz simple kleine Sachen, wie die Einladung zu einem Eis mit seinem eigenen Taschengeld. Ein Kinobesuch, bei dem ich wie gewohnt eingeschlafen bin, aber deswegen noch am Abend Popcorn essen konnte. Noch dazu bin ich mir sicher, dass Jeff mir jedes Mal seine übriggebliebene Hälfte des süßen Korns mit in meine Tüte getan hat. Was hin und wieder seltsam wurde, weil ich manchmal auch auf die salzige Variante zurückgriff, was die Mischung im Nachhinein besonders abenteuerlich machte. Er hat es immer geschafft, mich auf andere Gedanken zu bringen und insgeheim bin ich ihm sehr dankbar dafür. Auch wenn er sich jedes Jahr beschwert, dass ich so resolut damit umgehe und ihm eine große Party entgeht. Ich bin fest davon überzeugt, dass er es nur sagt, um mich zu ärgern.

„Du kannst dich nicht den Rest deines Lebens davor drücken.“, fährt Jeff fort. Doch kann ich, denke ich und schraube die Flasche zu, „und sicher ist das auch nicht im Sinne von…“

„Hab´s verstanden.“, unterbreche ich seinen Redeschwall rabiat, bevor er René auch nur erwähnen kann. Jeff hebt abwehrend seine Hände in die Luft und sein gemurmeltes Wirklich ignoriere ich ebenso, wie seine lächerliche Peace-Geste. Er bewegt sich auf dünnem Eis und er weiß es. Die Gründe, aus denen ich meinen Geburtstag nicht feiere, sind nicht unerwartet. Sie resultieren aus Erlebnissen, die ich vermutlich niemals vollständig überwinden werde. Ich werde älter und mein Bruder wird es nicht mehr. Es nur zu wissen, zu denken oder gar auszusprechen, schmerzt. An diesem Tag ist es das erste, woran ich denke und auch das letzte. Jahr für Jahr und das auch noch zu feiern, fühlt sich falsch an.

„Ich glaube, das war zu viel Pizza.“, ächzt Jeff lautmalerisch nach einem kritischen Blick auf den Tisch und dem effektvollen Tätscheln seines Bauches. Mit einem schweren Raunen lehnt er sich im Stuhl zurück.

„Hast du echt geglaubt, dass wir das schaffen?“, frage ich überrascht. Ich beäuge das nicht mal zur Hälfte geleerte Blech und greife nach dem Puddingbecher, der neben Jeffs Teller steht. Er sieht aus, als würde er ihn nicht mehr schaffen.

„Du hast enorm geschwächelt!“, wirft er mir an den Kopf und macht keine Anstalten, mich wegen des Diebstahls zu schelten.

„Von wegen. Du bist schlichtweg verfressen...“, kontere ich die offensichtlichere Tatsache.

„Ich darf das, denn ich bin frustriert.“ Ausrede.

„Ist das nicht dein Dauerzustand?“

„Willst du Haue?“, droht mit Jeff und zieht seine Augenbraue so weit nach oben, dass sie in seinem Haaransatz verschwinden würde, wenn sie könnte. Ich halte seinem Blick stand und öffne den Pudding, ohne hinzusehen. Doch statt ihn zu essen, stehe ich auf und schiebe den Stuhl ran.

„Weißt du, im Moment fürchte ich mich mehr davor, dass du mich platt walzt“, äußere ich frech. Die erwartete Reaktion setzt sofort ein. Jeff stößt bestürzt die Luft aus, springt auf und setzt an. Doch ich bin schon losgelaufen und wie erwartet viel schneller als mein vollgefressener Mitbewohner. Kurz hinter der Tür zur Gemeinschaftsküche gibt er auf und ruft mir lediglich ein paar leere Drohungen hinterher. Ich lache den gesamten Weg nach oben und esse den Pudding gemütlich an meinem PC, während Jeff unten das restliche Chaos beseitigt.
 

Am Mittwochmorgen weckt mich Kains Nachricht ein paar Minuten bevor mein Wecker klingelt. Es ist ein Bild von einem angebissenen Blaubeermuffin und einem Mokka, der so groß ist, dass ich meine gesamte Hand in den Becher bekäme, ohne die Ränder zu berühren. Ich bin mir sicher, dass Kain irgendwann an einer selbstinduzierten Koffeinüberdosis stirbt und das vermutlich mit einem Lächeln im Gesicht. Noch beim Anziehen schüttele ich verständnislos meinen Kopf. Doch die Programmierung meines Unterbewusstseins funktioniert dennoch. Bevor ich in die Vorlesung verschwinde, besorge ich mir von dem beliebten Kaffeestand ebenfalls einen Blaubeermuffin und einen vollmundigen Chailatte. Ich nehme sogar in Kauf, dass mir einer dieser Kaffeezombies aufgeregt in den Nacken atmet, als ich es wage, mein Getränk vor Ort umzurühren. Beim Vorbeigehen knurre ich ihn blutrünstig an und ergötze mich an seinem Zurückzucken. Mein Tag ist gerettet. Jedenfalls für die nächsten fünfzehn Minuten, in denen ich an meiner Latte schlürfe und den Muffin verdrücke. Ich verspeise ihn bis auf eine einzelne Blaubeere, von der ich Kain ein Bild schicke. Keine Ahnung, was die Aussage dahinter ist oder der höhere Zweck, aber ich kriege instant einen tränenlachenden Smiley zurück. Scheint okay gewesen zu sein.

Am Abend vertilgen wir die Reste der Pizza, die Jeff nicht zum Mittagessen geschafft hat und führen dieselbe Diskussion, wie immer. Kalt oder warm. Was ist besser? Was ist ekelig? Niemand gewinnt und doch sind wir beide davon überzeugt, recht zu haben. Im Grunde haben wir schon vor Jahren akzeptiert, dass wir uns dahingehend nicht einig werden. Die Diskussion dient meinerseits nur dem Selbsterhalt, denn ich versuche krampfhaft nicht darüber nachzudenken, dass Kain schon wieder den Zug nicht geschafft hat und mir vorhin schrieb, dass er direkt ins Bett fällt. Schlafen kann ich nicht, denn sobald ich die Augen schließe, ist da René.
 

Am nächsten Morgen bin ich aus dem Wohnheimzimmer verschwunden, noch bevor mein Mitbewohner erwacht. Draußen lasse ich mich auf eine der Bänke nieder, ziehe mein Handy hervor und ignoriere die Nachrichten von Lena und Hendrik, die scheinbar morgens um sieben Uhr nichts Besseres zu tun haben, als mir ein Sammelsurium an bunten Emojis zu schicken. Nur meine Mutter fehlt, aber sie wird mich sicher in den nächsten Stunden anrufen. Ich versuche, mich dafür zu wappnen, denn schon jetzt füllen sich meine Gedanken mit den Erinnerungen an meinen Bruder. Unser sechster Geburtstag ist zugleich auch der letzte gemeinsame, den wir feierten. An die Vorigen erinnere ich mich größtenteils nur durch Bilder, deswegen hat dieser die stärkste Bedeutung für mich. Es hatte am Vormittag geregnet, aber die Tage vorher hatte das Laub begonnen, sich vollständig zu verfärben und die herabgefallenen Blätter bildeten eine dichte, farbenfrohe Decke. Perfekt zum Toben und Reinspringen. Wir liebten es, in die mühsam zusammen geharkten Laubhaufen der Nachbarn zu rennen. Das habe ich danach nie wieder getan. Nicht mit Lena. Nicht mit Jeff. Schon gar nicht allein.

Wie automatisch hole ich mein Portmonee hervor und ziehe das Foto meines Zwillingsbruders heraus. Seit der Schulzeit trage ich es bei mir. Ich hole es nicht oft hervor, daher sieht es noch relativ ordentlich aus. Es hat ein paar kleine Wellen und eine einzige Ecke ist eingerissen und leicht geknickt. Wie immer streiche ich sie glatt, obwohl es nichts daran verbessert. Es ist nichts weiter als ein Automatismus, vielleicht auch ein kleines Ritual. Ferner eine liebgewonnene Geste. Soweit es möglich ist. Das Foto wurde kurz vor unserem sechsten Geburtstag aufgenommen. René lächelt mir darauf entgegen und in meiner Brust wird es eng. Manchmal sind die Erinnerungen an sein Lächeln nur noch ein blasser Schimmer. Manchmal erkenne ich mich nur noch selbst und nicht mehr das, was René von mir unterschied. Der Zwiespalt zwischen nicht vergessen wollen und nicht dran denken zu müssen, ist schmerzhaft und verzerrend. Und er ist allgegenwärtig.

René und ich sahen uns sehr ähnlich, sodass unsere Mutter früh damit begann, uns verschiedene Klamotten anzuziehen, um uns als Babys auseinanderhalten zu können. Oft waren es Mützen oder die Socken. Wir behielten es bei, auch wenn wir uns im Alter immer mehr voneinander unterschieden. Allein schon unsere Persönlichkeiten. René stand stets neben mir, aber immer auch ein klein wenig weiter vorn. Er war der Ältere. Er war der Mutigere. Er war mein Wegweiser. Wahrscheinlich fühle ich mich deswegen oft verloren und unvollständig. Mein Bruder fehlt mir, aber im Vermissen zu verweilen, verschafft mir keine Linderung. Das hat es nie und wird es nie, daher erlaube ich es mir nur in diesen wenigen Momenten. Doch dann entsteht dieses Was-wäre-wenn in meinem Kopf und ich stelle mir selbst unendliche viele Fragen, die nur mit Fantasie zu beantworten sind.

Mein Handy vibriert, doch ehe ich die Nachricht lese, schiebe ich das Bild meines Bruders sorgsam zurück ins für ihn bestimmte Fach des Portmonees. Kain fragt mich, ob wir nachher gemeinsam Mittagessen gehen. Eigentlich habe ich eine Übung zu der Zeit und Kain für gewöhnlich immer zu tun. Doch ich habe so gar keine Lust auf Strukturanalytik und Massenspektrometrie und ich möchte ihn sehen. Der Wunsch danach ist in diesem Moment so intensiv, dass ich es nicht schaffe, es vor mir selbst zu leugnen. Ich will ihn sehen. Ich schreibe Kain eine Antwort. Ein kurzes, knappes Ja. Zu mehr fühle ich mich gerade nicht in der Lage. Dann lehne ich mich zurück und starre in den grauen Himmel.
 

Ich starre lange. Sehr lange. Spüre nur langsam, wie meine äußeren Glieder kalt werden. Meine Finger leicht steif und meine Zehen taub. Auch der einsetzende Nieselregen tangiert mich zunächst kaum. Erst, als ein kühler Tropfen von meinem Kinn in den Ausschnitt meines Pullovers fließt, richte ich mich auf und wische mir den Regen aus dem Gesicht. Wie ich diesen Tag hasse. Wie ich dieses Gefühl hasse. Ich würde es gern aus mir herausreißen und irgendwo vergraben. Es nie wieder finden. Ich will es vergessen. Doch leider ist es unmöglich.

Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich noch Zeit habe, da Kains Vorlesung erst gegen 10 Uhr endet. Also vertreibe ich mir die Zeit, laufe zu dem kleinen Foodstore und kaufe dort eine Flasche Wasser, Kaugummi und ein Packung Schlümpfe, die ich in der Innentasche meiner Jacke verschwinden lasse. Es ist die Seite direkt über meinem Herzen und es hat etwas Beruhigendes. Ich mag die Süßigkeit mittlerweile nicht mehr, aber René liebte sie.

Danach recherchiere ich die Raumnummer von Kains Vorlesung, hole meine Kopfhörer hervor und bleibe für die letzten fünf Minuten vor der verschlossenen Tür stehen, bis sie sich öffnet. Ich leere die Flasche Wasser und stelle sie neben dem Mülleimer ab. Kain ist einer der Letzten, der rauskommt. Er unterhält sich angeregt mit einem Kommilitonen, dem ich mit Sicherheit schon mal begegnet bin. An einen Namen erinnere ich mich nicht. Er bemerkt mich zuerst und deutet in meine Richtung, sodass auch der Schwarzhaarige auf mich aufmerksam wird. Sie verabschieden sich voneinander und Kain kommt lächelnd auf mich zu. Er wirft demonstrativ einen Blick auf seine nicht vorhandene Uhr an seinem Handgelenk und das Lächeln wird zu einem Grinsen. Direkt vor mir bleibt er stehen. Ich rege mich nicht, sehe ihn einfach nur an. Kain beugt sich vor, positioniert seinen Kopf neben meinen und zieht mir den Kopfhörer vom Ohr. Er riecht nach Ingwer und Sandelholz. Der Duft muss neu sein. Etwas anders als sonst, aber angenehm.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man meinen, du hast mich vermisst“, flüstert er mir neckend zu und richtet sich direkt wieder auf.

„Wie gut, dass du dich daran erinnerst, dass du es besser weißt“, erwidere ich ruhig, lächele aber unbeabsichtigt. Kain grinst verschmitzt und wackelt mit den Augenbrauen. Er denkt sich seinen Teil und es ist okay für mich.

„Da es noch zu früh für Mittagessen ist, was hältst du von einem Tee?“

„Tee ist okay.“ Hunger habe ich sowieso keinen. Kain nickt lächelnd und boxt mir sachte gegen die Brust. Dabei trifft er genau die Packung mit den Gummitieren und sie gibt ein lautstarkes Knistern von sich. Die Stirn des Schwarzhaarigen runzelt sich fragend und ehe ich etwas sagen kann, öffnet er die Seite meiner Jacke. Aus der Innentasche lugt das blaue Plastik der Schlümpfe hervor.

„Frag nicht“, sage ich schnell, aber mehr bittend als vorschreibend und greife nach seiner Hand. Kain mustert mich einen Moment lang und nickt. Seine Lippen formen das Ok, ohne es auszusprechen.
 

„Kain!“ Die weibliche Stimme echot durch den mittlerweile leeren Gang und ist gleich doppelt so nervig, wie sonst. Kain sieht sich irritiert um und ich rücke automatisch von ihm ab. Ihre roten Haare leuchten in dem einheitlichen Grau des Flurs und ich kann mir eine offensichtlich ablehnende Reaktion nur schwer verkneifen, während sie schnellen Schrittes auf uns stakst. Das kann doch nicht wahr sein. Sie ist einfach überall und scheint ein schrecklich feinfühliges Radar für Kains Aufenthaltsort zu haben. Mein mittlerweile liebgewonnenes Sarkasmuseinhorn dreht freudig wiehernd ein paar Pirouetten in meinem Kopf. Es beendet sein Engagement mit ihrem Eintreffen und zwinkert zum Abschluss vielsagend. Während sie Kain überschwänglich begrüßt, wirft sie mir nicht mehr als einen deutlichen Blick zu, der mich mustert und abwertet. Ein Hoch auf ihren einfallslosen Dilettantismus, der es nicht nötig macht, auch nur im Geringsten darauf zu reagieren. Dafür verbrauche ich keine Energie.

Wieder richtet sie einen Blick direkt an mich, der mich höchstwahrscheinlich darauf aufmerksam machen soll, dass ich Abstand zuhalten habe. Nun mache ich es gerade nicht, sondern bleibe demonstrativ neben dem Schwarzhaarigen stehen. Denn auch Kain scheint sich daran nicht zu stören. Sie gibt sich geschlagen und fällt schnell zurück in ihr übliches Palaver.

Ihre Hände suchen ständig Kains Körper, berühren seine Hand, seine Jacke und einmal kurz seine Wange. Obwohl ich es besser wissen müsste und es ignorieren müsste, merke ich, wie sich die Eifersucht in mir ausbreitet, wie ein Lauffeuer. Ich beiße die Zähne zusammen, drehe mich nun doch von den beiden weg und halte unwillkürlich die Luft an. Atmen ist für gewöhnlich ganz leicht. Der Körper macht es von allein. Einfach ein. Aus. Ein. Aus. Es ist eine autonome Grundfunktion. Und obgleich ich es mir vorspreche, halte ich die Luft weiter an. Weil das nicht sonderlich dazu beiträgt, dass ich mich beruhige, schiebe ich zusätzlich meine Hände in die Hosentasche und starre zu der naheliegenden Infotafel, die über und über mit Verkaufszetteln gespickt ist. Bücher, Möbel und Zimmer. Jemand sucht sein Kaninchen. Ich sehe mich unwillkürlich um, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass es gerade zu einer Vorlesung hoppelt, minimal ist. Doch mein Blick bleibt letztendlich bei Kain hängen, der es schafft, halbwegs interessiert auszusehen, aber mehrmals flüchtig zu mir sieht. Ich schneide eine Grimasse und gestikuliere kleinere Unflätigkeiten, als die Rothaarige ihn unbeirrt mit belanglosem Zeug zu textet. Sie hat Tickets für irgendwas, was Kain angeblich auch mag. Sie fragt nicht direkt danach, ob er sie begleiten würde, aber sie impliziert sein Willkommensein. Ich räuspere mich, weil sich mein Mund plötzlich schrecklich trocken anfühlt.

„Arghn, was? Kannst du dich nicht in Luft auflösen?“, zischt sie ungehalten in meine Richtung.

„Die Physik sagt nein!“, erwidere ich ruhig und merke trotzdem, wie sich meine Augenbrauen zusammenziehen. So viel zu meiner mühsam erarbeiteten Zurückhaltung. Mittlerweile reagiert sie schon übertrieben zickig, sobald ich nur in ihrer Nähe atme und insgeheim ergötze ich mich an dieser geheimen Superkraft. Vielleicht schaffe ich es irgendwann, dass ihr Kopf explodiert, wenn ich den Raum betrete. Das wäre ein Jahrestag zum Feiern. Sie wirft mir einen extra genervten Blick zu und wendet sich wieder Kain zu.

„Jedenfalls, tut es mir leid, aber ich habe meinen Vater noch nicht erreicht“, setzt sie unbeirrt fort.

„Okay Schade. Ich schreibe ihm zur Erinnerung nächste Woche noch mal eine Mail.“ Es geht also um die Bitte von der Party und ich schaffe es nicht, nicht mehr zu zuhören. Ich verschränke locker die Arme vor der Brust und lehne ich mich dichter an Kain heran, so dass ich mit der Schulter gegen seinen Arm stoße. Der Schwarzhaarige weicht nicht zurück, sondern schenkt mir ein leichtes Lächeln, welches natürlich auch seine Ex mitbekommt.

„Im Ernst, Robin, musst du nicht irgendwelchen nichtigen Schnulzenschmunz schreiben gehen?“, bespöttelt sie. Ein großer Fehler. Kain raunt augenblicklich ihren Namen wie ein verzweifeltes Flehen und meine Geduld kippt endgültig. Einzig mein Blick wandert für einen Sekundenbruchteil zu der Tasche in ihrer Hand. Sie ist klein und sieht nicht schwer aus, aber das kann täuschen. Bisher war ich friedlich, aber solche Kommentare will ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich habe ihr zwar nie wirklich bestätigt, dass sie mit ihrer Vermutung richtig liegt, aber das hindert sie nicht daran, diese Karte auszuspielen und zu glauben, damit die Oberhand zu haben. Weit gefehlt.

„Und müsstest du nicht in Martens Vorlesung sitzen und so tun als würdest du schnallen, was dort gesagt wird?“, stichele ich, „Jetzt beim zweiten Anlauf sollten dir doch einige Dinge bekannt vorkommen.“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust und ihre langen Fingernägel drücken sich auffällig in die Haut an ihren Ellenbogen. Ihr Gesicht ist fast maskenhaft.

„Du kommst dir immer besonders schlau vor mit deinen Kommentaren, oder?“ Lahm.

„Durchaus. Immerhin bin ich nicht durch vier von sechs Grundkursen gefallen“, gebe ich retour. Ich habe, wenn es nötig wird, meine Augen und Ohren überall. Die Rothaarige schaut seltsam nervös zu Kain und als auch ich zu dem anderen Mann sehe, weiß ich wieso. Er hat es nicht gewusst. Ehe er nachhaken kann, schneidet sie ihm das Wort ab.

„Es ist nichts so, wie es klang und es gab Missverständnisse.“

„Missverständnisse?“, echoe ich lachend, „Ist schon hart, wenn man seinen Namen auf der Klausur nicht richtig schreibt.“

„Wie bitte?“, wirft Kain ungläubig dazwischen und sie stöhnt angestrengt auf.

„Das ist nicht wahr, ich habe ihn auf ein paar Blättern vergessen. Das ist alles, also halt einfach deine Klappe. Du willst mich doch sowieso nur vor ihm schlecht machen.“

„Also das ist wirklich das einzige, wofür du keine Hilfe brauchst“, perlt es sarkastisch über meine Lippen. Sie ist so lachhaft, dass selbst Clowns neidisch wären und diesmal nicht nur wegen ihres lächerlichen Schminkrepertoires. Klausurblätter ohne Namen oder mit falschgeschriebenen Namen werden nicht gewertet, da sie als Betrugsversuch eingeschätzt werden. So oder so war es dumm und fahrlässig von ihr, egal welche Version stimmt.

„Seid ihr fertig?“, wirft Kain angestrengt ein. Wir ignorieren ihn beide.

„Egal, wie sehr du es versuchst. Uns verbinden Dinge, die du nicht verstehen kannst.“, legte die Rothaarige bissig nach und legt wieder ihre Hand an seinen Arm.

„Ganz richtig, ich werde niemals verstehen, was er an dir gefunden hat. Wenn du wenigstens Brüste hättest.“

„Was für ein billiger Spruch. Und damit du es weißt, das hat ihn nicht daran gehindert, ausgiebig mit mir Spaß zu haben.“

„Wow, ernsthaft, ich stehe neben euch.“

„Und doch hat er nun lieber mit mir Spaß“, platzt es aus mir heraus. Kain überhören wir einfach. Ihr Mund öffnet sich und schließt sich, als sie begreift, was meine Aussage impliziert. Kain sieht mich mit einem Musste-das-sein-Blick an, der mich mehr anstachelt als tadelt.

„Okay, das reicht! Merena, ich melde mich und du...“ Und ich? Er bringt den Satz nicht zu ende, sondern umfasst mit seinen langen Fingern lediglich mein Handgelenk und zieht mich rücksichtsvoll, aber trotzdem bestimmt mit sich mit. Wir hören noch, wie die Rothaarige mehrmals Kains Namen ruft und vermutlich ebenso oft mit dem Bein auf dem Boden aufstampft. Weder ich noch Kain drehen uns zu ihr um. Erst, als wir aus dem Ausgang treten, bleiben wir stehen.

„Musste das sein?“ Da ist es. Ich habe drauf gewartet.

„Ja.“ entgegne ich stoisch und weiß selbst, dass das Bedauern erst später einsetzt, wenn das kitzelige und wutentfachte Zankadrenalin endgültig aus meinem Blut verpufft ist.

„Ich denke, du bist...“, setzt Kain an. Ich unterbreche ihn, indem ich ihm blitzschnell die flache Hand auf den Mund presse und damit verhindere, dass er seine lächerliche Was-auch-immer-Vermutung preisgibt.

„Sie provoziert mich absichtlich“, verteidige ich mich. Diesmal hat sie es offensichtlich getan, sodass es nicht mal Kain abstreiten kann. Er murmelt etwas Unverständliches gegen meine Hand. Danach stupst seine Zunge gegen meine Handfläche. Ich ziehe sie weg und wische sie an seiner Jacke ab. Kain schweigt und sieht mich vorwurfsvoll an. Ich bin mir sicher, dass der Grund nicht die Jacke ist. Aber auch das ist nur eine Vermutung. „Ich musste ihr in die Parade fahren und... außerdem bist du doch derjenige, der ständig behauptet, dass es kein Problem wäre.“ Meine Hand wackelt mehrfach zwischen uns hin und her und Kains Blick haftet sich an diese Wischiwaschi-Bewegung. Nicht mal jetzt schaffe ich es, dem Ganzen einen Namen zu geben.

„Ist es auch nicht, aber nicht... bevor...“ Er strauchelt mit seinen Worten, streicht sich mit der Hand über den Mund und scheint darüber nachzudenken, was genau er mir sagen will. Ich spüre das Kribbeln unter meiner Zunge immer stärker werden. Kein gutes Zeichen und mehr als gefährlich.

„Nicht bevor was?“, frage ich ungeduldig und noch immer deutlich durch den vorangegangenen Disput gepusht. Kain presst die Lippen aufeinander und kratzt sich mehrere Mal über den linken Unterarm. Diese nervöse Geste macht es nicht besser. „Nicht bevor... du euer Postbeziehungsvergnügen genügend ausgekostet hast?“, reize ich besseren Wissens. Ich kann es nicht unterdrücken. Die Eifersucht zeigt vollen Körpereinsatz beim Niederstemmen meiner Vernunft und ich höre sie fast nach Luft japsen, während ihr Kopf hilflos in der gelben Pfütze ditscht. Kains Schultern spannen sich an. Er holt ausgiebig Luft, doch dann sackt er etwas in sich zusammen.

„Das schon wieder? Du denkst, ich ficke sie noch? Du denkst, das ist mein Grund?“, entflieht es ihm entrüstet und aufgebracht, „Verdammt, Robin, ehrlich?“ Könnte personenbezogene Dummheit fluoreszieren, würde ich in Kains Gegenwart leuchten, wie ein Glühwürmchen. Genaugenommen bin ich mein eigener kompletter Schwarm voller bunter, lumineszierender Unzulänglichkeiten und sein momentaner Blick stempelt mich im sekundenbruchteil zum Närrischsten aller Lebewesen ab. Ich will nicht, dass er mich so ansieht, aber ich schaffe es ebenso wenig, mich angemessen zu erklären. Als ich nichts sage, seufzt Kain hörbar enttäuscht auf.

„Entschuldige, aber ich muss doch noch mal in die Bibliothek. Unglaublich!“ Der letzte Teil unterstreicht seine Fassungslosigkeit. Er erklärt das Gespräch für beendet und lässt mich und meine Dummheit im symbolischen Regen stehen. Ich habe es nicht anders verdient. Ich spüre die kalte Dusche förmlich, auch wenn es nur ein leichter Windzug ist. Die Haut auf meinen Armen und in meinem Nacken bäumt sich auf und das simmernde Kribbeln verweilt in meiner Brust, wie ein anhaltendes Mahnmal. Ich weiß einfach nicht, warum ich wieder und wieder und trotz besseren Wissens solche Dinge sage. Ich weiß, dass es ihn verletzt und dass es mitnichten stimmt. Und doch. Es ist nicht, als würde ich ihm nicht trauen oder ihm nicht glauben. Ich vertraue mir eher selbst nicht und das hat, wie man merkt, gute Gründe.

Als ich endlich aufschaue, ist Kain nicht mehr zu sehen. Draußen blicke ich zum wiederholten Mal an diesem Tag in den wolkenverhangenen Himmel und fühle mich noch ein Stück verlorener als vorher. Großartig. Wenn man denkt, es kann nicht schlimmer werden, sorgt man selbst für den Supergau. Ich drehe mich hilflos ein paar Mal in alle Richtung und gehe letztendlich zum Wohnheim zurück.
 

„Hey!“, begrüßt mich mein Mitbewohner, als ich im Zimmer ankomme. Jeff lehnt sich im Stuhl zurück, um mir dabei zu zusehen, wie ich etwas Undeutliches murmele und mich an den Schreibtisch setze. Mit dem großen Zeh betätige ich den Powerknopf meines Rechners und verschränke locker die Arme über dem Bauch. Ich bin nicht wirklich bei ihm und auch nicht für Gespräche aufgelegt.

Es ist zum Verrücktwerden. Ich verhalte mich jedes Mal wieder wie der letzte Arsch, wenn es um die rothaarige Zimtzicke geht und es geht mir selbst auf die Nerven. Ich sollte über jeden ihrer lauen Okkupierungsversuche lachen und sie abtun. Aber stattdessen schaltet mein Gehirn vor Eifersucht jedes Mal in den stumpfsinnigen Idiotenmodus. Meine innere Schelte wird unterbrochen als ich das Gefühl nicht loswerde, Jeffs Blick auf mir zu spüren. Ich merke fast, wie er sich in meinen Rücken bohrt. Als ich mich mit dem Stuhl umdrehe, sehe ich ihn mit hinter dem Rücken versteckten Händen mitten im Raum stehen.

„Komm her...“, fordert mich Jeff auf und ich sehe ihn entgeistert an. Als er merkt, dass ich mich nicht rühre, schließt er theatralisch seufzend die Lücke zwischen uns, zieht mich vom Stuhl hoch und presst mich in eine feste Umarmung. Ich falle ihm durch den kräftigen Zug förmlich entgegen und japse überrascht auf. Könnte ich zappeln, würde ich es tun, aber Jeffs Todesgriff ist unnachgiebig. Ich gebe das erwartete Jammern von mir und er drückt mich nur noch fester.

„Happy Birthday, my dear Sunshine“, flüstert er mit übertrieben britischen Akzent und reichlich Amüsement. Danach lässt er mich abrupt wieder los. Ich knurre lediglich. „Mein Geschenk an dich... ist meine Abwesenheit. Mach was draus.“ Mein Jugendfreund grinst, greift sich seinen gepackten Rucksack und ist verschwunden, ehe ich etwas erwidern kann. Ich sehe auf die ins Schloss gefallene Zimmertür und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.

„Großartig!“, sage ich laut und tropfe förmlich vor Sarkasmus. “Und das konntest du mir nicht texten, ja?“ Den Rest ergänze ich kraftlos, wohlwissend, dass es nur meiner Selbstunterhaltung dient und mein Motzbedürfnis befriedigt. Normalerweise hätte ich mich darüber gefreut, doch gerade hinterlässt es einen seltsam faden Beigeschmack in meinem Mund.

Ich wende mich meinem Schreibtisch zu, starre auf den hell erleuchteten Bildschirm und drehe mich zurück zu Jeffs Zimmerseite. Selbst sein Laptop ist weg und das bedeutet, dass er wirklich nicht wiederkommt. Mir entflieht ein jammernder Laut und ich bin drauf und dran, mich für den restlichen Tag in mein Bett zu verkriechen. Es würde niemand merken. Keiner wissen. Allerdings werde ich gestoppt, als ich etwas auf der Decke entdecke. Ich gehe aufs Bett und greife danach. Es ist ein Päckchen aus Kondomen mit der Aufschrift Gefühlsecht und einer Tube Gleitgel. Feinsäuberlich mit einer Schleife zusammengebunden. Schon wieder winkt der Zaunpfahl, doch diesmal nehme ich den Fingerzeig als bare Münze. Dieses Jahr möchte ich nicht allein sein. Ich greife mir meine Jacke und verschwinde Richtung Bibliothek.

Das kleine Einmaleins des Updatings

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Mit dem passenden Soundtrack zum Balztanz

Kapitel 5 Mit dem passenden Soundtrack zum Balztanz
 

Als die Eingangstür hinter mir zu fällt, drehe ich mich doch noch mal um und lasse wem auch immer meinen netten Finger sehen. Im Grunde mir selbst, denn ich sehe mein Spiegelbild. Danach greife ich mir direkt an die Hosentasche und taste nach der Packung Zigaretten, die sich dort zu meinem Leidwesen nicht mehr befindet. Meine Luftröhre kitzelt als prompter Einspruch. Mein Rachen kribbelt und ich räuspere mich automatisch als meine Finger bereits zur Brusttasche wandern, ehe sich mein Körper daran erinnern kann, dass es nur ein Echo der Sucht ist, welches ihn dazu bringt. Zugegebenermaßen ist es stark, aber mein Trotz ist stärker. Noch dazu habe ich nicht die Muße, mir eine neue Packung zu besorgen. Trotzdem greife ich mir erneut in die Hosentasche und ziehe diesmal eine der Timeout-Karten hervor. Diese habe ich letztens versehentlich mitgewaschen und dementsprechend sieht sie aus. Das ursprüngliche Bild hat lauter Risse und die draufgekritzelte Vier ist lediglich als Schatten zu erkennen. Ich streiche mit dem Daumen vorsichtig über die demolierte Oberfläche. Der Anblick der Karte lässt mich lächeln und das nicht nur wegen des anstrengenden Kerls, von dem ich sie habe. Es ist eine Weile her, dass ich eine einsetzen musste und ich bin mir nicht sicher, wo die anderen abgeblieben sind. Vermutlich liegen sie bei Kain und ich kann bald damit rechnen, dass er sich etwas ausdenkt, womit ich sie zurück gewinnen muss.

„Robin!“ Ich erstarre für ein paar Sekunden und kämpfe danach kraftvoll gegen meinen Fluchtreflex an. Mein Name ertönt erneut und diesmal erkenne ich die Stimme.

Ich revidiere meine vormalige Aussage. Ich hätte gern permanente Unsichtbarkeit oder zu mindestens Unsichtbarkeit gegenüber allen Idioten der Welt, denn damit würde ich bereits einen großen Teil der Menschheit abdecken. Abel mit Sicherheit. Der blonde Ex-Kerl meines Mitbewohners eilt mit schnellen, bestimmten Schritten auf mich zu. Vielleicht sollte ich, sobald er nur noch 5 Meter entfernt ist, einfach lossprinten. Doch ich befürchte, ich bin nicht schnell genug und dazu vergesse ich, rechtzeitig meinen Bewegungsapparat zu aktivieren. Warum auch immer. Allerdings bin ich mir nun sicher, dass ich irgendeine dieser mannigfaltigen existierenden Gottheiten verärgert haben muss. Oder vielleicht ist es dieses oft von Shari erwähnte Karma? Wenn ich Glück habe, werde ich im nächsten Leben zu dem Stein, der ich immer sein wollte.

„Robin, warte kurz“, wiederholt er mit seiner trantütigen Leierstimme, die sogleich dafür sorgt, dass sich etliche Areale meines Gehirns ausschalten. Mein ganz eigener Überlebensinstinkt und eine Art Notabschaltung, um ein Kompromittieren meines Gehirns zu verhindern.

„Egal, was es ist. Nein“, sage ich noch bevor Abel ein weiteres Mal seinen Mund aufmachen kann. Mittlerweile sollte er mein ruppiges Auftreten gewöhnt sein und doch sieht er mich an, wie ein aufgeschrecktes Frettchen beim Stuhlgang.

„Alter, an dich werde ich mich nie gewöhnen“, prustet er und lacht.

„Wie beruhigend... kommst du endlich zum Punkt, meine Antwort hast du ja schon“, kommentiere ich und gebe mich von seiner unterschwelligen Kritik wenig beeindruckt. Mein Geduldsfaden ist kurz vorm Explodieren. Gerade würde ich für eine Zigarette morden und meine Seele für ein Loch verkaufen, in das ich Abel einfach schubsen kann.

„Ich weiß zwar nicht wieso, aber Jeff hört auf dich...“ In welcher Welt? Eindeutig nur in Abels einfältiger Traumblase. Ich spreche es nicht aus. „Kannst du ihm bitte davon überzeugen, dass er noch mal mit mir redet? Ich will nur reden, aber er ignoriert meine Anrufe und Nachrichten...“

„Nicht ohne Grund. Begreifst du es wirklich nicht? Jeff hat kein Interesse mehr an dir.“

„Von heute auf morgen?“ In seinem Gesicht zeigt sich handfester Unglauben. Ich habe das Gefühl, dass wir es ihm schon hunderte Male mitgeteilt haben. Also entweder ist er vollkommen begriffsstutzig oder doch in der geistigen Konstitution eines Goldfisches. Einmal im Kreis schwimmen und schon hat er alles vergessen. Hat auch seine Vorteile, aber im Moment ist es sehr zu seinem Nachteil und zu meinem. Ich sehe ihn skeptisch, aber leicht genervt an und nehme mir vor, diese perfekt ausgeglichene Mischung irgendwann patentieren zu lassen.

„Tja, was soll ich sagen, plötzlich ist der Idiotenfilter vollgelaufen und da hilft nur noch ein Neustart“, male ich ihm als anschauliches Bild aus Worten und bin der Überzeugung, dass Abels Palette an dummen Gesichtsausdrücken eine neue Stufe erreicht. Ich kann förmlich sehen, wie sich die Knete in seinem Kopf formt. Zu kleinen Äffchen mit Schellen. Wie konnte Jeff nur mehrere Monate lang in dieses Gesicht gucken und nicht merken, dass einem dadurch jedes Mal 10 IQ-Punkte flöten gehen. Wahrscheinlich hat Jeff deswegen zu lange durchgehalten. Die Beziehung mit Abel hat ihn verdooft. Mich auch, augenscheinlich.

„Du bist zum Kotzen, weißt du das? Jeff hat mich geliebt, das hat er oft genug deutlich gemacht.“ Aber hat er es auch gesagt? Das wage ich zu bezweifeln. So impulsiv und unbedarft mein Jugendfreund auch ist, das kam ihm sicher nicht über die Lippen.

„Red dir das nur ein, Jeff war vielleicht ein bisschen verknallt, aber Liebe war es nicht.“

„Was weißt du schon von Liebe!“, spuckt er mir regelrecht entgegen. Ja, was weiß ich schon. Ihr Klischee finanziert mich praktisch, doch das sage ich ihm nicht.

„Ich weiß, dass man sie nicht erzwingt und ich weiß, dass du hier nur den Affen machst, weil du es nicht ertragen kannst, dass Jeff deine Luftnummer durchschaut. Du machst dich lächerlich und das nicht erst seit heute. Jeff braucht dich nicht. Mein Rat an dich, lass es endlich gut sein“, gebe ich mit einem Hauch Warnung an ihn zurück.

„Wir wären noch glücklich, wenn du nicht gegen mich gearbeitet hättest... dass er auf dich hört, du bist nicht mal ein guter Freund“, ächzt er weiter. Immer wieder die gleiche Leier. Ich schnaube verächtlich und mache einen Schritt auf ihn zu. Dass er ein paar Zentimeter größer ist, interessiert mich herzlich wenig. Wenn er wirklich glaubt, ich würde ein gutes Wort für ihn einlegen, dann ist er dümmer, als ich immer dachte. Mein glitzerndes Sarkasmuseinhorn Pablo dreht sich hufeklatschend im Kreis und ich versuche das ekstatische Gewieher in meinem Kopf zu ignorieren, was mir ausnahmsweise besonders schwerfällt. Als Pony hätte man es definitiv leichter. Ich wäre ein karamellbraunes Shetlandpony mit Zottelmähne. Nur unter größter Anstrengung schaffe ich es, das verträumte Seufzen lautlos auszustoßen und mich aus meinem Fluchttraum zu befreien.

„Du hast doch keine Ahnung und jetzt hör mal gut zu, ich habe weder dazu beigetragen, dass Jeff sich von dir trennt, noch werde ich auch nur einen Finger dafür rühren, dass du dich zurück in sein Leben schleichst, nur weil du denkst, mir ein schlechtes Gewissen machen zu können.“ Das hat bisher nur Kain mit Bravur hinbekommen und bei diesem einen Mal soll es auch bleiben. Mein Zeigefinger hämmert sich ein paar Mal demonstrativ gegen Abels Brust, während ich ihn mahnend mit meinem Blick fixiere. Ich sehe, wie er meinem Fingerglied folgt, wie sich seine Nüstern blähen. Ein Funkeln blitzt in den mattblauen Iriden auf und ich erkenne, wie sich sein Hals anspannt. Es gefällt ihm nicht. Doch das ist mir sowas von egal. „Oh, aber einen Tipp gebe ich dir trotzdem noch. Such die Schuld bei dir selbst und deinen dummen Sprüchen und Fremdflirtereien.“ Spiel. Satz. Sieg. Abel presst seine Zähne noch heftiger aufeinander und ich erkenne, wie sich die Muskeln in seiner Wange bewegen. Abel ist so lächerlich. Wahrscheinlich hat er nicht mal damit gerechnet, dass ich all diese Dinge von Jeff erfahren habe. Noch dazu bin ich nicht blind, auch wenn es so wirkt, als würde ich nicht hinsehen. Er hat es selbst verbockt und ist nun zu stolz, um es sich selbst einzugestehen. Unterste Stufe.

Ich habe kein bisschen Geduld mehr übrig, um darauf zu warten, dass die Äffchen in seinem Kopf mit dem Lausen aufhören und da nichts Nennenswertes mehr von ihm kommt, mache ich auf dem Absatz kehrt.
 

Noch während er mir irgendwelchen belanglosen Kram hinterherruft, bemerke ich, wie mein Telefon zu klingen beginnt. Ich ziehe es hervor und wie sollte es auch anderes sein, es ist ein weiterer Kandidat meiner Riege an Nervtötern. Meine Lektorin Brigitta. Warum lässt man mich nicht in Ruhe oder dosiert diese verbalen Idiotenattacken so, dass sie für mich händelbar sind?

„Bon jour, mein kleines Himbeer-Soufflé. Ich bin der Stadt und ich will dich sehen!“, flötet sie sofort drauflos, ehe ich auch nur andeuten kann, dass ich wirklich dran bin, und noch dazu im schlechten Fake-Französisch, was es wesentlich schlimmer macht.

„Hallo. Sie haben die Nummer des städtischen Clownscolleges gewählt. Für eine Lachnummer drücken Sie die Eins. Für ein virtuelles Ballontier drücken Sie die Zwei“, gebe ich monoton von mir, höre für einen Moment Stille auf der anderen Seite und dann ein Kichern.

„Clownscollege? Du Witzbold!“, lacht sie nun richtig und ausgiebig. Manchmal schnarcht sie leicht beim Lachen, was wiederrum mich zum Lachen bringt. Genau wie jetzt.

„Mit Profizertifikat, wenn ich bitte darf. Ich kann dir übrigens ein Selfie schicken, wenn´s unbedingt sein muss“, erwidere ich auf ihr Anliegen.

„Wäre das erste, was du jemals machen würdest, oder?“ Recht hat sie. „Und nein, ich möchte dich von Angesicht zu Angesicht sprechen“, sagt Brigitta. Etwas im Ton ihrer Worte lässt mich stocken und ich bleibe automatisch stehen.

„Klingt ernst, was ist los?“

„Gar nichts!“, entgegnet sie beschwichtigend, „Nur das übliche Tamtam und ein persönliches Treffen verhindert, dass du dich rausredest oder einfach auflegst.“

„Habe ich jemals einfach aufgelegt?“, frage ich beleidigt zurück. Ich bin ja manchmal rabiat, aber das habe ich noch nie getan. Das Rausreden streite ich nicht ab, das mache ich wirklich und mehr als oft. Allerdings ändert auch ein persönliches Treffen nichts daran.

„Noch nicht, aber man kann nie wissen“, entgegnet sie resolut, „Außerdem bin ich dran, dich einzuladen.“ Umständlich ausgedrückt für `Ich weiß, dass du Geburtstag hattest`. Nun entflieht mir ein eindringliches Schnauben, welches sie definitiv auch durch das Telefon hört.

„Das übersetze ich mit Ja. Wunderbar!“ Sie macht mich fertig. Meine Ekelhaftigkeiten prallen seit je her an ihr ab, wie Wasser an einem Lotusblatt. Scheinbar ist das Brigittas Superkraft. Wir verabreden uns für Mittwochnachmittag wie üblich im Café di Santos und Brigitta verabschiedet sich mit einer weiteren Ladung zuckrigen Kosenamen. Irgendwann stelle ich ihr meine vermehrten Zahnarztbesuche in Rechnung. Nicht nur hypothetisch.
 

Im Wohnheim angekommen fläze ich mich direkt auf meinen Schreibtischstuhl, höre ihn leise ächzen und quietschen. Ich fühle mich seltsam rastlos, kenne aber die Gründe nicht. Mit dem Zeh betätige ich den Anschalter meines Computers und sehe dabei zu, wie nach und nach die einzelnen Ladescreens aufleuchten, Zahlen- und Buchstabenreihen erscheinen, bis mein mittlerweile Passwort geschütztes Standby-Bild aufpoppt. Kain hat gemurrt, als er mitbekam, dass ich nun den sinnvollsten aller sinnigsten Schritte getan habe und sich minutenlang darüber beschwert, dass er nun nicht mehr in meinen Geschichten schnüffeln kann. Was soll ich sagen? Mission completed. Genau das war mein Ziel. Als Ausgleich verlangte Kain schmollend eine der Time-Out-Karten zurück, die ich ihm nur nach zähen Diskussionen aushändigte. Ich weigerte mich vehement, effektvoll und dann hatten wir Sex. Guten, versauten Sex. Zweimal. Nicht so gut, wie mit der Vanillesoße, aber nahe dran.

Mit einen schwelgenden Grinsen richte ich mich auf und tippe das Passwort in die Tastatur. Puddingeis. Meine Kreativität kennt keine Grenzen, aber manchmal genügt die Trivialität des Offensichtlichen.

Ich checke meine E-Mails, lese zuerst die Nachrichten vom Verlag, die mir den Stand der geplanten Convention offerieren. Sie ist mittlerweile für den kommenden Sommer angesetzt. Vermutlich im Juli oder August. Das genaue Datum habe ich schon wieder vergessen, aber Brigitta wird schon rechtzeitig dafür sorgen, dass ich mit den Albträumen beginnen kann. Mich erfasst schon jetzt ein eiskalter Schauer, wenn ich nur daran denke, dass sie mich da an einen Tisch mit einem Haufen Buchexemplare setzen wollen und dann dabei zusehen, wie ich der Reihe nach Mädchen zum Weinen bringe, nur weil ich ich bin. Was erwarten sie von mir? Ich habe keine träumerischen Beweggründe für die Dinge, die meine Protagonisten tun. Keine unterschwelligen Wünsche. Kein sehnsüchtiges Verlangen. Sie tun es, weil sie es tun können oder manchmal aus der Handlung heraus müssen. Oder schlicht und einfach, weil man es in der Situation von ihnen erwartet. Ein Held würde niemals umdrehen und keinen Blick zurückwerfen. Er würde straucheln, aber durch Worte, durch Erinnerungen oder dem Wunsch nach Besserung seinen Mut finden und seine Angst besiegen. Er würde seinen Weg fortsetzen, egal, was kommt. Denn das ist es, was man von Helden erwartet. Er wächst über sich hinaus und er knickt nicht ein. Im richtigen Leben ist das nicht so einfach. Die Entscheidungen, die wir treffen, sind meistens trivial und egoistisch, nicht heldenhaft oder bedingungslos. Ich hasse Heldengeschichten fast mehr noch, als den Liebesschmunz.

Doch so sehr ich auch über die plakative Klischeehaftigkeit meiner Bücher wettere, sind sie ein Teil von mir, den ich nach langem Unbehagen langsam akzeptiere. Ob ich es mag oder nicht, aber ich bin dazu fähig, etwas zu erschaffen, was jemand anderen berührt, egal, in welcher Weise. Das hat auch etwas für sich. Dennoch weigere ich mich zuzugeben, dass eventuell auch Kains Akzeptanz dem Gegenüber damit zu tun hat. Auch wenn ich weiß, das neben der Scham, die ich jedes Mal empfinde, wenn er mit dem Thema anfängt, ein gewisser Stolz mit schwimmt.
 

In der letzten Zeit habe ich relativ wenig aufs Papier gebracht, was dieses Selbstbewusstsein verdient. Ein paar Zeilen hier und ein paar Worte da, aber nichts mit substanziellem Inhalt. Nicht, dass es mir an Ideen mangelt. Dem ist definitiv nicht so, aber meine Ideen und Gedanken lassen sich momentan nicht in die kitschsuchenden Schemata des Verlags pressen oder in meine aktuelle Gemütsverfassung. Irgendwie endet alles mit Sex oder zu mindestens mit nackten Körpern. Reibend. Schwitzend. Nichts weiter als Befriedigung und lebhafte Fickerei, ohne komplexe Charaktere oder aufwendigen Beziehungsdynamiken. Liebesgeschichten sind ja gut und schön, aber manchmal muss einfach nur Sex sein. Nicht jeder ist bereit. Seufzend lasse ich meinen Kopf zurückfallen und schaue an die Decke, um meine Gedanken wieder in reguläre Bahnen zu lenken. Waren die zwei Flecken da oben schon immer so promiskuitiv?

Schon eine ganze Weile spukt mir eine Idee im Kopf herum, die all diese Faktoren miteinander vereinen könnte. Sozusagen eine erotisch angehauchte Kurzgeschichtensammlung über das naiv amouröse Verhalten von studentischen Dummköpfen in freier Wildbahn. Ich könnte daraus auch eine wissenschaftliche Abhandlung machen. Das Problem ist nur, dass ich es im Moment für mich allein schreibe, denn der Verlag, bei dem ich veröffentliche, hat an solchen Ferkeleien kein Interesse. Brigitta schon, aber nicht der Verlag. Leider hat meine Power-Lektorin dahingehend nichts zu sagen und Selfpublishing ist für mich so verständlich wie Quantenphysik oder Social Media. Also bleibe ich auf meinem Ideenrodeo sitzen. Nicht, dass mich diese abschweifenden Gedanken stören, aber jedes Mal, wenn ich mit einer erotischen Szene beginne, denke ich kurz darauf an Kain. Manchmal auch an Jeff und Jake oder doch wieder an Jeff und Abel, was ohne Frage gänzlich die Stimmung abmurkst. Ich war ja nie der schüchterne Typ oder habe mich hinter Prüderie versteckt, aber die Ausuferei meiner Fantasien macht mir mitunter doch zu schaffen.

Noch dazu denke ich auch immer an Dinge, die mir sonst geschmeidig am Arsch vorbeigehen und mein freigerufenes nichts als Fickerei-Statement grandios negieren. Dieses ominöse Pärchenverhalten ist nur eines der Beispiele. Nicht, dass ich nicht vorher mit dem Thema Beziehung in Kontakt gekommen bin. Aber ich musste mich nur noch nie intensiv damit auseinandersetzen, was eine funktionierende Beziehung ausmacht, da ich nie eine angestrebt habe.

Kain weiß, worauf er sich mit mir einlässt, oder? Er weiß, dass ich beziehungsuntauglich bin und im Grunde keine Ahnung habe, was er von mir erwartet? Er weiß, dass ich mich nicht an seinen Arm hänge und nutzlos kichere, wenn er einen Witz reißt? Er weiß, dass ich so viel Einfühlungsvermögen besitze, wie ein Stein und ihm ist klar, dass ich wahrscheinlich jedes Mal dreimal so lange brauche, bis ich begreife, was ich falsch gemacht habe? Und dass ich viel falsch machen werde! Er weiß es, nicht wahr? Ich spüre das zweifelnde Wimmern, ohne, dass ich es von mir gebe. Das wird eine Katastrophe.

Ich hätte längst mal einen Charakter wie mich selbst in meine Bücher aufnehmen sollen. Dann hätte ich unverfängliche Vorschläge, wie ich mit der Situation umgehen könnte, ohne mich selbst zu blockieren. Sie wären zudem von Brigitta abgesegnet und ich müsste nicht erst ein peinliches Gespräch über meine Unwissenheit führen. Ich hätte einen perfekten Vorwand. Wie also würde ich es umsetzen? Ein klassischer, allseits genutzter Plot wäre es, dass der einsiedlerische Miesepeter eine 180 Grad Wende erlebt, weil die Liebe alles möglich macht und er begreift, dass es keinen Grund gibt, knurrig und missgelaunt zu sein. Wie es sich wohl anfühlt, wenn einem die Sonnen aus dem Arsch scheint? Oder der, des Bad Boy´s erster Klasse, der aus dem Nichts heraus erkennt, dass er einen weichen Kern hat und plötzlich kein Problem darin sieht, es auch zu zeigen. Das erscheint mir alles unrealistisch. Man ist, wie man ist. Sicher kann man sich ändern, aber das ist ein langer Weg, denn Gewohnheiten schüttelt man nicht einfach ab. Einstellungen und Meinungen ändern sich selten von heute auf morgen. Man muss sich ihnen Stellen und das ist keineswegs einfach. Habe ich deshalb noch nie einen solchen Charakter in meine Büchern geschrieben, weil sich für mich damit kategorisch ein kitschiges Happy End ausschließt? Ist es so? Gibt es ein logisches Happy End für einen miesepetrigen Einsiedler, der es nicht mal schafft, zuzugeben, dass er an seinem Geburtstag nicht allein sein will? Gibt es denn ein logisches Happy End für jemanden, der selbst nicht daran glaubt, andere glücklich machen zu können?

Ich habe nie verstanden, warum so viele Menschen in Büchern auf ein seliges, stets glückliches und immer die gleiche Richtung zeigendes Ende pochen. Was ist so schlimm an einem offenen Ende? Ist es nicht sogar besser, weil es Raum für die eigene Fantasie lässt? Entwickelt sich nicht jede Beziehung anders und in verschiedenen Tempi? Muss man es immer übers Bein brechen? Im Filmbusiness sichert man sich auf diese Weise eine Fortsetzung. Wie auch immer, ich bin keine Romanfigur. Auch, wenn es mir manchmal so vorkommt. Ich richte meinen Blick wieder zur Decke, schnaufe resignierend und verschränke die Arme vor der Brust. Es fühlt sich an, wie vor den Abiprüfungen. Nur diesmal habe ich keine Chance zu spicken. Noch habe ich Mut zur Lücke. Frustrierend.
 

Ich höre das Klicken des Schlosses und lehne mich weiter nach hinten, um einen Blick zur Tür zu werfen. Mein Mitbewohner kommt mit einem vollbeladenen Wäschekorb ins Zimmer gestolpert, strauchelt zusätzlich, als er mich bemerkt und schafft es zu aller Verwunderung, nicht über seine langen Beine zu fallen. Jeff macht eine abrupte Drehung in seine Zimmerhälfte, als er einen festen Stand hat. Er ächzt, als er den Korb auf seinem Bett fallen lässt und stemmt die Hände in die Hüfte. Es fehlt nur noch ein Cape und etwas lauer Wind, dann mimt er die perfekte Superheldenpose. Nur weiß ich nicht, warum er es tut.

„Bin nicht ich diese Woche mit der Wäsche dran?“, frage ich meinen Jugendfreund, der noch immer mit dem Rücken zu mir steht und den Korb verdächtig von mir abschirmt.

„Jup.“

„Dann trägst du aus Spaß an der Freude die Wäsche spazieren?“

„Jup.“ Wieder nur diese 1-Wort-Antwort und er lässt das P deutlich ploppen. Verdächtig. Jeff wäre wahrlich ein schlechter Mörder oder andersherum gesehen ein vortrefflicher Mordverdächtiger, da man ihm seine Schuld in jedem Moment ansieht. Ich stehe mühelos auf. Mein Stuhl knarzt und Jeff macht genau, was ich vermute. Er dreht sich zu mir um. Seine Augen werden groß und er schiebt unwillkürlich mit seiner Kehrseite den Wäschekorb weiter aufs Bett, als er einen Schritt zurück macht. Er versucht ihn weiterhin zu verdecken, was in Anbetracht seiner eher schlanken Statur genauso sinnlos ist, als würde Kain versuchen, sich hinter mir zu verstecken.

„Es war ein Versehen und es ist gar nicht so schlimm, wie es aussieht“, sprudelt es aus ihm hervor. Als ich vor ihm ankomme, legt er mir sachte beide Hände an die Schulter und stoppt mich. „Du solltest noch gar nicht hier sein.“

Ich habe eine böse Ahnung und mache einen Schritt zur Seite. Jeff folgt. Das Spielchen vollführen wir zweimal in beide Richtungen, bis ich es schaffe, ihn auszutricksen, weil ich beim dritten Mal zwei Schritte zur selben Seite mache. Tom und Jerry für Arme. Dann sehe ich sofort das Dilemma und greife schnell nach einem der feuchten Wäschestücke.

„Jeff!“, entflieht es mir aufgebracht, als ich das langärmelige Shit anhebe, was ich normalerweise zum Schlafen trage und welches jetzt eine wenig dezente Rosafärbung hat. „Nicht schon wieder!“

„Tut mir leid.“ Kleinlaut.

„Ich habe nur vier weiße Kleidungsstücke und du schaffst es regelmäßig, sie zu kolorieren. Wie machst du da? Hast du noch nie gehört, dass man Wäsche vorher sortiert? Sie war sogar sortiert!“, motze ich ad hoc. Ich mache immer feinsäuberliche kleine Berge an den Rändern des Wäschekorbs, wenn er noch nicht durch einen kompletten Waschgang geleert werden kann.

„Ich weiß, es tut mir leid. Mir sind die weißen Sachen dazwischen gerutscht. Aber ich brauchte dringend diese eine bestimmte Unterwäsche, weil ich morgen...“

„Du verarscht mich doch“, unterbreche ich ihn verärgert.

„So schlimm ist es gar nicht“, fährt Jeff fort. Ich hebe das noch feuchte Langarmshirt in die Höhe und breite es demonstrativ vor ihm aus.

„Damit sehe ich aus wie ein...“

„Flamingo?“ Jeff kichert, murmelt irgendwas von schöne, anmutige Tiere und kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen. Ich dachte eher an ein kleines Schweinchen. Es gibt nur wenige Kerle, die die Farbe Rosa tragen können. Ich gehöre nicht dazu. Dank Jeff weiß ich auch wieso. Mein Teint ist zu fahl.

„Wie alt bist du? Fünf?“, unterbreche ich sein angeregtes Gekichere, indem ich ihm die flache Hand gegen die Stirn presse und sein lachendes Fratzengesicht damit aus meinem Blickfeld schubse. Ich wünschte, ich hätte mich bei der Wahl meiner Superkraft für irgendwas Zerstörerisches entschieden. Laseraugen. Dinge explodieren lassen zu können. Vorzugsweise Mitbewohner.

„Es tut mir wirklich leid“, quengelt Jeff passend zur Alterseinstufung, „Aber meine Wäsche ist auch rosa und das Shirt trägst du doch nur beim Schlafen. Das sieht doch niemand. Naja... doch Kain, aber er nascht sicher gern an rosafarbener Zuckerwatte.“ Den Seitenhieb konnte er sich nicht verkneifen und das selbstgefällige Grinsen in seinem Gesicht setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Ich spüre es in meiner Brust seltsam flattern und bin mir nicht sicher, ob es Wut und Scham ist, also schenke ich ihm lediglich eine ausdruckslose Miene.

„Halt lieber die Klappe. Du bist nämlich nicht in der Position, um dich auf meine Kosten zu amüsieren“, gebe ich warnend von mir, werfe das Shirt zurück in den Wäschekorb und kehre zu meinem Schreibtisch zurück. Jeff folgt mir, wirft theatralisch seine Arme auf meine Schultern und drückt mich, während ich mit verschränkten Armen auf meinem Stuhl sitze und schmolle. Oder wie auch immer man das nennt, wenn man halbverärgert schweigt.

„Tut mir echt leid, ich war nicht ganz bei der Sache, als ich die Maschine angeschmissen habe. Ich bin so frustriert“, erklärt er und zieht eine fischmäulige Schnute. Ich brumme nur als Antwort. Jeffs Stimme wurde mit jedem Wort weicher und sein Atem streicht über meine erhitze Wange, was ich eigentlich kaum merke. Erst, als er seinen Kopf richtiggehend in meiner Halsbeuge ablegt, reagiert mein Körper mit rasender Erpelpelle.

Solche Augenblicke sind immer noch selten zwischen uns. Seit Jeff weiß, dass ich mit Kain dieses Beziehungsetwas habe, ist er zurückhaltender geworden mit seinen körpernahen Freundschaftsbekundungen. Warum ist mir noch nicht klar.

„Echt frustriert...“, wiederholt er und klingt dabei wie ein wimmerndes Hundebaby. Herrje. Ich gebe nicht zu, dass ich verstehe, was er meint. Auch, wenn unsere Frustrationen verschiedene Ursprünge haben, sind sie ähnlich anstrengend. Doch sein Wehwehchen ist lösbar. Anspringen und losvögeln. Labern kann man später. Immerhin war es mit Abel genauso. Aber vielleicht ist es genau das, was er diesmal anders machen will?

„Das bist du schon seit Wochen. Mach was dagegen.“ Mein simpler Vorschlag zur Güte.

„Und was genau soll ich tun?“

„Mich nicht nerven zum Beispiel.“ Und dann eine Entscheidung treffen. Das kann doch nicht so schwer sein! Mein inneres Stimmchen wird plötzlich ganz leise. Okay, vielleicht ja doch.

„Du bist nicht hilfreich“, murrt er ergeben und löst sich von mir.

„War ich das jemals?“

„Nicht wirklich.“ Obwohl ich es bewusst darauf anlege, antwortet er zu schnell und zu gewiss. Ich schenke meinem Jugendfreund einen strafenden Blick und sehe dabei zu, wie er sich unbekümmert auf sein Bett fallen lässt. Der Wäschekorb hüpft dabei dem Rand gefährlich entgegen, doch auch das scheint Jeff nicht weiter zu stören. Er stützt sich mit den Armen ab und lässt seine Füße wackeln. Wieder ertönt eines seiner klassischen Jeff-Seufzer. So tief und so unfassbar theatralisch, dass es mich prompt nervt. Er will mich reizen. Er will, dass ich weiter nachhake. Doch wenn ich ehrlich bin, verstehe ich nicht, was Jeffs und Jakes Problem ist. Sie sind eindeutig einander zugetan oder noch platter ausgedrückt, sie stehen aufeinander. So sehr, dass ich jedes Mal spüre, wie sich die Härchen auf meinen Armen aufrichten, wenn sie gemeinsam in meiner Nähe sind. Mein ganz eigener Spinnensinn, wenn man es so will. Mein Liebes-Zombie-Detektor.

Ein erneuter Seufzer reißt mich aus den absurden Fantasien und ich sehe zurück zu meinem Mitbewohner. Er lässt seine Zehen kreisen, zieht sie danach nach oben in eine bequem aussehende Stretchübung und sieht mich plötzlich an. Ich bin so erschrocken durch den Fokus der blauen Augen, dass ich mich fast an meiner eigenen Spucke verschlucke. Röchelnd greife ich nach einer alten Flasche Wasser, die seit Tagen neben meinem Bett steht und leere die fade Flüssigkeit in einem Zug.

„Du bist echt nicht hilfreich!“, poltert er mir entgegen und springt vom Bett auf.

„Und du nervst!“, erwidere ich lasch.

„Du nervst viel mehr.“

„Du bist ermüdend.“

„Du bist ... schrumpelig.“ Darf ich vorstellen, Vollzeitstudent im 5. Semester für Geologie einer durchaus hochdatierten Universität. Jeff hatte schon mal mehr Elan, Sinn und Einfallsreichtum. Ich schenke ihm einen abschätzigen Blick der Enttäuschung und sehe gar nicht ein, darauf etwas zu erwidern. Stattdessen drehe ich mich langsam zurück an den Schreibtisch und löse meinen Blick erst, als es nicht mehr geht. Kurz darauf spüre ich, wie mich eine feuchte Socke mit einem deutlichen Platschgeräusch am Kopf trifft. Danach höre ich, wie Jeff kichernd zu seinem Schreibtisch hopst und seinen neuen Laptop öffnet.

Wir arbeiten eine Weile im Stillen, dann setze ich meine Kopfhörer auf und hänge meinen Gedanken nach. Doch als es beginnt zu dämmern, schnappe ich mir ein paar Wechselklamotten und verabschiede mich in die Duschräume.
 

Das warme Wasser ist eine Offenbarung und ich merke, wie die Anspannung, von der ich gar nicht wusste, dass sie da ist, von mir abschmilzt. Langsam, aber stetig hinterlässt es eine heimelige Woge des Nichts. Mit geschlossenen Augen neige ich meinen Kopf weiter in die Strahlen des Wassers hinein und halte die Luft an. Ich zähle langsam bis zehn, streiche mir danach die Haare zurück und greife nach dem Duschgel. Bevor ich es benutzen kann, höre ich, wie jemand meinen Namen ruft. Kain. Seine Stimme erkenne ich sofort. Sogar durch das Rauschen des Wassers hindurch.

„Robin?“, wiederholt er.

„Wenn ich Nein rufe, verschwindest du dann wieder?“, frage ich spielerisch, ohne wirklich zu wollen, dass er geht und höre bereits, wie sich die Tür schließt. Ich linse durch den schmalen Spalt zwischen Duschvorhang und Kabine und erkenne, wie Kain den Raum betritt.

„Du hättest es probieren sollen, so mit verstellter tiefer Stimme und schwedischen Akzent“, fantasiert er. „Allerdings hat mir Jeff bereits verraten, dass du hier bist.“ Seine Stimme ist bereits sehr nahe und er bleibt vor dem Vorhang stehen, sodass ich ohne weiteres seine beeindruckende Silhouette erkenne.

„Wird das jetzt eine Hitchcock-Szene?“, erkundige ich mich und summe eine Melodie, die mir spontan in den Sinn kommt. Kain lacht leise auf und es verursacht mir Gänsehaut. Ich habe definitiv ein Faible für sein Lachen, aber das werde ich unter keinen Umständen jemals preisgeben. Ich möchte nicht mal länger darüber nachdenken.

„Das ist der ´Weiße Hai´ und nein, die Szene kam mir nicht in den Sinn“, sagt er, „Ich bin eigentlich hier, um mich zu entschuldigen.“ Kain schiebt den Vorhang ein wenig zur Seite und ich halte ihn direkt davon ab, indem ich das Plastik unterhalb seiner Hand wieder zu drücke. Er sieht nur mein Gesicht und ich, wie er eine Augenbraue nach oben zieht und sich auf die Zehenspitzen stellt, um besser über den Vorhang zu schmulen. Also ob das bei seiner Größe nötig wäre.

„Und das kann nicht warten, bis ich mit dem Duschen fertig bin? Wofür willst du dich eigentlich entschuldigen?“, frage ich irritiert.

„Für Marvins bescheuerte Reaktion vorhin.“

„Geht mir am Arsch vorbei!“, wiegele ich prompt ab. Zu schnell und zu harsch, denn ich kann erkennen, wie nun die Irritation in Kains Blick schwimmt, wie ein betrunkener Goldfisch. „Seine Reaktion und nicht dein Entschuldigungsversuch“, berichtige ich schnell, „Du musst dich nicht für ihn entschuldigen, denn mir ist vollkommen egal, was er über mich denkt.“

„Mir aber nicht.“ Nichts Neues. Als Antwort blase ich meine Wangen auf und sehe ihn mit dicken Backen an. Kain presst seine Lippen aufeinander, um nicht laut loszulachen.

„Du weißt schon, dass er sich seine Meinung ohne mein Zutun gebildet hat.“ Die wenigen Male, die ich mit Marvin zusammengetroffen bin, waren meiner Ansicht nach von seinem Unwillen geprägt, nicht von meinem. Ich war die Nettigkeit in Person. Naja, im Robingrenzwert.

„Ich bin mir sicher, dass du das irgendwie korrigiert kriegst.“

„Sagst du mir auch wie? Denn wie du gemerkt hast, bin ich, was das angeht, etwas schwerfällig... noch dazu mittlerweile unwillig, denn ich begebe mich nicht weiter auf sein Niveau herab.“

„Oh, bitte... Du bist quasi Tiefseetaucher mit Leidenschaft“, schmettert er meine ausredenbehaftete Argumentation ab. Ich starte spontan einen neuen Versuch, die richtige Titelmelodie für den Augenblick zu finden und ernte ein schiefes Grinsen vom Schwarzhaarigen sowie ein Kopfschütteln, welches mir sagt, dass ich wieder daneben liege.

„Das ist Akte X. Aber sehr spannend, womit du meine Anwesenheit assoziierst“, kommentiert er und wirkt nur halb so beleidigt, wie er klingen will. Tatsächlich habe ich nur geraten und Kain weiß auch, dass mein Wissen rund um die Unterhaltungsmedien eher beschränkt ist. Soweit ich mich jedoch erinnere, gab es in Akte X auch eine durchaus hinnehmbare Liebesgeschichte. Mulder und seine Playboyhefte sorgten stets für ein Schmunzeln bei mir. Die Erinnerungen lassen meine Mundwinkel nach oben zucken, ehe ich die Aufmerksamkeit zurück auf Kain richte. Wahrscheinlich hat er es gesehen, denn er lehnt sich lässig an die Duschkabine, während das Wasser hinter mir die entstandene Spannung geräuschvoll untermalt.

„Wieso eigentlich ein schwedischer Akzent?“, frage ich, weil ich nicht auf seine Bemerkung antworten will. Kains Anwesenheit löst so einiges in mir aus, was ich nicht weiter ausführen möchte.

„Der hat etwas“, entgegnet er locker und zuckt mit den Schultern. Schwedisch? In welchem Universum?

„Ach ja?“ Aus mir spricht die pure Skepsis. Normalerweise favorisieren die Meisten den französischen Akzent. Die Sprache der Sexiness und der Leidenschaft. Nicht, dass ich das nachvollziehen könnte.

„Was soll ich sagen? Er ist rund und witzig... ja, doch, auch sexy“, erklärt er. Meine Skepsis bleibt. Dennoch bin ich für einen Moment überlegt, etwas Schwedisches zu sagen, doch die einzigen Dinge, die mir einfallen, verschönern die Wohnung und nicht das Sexleben. Verstörender finde ich jedoch, dass ich darüber nachdenke, für ihn sexy zu sein.

„Du bist komisch“, kommentiere ich, „Was wird das hier eigentlich?“

„Naja, mein eigentliches Anliegen ist erledigt, nun versuche ich die Chance abzuschätzen, ob ich es in deine Duschkabine schaffe.“

„In deinen Träumen.“

„Du meinst in deinen.“

„Wie anzüglich.“

„Ach, du stehst doch drauf.“ Kain grinst und pikst auf Verdacht gegen den Duschvorhang. Er trifft knapp meine rechte Brustwarze. Dennoch zucke ich auffällig zusammen. Kain macht keinerlei Anstalten, mich in Ruhe zu Ende duschen zu lassen, kommt aber auch nicht rein. Ich mache hinter meinem Rücken mit den Händen eine Schaufel, und spritze ihm die volle Ladung Wasser entgegen, die sich nach kurzem darin sammelt. Es erwischt ihn eiskalt. So viel zu den Reflexen eines Sportlers. Kain sieht mich bedröppelt an und zieht effektvoll die Stirn in Falten, während ich unwillkürlich beginne, Rihannas `Umbrella` zu summen. Ich grinse ihm frech entgegen, lecke mir fast schon neckend die Lippen und sehe ihn auffordernd an, bevor ich begreife, dass ich mir gerade selbst einen der schlimmsten Ohrwürmer aller Zeiten verpasst habe. `Ella Ella ey ey ey` Ehe Kain etwas Spitzbübisches erwidern kann, hören wir, wie die Tür aufschlägt und Stimmen zu uns dringen. Erst ist es nur ein heilloses Durcheinander, dann wird es deutlich und ich merke gleich darauf, wie sich die kalte Enttäuschung über mir ausbreitet, wie bei einem versehentlichen Betätigen des Temperaturreglers in die falsche Richtung. Das Wohnen in einem Sammelbecken von lauten, wuseligen Studenten lässt keinen Platz für Zweisamkeit und heute ist es mir besonders deutlich.
 

„Mann, Freddie, das ist sooo ekelhaft...“, ertönt es nun im Nebenraum und zerplatzt unsere erotisch angehauchte Blase mit einem lautstarken Ausdruck der Widerwertigkeit. Als Reaktion folgt ein grölendes Hyänenlachen, was von mehr als nur einer Person stammt. Idioten im Rudel sind die Schlimmsten.

„Alter, ich war besoffen und hungrig, was soll ich sagen? Shit Happens“ Wieder ertönt dieses eigenartige Lachen und ich kann mir redlich vorstellen, nach welchem Leitmotiv er lebt. Kain schaut in Richtung Eingang und dann zu mir. Er präsentiert mir ein schiefes Lächeln, welches erstaunlich offen mitteilt, dass er die Unterbrechung ebenfalls verteufelt und deutet mir an, dass er warten wird.

Ich wasche mir die Haare, während der Trupp Vollpfosten dummes Zeug labernd in den Duschbereich tritt. Kaum überraschend ist, dass Kain sie kennt und gleich darauf eine Diskussion über die letzten, eher mäßig erfolgreichen Spiele des unieigenen Rugbyteams losbricht. Ich höre nur halbherzig zu, rasiere mir schnell noch das Gesicht und schaffe es mich umzuziehen, ohne, dass mich die anderen bemerken. Ich tippe Kain auf die Schulter und trabe ohne abzuwarten Richtung Ausgang.
 

Vor der Tür zum Wohnheimzimmer bleibe ich stehen, weiß aber ohne mich umzudrehen, dass Kain mir bereits gefolgt ist. Ich streiche mir die feuchten Haare zurück und stoße schwer die Luft aus.

„Was vergessen?“, erkundigt er sich verwundert, lehnt sich vor, sodass seine Lippen fast mein Ohr berühren, als er spricht. Jede Faser meines Körpers reagiert darauf. Gänsehaut überzieht meinen Nacken, watschelt langsam meine Arme hinab und hüpft quakend zu meinen Knien. Ich schüttele den Kopf und weiß selbst nicht hundertprozentig, warum ich stehen geblieben bin. Vielleicht weil ich weiß, dass, sobald wir dir Tür öffnen, auch das kleinste bisschen Zweisamkeit davon watschelt.

„Ein Penny für deine Gedanken“, flüstert der Schwarzhaarige. Wieder bebt meine Haut, blüht und prickelt. Es bringt mich durcheinander. Ich drehe mich abrupt zur Seite und er weicht nicht zurück. Mein Blick haftet sich an seine Lippen. Doch statt weiter vor, lehne ich mich zurück an die Wand. Es verringert den Abstand zwischen uns nur geringfügig. Als ich aufsehe, blicke ich direkt in das warme, vertraute Braun des anderen Mannes. Kain hat ein kleines Handtuch auf dem Kopf liegen und sieht mich fragend an.

„Jeff ist da drin“, spreche ich das aus, was in meinem Hinterstübchen schwelt und im Grunde keine nutzbringende oder unerwartete Information ist.

„Und? Habt ihr euch gezofft?“ Er hat mir eine nasse Socke an den Kopf geworfen, mein Shirt rosa gefärbt und mich zu einem absurden Vogel gemacht.

„Er ist Jeff, reicht das als Erklärung?“ Mehr sage ich nicht. Flamingo und Zuckerwatte, am Arsch.

„Wir können auch zu mir gehen“, schlägt Kain vor und lässt das Handtuch sinken, mit dem er sich die Haare trocken gerubbelt hat.

„Und laufen stattdessen Abel in die Arme, nein danke.“ Wie Pest und Cholera zusammen. Mein heutiges Aufeinandertreffen mit dem blonden Dödel reicht mir für die kommenden zehn Jahre. Der Schwarzhaarige legt seine Stirn auf meiner Schulter ab und schnauft geräuschvoll. Danach lacht er leise auf und richtet sich wieder auf. Ich sehe ihn direkt an. Einige wilde Strähnen stehen in alle Richtungen von Kains Kopf ab und ehe ich mich versehe, habe ich meine Hand nach ihm ausgestreckt und streiche ein paar davon mit den Fingern glatt. Als ich es bemerke, vergesse ich zu atmen, ziehe die Hand aber nicht weg. Stattdessen schaue ich zur Seite und sehe, wie Sina auf uns zukommt. Nun lasse ich meine Hand sinken. Kain folgt meinem Blick. Ein leiser Seufzer flieht über seine Lippen, den nur ich höre und bei dem ich unwillkürlich grinse. Es beruhigt mich zu wissen, dass er von ihr ebenso genervt ist, wie ich. Trotzdem meldet sich ein flaues Gefühl, immer dann, wenn ich die beiden zusammen sehe.

„Sina...“, entflieht Kain ihr Name, langgezogen und mit Nachdruck, bevor sie uns begrüßen kann. Ich kann mich nicht konzentrieren, während sie auf uns zukommt, weil die Jacke, die sie trägt, funkelt wie eine Diskokugel. Sie sieht aus, als wäre sie in Alufolie gehüllt. Schimpft man sowas wirklich Mode? Ich werde es nie verstehen und will es gar nicht. Ich lasse meine Gedanken wandern, während ich sie ungeniert von oben bis unten mustere. Nun lässt sich auch Kain seitlich gegen die Wand kippen und lehnt sich dichter an mich heran.

„Kain“, erwidert sie amüsiert, wirft ihm diesen wissenden, koketten Blick zu und sieht dann zu mir. Ihr Lächeln ist wie immer flirtend.

„Wir haben alle Namen, vortrefflich, braucht ihr mich wirklich für diese Konversation?“, grätsche ich vorsichtshalber dazwischen, um zu verhindern, dass ich auch den letzten Rest Geduld für den Tag verliere. Es ist nicht mehr viel übrig und mein Sarkasmuslevel steigt und steigt.

„Du willst nur nicht deinen eigenen Namen sagen.“, kontert Kain grinsend in meine Richtung. Sina lacht.

„Wisst ihr, ihr ward auch schon mal vorsichtiger... obwohl... nein, eigentlich stimmt das nicht, ihr seid wie zwei Pfauen beim Balztanz." Was haben nur alle mit Vögeln?

„Sagt die, die aussieht, wie ein Papagei auf Ecstasy“, sage ich spöttisch und verweise auf ihre in allen Farbnuancen schillernde Alienjacke. Ich lag mit Akte X gar nicht so falsch. Sie sind eindeutig unter uns.

„Futuristischer Chic und Teil eines Projekts. Mode versteht nun mal nicht jeder, also versuch es gar nicht erst.“ Hatte ich auch nicht vor.

„Wo hast du deinen brünetten Schatten gelassen... und wer von euch beiden hat eigentlich in solchen Momenten Zugriff auf die Gehirnzelle, die ihr euch teilt?“, frage ich. Vielleicht funktionieren die beiden mit Bluetooth? Für gewöhnlich kleben Sina und Kati förmlich zusammen oder sind zu mindestens nur wenige Gegacker voneinander entfernt. Sina schüttelt ihre Locken und die seltsame Jacke knistert. Doch Alufolie, ich wusste es.

„Fällst du mit einem Ständer einfach um?“ Touché. Der Mann und sein bester Freund. Kain lacht. Ich schmunzele. „Kati plant ein Austauschsemester im kommenden Jahr und nun dreht sie voll am Rad, weil sie denkt, dass sie bis dahin nicht alles schafft.“ Sinas puppenhaftes Gesicht wirkt ungewöhnlich leidvoll und für einen kleinen Moment ist echter Kummer darin zu erkennen.

„Und das durchkreuzt dein lotterhaftes Partysemester?“, spekuliert Kain.

„Das wievielte dieser Art von Semester ist es wohl?“, frage ich direkt hinterher und sehe zu dem Schwarzhaarigen, der prompt grinst.

„Sina, in welchem Semester bist du?“ Wieder Kain. Meine Mundwinkel zucken verräterisch nach oben, als der fein stichelnde Tonfall perfekt mit der ruhigen und fast ernsten Mimik seines Gesichts harmoniert.

„Oh, ihr seid ja so gemein... “, gibt sie ausdruckslos retour, „Seit ihr jetzt durch mit eurem primitiven Schwachsinn? Ich dachte, dass man wenigstens mit euch beiden eine halbwegs vernünftige Unterhaltung führen kann.“ Trotz des guten Schlagabtausches wirkt die Blondine ungewöhnlich getroffen. Sie verdreht die gut getuschten blauen Augen und lässt die Schultern hängen. Vernünftige Unterhaltung? Dass ich nicht lache. Ich habe keine Ahnung, wie sie darauf kommt, dass sie das mit uns tun sollte.

„Alle gleich. Viel Spaß noch“, murrt sie und knistert davon. Wir sehen ihr beide perplex hinterher.

„Da herrscht wohl Ärger im Glitzerparadies. Vielleicht hätten wir netter sein sollen?“, bemerkt Kain und schaut in den leeren Flur.

„Sie hat doch angefangen.“

„Aber sie schien wirklich bedrückt.“ Da spricht deutlich sein Samariter-Gen.

„Sie wird’s überleben, glaub mir. Sina wirft nichts um, nicht mal eine halbnackte Abfuhr“, werfe ich ein und stoße mich von der Wand ab.

„Halbnackt? Ist das so?“ Kains Tonfall ist eigenartig und macht mir schlagartig klar, wie missverständlich und verräterisch meine Aussage gewesen ist.

„Ich gab ihr schon öfter eine Abfuhr... in so ziemlich jeden Wohnheim typischen Bekleidungszustand, den es gibt. Du warst auch dabei“, erkläre ich hastig. Der Zwischenteil kommt mir weniger flüssig über die Lippen als gewünscht. Dennoch ist es nicht ausgedacht, sondern die pure Wahrheit, denn die beiden Freundinnen sind mir in den Fluren auch schon in Unterwäsche entgegen gekommen. Im Sommer gab es den Moment in der Teeküche, bei dem Sina mich in winzigen Shorts vor Kain angemacht hat. Unwillkürlich denke ich an Sinas Vorschlag, mit mir und Kain einen Dreier zu haben. Scheinbar ist es mir im Gesicht abzulesen, denn Kains Augenbraue wandert nach oben und ich fühle mich gerade irgendwie unwohl. „Mehrmals.“

„Ihr Angebot steht sicher noch“, lässt er ruhig fallen und sucht meinen Blick, „Naja, sie hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie auf dich steht und ...“

„Und ich nicht daraus, dass sie mich nicht interessiert“, blocke ich direkt ab.

„Wenn du das sagst“, erwidert Kain und hebt abwehrend die Hände in die Luft. Dann stampft er direkt zur Tür. Ich ergebe mich der Vorstellung eines weiteren Abends zu dritt mit einem überaus bedürftigen Mitbewohner, der es ohne weiteres schafft, Kains gesamte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihm sei es gegönnt, denn er gibt ihm definitiv bessere Ratschläge, als ich es je könnte. Obwohl der egoistische Gedanken in mir schwelt, dass ich lieber mit Kain allein wäre, sage ich nichts.

Gegen Mitternacht huscht Kain in sein eigenes Wohnheim zurück und schreibt mir am Montagmorgen aus dem Zug heraus, während ich zu meiner ersten Vorlesung trabe wie ein braves Monchichi. Kain nicht zwischendurch zusehen, fühlt sich auch in dieser Woche seltsam an und mir wird von Neuem klar, wie präsent er die ganze Zeit gewesen ist. Wir waren im Sommer fast jeden Tag zusammen in der Mensa oder liefen uns in den Fluren über den Weg. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte und wir nicht mal denselben Studiengang teilen. Jetzt vermisse ich es fast schon.
 

Am Mittwoch bin ich wie so oft als erstes am Café di Santos und stelle mit leichtem Unmut fest, dass von der kleinen Italienerin nichts zu sehen ist, was meine Laune ein wenig mindert. Ich genieße die kleinen Schlagabtausche zwischen uns. Auch ihren Vater sehe ich nirgendwo, was wiederum eine Erleichterung ist. Die letzte Nachricht von Brigitta weist mich daraufhin, dass sie sich um fünf Minuten verspätet, also bestelle ich mir einen Tee und ihr den altbewerten Zuckerschock mit extra Karamellkleber für die Arterien. Ich balanciere beides gekonnt zu einem den leeren Tisch und klaue den einzeln verpackten Keks, der auf Brigittas Tellerrand liegt. Gerade, als ich mir diesen in den Mund stecken, höre ich das vertraute Klackern von hochhackigen Schuhen und sehe, wie meine vielbeschäftigte Lektorin durch das Café stürmt. Der Keks ist so schnell in meinem Mund verschwunden, dass er niemals existiert hat.

„Hey Vanillekipferlchen, bist du auch schon in Vorweihnachtsstimmung?“ Im November? Niemals. Brigitta formt mit ihren Händen Fäuste und lässt ihren Körper zu einer nicht vorhanden Musik wackeln. Irgendwo ertönen Glöckchen. Oder bilde ich es mir nur ein? Verwundert streiche ich mir mit der Zunge weiche Kekskrümel von den Zähnen.

„Ich bin nie in Weihnachtsstimmung...“, kommentiere ich die Beobachtungen, die wenig dazu beitragen, dass es sich ändert. Sie legt ihre Jacke ab und lässt sich schwungvoll auf den freien Platz nieder. Ich bin fast erstaunt, dass sie nicht schon jetzt einen ihrer hässlichen Weihnachtspullover trägt. Letztes Jahr hatte sie so viele verschiedene an, dass ich irgendwann den Überblick verlor, welcher der Hässlichste ist.

„Ich vergaß, du bist ein Grinch.“

„Falsch. Ich bin lediglich vom immer gleichen Prozedere genervt und es stresst mich jedes Jahr aufs Neue, annehmbare Geschenk finden zu müssen“, erkläre ich meine fehlende Sympathie gegenüber Weihnachten. Es ist wirklich nicht das Grundprinzip, welches ich ablehne. Ich bin sogar ein Fan von einigen unserer familiären Traditionen. Auch, wenn mir das sicher niemand glaubt. Zum Beispiel spielen wir am Heiligabend Spiele, um zu bestimmen, wer als nächstes ein Geschenk auspacken darf. Wir würfeln jedes Jahr aus, wer für den jeweiligen Gang unseres Weihnachtsessen zuständig ist und ich habe dieses Jahr die Vorspeise erwischt. Wir backen stets zusammen Plätzchen und seit Lena alt genug und nicht mehr darauf erpicht ist, für jedes Plätzchen, was sie aussticht, eine neue Ausstechform zu benutzen, macht es auch wieder Spaß. Die Geduld, diesen sturen Kinderwahnsinn auszuhalten, haben wirklich nur Mütter. Meine Rache war damals Zuckerguss in den Haaren ihres vierjährigen Ichs. Mit dem Ergebnis, dass sie glaubte, dass man ihr die Haare nun abschneiden muss, weil man sie sonst nie wieder auseinander bekäme. Die Heulerei war gigantisch, ebenso wie meine Standpauke. Auch als nach dem Duschen alles wieder gut war, musste ich den ganzen restlichen Tag damit verbringen, das zu tun, was sie wollte. Seither bekomme ich bei dem Spiel Uno Panikattacken.

„Ich hätte fast gedacht, du schiebst den Kommerz vor“, kommentiert Brigitta lachend und zieht sich den Kalorienberg heran, den ich ihr mitbestellt habe. Sie greift nach dem langen Eislöffel, stupst nur die Spitze in einen der Karamellstreifen und leckte ihn ab. „Ich finde ja, dass Geschenke machen das Schönste daran ist.“

„Wenn man weiß, wie man Menschen beschenkt... sicher.“

„Ach bitte, das ist doch eher so ein klassisches Männerproblem, oder?“

„Komm mir jetzt nicht mit `Man müsse nur zuhören`“, mime ich mit verstellter Stimme, „Glaub mir, das habe ich versucht, aber mir fehlen dafür eindeutig die richtigen Filter. Mein Mitbewohner zum Beispiel weiß, was er mir oder meiner Schwester schenken kann, bevor wir es selbst wissen. Selbst bei meiner Mutter hat er stets eine zutreffende Ahnung.“ Was ebenso praktisch, wie gruselig ist.

„Dein Mitbewohner kennt deine Familie?“, fragt Brigitta mit hochgezogener Augenbraue, die nun akkurat den oberen Teil ihrer Brille rahmt.

„Ja, wenn man aus demselben Kaff kommt und zusammen zur Schule gegangen ist, liegt das leider im Bereich des Möglichen.“

„Ist das so? Das hast du nie erzählt.“

„Ist es denn relevant?“, erwidere ich und trinke einen Schluck des Tees, der mittlerweile eine annehmbare Mundtemperatur hat. Er schmeckt nach Apfel mit einem Hauch Holunderblüte. Eigentlich ist es ein Tee für den Sommer, aber mit den Teesorten für diese und der kommenden Jahreszeit konnte ich mich nie wirklich anfreunden. Jeder Wintertee schmeckt nach Zimt und Sternanis. Beides gehört nicht zu meinen Lieblingsgewürzen und es reicht mir, dass ich zur Weihnachtszeit durchgehend von den Gerüchen umgeben bin, da muss ich sie nicht noch zu mir nehmen.

„Ist es nicht, aber es ist schön zu wissen. Es passiert eher selten, dass du freiwillig etwas von dir preisgibst“, schwatzt sie und klingt dabei weder vorwurfsvoll, noch verarschend. Sie meint es ehrlich und lächelt mir kurz entgegen, bevor sie mit dem Löffel endlich auch etwas Sahne davon gräbt.

„Ich hole mir doch noch ein Eis“, sage ich ausweichend und stehe auf.

„Ah, warte, das geht auf mich.“ Brigitta greift in ihre Tasche und holt einen 10er hervor, den sie mir in die Hand drückt. Da Diskussionen überflüssig sind, nicke ich und trabe zum Tresen. Die Aushilfe lächelt mir entgegen und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie schon mal hier gesehen habe oder nicht. Ich entscheide mich für eine schlichte Waffel mit zwei Kugeln Stracciatella und kriege von Ihr ein kleines Schirmchen obendrauf. Sie lächelt immer noch, während ich ihr den Geldschein reiche. Erst, als ich wieder am Platz bin, mache ich mich über das Stracciatella-Eis her, genieße, wie der Sahnegeschmack über meine Zunge tanzt und wie die Schokoladensplitter punktuell schmelzen. Die feine Süße gepaart mit der herben Schokoladennote ist fantastisch und schenkt mir genügend Maß an Erdung, sodass ich mich wieder ganz meiner Lektorin widmen kann. Brigitta beobachtet mich mit hochgezogener Augenbraue.

„Was?“, frage ich und gönne mir unbeirrt einen nächsten Happen Eis.

„Wir haben endlich eine wirklich gute Location für die Convention und können nun mit Teilnehmerplätzen arbeiten und das Marketing starten. Ich würde dich ja darum bitten, uns dabei zu unterstützen, aber du weigerst dich ja vehement, Social-Media-Accounts zu eröffnen.“ Schon bei dem Wort Marketing schlägt mein Blut kleine Bläschen und mein Puls macht ungehindert Loopings. Brigitta ist kaum zu stoppen und berichtet mir nahtlos von allen Neuerungen, die sich in den letzten Wochen ergeben haben. Viele Autoren sind dabei und die Meisten mit ebensolchen Elan, wie sie selbst. Sie hat schon etliche Slogans parat und ist voller Eifer.

„Wir möchten natürlich gleichzeitig ein gutes Erlebnis für Damen und Herren bieten. Für Leser*in und auch für die Begleitungen.“ Schon wieder klingt sie wie ein Werbeprospekt.

„Du meinst für die enthusiastische Leserinnen und ihren hinterherdackelnden Taschenträger mit Geldautomatenfunktion“, schiebe ich ein und grinse.

„Bitte unterschätze unsere männliche Leserschaft nicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass da draußen perfekte und gebildete Büchermänner herum laufen und sie sind eigentlich weich und süß, wie Marshmallows“, tadelt sie mich mit strengen Lehrerinnenblick und wechselt ohne weiteres in Zuckerwattegesäusel. Wer will denn einen Marshmallow daten?

„Klar, aber natürlich im atemberaubenden Bad Boy-Kostüm, weil sonst wäre es ja nicht perfekt perfekt“, erwidere ich trocken, „Mal ganz im Ernst, was will man mit so einem? Entweder wird man ununterbrochen enttäuscht oder im Nachgang, wenn man merkt, dass die Spannung nach den ersten Malen und einkehrender Normalität flöten geht.“

„Viele Menschen werden zur Enttäuschung, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, den richtigen Deckel zu finden.“ Mit ihrer Aussage fühle ich mich nur mehr wie emotionaler Ballast auf zwei Beinen.

„Und was ist, wenn du eigentlich einen Topf finden musst?“

„Dann finde ich auch diesen.“ Ihr Vertrauen in die Liebe ist unendlich und in gewisser Weise bewundere ich sie dafür. Auch wenn ich sie gleichzeitig als völlig verrückt bezeichnen würde.

„Es ist mir ein Rätsel. Du kommst doch auch ohne klar“, sage ich skeptisch.

„Ach Sahnetrüffelchen, man kann eine eigenständige und selbstdenkende Frau sein und trotzdem nach einem Traumprinzen Ausschau halten, der einem zusätzlich die Welt zu Füßen legt. Das ist kein Widerspruch.“ Brigitta sieht mich mit hinter Brillengläsern liegenden forschen Augen an.

„Aber ein wandelndes Klischee“, schmettere ich zurück.

„Mit dir über solche Dinge zu diskutieren, ist wie Sellerie zu essen.“

„Also, vollkommen überschätzt?“

„Nein, nötig, aber ätzend. Allerdings habe ich das Gefühl, dass du seit neusten weniger festgefahren bist und das finde ich äußerst angenehm. Also im Grunde wie Sellerie mit Frischkäse-Parmesan-Dip und einer Prise Cayennepfeffer.“

„Du machst mich fertig! Cayennepfeffer? Wo kommt denn das her?“ Ich sehe meiner scheinbar aufs Gemüse gekommenen Lektorin argwöhnisch entgegen. Sie kichert unbedarft.

„Es gibt da diese neue tolle Kochsendung, die ich jetzt immer gucke und die beiden Schnuckelchen, die da kochen, sind wirklich herzerfrischend. Ah, da fällt mir noch etwas ein.“ Sie greift in ihre Tasche und holt ein kleines, feinsäuberlich verpacktes Kästchen hervor. Sie stellt es auf dem Tisch ab und schiebt es mit zwei Fingern neben meine Teetasse. Ich sehe ihr dabei zu und starre das hübsch verpackte Quadrat schweigend an.

„Ich hab es gesehen und sofort an dich gedacht“, kommentiert Brigitta von meiner zurückhaltenden Reaktion unbeeindruckt. Ich konnte damals bei der Vertragsunterzeichnung nicht verhindern, dass sie meinen Personalausweis in die Finger bekam und so ist sie eine der Wenigen, die das genaue Datum meines Geburtstags kennt. Sie weiß allerdings auch, dass ich wenig davon halte, ihn in irgendeiner Form zu zelebrieren.

„Mach nicht dieses Gesicht“, sagt sie und malt mit ihrem feinsäuberlich manikürten Zeigefinger imaginäre Kreise in die Luft und um meinen Kopf herum.

„Mein normales, meinst du?“, kontere ich mit reichlich Unverständnis.

„Es ist nur etwas Kleines und es wird dich nicht beißen. Also los, mach es schon auf!“, fordert sie und nimmt einen großen Schluck ihrer mittlerweile kalten Kalorienbombe. Jedes weitere Wort ist zwecklos. Ich löse die Schleife, nehme den Deckel ab und greife hinein. Es ist ein silberfarbener Schlüsselanhänger, der die chemische Strukturformel von Serotonin zeigt.

„Ich habe vergessen, was es war und was es bedeutet... aber du erkennst das sicher!“ Meine Lektorin leckt sich genüsslich einen kleinen Rest Sahne mit Karamell von den Lippen und Finger und lehnt sich danach lächelnd zurück. Durch die Brillengläser hindurch erkenne ich ihren intensiven Blick und ich bin mir sicher, dass sie noch etwas fragen möchte, doch dann zieht sie ein Taschentuch hervor und tupft sich den Mund ab. Es ist sogar Lippenstift übrig.

„Schick mir in den nächsten Tagen ein paar der Entwürfe, von denen du letztens gesprochen hast und ich werde schauen, was ich machen kann, okay?“, sagt Brigitta, während ich ein weiteres Mal mit dem Daumen über die glatten Strukturen der chemischen Formel streiche. Ich nicke lediglich.

„Ach noch etwas.“ Wieder macht sie kehrt, wedelt mit ihrer Hand und lässt die schwere Tasche zurück auf den Stuhl fallen. „Wusstest du, dass Kara hier in der Stadt lebt?“

„Wer ist Kara?“

„Kara Wang? Hübsche Asiatin mit dem Hang zum selbstverliebten Bad Boy, die mit dir um die ersten Ränge im Verlag buhlt?“ Bad Boys. Oh ja, die bösen Jungs, die weich wie Kartoffelbrei sind, wenn sie auf das richtige Nerd-Girl treffen und immer nur falsch verstanden werden. Ich erinnere mich nur ungern. Wobei Karas Bücher wenigstens gut geschrieben sind.

„Ach sie. Ja, und?“, erwidere ich unaufgeregt. Natürlich weiß ich, von wem sie spricht. Ich hab es nur nicht so mit Namen. Dass ich ihr erst vor kurzem auf der Party begegnet bin, erwähne ich nicht.

„Sie hat zwar eine Wohnung hier, aber lebt mittlerweile überwiegend bei ihrem Partner. Dementsprechend ist jetzt ihre hübsche Dachwohnung, mit 2 ½ Zimmer, kleiner Einbauküche in ruhiger Wohngegend vakant. Der Ausblick ist zauberhaft und sie liegt in Campusnähe.“ Perfekt auswendig gelernt. Ich starre meine Lektorin unbeeindruckt an, denn die halbe Stadt ist de facto Campus. Hier wäre `Campusfern` das eigentliche Kaufargument. Studenten sind wilde Tiere und in ihrer Nähe zu wohnen, bedeutet schlaflose Nächte zu haben und nach kürzester Zeit nicht mehr zu wissen, wie man Ruhe buchstabiert. Denn sie ist quasi inexistent. Es sei denn, man ist sozial veranlagt und lässt sich durch nichts stören.

„Und wieso erzählst du mir das?“, frage ich nach.

„Weil sie mich gefragt hat, ob ich jemanden kenne, der eventuell in der Stadt eine Wohnung sucht... und da bist du mir eingefallen.“

„Wenn damit jetzt keine Erhöhung der Tantiemen einhergeht, dann bist du bei mir an der falschen Adresse. Denn ich kann lediglich ein billiges, lautes Wohnheimzimmer bewohnen, was mich hinreichend zufrieden stellt... Aber ebenso in Campusnähe ist“, erwidere ich mit einem offensichtlich falschen Lächeln. Brigitta seufzt ergeben und greift erneut nach ihrer überfüllten Tasche. Noch dazu weiß ich nicht, wieso ich mir aktuell eine eigene Wohnung an die Backen binden sollte. Ich bin der Esel der Genügsamkeit.

„Du bist ein unfassbarer Nörgelbagel, weißt du das?“

„Und es ist ganz leicht für mich...“, entgegne ich schlicht. Nörgelbagel? Brigitta und ihre hinkenden Essensvergleiche. Jemals einen Bagel nörgeln sehen? Ich nicht.

„Schon klar. Denk einfach drüber nach, vielleicht fällt dir ja doch jemand ein, der Interesse haben könnte“, erklärt sie ihre Intention erneut und rundet es mit einem Zwinkern ab. Es wirkt fast wie ein nervöses Zucken und ich schiebe es auf den übermäßigen Verzehr von Zucker. Danach sehe ich dabei zu, wie sie auf ihren hochhackigen Tretern davonfegt und frage mich nicht zum ersten Mal, wie sie es damit schafft, so ein Tempo aufzunehmen. Ich bleibe noch einen Moment länger sitzen und komme nicht umher, erneut den Schlüsselanhänger zu betrachten, der noch immer in meiner Handfläche ruht. Eigentlich ist er ganz hübsch. Er ist nicht aus glänzenden Metall, sondern leicht mattiert. Die Unterseite fühlt sich rau und hubbelig an. Ich streiche gedankenverloren ein paar Mal mit den Fingerbeeren darüber. Ich mag die hübschen Hexagone. Chemische Strukturformeln haben für mich schon immer etwas Zauberhaftes, nicht umsonst habe ich mir einen Studiengang gesucht, der auch Chemiebestandteile hat. Chemie ist etwas Klares, Strukturiertes. Eindeutiges. Es hat mir immer eine gewisse Erdung geschenkt. Eine Form der Sicherheit. Nun ist es mein Daumen, der einmal über die metallische Darstellung des Glückshormons streicht.
 

Auf dem Rückweg zum Wohnheim trudeln ein paar Nachrichten von Jeff ein. Nur zwei davon liefern nützliche Informationen. Der Rest ist schuldbewusstes Gejammer, welches mir schon beim Lesen die Ohren bluten lässt. Mein Schlafshirt bleibt auch nach mehrmaligen Waschen flamingofarbend. Jeff ist untröstlich und ich bin mehr als sicher, dass sich seine Anstrengungen in Grenzen gehalten haben. Vor allem, weil er seine ´Es tut mir leid´- Nachrichten mit Flamingo-Emojis spickt.

Ich besorge noch ein leichtes Abendbrot und weiche geschickt ein paar Kommilitonen aus, die sich im Foodstore tummeln, wie hungrige Piranhas im Amazonas. Darunter ist auch ein Pärchen. Sie studiert wie Marie und Shari Biologie. Bei ihm weiß ich es nicht. An der Kasse komme ich nicht umher, sie einen Moment lang zu beobachten. Sie halten Händchen. Sie flirten mit ihren Blicken. Manchmal subtil. Gelegentlich auffällig. Kain macht das auch hin und wieder. Ich kriege es oft nur nicht mit und bin nicht immer Adressat. Ich wüsste auch nicht, wie ich es erwidern soll, ohne mich lächerlich zu machen. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Das war auch noch nie mein Ding. Ich fühle mich fast unwohl dabei, sie anzusehen. Doch man sieht deutlich, dass sie ihren Spaß haben und kein einziges Mal lässt er ihre Hand los.

„Entschuldigung?“, ertönt es neben mir und ich löse meinen starren Blick. Peinlich. Der Kassierer schaut mich auffordernd an. „Das macht 16,30 €.“

„Oh. Ja.“ Ich zeige ihm meine Geldkarte und bezahle gerade, als sich mein Handy regt. Ich ziehe es hervor und lese noch an der ersten Zeile des Textes, dass derweil bereits die nächste Nachricht folgt. Sie sind von Kain. Ich lächele unweigerlich und starte diesmal keinen Versuch, es zu unterdrücken. Kain ist euphorisch, was die Fülle an strahlender Emojis am Ende und am Anfang seiner Nachrichten unterstreicht. Nach Weihnachten planen sie mit einer Studie zu beginnen und er hat es geschafft, den Chef davon zu überzeugen, diese im hiesigen Universitätsklinikum anzusiedeln. Vielleicht ist er dadurch wieder öfter auf dem Campus. Der Gedanke gefällt mir. Er gefällt mir sehr gut und ich hege keine Ambitionen, es schlecht zu reden. Manchmal muss man sich dem Schicksal einfach ergeben und meins bedeutet gerade, dass ich dümmlich grinsend an der Kasse stehe und mich von dem Kommilitonen meiner Wahl volltexten lasse. Ich finde sogar Gefallen daran, denn es beruhigt mich zu hören, wie sein Tag war und was er getrieben hat. Ich schreibe ihm zurück, als die Flut an Nachrichten abflaut und ich mit den Einkäufen vor dem Laden stehe. Zwei kurze Nachrichten tippe ich, dann klingelt mein Telefon. Als ich rangehe, berichtet Kain mir alles noch mal in wortgewandten Farben und lautmalerischen Emojicons. So, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich auf seine Nachrichten reagiere.

Vielleicht wird es doch keine gänzliche Katastrophe. Sondern nur ein mittelschweres Desaster. Ich bin lernfähig. Hin und wieder jedenfalls. Ich kann es versuchen. Egal, was es ist. Ich kann das. Irgendwie. Die schwelenden Unsicherheiten reduziert es leider nicht und auch nicht die vielen Fragen, die in meinem Kopf auftauchen, wie Seifenblasen. Ich muss nur genau wissen, was Kain von mir erwartet, dann kann ich das. Wir müssen nur miteinander reden, dann werden wir es schon hinkriegen. Ja. Ganz sicher. Vielleicht sollte ich es auch einfach so laufen lassen und sehen, wohin es führt.

Kein Sex unter dieser Nummer

Kapitel 6 Kein Sex unter dieser Nummer
 

Natürlich komme ich nicht dazu, mit Kain zu reden, und habe bei den wenigen Momenten, die wir miteinander verbringen können, kaum Ambitionen, diese durch Schwermut zu verwässern. In der Konsequenz lasse ich es schwelen und ertappe mich hin und wieder dabei, dass es mich nachts durch die Laken wälze, obwohl der Schwarzhaarige nicht involviert ist. Die letzten Herbstwochen fliegen vorbei und der Unikrake verschlingt mich mit all seinen Tentakeln. Hausaufgaben. Referate. Ich sitze eine Woche ohne Unterbrechung in der Bibliothek, weil ich befürchte, dass sich das benötigte Buch in Luft auflöst, wenn ich es aus den Augen lasse. 10 Exemplare auf 25 Studenten pro Seminar nenne ich schlechte Planung.

Irgendwann gibt es keine Möglichkeit, dem Weihnachtswahnsinn zu entkommen. Selbst einer meiner Dozenten fügt bei jeder seiner Mails einen pseudoweihnachtlichen Spruch ein und begrüßt die Studentenschaft mit HoHoHo. Was läuft nur falsch in dieser Welt? Und was spricht gegen ein schlichtes Hallo und ´Hey du´ das gesamte Jahr über? Als ob Pfefferkuchen und Stolle im September nicht schon bedauerlich genug wären, blinken in fast jedem Fenster bunte Lichter in die Nacht hinein. Einige davon mit psychodelischen Epilepsieeffekten. Der Tag- und Nachtrhythmus der Menschen und Tiere wird vollkommen durcheinandergebracht und wir wundern uns, wenn die Gesellschaft immer fahrlässiger wird. Doch dieses Jahr zergehe ich nur halb so arg ins Zetern, als in den vorigen. Warum? Kain. Er ist Ablenkung schlechthin. Nicht nur im sexuellen Sinne. Seit unserem absurden Zahnpasta-Tête-à-Tête ist, abgesehen von zunehmenden Nachrichten, kleineren Telefonaten am Abend und Kains Versuchen, der Rothaarigen bewusst aus dem Weg zu gehen, wenn ich dabei bin, alles wie vorher. Die Betonung liegt darauf, dass Kain es versucht, das Biest hingegen nicht. Ihre Blicke werden mir gegenüber bei jedem Aufeinandertreffen giftiger und mein Wunsch, sie zu diffamieren, steigt exponentiell an. Eine Spirale, die zwangsweise irgendwann zur Explosion führt und dann nehmen wir die gesamte, verrückte Welt mit. Würde ich mich nicht draußen auf einem öffentlichen Ort befinden, würde ich laut und hämisch lachen. Leider haben wir in diesem Semester eine Vorlesung, mit dem nachfolgenden Seminar zusammen und wir schaffen es nicht, genug Plätze zwischen uns bringen, um nicht aneinanderzugeraten. Doch die doofe Kuh ist mein geringstes Problem. Kain und das, was wir da miteinander haben, ist das Größere. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Da wir uns kaum sehen, kann es nicht anders sein und im Grunde kommt mir der Status quo sehr entgegen. Noch dazu hat die Gewissheit, dass ich mich nicht in eine kitschige Romanfigur verwandeln muss, durchaus etwas Beruhigendes.

Ich streiche mir die verschwitzten Haare aus dem Gesicht, greife ein letztes Mal den Basketball und lasse ihn geschickt im Korb verschwinden. Seit einiger Zeit bin ich wieder regelmäßig auf dem Basketballplatz und versuche meinen irrläufigen Gedanken in Linie zu bringen. Sport hilft. Mal ist es zufriedenstellend, dann hat es den umgekehrten Effekt. Deshalb liege ich meistens mit meinem Kissen raufend auf dem Bett und seufze vor mich hin, bis Jeff einschlägt wie die ablenkende Chaosbombe, die er ist.

Ich sammele den Ball ein und mache mich auf den Rückweg zum Wohnheim. Kain hat sich nicht gemeldet. Trotzdem hole ich mein Handy hervor und starre auf den Chatverlauf, der heute Morgen mit ein paar lapidaren Phrasen aufhörte. Es macht mich wahnsinnig. Einerseits will nicht unter dem ständigen Druck stehen, mich melden zu müssen, und ich will ebenfalls nicht, dass Kain mir ununterbrochen schreibt. Aber andererseits kann ich den Gedanken an ihn nicht fallen lassen, wenn er es nicht tut. Es ist verrückt und ich kann es nicht leiden. Es ist schon der vierte Nachmittag hintereinander, an dem mein Basketball und ich beste Freunde mimen und uns trotz des schlechter werdenden Wetters bis zum Vergessen ertüchtigen.
 

Der Name meiner Schwester erscheint auf dem Handydisplay, während ich mich wegen Unkonzentriertheit schon zwei Mal beim Eintippen des Pins vertan habe.

„Nervenheilanstalt Freud’scher Wahnsinn. Wir heilen mit Weilen“, begrüße ich. Lena mit übertrieben freundlichen und ruhigen Tonfall.

„Hast du zufällig das Rezept für die tollen Schokokekse zur Hand? Ich meine die, die wie Himmelswolken schmecken und auf der Zunge schmelzen?“, schmettert sie wie ein Blasorchester drauflos, ohne auf meine durchaus gelungene Begrüßungsfloskel zu reagieren. Ich möchte schmollen, bin nur nicht der Typ dafür. Interessanterweise wird der Klang ihrer Stimme bei jedem ihrer Worte verträumter und sie rundet den Satz mit einem deutlichen Schmatzen ab, sodass ich vergesse, mich zu grämen. Wie lautmalerisch.

„Ich hätte spontan eine Isolierzelle für dich. Mit genügend Fantasie sehr wolkig.“

„Oh, du bist wahrlich der Scherzkeks unter den Plunderstücken“, erwidert sie staubtrocken, „Und nun wieder zu den ernsten Dingen. Hast du das Rezept oder nicht? Ich möchte sie für den Weihnachtsbasar morgen in der Schule backen und kann es nicht finden.“ Hat sie mich gerade als gerollten Hefeteig bezeichnet?

„Steht es nicht in Mamas Backbuch?“, frage ich, nachdem ich meine aufkommende Echauffiertheit abschmettere.

„Steht es nicht“, verneint sie so theatralisch, als hätte sie ein halbes Jahrhundert damit verbracht, es darin zu suchen. Ich werde es sicher beim nächsten Mal direkt finden. Lena ist ein Blindfisch. „Sag es mir einfach.“ Mit Nörgeln habe ich noch weniger Lust, ihr zu helfen.

„Sehe ich aus wie ein wandelndes Rezeptbuch?“, motze ich zurück.

„Du könntest gerade aussehen wie ein laufender Spekulatius, es wäre mir egal. Ich brauche unbedingt dieses Rezept.“

„Du gehst mir auf den Keks.“

„Ist ja gut, kekse dich einfach aus und nenn mir die Zutaten“, weist mich meine forsche Schwester mit tiefer Stimme an und ich höre, wie sie ungeduldig mit einem Kuli auf einem Tisch rumtippt. Allein das Geräusch nervt mich umso mehr. Vor allem, da ich weiß, dass sie es absichtlich macht. Ich schenke ihr ein nörgelndes Knurren, beginne die offensichtlichen Zutaten für das Gebäck aufzulisten, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, weil Kekse nun mal Mehl enthalten und tippe nebenbei den Türcode für unser Wohnheimzimmer ein. Für die konkreten Mengenangaben brauche ich selbst einen Blick ins Rezept. Ich bin nicht in Eile, also lege ich den Ball zur Seite, ziehe gemächlich die Schuhe aus, stelle sie geordnet auf die Ablage und schrecke zusammen, als erst ein gigantischer Schatten und dann Kain neben mir auftaucht.

„Huch! Was zum...“, entflieht es mir kurzatmig, hinterher wild fluchend. Der Schwarzhaarige beginnt sofort schelmisch zu grinsen. Das Telefon in meiner Hand ist vollkommen vergessen und damit auch meine kleine Schwester am anderen Ende der Leitung.

„Immer wieder ein Spaß, wie süß du das sagst.“

„Fick dich, Kain, das ist nicht witzig. Ich hätte einen Herzinfarkt kriegen können und glaub mir, dann hätte ich dich umgehauen“, lege ich Nonsens nach. Das Grinsen in Kains Gesicht wird etwas breiter, so als hätte ich meine Drohung mit gezuckerten Rosenblättern gewürzt.

„Eher dein Stil, Spatz!“

„Verrecke!“ Kain lacht erneut, diesmal ekstatisch.

„Ach komm! Bitte Entschuldige, ich dachte, du hast mich gehört oder zu mindestens meine Schuhe gesehen“, erklärt er lachend und deutet zum Eingangsbereich, wo unübersehbar seine Turnschuhe abgestellt sind, die mir nicht aufgefallen sind, obwohl sie zwei Nummern größer sind als Jeffs und meine. Ich habe sie vor lauter Mürbeteiggeplänkel vollkommen übersehen oder vielleicht habe ich mich auch schon daran gewöhnt, dass sie dort stehen. Eher unwahrscheinlich, aber hin und wieder zweifele auch ich an der Funktionalität meiner Gehirnwindungen. Vor allem in der letzten Zeit. Mit flatternden Gefühlen in der Brust folge ihm ins Zimmer hinein und erst jetzt fällt mir ein, dass ich Lena noch am Telefon habe.

„Noch dran?“, melde ich mich bei ihr zurück, ergebe mich Lenas übertriebenem Gezeter und schreite an Kain vorbei zum Schreibtisch. „Ja. Ja. Bist du endlich fertig und hörst zu?“ Aus der Schublade krame ich ein kleines Notizbuch hervor. Doch ehe ich es finde, leere ich den halben Inhalt daraus. Alte Notizen. Eine Postkarte mit Nachtmotiv. Eine mit klassischen Touristeneinheitsbrei. Ich entdecke eine weitere Time-Out-Karte und ein paar von Kains Ingwerbonbons. Ich habe keine Ahnung, wieso sie da drin sind. Im nächsten Moment ist das Süßmaul hinter mir und schnappt sich eines der Zuckerknubbel. Er murmelt etwas davon, dass ich sie ihm geklaut habe und er deshalb keine mehr hat. Verschwörung. Zeter und Mordio. Ich dachte immer, Jeff wäre die ultimative Dramaqueen. Ich habe mich getäuscht.

Kain ist dabei so laut und eifrig, dass auch Lena alles mitbekommt und prompt freudig kommentiert. Ich stelle das Handy auf Lautsprecher, werfe es zu Kain aufs Bett und suche akribisch nach dem Rezept der Kekse. Als ich es endlich finde, hat Lena einen Lachanfall und Kain hat sich verschluckt. So viel zum Freud´schen Wahnsinn. Beide brauchen eine Weile, um in ihren Normalzustand zurückzukehren. Ich fühle mich derweil mufflig und ausgelaugt, sehne mich von Minute zu Minute mehr nach einer Dusche. An den Schreibtisch gelehnt sehe ich Kain dabei zu, wie er heiter mit meiner Schwester schäkert, höre aber nicht, worüber sie sprechen. Es ist auch egal. Kain sieht begeistert aus. Locker und ungezwungen. So, wie fast immer. Heißt das, er ist zufrieden? Glücklich? Er würde mir sagen, wenn ihm etwas fehlt. Sicher bin ich mir nicht. Mein Name fällt. Kain sieht mich an und ich erwidere seinen Blick.

„Seid ihr fertig mit eurem Was-auch-immer? Ich hätte jetzt schon eine Ladung Keks gebacken“, bemerke ich und lasse mich neben ihn aufs Bett fallen.

„Gut, wo sind sie?“, kommentiert Kain und reicht mir das Telefon. Ich schenke ihm einen vielsagenden Blick und beginne Lena die Mengenangaben durchzusagen. Nach einer weiteren kurzen Instruktion, wie sie den Ofen einstellt, beende ich das Telefonat.

„Ich brauche eine Dusche“, erkläre ich laut seufzend und stehe auf.

„Oh warte, bevor du gehst, wollte ich dich noch etwas fragen“, setze er an und hält mich zurück, indem er mich an der Hüfte zurückzieht. Ich schaffe es, nicht auf seinen Schoss zu fallen.

„Ich plane nicht in der Dusche zu übernachten. Das ist dir klar?“

„Gut, zu wissen, aber wann planen du und Jeff Weihnachten nach Hause zu fahren?“ Weihnachten. Plätzchen. Familie. Das bedeutet, dass das Verdrängen nun endgültig vorbei ist.

„Ich weiß nicht genau. Ich glaube, wir fahren am 22. Dezember. Jeff will den Abend vorher noch zur Weihnachtsparty seiner Fachschaft. Wenn ich so darüber nachdenke, wird Jeff gar nicht in der Lage sein zu fahren. Sie lassen es rocken, wie er so schön sagt“, berichte ich den O-Ton meines Mitbewohners und wackele sogar mit den Augenbrauen. Geologen haben einen unterirdischen Humor.

„Meinst du, ich könnte mitkommen?“

„Zu der Steinchensammler-HoHoHo-Party? Machst du jetzt auf Schaufelbagger?“, kommentiere ich verschmitzt. Kain verströmt nun deutlich den Duft nach Ingwer und Zitrone und es beginnt unter meiner Zunge zu kitzeln. Mein ganz eigener pawlowscher Reflex. Der Kitzel ist erst sanft, dann umso heftiger, als er sich mehr aufrichtet und mir näherkommt.

„Du findest dich urkomisch, oder?“, flüstert er mir zu und richtet seinen Blick direkt auf meine Lippen.

„Ich habe meine Momente“, gestehe ich mit einem spitzbübischen Grinsen und verdränge gekonnt, dass mein Humor im Grunde genauso bekloppt ist, wie Jeffs. „Aber im Ernst, wenn Jeff dich mitbringt, wird er zum König der Steinbeißer.“

„Danke vielmals aber nein, ich meinte eigentlich die Autofahrt.“

„Es ist Jeffs Auto“, sage ich platt und höre den Schwarzhaarigen unzufrieden raunen. Das war wohl das Falsche. „Aber ich denke, wenn du ihm anbietest, zu fahren, dann sagt er nicht Nein.“ Der Ausdruck in Kains Gesicht ändert sich schlagartig und er greift lächelnd mit beiden Zeigefingern nach den Schlaufen meiner Jeans. Es wirkt zufrieden und das Ding in meiner Brust purzelt, wie ein kichernder Fellball. Keine Gnade. Nicht mal in der Vorweihnachtszeit.

„Lena backt also für Weihnachten?“

„Für die Schule.“

„Heißt das etwa, es gibt keine hübsch verzierten Weihnachtsplätzchen im Hause Quinn?“

„Doch natürlich, aber wenn es nach Lena geht, sind sie nicht hübsch, sondern mit Gummibärchentopping.“

„Nicht gerade weihnachtlich, oder? Dass klingt mehr nach kindlicher Wunschvorstellung.“ Meine kleine Schwester hat so viel Sinn für ästhetische Verzierungen, wie ich Appetit auf Wurzelgemüse.

„Wenn du 17 Jahre kindlich findest... Aber ja.“ Letztes Jahr waren es ausschließlich weiße und rote Bärchen. Passend zum Weihnachtsthema. Für die Grünen wollte sie sich nicht erwärmen. Die habe ich dann gegessen.

„Und singt ihr Heiligabend auch Lieder für den Weihnachtsmann?“ Das Spiel setzt sich fort. Ich lasse ihn aber nicht gewinnen.

„Keine Lieder.“

„Aber Gedichte? Lieber guter Weihnachtsmann...“, beginnt er einen der Klassiker.

„Auch keine Gedichte...“ Ich gebe ihm keinen weiteren Anreiz, um mich zu necken. Seine Lippen formen einen minimalen Flunsch. „Aber wir spielen Spiele, um die Weihnachtsgeschenke zu verteilen und trinken Glühwein. Viel Glühwein“, beschreibe ich den christnächtlichen Wahnsinn, der bei uns abgeht, und habe Kains volle Aufmerksamkeit zurück.

„Weihnachten bei den Quinns klingt nach einem spaßigen Vergnügen.“ Spaßig, aber anstrengend. Derartig viel Familie auf einmal ist für mich schwere Arbeit. Aber mit Plätzchen und Glühwein ertrage ich es.

„Wenn man es gewöhnt ist, seine kleine Schwester gewinnen zu lassen, verliert man irgendwann jegliche Ambitionen. Ich schwimme mit dem Strom und hab selten eine Wahl“, berichte ich mit gespielter Bitternis.

„Armer Spatz“, erwidert er neckend und kein klitzekleines bisschen bedauernd. Ich glaube ihm kein Wort. „Ich finde das schön.“

„Softie.“ Kain lässt sich nicht irritieren, sondern schenkt mir ein weiteres warmes Lächeln und schiebt seine rauen Fingerspitzen langsam unter meinen Pullover. Die berührte Haut sendet eine deutliche Nachricht an mein Gehirn. Mehr. Weiter. Der leichte Geruch von Ingwer stimuliert zusätzlich und es fällt mir schwer, konzentriert zu bleiben. „Und du kannst an allen Weihnachtsfeiertagen zu deiner Schwester?“

„Ja, aber nur für ein paar Stunden. Letztes Jahr hatten sie sogar einen eigenen kleinen Baum und haben am Heiligabend sowas wie Schrottwichteln veranstaltet“, beschreibt er lächelnd und malt mit seinen Fingern Bilder, die nur in seinen Erinnerungen Sinn ergeben. Ich schmunzele dennoch. Sein naiver Enthusiasmus ist hin und wieder sehr erfrischend. „Den Rest der Zeit allerdings werde ich versuchen, meinen Eltern aus dem Weg zu gehen. In der Hoffnung, dieses Mal der alljährlichen Inquisition zu entkommen.“ Und Zack ist das gute Gefühl dahin, selbst für einen emotionsblanken Stein wie mich. Kains Worte sind voller Bitternis und sein Lächeln verschwindet, genauso wie das sanfte Glitzern in seinen Augen, welches sonst erscheint, wenn er von seiner Schwester spricht. Ich weiß, dass er ein schwieriges Verhältnis zu seinen Eltern hat, aber bisher hat er mir nur unzureichend erklärt, wieso. Es geht mich auch nichts an.

„Ihr habt also keine lächerlichen Weihnachtstraditionen?“, hake ich nach. Kain schüttelt nur den Kopf, lässt seine Stirn gegen meinen Bauch kippen und reibt sie daran weiter. Den tiefen Seufzer überhöre ich fast.

„Nur die Traditionellen, wie Streit und Missgunst. Der wahre Sinn von Weihnachten, so wie bei allen anderen Familien auch, oder?“, erwidert er mit ruhiger Stimme, sodass ich davon augenblicklich Gänsehaut bekomme. Als Kain sie auf meinem Arm bemerkt, blickt er auf und belässt nur sein Kinn an Ort und Stelle.

„Und die Leute nennen mich Grinch“, kommentiere ich, lasse es absichtlich unscharf und bin nicht sicher, was ich sagen kann. Ich bin nicht gut darin und weiß nicht, was Kain von mir erwartet. Will er Trost? Solch ich mit schimpfen? Aber wie sollte ich? Ich kenne seine Familie nicht.

„Du pflegst nun mal das perfekte Image dafür“, erwidert er unaufgeregt und schaut mich weiterhin an. „Aber ich fand den Grinch immer ganz süß. So schön motzig…und flauschig. Vielleicht ist das einfach mein Typ.“ Nun formt sich ein keckes Grinsen auf seinen Lippen, welches kleine, weiche Falten um seinen Mund herum entstehen lässt. Ich mache einen Schritt nach hinten, doch Kain zieht mich direkt wieder zurück und sich dabei hoch, sodass ich im nächsten Moment zu ihm aufsehen muss. Er gibt mir keinen Spielraum für Widerworte, keine Chance auf Unmut, denn der Kuss, der folgt, leert meinen Kopf komplett. Von jetzt auf gleich. So, als hätte man inmitten eines Films den Ausschalter des Fernsehers betätigt. Es ist nicht das erste Mal, dass das geschieht und mich gleichzeitig von innen heraus ein Sturm erfasst. Keiner, dem eine klare Definition zu Teil wird, denn er ist immer ein wenig anders. Manchmal leicht und warm, wie eine Brise. Aber hin und wieder genau wie in diesem Moment ist es ein Taifun voller wirbelnder Emotion und ich gebe mich ihm hin.
 

Auch die übriggebliebenen Wochen des Jahres vergehen wie im Flug. Jeff kommt nach der Weihnachtsfeier gar nicht ins Wohnheim zurück, sondern steht irgendwann am Morgen wie ein Geist in der Tür. Oder eher wie ein Twilight-Vampir, denn er glitzert. Auf meine Frage, wie der Abend war, brabbelt er undeutliches Zeug, während er die letzten Dinge in seine Tasche räumt und den Eindruck erweckt, als würde er das Ganze mit geschlossenen Augen versuchen. Ich bin mir sicher, dass er die Hälfte vergisst und ebenso gewiss, dass er uns deswegen bei der Fahrt volljammert. Kain ist wie immer die Ruhe selbst, schlürft einen mittlerweile lauwarmen Mokka und sucht per Handy nach der geeigneten Route in unser Heimatkaff. Er macht nicht den Eindruck, als würde er jemals losfahren wollen. Auch sein rustikales Äußeres mit Bartstoppeln und Bettschopf zeigt eher die Tendenz zum Boykott. Irgendwann hat Jeff seine Klamotten beisammen und wir verlassen das Wohnheim.

„Robin sitzt hinten“, brüllt Jeff drauflos, eilt auf das Auto zu und blockiert die Beifahrertür mit seinem gesamten Körper. Wenn es nach mir ginge, hätte er seinen lethargischen Alkoholnachrausch etwas hinauszögern können.

„Bin dafür“, bestätigt Kain. Das so schnell, dass ich in der Zeit einzig schaffe, Luft zu holen. Ich sehe ihn beim Ausatmen beleidigt an. „Guck nicht so. Du bist der Welt schlechteste Beifahrer.“ Kurz und knackig. Wieso beschönigen. Kain muss nicht erklären, worauf er anspielt und Jeff hütet sich davor, irgendwelche Fragen zu stellen. Er sollte es auch nicht, denn er weiß besser als jeder andere, wie ich mich als Mitfahrer schlage. Ehe weitere Kommentare eintrudeln, hebe ich abwehrend die Hände in die Luft und gleite mit einer geschmeidigen Bewegung auf dem Rücksitz. Betonend, dass ich keineswegs beleidigt bin. Die beiden Affen können mich mal kreuzweise. Die zweite Reihe bietet ohnehin mehr Platz und ich werde es genießen, nicht mit ihnen reden zu müssen. Mit diesem Plan krame ich meine Kopfhörer hervor, aktiviere die Shuffle-Funktion und ignoriere die beiden anderen professionell bei Nico Santos `Rooftop`.
 

Ohne Aufsehen packen sie die restlichen Sachen zusammen und folgen mir nacheinander ins Auto. Ich reagiere erst wieder, als sich Kains Stimme dumpf in den neu beginnenden Song mischt. Er formt mit den Lippen einen deutliches `Ready?` und ich nicke. Ich bin schon lange fertig. Vor allem mit den Nerven.

„Oh, wartet. Ich habe was vergessen. Moment noch!“, ruft Jeff laut und eins fix zwei ist der Blonde aus dem Auto gesprungen. Kains Hand schwebt über dem Schalthebel und nachdem er den ersten Schreck überwunden hat, tätschelt er sachte den runden Knüppel, als würde er sich bei ihm entschuldigen. Ich pausiere versehentlich die Musikfunktion meines Handys und es wird still. Es öffnet sich der Kofferraum und ich höre durch die ausgeschalteten Kopfhörer hindurch, wie Jeff in seinem Reisegepäck rumkramt. Kain reißt sich von der Gangschaltung los und blickt ebenfalls zurück. Erst zum Kofferraum, dann zu mir.

„Ist es wirklich okay für dich, hinten zu sitzen? Du musst doch bestimmt noch irgendwas fertig schreiben, oder?“, höre ich ihn mutmaßen und schaue dabei zu, wie er plötzlich seine Hand nach hinten ausstreckt, sodass er nach kurzem Ertasten mein Knie berührt. Ich bin für einen Moment versucht auszuweichen, doch mein Bein hat seinen eigenen Kopf und rührt sich nicht.

Seine Hand ist warm. So warm, dass ich es durch meine Jeans hindurch spüre. Es fühlt sich gut an, derartig angenehm, dass ich fast vergesse zu antworten und unwillkürlich den Playbutton auf dem Handy betätige. Ich nicke schlicht und ertappe mich dabei, wie ich das Knie ein wenig mehr in die Berührung lehne, während aus meinem Kopfhörer ´Until you´ von Shayne Ward dringt. `'Cause I never thought I'd feel all the things you made me feel. Wasn't looking for someone, oh, until you.` Manchmal frage ich mich, wer diese Skripte schreibt. Wenn ich das in meinen Geschichten tun würde, hätten mich die Charaktere längst verhauen. Mehrfach und blutig. Dieser Song. In diesem Moment. Ohne Worte. Ich klicke die Ballade weg und aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich, wie Jeff wieder vor mir Platz nimmt. Kain legt seine Hände zurück ans Lenkrad, während Jeff sich anschnallt und direkt das Radio lauter stellt. Er liebt diesen Song. Ich weiß nicht mal, wer das Lied singt und will es gar nicht wissen.
 

Während der ersten Etappe labert uns mein Mitbewohner einen Knopf an die Backe, da wir unbedingt eine größere Pause einlegen sollen. Sein alkoholnachwirkender Zustand ließe nicht zu, dass er länger als zwei Stunden stillhält. Den Einwurf, dass er das in keiner Konstitution hinbekommt, ignoriert er geflissentlich. Den Gedanken, dass wir auch sonst einen längeren Stopp machen, weil Jeff stets das urplötzliche Verlange antreibt, etwas Ungesundes und Fettiges zu essen, äußere ich gar nicht erst. Immerhin spare ich mir so ein kleines bisschen Konversationskontingent auf, das ich ohnehin für meine Familie brauche. Natürlich frönen wir auch diesmal dem Stoffwechsel der Jugend, so lange wir ihn noch haben. Allerdings spickt Kain die lauschige Sünde mit niederschmetternden Fitnesshinweisen und gesundheitsfördernden Mahnungen. Mich hat noch nie interessiert, wie viele Kalorien das Salatblatt auf meinem Hamburger hat. Die Tatsache, dass der Schwarzhaarige durch seine stressige Multicityspringerei kaum mehr zum Trainieren kommt, spielt wesentlich mit ein, denn er jammert hauptsächlich für sich selbst. Als Jeff bestätigt, dass Kains Muskeln an Form verlieren, trifft mein Fuß ungesehen sein Schienbein. Mein Jugendfreund ist der Letzte, der sich beschweren darf, denn ich bin mir nicht mal sicher, ob er Muskeln hat. Wahrscheinlich ist es nur Gelatine. Oder Pudding.

Auch nach dem Einsteigen und beim Weiterfahren läuft ihre Diskussion weiter, wechselt zwischen Extremsport und dem Für und Wider bestimmter Ernährungsformen hin und her. Was ist Paleo? Jeffs Argumente stammen mit Sicherheit von einem anderen gutgebauten und trainierten Kerl in seinem aktuellen Leben, denn ich habe ihn in der gesamten Zeit unserer Freundschaft niemals Frühsport machen oder joggen gehen sehen. Da ich keinen nennenswerten Beitrag zu dem ganzen Themenkomplex habe, halte ich mich zurück, gebe nur Laute von mir, wenn es einer der beiden wagt, mich in einen ihrer Sätze zu integrieren oder mich anzureden. Meine Interpretation eines brünstigen Flusspferds verdient einen Oscar. Keiner der zwei wird es wagen, je wieder meinen Eiskonsum anzusprechen.
 

Schließlich döse ich weg und lasse mich von der vertrauten Stimmenkulisse und dem gleichmäßigen Rauschen der vorbeiziehenden Autos einlullen. Es ist selten, dass ich beim Autofahren die Augen zu machen kann, aber Kain ist bisher kein einziges Mal schneller gefahren, als er dürfte. Er lässt den Wagen einfach schweben und das, obwohl nichts an der alten Mühle vermuten ließe, dass er dazu in der Lage wäre. Als nächstes merke ich, wie erneut jemand mein Knie pikst. Diesmal Jeff. Ich öffne ein Auge und linse zum Beifahrersitz. Er drückt sein Gesicht ungelenk um die Ecke der Kopfstütze und ist selbst nur zur Hälfte zu erkennen.

„Der blanke Horror“, murre ich und beschreibe damit das Bild, welches mein halbschlafendes Gehirn projiziert und Jeffs Fratze beschreibt.

„Wat is Horror?“, fragt er dümmlich.

„Du!“, belle ich energielos zurück und sehe, wie mir mein Jugendfreund zur Hälfte die Zunge rausstreckt, „Was ist denn?“

„Ezra hat uns gerade zu der Silvesterfeier eingeladen, die sie in der Bar veranstalten.“

„Und?“ Da er keine Frage formuliert, weiß ich nicht, was er von mir erwartet. Er sollte mich lange genug kennen, um zu wissen, dass ich nicht in girliehaften Jubel ausbreche und einen feuchtfröhlichen Abend auswuhe. Sein Gesicht sagt mir jedoch, dass er genau das erwartet.

„Und?“, wiederhole ich und schaffe es sogar, weniger Erregung hineinzustecken als zuvor. Es ist ein Meisterstück und ich bin der Mozart unter den Phlegmatiker.

„Gehen wir hin oder nicht?“

„Darf ich das dann entscheiden?“, bekunde ich. Es hängt schließlich von meinem tagesaktuellen Nervtoleranzlevel ab und der Sättigung, mit der ich nervtötende Betrunkene ertragen kann. Ein zu beachtendes und maßgebliches K.o.-Kriterium bei derartig wahnwitzigen Ideen wie mich zu Partys schleifen zu wollen.

„Ezra will sicher vorher wissen, ob er mit uns rechnen kann und ich auch. Du weißt gar nicht, was ich alles dafür planen muss.“ Ich kann es mir vorstellen. Vielleicht will er sich ein passendes Outfit zum Interior der Bar zusammenstellen.

„Wer ist Ezra?“, fragt Kain, schaut kurz zur Seite und dann wieder auf die Straße. Mein Blick wandert automatisch zu ihm, haftet sich an seine mit sichtbaren Bartstoppeln behaftete Wange und verspüre das Verlangen, meinen Handrücken darüber streichen zu lassen, um zu testen, wie weich es ist.

„Ein alter Schulfreund von uns. Er hat vor einer Weile mit einem weiteren Freund eine Bar in unserer Heimatstadt eröffnet und das müssen wir natürlich unterstützen, wenn wir schon da sind“, erklärt Jeff grinsend und ich reiße mich wieder zusammen.

„Oh ja, frühzeitige Leberzirrhose, wir kommen“, erwidere ich trocken.

„Bist du eigentlich jemals in deinem Leben aufgeschlossen und nett gewesen?“, motzt Jeff mich spielerisch an.

„2007. Das anstrengendste Jahr meines Lebens.“

„Ja, die dritte Klasse war die Hölle“, scherzt mein Jugendfreund weiter. Meine Rede! Ich nicke zustimmend und schiele zu Kain, der leise vor sich hinlacht. „Also, ja oder ja. Dich zu sehen würde ihn sicher total freuen.“ Unwahrscheinlich.

„Oder“, sage ich plump und wenig unerwartet. Er hat es herausgefordert. Ich hätte nichts gegen ein Silvester ohne Tamtam, ohne Menschen und mit ausreichend Schlaf. Vielleicht sollte ich mich doch eines Tages dafür entscheiden, wie so manches Getier in den Winterschlaf zu verfallen, dann blieben mir diese ganzen Endjahresfestivitäten erspart. Außerdem kann Jeff tun und lassen, was er will und ist weder an mich, noch an meine Entscheidungen gebunden. Ich wende weitere Diskussionen damit ab, dass ich Jakes Namen fallen lasse und mein Jugendfreund quasi in panische Schockstarre verfällt. Das Opossum lässt grüßen. Das auch ich Kain nicht in meine Planung mit einbeziehe und nicht einmal weiß, wo genau er am Jahresende sein wird, lasse ich bewusst unausgesprochen. Erstaunlicherweise kommt er mir entgegen, indem er es selbst nicht anspricht.
 

Wir machen zwei weitere kleine Pausen, in einer ich mir demonstrativ ein übertrieben großes Eis mit Sahne und Streusel gönne und jeden Kommentar meiner Begleiter wegschlecke. Gegen Nachmittag kommen wir endlich in unserer Heimatstadt an. Wir setzen als erstes Jeff ab, der mich ein letztes Mal wegen Silvester anmahnt und fahren weiter zu mir.

„Sieht aus als wäre keiner zu Hause“, äußert Kain, nachdem wir ausgestiegen sind und nach einem Blick zum ruhig wirkenden Haus. Sein T-Shirt ist am Rücken komplett zerknittert und ich brauche einen Augenblick, um mich davon losreißen zu können. Ich meine mich daran zu erinnern, dass der Rest meiner Familie heute zur Hendriks Mutter fahren wollte und vermutlich sind sie noch dort.

„Sie sind bei Lenas Großmutter. Willst du noch mit reinkommen?“, frage ich, schultere meinen Rucksack und greife nach der Tasche, die Kain mir hinhält. Doch er lässt sie nicht los, sondern zieht mich im gleichen Atemzug dichter an sich heran. Ich stolpere ihm entgegen und schaffe es mit Mühe und Not, den verräterischen Laut zu unterdrücken, der mir sonst immer entflieht. Meinen genervten Blick kriegt er mit voller Wucht ab.

„Würde ich sehr gern, aber ich habe meinen Eltern zugesagt, dass ich zum Abendessen da bin und ich stehe aktuell mit Fuß und Gaspedel noch in Verhandlungen, da sie entscheiden, wie schnell ich vorankomme. Ich glaube, sie planen zu streiken.“ Sein Unwillen ist mehr als spürbar, trotz oder wegen der Witzeleien und ich bin kurz davor, zu wiederholen, dass er bei Jeff bleiben soll, so wie dieser es ihm angeboten hat. Weihnachten bei den Koch´s ist definitiv etwas, was Kain niemals vergessen wird. Sie hätten sogar einen Socken am Kamin für ihn. Ich kriege auch jedes Jahr einen. Genauso wie eine dieser verrückten Weihnachtskarten, die sie immer im Sommer zusammen shooten. Jeff will mir nie vorher verraten, was sie diesmal probieren, aber sie hatten schon Rentierkostüme, Ugly-Pullover und jeden sonstigen ausgefallen Kram für die Bilder an. Lena hat mittlerweile aus den Karten ein Sammelalbum gemacht.

„Du könntest dir immer noch Plum-Pudding bei Jeff reinziehen“, merke ich nun doch an und versuche, mich daran zu erinnern, was letztes Jahr auf der Weihnachtskarte gewesen war, aber es will mir nicht einfallen.

„Ich habe noch nie Plum-Pudding gegessen. Ist der gut?“

„Ich kenne nur den von den Kochs und naja... es ist britisches Essen“, erkläre ich. Ich bin mich nicht sicher, ob Kain weiß, was ich damit meine, aber jeder, der schon Baked Beans zum Frühstück essen musste, ohne einen Kater zu haben, versteht, was ich denke.

„Ich mochte Fish and Chips und Beef Wellington.“

„Das kommt auch nicht aus der Dose.“

„Plum Pudding kommt aus der Dose?“, hakt Kain irritiert nach. Er ahnt nicht, dass ich an Baked Beans gedacht habe.

„Was? Oh, nein, nicht der Pudding. Der besteht aus Backpflaumen, Orangeat und so anderes zweifelhaftes Zeug. Wie Nelken und Muskatnuss“ Ich schüttele mich bei dem Gedanken an die erwähnten Gewürze. Nelke war noch nie mein Fall und ich verfluche jeden, der sie in den Glühwein macht.

„Klingt immerhin weihnachtlich“, kommentiert Kain und lächelt mich an. Verdammt, dieses Lächeln. Ich merke förmlich, wie sich bei der Betrachtung mein Motzmotivfilter leert und sich eine angenehme Wärme in mir ausbreitet. Dafür hätte ich gern eine Firewall, um zu verhindern, dass er das mit mir macht. Kain lässt meine Tasche nun endlich los und beugt sich aber wiederum nach unten, sodass sein Gesicht kurz vor meinem stoppt.

„Das wird mir fehlen.“

„Es ist nur eine Woche“, entgegne ich zweifelnd und merke, wie die Anspannung in mir wächst.

„Achteinhalb Tage.“

„Du bist furchtbar kitschig.“

„Ich nenne das romantisch.“ Er klingt nicht enttäuscht, als er es sagt, sondern nur neckend. Ich wüsste gern, was er wirklich denkt, denn obwohl ich scheinbar leicht für ihn zu lesen bin, ist er es für mich überhaupt nicht. „Ich sollte fahren, sonst wird es zu spät. Und wer weiß, was sich das Gaspedal noch einfallen lässt. Oder mein Fuß.“ Die abrupte Umkehr in die Albernheit lässt mich ungesehen aufatmen. Das ist besser. Ist es besser? Mein Herz schlägt mir ein Nein entgegen, aber ich begreife nicht, was es mir damit sagen will.

„Der Streik, natürlich. Wie wäre es mit einer Gewerkschaft?“, steige ich mit ein, um dem lästigen Zwiegespräch in meinem Kopf zu entgehen.

„Die Herausforderung fürs kommende Jahr.“

„Klar doch. Los jetzt“, sage ich und rücke dennoch keinen Millimeter von ihm weg, sehe ihn einfach nur an. Wir verharren in diesem Moment, bis Kain ihn bricht.

„Wenn ich so kitschig wäre, wie du behauptest, würde ich dich jetzt küssen“, erklärt er spitzbübisch.

"Ach, also doch nicht romantisch?", gebe ich retour, klinge enttäuscht und weiß nicht warum. „Naja, gut, dass du es nicht bist, denn sonst müsstest du erklären, wieso du mit einem Veilchen nach Hause kommst. Fahr jetzt!“ Ich sage es mehr, um der anschwellenden Situation zu entkommen.

„Okay, okay.“ Statt mich zu küssen, streichelt er mir über die Wange. Nur flüchtig. Sanft und doch laut schreiend. Er schiebt mich sachte zur Seite und schließt den Kofferraum.

„Grüß Lena, ja?“

„Mach ich.“ Als er losfährt, bin ich bereits an der Tür und suche nach den Schlüsseln. Ich zwinge mich praktisch dazu, ihm nicht nachzusehen. Das macht mir noch frühzeitig graue Haare. Seufzend ziehe ich die Schuhe aus. Es ist keiner da, also gehe ich direkt nach oben, lasse die Tasche fallen und verschwinde in die Dusche.

Dampfend und ein klein wenig entspannt kehre ich in mein Zimmer zurück. Als ich weiterhin niemand anderen im Haus hören kann, schalte ich meinen Computer ein und zerstreue meine Gedanken, indem ich sie ins Spielenirvana schicke.
 

„ROBIN!“, ruft Lena von unten, sodass ich es sogar durch meine Kopfhörer hindurch hören kann, als würde sie hinter mir stehen. Home sweet Home. Ich lege ein Ohr frei und blicke zur Tür in der Annahme, dass sie jeden Moment aufspringt. Doch nichts passiert. Noch könnte ich so tun, als wäre ich nicht da. Ich könnte über dem Balkon in den Garten flüchten. Der Busch, den meine Mutter letztes Jahr direkt unten den Balkon pflanzte, sollte mittlerweile eine abfedernde Funktion übernehmen können, da ich bezweifle, dass mich die Regenrinne aushält. Ich stoße ein lautes Raunen aus, pausiere mein Computerspiel und suche meine Familienmitglieder. Lena kommt mir auf der Treppe entgegen, murmelt heiter mehrere Male `Da issa ja` und mutiert zu einem menschlichen Schraubstock, als sie ihre Arme um mich schlingt. Ich ächze. Sie kichert. Ich röchele. Sie lacht. Noch während Lena meine Gedärme komprimiert, taucht meine Mutter aus der Küche auf und schenkt mir ein warmes Lächeln, welches mich gleich in eine heimelige Woge versenkt. Egal, wie sehr ich es ablehne oder mir einrede, dass es etwas ist, was ich nicht brauche, insgeheim genieße ich es. Nicht unbedingt die manuelle Folter dieser ständigen Umarmungen, aber auf jeden Fall, dass sich die beiden Frauen trotz meiner stoischen Art freuen, mich zu sehen. Da Lena nicht lockerlässt, schaffe ich es geradeso, meinen Unterarm zu heben und meiner Mutter halbherzig zu zuwinken.

„Wie schön, dass du schon da bist“, erwidert sie lächelnd.

„Hey, Mama“, presse ich hervor, „Womit füttert ihr sie? Hulkfrüchte?“ Kichernd erklimmt meine Mutter die wenigen Stufen, die sie von Lena und mir trennen und umarmt uns beide.

„Einfach nur gesunde Hausmannskost.“ Das wage ich zu bezweifeln. „Apropos, hast du gegessen, mein Schatz?“ Ich berichte ihr von unserer effektiven Selbstkonservierung mit Fastfood. Mama duftet nach Jasmin und Quitte, welche sich mit dem süßlichen Parfüm meiner Schwester mischt und ich habe das Gefühl, in einem Obstsalat zu schweben, während ich von fettigen Essen spreche. Zu allem Überfluss drückt mich Lena noch etwas fester, was mich mehr oder weniger zum Bananenbrei macht. Mir entflieht ein pfeifendes Quietschen der Sauerstoffnot und endlich lassen mich beide Frauen frei. Mama tadelt unser Pausenmahl und erwähnt im gleichen Satz, dass sie Lust auf ein Softeis mit Smarties hat. Ich werde es nie verstehen.
 

„Ich habe übrigens ein Zoospiel auf deinem Computer installiert“, berichtet mir Lena fröhlich, nachdem wir uns ins Wohnzimmer begeben und die grundlegenden Wie-Wo-Was-und Wer-Fragen der letzten Wochen unseres Nichtsehens geklärt haben.

„Wieso auf meinem und nicht auf deinem? Was machst du in meinem Zimmer?“ Die zweite Frage ist lediglich Makulatur und das Belangloseste, was ich an Bruderstänkerei aufbringen kann. Lena verdreht meisterlich die Augen und lässt sich in den Sessel plumpsen wie ein nasser, vollgefressener Sack. Meine Schwester ist wahrhaftig nicht die Graziöseste und manchmal so wenig damenhaft, dass ich sie glatt Bruder nennen könnte.

„Es geht nur noch der alte Laptop von Papa und der ist sooo langsam. Ein neuer wäre ja schön“, stichelt sie gekonnt gegen den Elternpart im Zimmer.

„Du kennst die Vereinbarung. Wenn deine Schulnoten in den geisteswissenschaftlichen Fächern besser werden, dann kriegst du einen Neuen“, offenbart unsere Mutter und stellt einen Teller mit Keksen vor mir ab. Es sind die Schokoladenwolkenkekse, die Lena gebacken hat.

„Geschichte ist langweilig und Politik ist einfach *piep*“, jammert meine Schwester und vertont effektvoll ihren Standpunkt. Ich setze mich unbeteiligt auf die Couch und beobachte ihren nachfolgenden Schlagabtausch, der in dieser Form oder einer abgewandelten sicher schon häufiger stattgefunden hat. Nach dem zweiten Keks habe ich ein Déjà-vu. Zwar habe ich vergessen, wie meine Note in Geschichte ausgesehen hat, aber der Dialog kommt mir bekannt vor. Ich habe alles nach dem Römischen Reich verdrängt, das sagt mir der spärliche Rückblick in meine Schulzeit. Einzig das Mittelalter ist noch in Bruchstücken vorhanden und diese Teile zeichnen, passend zu meiner schwarzen Seele, ein eher düsteres Bild der Menschheit.

„Lena, wir haben dir gesagt, was zu tun ist. Setz dich hin, lerne und das Problem ist erledigt.“

„Hach, die klassische Erpressung. Die Erziehungsdoktrin schlechthin“, witzele ich ungeniert.

„Die bei dir nie funktioniert hat. Herzlich Willkommen, hast du schon etwas gegessen?“, erkundet sich Hendrik und ist kurz zuvor in der Tür aufgetaucht. Er trägt noch immer seine Jacke und ein paar Arbeitshandschuhe, die mich mutmaßen lassen, dass Hendriks Mutter eine weitere Hortensie ihrem Untergang geweiht hat. Hortensien und unser Garten sind so verträglich wie die Kalahari und Olaf von Frozen, dennoch bekommt meine Mutter jedes Jahr eine Neue. Einmal, vor längst vergangener Zeit, hatte es eine dieser grässlichen Blauen über die 1-Jahres-Grenze geschafft, was meine Mutter dazu veranlasste, selbst den blumigen Soulreaper zu mimen, indem sie das Gießen vergaß. In Anführungszeichen, natürlich. Geholfen hatte es nicht, pünktlich zu Weihnachten gab es eine andere.

„Hey“, begrüße ich Hendrik, „Welche Farbe ist es diesmal?“ Er zuckte mit den Schultern und zieht sich die Handschuhe aus, ehe er zurück in den Flur geht.

„Monika war sich nicht sicher“, antwortet meine Mutter und ihr entflieht ein seltenes, aber dennoch deutliches Seufzen. An sich ist das Verhältnis gut, zwischen ihr und ihrer Schwiegermutter, aber das alljährliche Hortensiendesaster ist ein absoluter Bartwickler, der mittlerweile im gesamten Familienkreis eine Steilvorlage für Spott bietet.

„Würdest du sie wie ich es vorgeschlagen habe einfach jedes Mal in den anrainenden Park aussetzen, hätten wir da bereits einen Hortensienhain.“ Es gibt erstaunlich viele Menschen, die diese Pflanzen ausgesprochen mögen. Warum auch immer. Ich weiß nur, dass die blauen Hortensien einzig unter bestimmten chemischen Bedingungen blau werden und damit im Grunde nicht von vornherein blau sind.

„Scherzbold, das ist erstens nicht erlaubt und zweitens, wie soll ich das Monika erklären?“

„Meinst du, da kommt die Blümchenpolizei mit Mistgabeln? Außerdem kriegt sie es doch gar nicht mit.“

„Ja. Ja. red du nur weiter. Ich erinnere dich daran, wenn du dann irgendwann Schwiegereltern hast.“ Darüber kann ich nur lachen. Ich bin in etwa so schwiegerelterntauglich wie die Hortensie. Wobei ich nicht weiß, ob ich in diesem Szenario eher Wüste oder Schneemann bin.

„Du weißt, dass meine Mutter dich sehr liebt“, mischt sich nun auch Hendrik ein, trocknet sich die restfeuchten Finger an seinem Pullover ab und setzt sich zu mir auf die Couch.

„Oh ja, so sehr, dass sie mir jedes Jahr eine Blume schenkt, die ich nicht mag“, erwidert Mama sarkastisch und Hendrik schüttelt lediglich den Kopf, während Lena und ich heiter lachen. Hendrik tätschelt mir zur weiteren Begrüßung das Knie.

„Wie bist du eigentlich hergekommen? Ich konnte vorhin beim Vorbeifahren Jeffs Auto gar nicht vor dem Haus stehen sehen. Seid ihr nicht zusammengefahren?“, erkundigt er sich und lässt dabei seine dicken Augenbrauen effektiv kräuseln.

„Oh, doch doch. Kain hat uns abgesetzt und ist mit dem Wagen weiter zu seiner Familie gefahren“, kläre ich nickend auf und bin erleichtert, dass die plötzliche Aufregung, die ich empfinde, nicht in meiner Stimme zu hören ist.

„Der große dunkelhaarige…“

„… gutaussehende Traum von einem Mann“, ergänzt Lena schwärmerisch und lässt dabei ihre Beine schwingen, die sie auf der Sessellehne abgelegt hat. Mir entgeht der Blick nicht, den sie mir für den Bruchteil einer Sekunde zu wirft, bevor sie über beide Ohren grinst.

„Lena!“ Unison. Ich bin mir sicher, dass sie es heimlich üben.

„Was? Ist doch wahr! Oh, da fällt mir ein, Robin bekommt noch Geschenke.“ Da war noch was. Ehe ich es negieren oder abwenden kann, ist Lena schon aufgesprungen. Ebenso wie meine Mutter. Meine Schwester läuft nach oben, während Mama lediglich eine Schublade im Esszimmer öffnen muss. Sie kommt mit einer feinsäuberlich verpackten Schachtel zurück und ich bedanke mich brav, als ich ein Sammelsurium an nützlichen Utensilien und dringend gewünschten Gutscheinen auspacke.
 

Als meine Schwester zurückkommt, hält sie beide Hände hinter dem Rücken versteckt. Sofort schrillen die Alarmglocken. Gepaart mit diesem angsteinflößenden Lächeln in ihrem Gesicht verheißt es absolut nichts Gutes.

„Tada!“, sagt Lena und streckt ihre linke Hand aus. Sie grinst verräterisch, in einem 360 Grad Ausmaß. Trotz ihrer Ohren. Nach einem Blick auf die Beschriftung meines Geschenks weiß ich auch, wieso. Gummibärchen. Unerwartet, jedoch harmlos. Geschmacksrichtung Ingwer-Zitrone. Leicht scharf. Erschütternd. Meine Geschmacksknospen beben, zittern und schreien. Mein Gesicht bleibt bemüht regungslos. Aber es fegt ein Sturm in meinem Inneren, der meine Gedanken ad hoc lahmlegt.

„Deine neue Lieblingssorte, oder?“, neckt sie mich. Es fehlt nur noch ein Zwinkern oder ein Plakat mit der Aufschrift `Ich weiß mehr, als dir lieb ist`.

„Ingwer, ach ja? Du sagst doch immer der Ingwer beim Sushi schmeckt wie Fenstereiniger", hakt meine Mutter amüsiert nach.

„Ist auch so, Lena erlaubt sich einen Spaß!"

„Ja, einen riesigen Spaß", kommentiert sie. Mit eingespieltem Gelächter befänden wir uns in einer 90er-Jahre-Sitcom.

„Ah, okay, Moment. Du möchtest also, dass ich hoch gehe und dein Zoospiel deinstalliere. Sofort? Gut, kein Problem“, gebe ich Retour und mache Anstalten, aufzustehen.

„Hey! Finger weg von meinen Pinguinen, du Barbar!“, stichelt sie zurück und lässt den Rest von dem, was sie mit runtergebracht hat, einfach in meinen Schoss fallen.

„Schatz, du hast es ja nicht mal eingepackt“, merkt Mama an und schüttelt tadelnd ihren Kopf.

„Wieso auch, Robin ist, was das angeht, so wertschätzend wie Klopapier.“ Wir schauen beide zu dem zuvor sehr hübsch verpackten Päckchen meiner Mutter, welches meiner Wertschätzung entsprechend aufgerissen wurde, wie von einem tollwütigen Schuljungen. Mein schlechtes Gewissen hält sich in Grenzen. Genaugenommen passt es problemlos auf einen Quadratmillimeter und reserviert sich für die armen Bäume, die für das Geschenkpapier draufgegangen sind.

„Was ist das?", frage ich skeptisch und nach einem ersten Blick auf den Inhalt des zylindrischen Plastikdingels.

„Badezusatz“, erwidert sie mit tiefsitzender Geschmeidigkeit, so, als wäre es nur in meinem Kopf vollkommen absurd. Der Blick in die Gesichter der anderen Anwesenden erlaubt mir keine Bestätigung. Weder für mich, noch für Lena. Unsere Mutter verkneift sich eher ein Lachen und Hendrik stellt fest, dass seine Digitaluhr aufgezogen werden muss.

„Das sind rosa Herzchen", fahre ich fort. Ich bin die Ruhe selbst.

„Jup. Romantisch, nicht wahr? Sie riechen ganz toll und machen deine Haut so weich wie einen Pfirsich." Ihre Erklärung schließt sie mit einem selbstbewussten Nicken ab. Nun kann unsere Mutter ihr Lachen nicht mehr halten und selbst Hendrik gluckst amüsiert auf. Sie haben sich gegen mich verschworen. Alle samt. Ich lasse meinen Blick schweifen und muss mir eingestehen, dass ich keine Chance habe.

„Im Ernst?", erwidere ich und beziehe mich dabei keineswegs auf den Pfirsichkommentar.

„Jup, im Ernst. Ich frage dich jedes Jahr, was du dir zum Geburtstag wünschst und ich kriege niemals eine nützliche Antwort, also bekommst du fortan unnützes Zeug. Tada." Da ist es wieder. Ihrer sonst verqueren Logik zum Trotz ergibt es sogar Sinn. Auch, wenn sie mich mit solchen Aktionen jedes Mal ein kleinen wenig zur Weißglut bringt, zeigt sie mir immer ihre Zuneigung damit. Oft haben die Dinge, die sie mir schenkt oder mit denen sie mich ärgern will, Herzchenformen oder tragen Sprüche, die in beide Richtungen interpretiert werden können. Sie haben jedes Mal eine tiefere Bedeutung. Auch wenn es mir manchmal schwerfällt, sie zu begreifen. Meine Schwester hat ein großes Herz und schafft es problemlos, dass ich letztlich gurre, wie ein braver Pinguin.

„Gutscheine sind auch okay, das weißt du?"

„Gut, dann gibt es nächstes Jahr einen Gutschein für diesen tollen Seifenladen. Die haben so viele schöne Sachen. Das wird dir Gefallen“, kommentiert sie mit unbeeindruckter Miene. In solchen Momenten bereue ich es, sie nicht unter Spielzeug begraben zu haben, als ich es noch konnte. Wir starren uns einen Augenblick lang an und ich sehe dabei zu, wie ihre Mundwinkel langsam nach oben zucken, bis sie breit grinst. Ja, sie weiß, wie sie mich kitzelt.
 

Nach dem Abendessen lasse ich mich dazu breitschlagen, gemeinsam mit der Familie eine Quizshow zu gucken, deren Prinzip ich nicht verstehe. Danach eine Serie, von der ich weder gehört habe, noch den Drang verspüre, zu begreifen, wieso sich der Mörder alle paar Szenen ändert, wo doch von vornherein ersichtlich war, dass es der Typ mit dem Flanellhemd ist. Flanell ist ein eindeutiges Indiz. Ohne Frage. Die ruhige Landschaftsszene der Serie wird durch ein bekanntes Lied aus meiner Hosentasche unterbrochen, welches mich erst irritiert und im nächsten Augenblick auch schon beschämt aufsehen lässt. Ich ziehe unter den Blicken meiner Familie das Telefon hervor, beiße mir auf die Lippe, als ich Kains Namen auf dem Display lesen und Christina Aguileras `Dirrty´ beende. Ich werde ihn erwürgen.

„Entschuldigt mich“, brabbele ich und springe von der Couch auf. Noch auf dem Weg zur Küche drücke ich die Wahlwiederholung.

„Du bist ein toter Mann“, sage ich und ernte erheitertes Lachen am anderen Ende. Kain weiß sofort, worauf ich es beziehe.

„Ach komm, das passt doch zu uns...“, erwidert er lachend und ich kann quasi sehen, wie er sich den flachen Bauch hält vor aberwitziger Erheiterung.

„Ich saß gerade mit Lena und Mama zusammen“, entgegne ich mit zusammengebissenen Zähnen, „Außerdem kannst du nicht einfach mein Klingelton ändern.“

„Du hast mir dein Handy heute Vormittag freiwillig ausgehändigt, erinnerst du dich?“ Ich erinnere mich. Ich weiß auch noch, dass ich mich nicht darüber gewundert habe, dass er es länger in seinen Griffeln hatte, als nötig. Vielleicht hätte ich es sollen. Aber da ich nur wenig mit meinem Handy mache, ist die Gefahr gering, darin etwas Kompromittierendes zu finden, deswegen vergesse ich es leicht. Dass er sich an meinen Klingeltönen vergreifen würde, ist das Letzte, worauf ich gekommen wäre.

„Ist das etwa deine Entschuldigung? Ich hasse dieses Lied. Noch dazu, was würdest du sagen, wenn ich einfach etwas an deinem Handy mache?“

„Du hast Recht. Nicht auszudenken, was passieren wurde, wenn du sehen könntest, wie viele verschiedene Emoji man verwenden kann. Das würde wahrscheinlich deine Schaltkreise komplett verschmoren. Doppelpunkt. Groß O.“, gibt er schockiert von sich. Okay, er stirbt zweimal. „Ich habe nichts vor dir zu verbergen, aber gut... es tut mir leid. Es war nur ein Spaß. Sei nicht sauer, bitte.“ Ich stoße nur geräuschvoll die Luft aus.

„Warst du bis jetzt unterwegs?“, frage ich ausweichend, schlucke meinen Ärger entgegen meiner Gewohnheit runter und lasse mich auf das Bett fallen, als ich in meinem Zimmer ankomme. Es ist frischbezogen und sofort ummantelt mich der leicht blumige Duft von Lavendel. Auch bei Kain höre ich Stoff rascheln und nach zwei kräftigen Schnüfflern ist alles entspannt.

„Nein, ich bin vor einer Stunde rein, habe in unangenehmer Atmosphäre mit meiner Mutter zu Abend gegessen, denn mein Vater ist wegen der Arbeit verhindert. Wie immer, übrigens! Aber vor 10 Minuten konnte ich mich endlich in mein Zimmer verabschieden. Jetzt bin ich geduscht und liege vollkommen nackt auf meinem Bett.“ Zu viel Information. Mein Gehirn nimmt es leider als Anlass, sich genau das vorzustellen. Verräter.

„Und du erzählst mir das, weil?“

„Weil mir auf dem Weg von der Dusche zum Bett eingefallen ist, dass ich noch nie ordentlichen Telefonsex hatte. Also, was hast du an?“

„Wow, ist das dein Ernst?“

„Ja, wieso nicht? Ich probiere gern neues.“

„Du sagtest `Nicht ordentlich`, heißt das nicht, du hattest schon mal Telefonsex?“, hake ich nach.

„Daran hängst du dich jetzt auf?

„Ich wollte dich nur auf den Widerspruch hinweisen.“

„Weißt du, ich bin noch ganz warm und leicht feucht von der Dusche, willst du wirklich mit mir diskutieren?“, fragt er hinterher und ich schlucke. In meinem Kopf schreiben sich gerade komplette Romane allein darüber, wie ein Wassertropfen zärtliche Liebe mit seinen Bauchmuskeln betreibt.

„Ich diskutiere schon aus Prinzip, weil du scheinbar glaubst, dass ich so simpel gestrickt bin.“

„Ach komm, du als gescheiter Wortakrobat kannst keinen Dirty Talk durchs Telefon? Echt schwach!“, stichelt er. Ich schweige, nun doch etwas mürrisch. Er will mich reizen und schafft es. So wie immer, denn er weiß genau, welche Knöpfe er drücken muss und wie jedes Mal bereitet es mir die Leichtigkeit, mit der es macht, auch Bauchschmerzen.

„Dirty Talk? Das ist kein richtiger Dirty Talk und es liegt nicht am Nichtkönnen“, wehre ich mich.

„Bitte Spatz. Ich möchte nur ein bisschen deine Stimme hören, wie sie mir sexy Zeug zu säuselt“, setzt er sanfter fort. Sein Kosewort für mich macht mich fertig. Ich weiß nicht wieso, aber es lässt mehr und mehr in mir schmelzen. Vor allem dann, wenn er ihn so zärtlich ausspricht. „Ich trage nichts weiter als den Zipfel eines Handtuchs, weißt du!“ Ich kann quasi vor mir sehen, wie er im gleichen Moment sein Becken hin und her wackeln lässt, was unweigerlich auch andere Körperteile bewegt. Als ob das Bild in meinem Kopf nicht bereits HD genug wäre. Ich kann hören, wie er den Stoff raschelnd zur Seite streicht und wie das Bettes leise unter seinem muskelbepackten Körper arbeitet. Meine halbherzige Widerrede spornt ihn nur noch mehr an.

„Lass dich treiben…“, wispert er. Leichter gesagt, als getan. Ich schließe die Augen, während mich seine tiefe Stimme immer weiter in den Sog des Verlangens zieht. Jedes Wort dringt tief in mich ein. Jedes Flüstern, gepaart mit einem feinen Keuchen bebt durch meinen Leib, wie Herbstgewitter. Die Vene an meinem Hals pulsiert so stark, dass ich hörbar ein und ausatme. Jedes Pochen fließt tiefer in meine Lenden und breitet sich überall hin aus. Kain macht immer wieder kleine Pausen, lässt seine Worte wirken und wartet darauf, dass ich etwas erwidere. Ich kann nicht. Dabei will ich es. So sehr. Mein Verstand rotiert und in Sekundenschnelle ploppen die möglichen Sätze auf, die ich entgegnen könnte. Die er hören möchte. Doch keinen einzigen spreche ich laut aus.
 

„Robin?" Lena Stimme aus dem Durchgangsraum zu mir. Ich beende den Anruf mit Kain abrupt und katapultiere das Telefon blitzschnell ans Bettende. Es bleibt knapp an der Kante liegen und fängt in meiner Fantasie an zu wanken, wie ein über die Klippen stürzenden Flugzeug. Ich richte mich bemüht langsam auf, als Lena in der Tür auftaucht, und wie sollte es sein, kippt das Handy im selben Moment geräuschvoll über die Kante. Wir starren beide auf die Stelle, doch nur Lena kann das Telefon auch sehen. Ich habe keine Ahnung, was in dieser Situation eine passende Erklärung wäre. Lena blinzelt.

„Mama will wissen...", setzt sie an und wird erneut durch Christina Aguilera unterbrochen. Ich wünschte, ich könnte hier und jetzt in einen brennenden Vulkan stürzen. Ihr braucht ein Opfer! Bitteschön, hier bin ich. Ich wäre sogar bereit, mich in einen Kokosnussbikini zu zwingen, nur lass mich verschwinden.

„Gehst du nicht ran?“, fragt sie scheinheilig, schürzt die Lippen und starrt auf den singenden Taschencomputer. In ihrem Blick sehe ich das innere Gelächter. Ich bin mir nicht sicher, ob sie Kains Name auf dem Display erkennen kann oder nicht. Ich hoffe nicht.

„Was will Mama wissen?", erwidere ich gequält lässig.

„Ob du… Heiligabend… mit zur Messe kommst.“ Sie rückt nur stockend mit ihrem Anliegen heraus und scannt dabei auffällig aufmerksam mein Gesicht. „Mama telefoniert morgenfrüh mit dem Pfarrer.“ Ich schaffe es, den Ausdruck darin konstant als Noh-Maske zuhalten, merke aber, wie das Rasen meines Herzens zunimmt, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen kann. Es fühlt sich an, als würde jemand in meinem Inneren Mario Kart spielen und man hätte mir einen Booster verpasst. Es ist nicht nur der Schreck, der es auf Touren bringt, sondern die feine Erregung, die sich in Körper hält und mich Ungehorsam strafft. Wenn ich Kain das nächste Mal sehe, mache ich ihn einen Kopf kürzer. Garantiert.

„Kriege ich eine Antwort oder muss ich dir eine Mail schicken?“

„Schriftlicher Antrag in dreifacher Ausführung.“

„Oldschool.“

„DM mich auf Twitter.“

„Du bist auf Twitter?“

„Haha! Ich denke nicht, dass ich mitkomme“, erkläre ich. Eigentlich zu erwarten. Seit ich es selbst entscheiden darf, bin ich nur ein einziges Mal bei der Christmesse gewesen. In dem Jahr, in dem sich Renés zehnter Todestag jährte. Trotzdem fragt mich Mama jedes Jahr erneut.

Mit einer scheuchenden Handbewegung deute ich meiner Schwester an, dass sie gehen soll. Lena schubst keck ihre Haare zurück, bleibt aber noch einmal an der Tür stehen und dreht sich um.

„Morgen backen?“

„Nur, wenn du die Gummibärchen in der Tüte lässt.“

„Pff, bin doch kein Kleinkind.“

„Das war noch letztes Jahr, das ist dir klar, du Seifenblase“, pfeffere ich zurück und ernte einen mosernden Gesichtsausdruck, den sie beibehält, bis sie in ihrem eigenen Zimmer angekommen ist. Ich höre erst meine und danach ihre Tür. Mein Blick huscht sofort zur Bettkante, Richtung Handy. Ich hüpfe auf, krabbele zum Rand des Bettes. Das Telefon liegt wie erwartet mit dem Display nach oben am Boden. Ich tippe zögerlich die Oberfläche an und es zeigt mir einen Anruf in Abwesenheit. Ich lasse es, wo es ist und schmeiße mich bäuchlings auf die Matratze, sodass mein Kopf über die Kante schwebt. So bleibe ich liegen, lausche meinem Herzschlag, den ich sogar im Bauch spüre. Ruf ich ihn zurück? Mein Magen entlässt ein intensives Kitzeln in meinen Körper, welches sich blitzschnell ausbreitet und durch die Gedärme echot wie ein Strike beim Bowling. Ich stoße angestrengt die Luft aus und drehe mich auf den Rücken. Was ist nur los mit mir? Ich habe vorhin kein Wort herausgebracht. Das passt überhaupt nicht zu mir. Sex war nie etwas, bei dem ich Ausdrucksschwierigkeiten hatte. Weder beim Schreiben, noch bei der Tätigkeit selbst. Wieso also bereitet mir der Schwarzhaarige mit seinen Anforderungen an mich solche Schwierigkeiten? Sollte es mit der Statusänderungen nicht einfacher werden? Mit einem Ausruf der stillschweigenden Frustration, indem ich Arme und Beine nach oben strecke und sie strampelnd der Decke entgegen punche, mache ich mir Luft. Ich drehe mich zurück auf den Bauch, angele nach dem Telefon und öffne den gemeinsamen Chat mit Kain.

-Sry-, tippe ich. Meine Kommunikationsfähigkeit lässt zu wünschen übrig und ein seltsames Déjà-vu durchschleicht mich. Entschuldige, aber kein Sex unter dieser Nummer. Ich greife eine Seite der Bettdecke und rolle mich ein wie ein sündenschwerer Crêpe. Gute Nacht.
 

Der Morgen kommt schnell. Nach dem Frühstück und einer kurzen, aber obligatorischen Diskussionen entscheiden wir uns beim Backen für klassischen Mürbeteig mit etwas Zitronenabrieb und Schokolade, während unsere Mutter Makronen und russische Kolachki zubereitet. Zusätzlich und ganz ohne meine Zustimmung entscheidet sich Lena dafür, ihren ominösen Ideenirrsinn in Form der verwendeten Plätzchenausstecher auszudrucken. Ganz und gar weihnachtlich natürlich. Sie kramt Fische, Monde und etwas hervor, was aussieht, wie ein Bauarbeiter, aber nach Lenas Erklärung eine Fee sein muss. Eine Katze und ein Waschbär runden das Kuriositätenkabinett ab. Woher wir diese Dinger haben, bleibt mir bis zum Schluss ein mehliges Geheimnis. Ich möchte die Gummibärchen zurück. Und Pudding. Ich schmuggle in einer chaotischen Minute noch ein paar simple Sterne dazu, während meine Schwester aus den Teigresten marmorierte Herzen knetet. Ich beschwere mich für meine Verhältnisse auffällig kleinlaut. Aber ganz ohne geht es nicht. Mama äußert ihre Begeisterung und Hendrik verdrückt den ofenfrischen Keks, ohne sich mit solchen Belanglosigkeiten zu beschäftigen. Ich bin froh, dass ich mich nach dem Backwahnsinn für eine gewisse Zeit verkrümeln kann. Auch der restliche verläuft Tag erstaunlich ruhig und ich traue mich abends ganz allein zurück ins Familiengeschehen.

Am Tag des Heiligenabends bauen Mama und Lena am Morgen den Weihnachtsbaum auf und fügen der sowieso schon reichlich vorhandenen Dekoration des Hauses zusätzliche Akzente hinzu. Ich warte sehnsüchtig auf den Glühwein. Am Abend gibt es Würstchen und Kartoffelsalat, nachdem das Mittagessen aus Milchreis bestand und nach mehreren Runden Zug und Zug sind alle Geschenke verteilt. Ich fröne dem letzten Platz mit Würde und sehe gar nicht ein, mich deswegen zu beschweren. Wenn ich jetzt noch Ehrgeiz entwickle, muss ich häufiger spielen und das ist nicht in meinem Interesse. Ich lasse mich auf die Couch fallen, höre meine Familienmitglieder durch das Haus wuseln und ziehe mir eines der Frauenmagazine heran, die Mama hortet. Diesmal gibt es keine verwertbaren Sextipps und ich bin kurz davor, es wieder beiseitezulegen. Doch dann finde ich einen Artikel zum Thema Selbstoptimierung. Ich bin hoffnungslos. Die Quintessenz, die ich daraus ziehen kann und auch meine Mutter bestätigen könnte, die ich aber keineswegs danach frage.

Immer wieder vernehme ich Rascheln und Klirren. Schließlich setzt sich Mama zu mir in die Stube, schaltet den Weihnachtsbaum an und summt, während sie in einem ihrer Geschenke blättert. Es ist ein Bildband über Secret Places der Natur, den ich im Buchladen gefunden habe. Ich höre ihr einen Moment lang zu, weil ich herausbekommen will, was sie da summ. Ich gebe auf und widme mich wieder der Zeitschrift. Auch mein Jahreshoroskop offenbart mir keinen rosigen Ausblick. Was solls. Das Klingeln an der Tür ignoriere ich.
 

„Robin!“, ertönt es laut. Lena, der Brüllaffe.

„Ja?“, erwidere ich energielos.

„Kommst du mal bitte!“, krakelt sie hinterher und übertönt dabei noch den letzten Rest der stillen Nacht. Ich lasse meine Zeitschrift sinken und lege den Kopf nach hinten, sodass ich zur Wohnzimmertür, aber keineswegs in den Flur schauen kann.

„Wieso?“, rufe ich im höchsten Maße unwillig. Es ist warm, bequem und wohlig. Das Aufstehen erscheint mir als eine unnötige und vor allem unnütze Prozedur. Außerdem habe ich Jeff schon öfter im Wichtelkostüm erlebt und das ist etwas, was ich nicht erneut haben will. Grüne Leggings! Muss ich noch mehr sagen?

„Verdammt, komm einfach her“, nölt sie.

„Nee!“, motze ich. Nun stupst mich Mama von der Seite an und schenkt mir diesen Mama-Blick. Allein der ist ein psychisches Folterinstrument, trotzdem kann ich ihm widerstehen. Ich drücke das Kissen fester an die Brust und widme mich erneut dem Käseblatt.

„Gut!“ Überraschungen mag ich sowieso. Diesmal ist der Mutti-Stups wesentlich fester. „Ist ja gut.“ Seufzend richte ich mich auf, hebe die schweren, müden Knochen. Ich trabe in den Flur, zu dem energetischen Quälgeist, der sich meine Schwester schimpft und nach drei Gläsern Glühwein noch erstaunlich bei der Sache ist. Noch in der Tür höre ich sie kichern und dann vernehme ein vertrautes Raunen. Neben Lena taucht eine große, schwarzhaarige Gestalt im Flur auf.

Analoge Analogien beim axiomatischen Stresswichteln

Kapitel 7 Analoge Analogien beim axiomatischen Stresswichteln
 

Kain. Mann meiner anhaltenden und kühnsten Gefühlsirritation. Mit ihm habe ich nicht gerechnet und genau das macht mir auch das anschwellende Pochen in meiner Brust deutlich. Der Überraschung folgt Wärme, die tief aus meinem Inneren dringt und meine Fingerspitzen zum Glühen bringt. Doch sie wechselt ebenso schnell hin zu einem leichten Unbehagen, welches feinzwiebelnd durch meine Nervenbahnen rinnt und meine Hirnwindungen in eine Achterbahn voller Fragewörter mutieren lässt. Der große dunkelhaarige Mann hängt seinen Mantel an der Garderobe auf, während meine Schwester zwischen mir und ihm hin und her sieht. Jedes Mal ändert sich spielerisch ihr Gesichtsausdruck, so als würde sie versuchen zu ergründen, welcher davon meine aktuelle Gefühlslage widerspiegelt. Oder seine. Beim letzten Schwenk streckt sie mir die Zunge heraus, weil es ihr nicht gelingt. Doch meine wirkliche Aufmerksamkeit liegt bei Kain.

„Frohe Weihnachten!“, grüßt er lächelnd und bemüht ruhig. Er greift nach einem rot-beige gesprenkelten Weihnachtsstern, der auf der Kommode abgestellt ist oder der bereits dagestanden haben könnte, ohne dass ich es die letzten Tage bemerkt habe. Kain wirkt trotz des Weihnachtsbeiwerks seltsam deplatziert in dem kunterbunten Wahnsinn, der sich unser Flur schimpft und den ich nur mit geschlossenen Augen durchschreiten kann. An Lenas Finger baumelt eine Präsenttüte, die die perfekte Form für Weinflaschen hat. Er ist bestens vorbereitet. Meine Schwester schürzt die Lippen, ehe sie sie zu einem Grinsen verzieht und sich zu mir rüber lehnt. Sie wackelt mit den Augenbrauen und deutet Kains offensichtlichen Bart an. Sie hat ihre Freude an der ganzen Situation. Ich überbrücke die Distanz zwischen uns mit gezwungener Ruhe und bleibe neben ihm stehen. Selbst meine Hand streckt nach ihm aus, doch dann setzt das Zögern ein. Und es ist gut so, denn direkt hinter mir taucht meine Mutter im Flur auf. Auch sie empfängt Kain mit einem überraschten Weihnachtsgruß.

„Hi. Bitte entschuldigt mein unerwartetes Auftauchen, aber ich…ich musste... ähm...“

„Plötzlich fliehen? Die Welt retten? Dem Weihnachtsmann beim Verteilen der Geschenke helfen? Kein Problem, wir sind verschwiegen“, witzelt Lena. Der Schwarzhaarige lacht und ich werfe meiner Schwester einen zugegebenermaßen leicht verstörten Blick zu. Dennoch ringt Kain weiter mit den Erklärungen und streckt, statt weiter zu stammeln, den Weihnachtsstern in Mamas Richtung. Sie lacht fröhlich auf, nimmt das kleine Geschenk dankend entgegen, was daraufhin deutet, dass die schamlose Bestechung funktioniert. Sie schaut zufrieden zu mir. Ich zucke unwissend mit den Schultern und suche Kains Blick. Er lächelt, ohne, dass es sein gesamtes Gesicht erreicht. Etwas stimmt nicht, das sagt mir auch die Unruhe in seinen Bewegungen. Es ist unscheinbar, aber da, wie die Fingerspitzen der freien Hand, die gegen seinen Oberschenkel klopfen. Die Tatsache, dass er mehrere Male in einem unbestimmten Rhythmus zurück und wieder vortritt. Die bunten Lichter im Türrahmen verstärken den Eindruck, während sie wirr wie bunte Comicpanel über sein Gesicht flackern.

„Wie aufmerksam von dir, danke sehr. Komm rein, komm rein. Hast du schon etwas gegessen? Wir haben Würstchen und Kartoffelsalat. Du bist sicher durchgefroren. Lena, setz bitte Wasser auf“, plaudert meine Mutter drauflos, noch bevor ich einschreiten kann und tätschelt ihm willkommen heißend den Oberarm. Kains angespannte Schultern senken sich. Als hätte er geglaubt, dass wir ihn rausschmeißen. Lächerlich. Das würden Lena und Mama niemals zu lassen. Eher verbannen sie mich wegen Lächerlichkeiten in den Schuppen.

„Klingt fantastisch. Vielen Dank, ich…“, setzt er an.

„Ja, absolut fantastisch, entschuldigt uns kurz“, schneide ich ihm das Wort ab, greife mir Kains Rucksack, der an der Kommode lehnt, packe den Schwarzhaarigen gleichzeitig am Ärmel seines Pullovers und ziehe ihn mit mir mit. Bereits auf dem halben Weg nach oben löse ich meinen festen Griff und halte den Zipfel des Stoffs nur noch locker. Kain trottet mir anstandslos hinterher. Vor meinem Zimmer überholt er mich, nimmt mir dabei den Rucksack aus der Hand und läuft als Erster in den Raum.
 

„Wieso bist du nicht bei deiner Schwester?“, frage ich hastig und schonungslos, als ich die Tür schließe und folge Kain, der vor meinem Bett stoppt. Mit der Erwähnung seiner Schwester sackt er förmlich in sich zusammen und lässt den Rucksack fallen, der mit einem rasselnden Wumms zu Boden geht. Trotz der Breite seines Rückens wirkt er seltsam schmal in diesem Moment.

„Wegen eines Vorfalls, - den man mir nicht genauer definiert hat-, ist es ihr nicht erlaubt, Besuch zu empfangen“, erklärt Kain in einem gestelzten Ton.

„Wie bitte? Ein Vorfall?“, hake ich entgeistert nach. Kains Schultern zucken aufgeregt nach oben und seine Hände heben sich passend dazu wackelnd in die Luft, während er sich zu mir umdreht. Er sieht aus, wie eines dieser wabbelnden Werbedinger, die man mit Luft in Bewegung versetzt. Ich habe keine Ahnung, wie man die nennt.

„Ja, ein Vorfall. Kurz gesagt, ich darf sie nicht sehen. Jedenfalls nicht in den nächsten zwei Wochen. Nicht zu Weihnachten. Nicht zu Silvester. Meine Eltern natürlich auch nicht, aber heyyy, was solls. Da sie nicht zu Sahara müssen, haben sie jetzt endlich Zeit für eine Cocktailparty. Eine Cocktailparty!“ Den letzten Teil betont er ausdrücklich. „Kannst du dir das vorstellen?", spuckt er hinterher. Aus seinen Worten vernehme ich reine Wut und Empörung. Doch sein Blick spricht von einem tiefen Schmerz. Ich verstehe noch immer nicht vollkommen, was geschehen ist.

„Okay, Moment, was genau ist gestern passiert?“, erkundige ich mich ruhig und hoffe, dass es sich auf Kain überträgt.

„Nicht gestern! Schon vor ein paar Tagen. Meinen Eltern wurden umgehend durch die Betreuer informiert. Nur hielten sie es nicht für nötig, mir das mitzuteilen. Nein! Stattdessen ließen sie mich wie ein dummes Äffchen bei sich antanzen. Denn sie wussten ganz genau, dass ich mich sonst geweigert hätte, zu kommen“, wettert er zerknirscht. Ich habe ihn noch nie so gesehen. Unwirsch macht er ein paar Schritte zur Seite, dreht sich weg und wieder zu mir. Kain ist das pure Abbild seiner Gefühlsregungen.

„Die Einrichtung macht keine Ausnahme? Nicht mal für dich?“

„Nein, die Patientinnen sollen und müssen lernen und verstehen, dass ihr Handeln Konsequenzen hat und dass es auch bei Feiertagen keine Ausnahmen gibt“, erklärt er mit verbitterter Stimme und beißt die Zähne zusammen. „Tut mir leid, ich wusste einfach nicht, wo ich hinsoll. Ich war so sauer auf meine Erzeuger und auch auf Sahara… und habe mich einfach ins Auto gesetzt. Als ich wieder klarer denken konnte, da war ich schon… hier.“ Wütend Autofahren. Grandios. Nun ist es an mir, die Selbstzerstörung meiner Zähne zu beschleunigen.

„Hoffen wir mal, dass du niemanden umgefahren hast“, entgegne ich mild angesäuert und werde durch Kains entrüsteten Blick sofort in meinem fies anmutenden Enthusiasmus gestoppt. Ich meine es nicht einmal sarkastisch, sondern durchaus ernst. Emotional Autofahren ist eine äußerst schlechte Angewohnheit und nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Ich weiß es aus erster Hand. Das scheint auch Kain zu begreifen und macht einen Schritt auf mich zu. Er tastet nach meinen Fingern. Ich lasse es geschehen, als seine Fingerbeeren meine berühren.

„Entschuldige. Ich weiß, dass es unverantwortlich ist und ich hätte mich vorher beruhigen müssen.“ Kains Fingerspitzen sind kalt, als sich unsere Hände vollständig treffen und er sie miteinander verschränkt. „Ist es okay, dass ich hier bin?“

„Nach dem Kartoffelsalat schicke ich dich zu Jeff“, äußere ich schlicht.

„Dann möchte ich keinen Kartoffelsalat mehr“, antwortet Kain mit weicher, tiefer Stimme. Sie vibriert auf meiner Haut, wie der Bass eines zu heftigen Songs.

„Das macht meine Mutter sicher traurig.“

„Spatz.“ Wieder ein Schauer, so heftig, dass nicht verhindern kann, dass ich abrupt ausatme. Ich schaue auf und vertiefe mich in den braunen Augen, die mir jedes Mal mehr zu verstehen geben, als mir lieb ist. Sie zeigen mir Sehnsucht und offenbaren mir einen Hunger, mit dem ich nicht umzugehen weiß, dem ich nicht gewachsen bin, denn er ist nicht körperlich. Kains Blick flimmert über mein Gesicht wie ein geisterhaftes Streicheln. Von den Augen, über die Nase, zu meinen Lippen. Dort verweilt er und ich merke, wie mich jede vergehende Sekunde näher zu ihm zieht. Direkt an seine Lippen. Dichter an den Strudel seiner berauschenden Nähe.

„Wir sollten wieder runtergehen oder… du bleibst oben und boxt eine Weile das Kissen dort. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es darauf steht, aber... hin und wieder ziert es sich“, witzele ich abrupt und weiche von ihm zurück, während ich umständlich auf die angepriesene stoffige Kopfstütze deute. All das viel mehr, weil ich es nicht besser weiß und mich die intensiven Momente überfordern. Kain schüttelt grinsend sein Haupt.

„Danke für das durchaus neckische Angebot, aber ich schulde deinen Eltern eine Erklärung, wieso ich wie ein Hunne hier einfalle. Aber vorher…“, murmelt er und zieht mich zurück, sodass ich gegen seine Brust pralle. Sein Gesicht legt sich direkt in mein Halsbeuge und ich halte den Atem an, weil es unvorstellbare Dinge in meinem Körper anrichtet. Hätte ich einen roten Alarmknöpf, würde er aus voller Kraft leuchten.

Er streift mit der Nase die empfindsame Haut am meinem Hals. Es ist die linke Seite und dort reagiere ich ganz besonders heftig darauf. Ich fühle, wie der warme Atem bei jedem Ausstoß eine Welle anschlägt, die mich aus dem Inneren heraus erschüttert. Ich schließe meine Augen und spüre damit seine Wärme weitaus mehr.

„Wir müssen jetzt ...“, setze ich an, während Kain im selben Moment ebenfalls zu sprechen beginnt.

„Wieso riechst du wie ein Spekulatius?" Ich blinzele verwirrt. Oh. Das.

„Willst du darüber spekulieren?“

„Lena?“ Treffer.

„Lena“, bestätige ich zunächst ruhig, “Sie hat eine Handcreme gekriegt, die danach riecht. Mir ist unerklärlich, wieso man freiwillig nach Gewürzkeks riechen will. Echt widerlich. Und vorhin beim Spielen hat sie mich dauernd mit ihren beschmierten Händen angetatscht!“, motze ich instinktiv los. Ich hasse es, weil ich langsam von innen und außen zum Weihnachtsgebäck mutiere.

„Die Geschmacksrichtung gibt es auch für Lippenpflegestifte“, gibt Kain zum Besten.

„Was soll ich mit dieser Information?“, ersuche ich zweifelnd. Kain gluckst, behält den Grund dieser Äußerung für sich und drückt dabei seine Nase fester gegen meinen Hals, was nur halb so sehr kitzelt, wie diese sanften, feinen Berührungen davor. Ich drücke ihn dennoch sachte von mir weg.

„Genug“, raune ich kaum hörbar. Ich bin mir erst nicht sicher, ob Kain es gehört hat, doch er lässt wirklich von mir ab.

„Habt ihr auch noch echte Plätzchen zum Essen?“

„Es sind derartig viele, du könntest darin baden.“

„Sicher? Ich bin ziemlich groß.“

„Ist mir nicht aufgefallen“, entgegne ich gelassen und recke meinen Hals, um ihn ansehen zu können. Kain schmunzelt und stellt sich absichtlich auf die Zehenspitzen.

„Darf ich ein paar Kekse haben?“

„Klar. Ich hoffe, du stehst auf Weihnachtswaschbären und Bauarbeiterfeen.“

„Die sind mir die liebsten“, äußert er und streckt sich nach mir aus. Ich weiche aus.

„Na los, geh Kekse essen!“, murre ich und schiebe Kain zur Tür, bevor ich mir die Hand gegen den Bauch lege. Direkt über der Aorta abdominalis, die meinen Puls schallend in die Handfläche überträgt und tiefer in meinen Körper hinein. Ich atme kurz durch und folge dem anderen Mann nach unten.
 

In der Küche angekommen treffen wir auf Hendrik, der zuvor im Keller rumgestreunt ist. Er beginnt mit den Vorbereitungen für das morgige Weihnachtsessen und hat etliche Zutaten nach oben geholt. Er ist im Bilde, denn er wirkt wenig überrascht, den großen Schwarzhaarigen zu sehen. Kains Erklärung für sein plötzliches Auftauchen ist ehrlich, aber lückenhaft. Im Grunde läuft es auf Ärger zu Hause wegen seiner kranken Schwester hinaus. Kein böses Wort über seine Eltern. Kein Detail zum Zustand seiner Schwester. Natürlich lässt sich auch Hendrik von Kains Charme einfangen, auch wenn er sich zuvor bei Lenas Kommentar aufplusterte wie ein wütender Wellensittich. Einer dieser kleinen blauen, die man so wenig ernst nimmt wie quiekende Meerschweinchen. Wahrscheinlich liegt es an der guten Flasche Rotwein, die Kain mitbrachte und die auf der Arbeitsplatte neben dem Obsthaufen steht. Kain wird vermutlich niemals Geschenke von seinen Schwiegereltern bekommen, die er nicht möchte. Ich setze mich zu ihm und Lena auf die Couch, lümmele mich mit angezogenen Beinen gegen die Seitenlehne und halte den größtmöglichen Abstand zu Kain. Lena zwischen uns ist ein vortrefflicher Puffer. Es ist Hendrik, der das Gespräch mit Kain aufnimmt und ihn regelrecht ausfragt, denn er hat erstaunlicherweise Kains Ausführungen im Kopf, mit denen er mich damals überraschte, als er erklärte, was seine weiteren Studienpläne sind. Kain lässt sich von den tiefschürfenden Fragen nicht beeindrucken und schafft es, Verhör und Kartoffelsalatkomplimente miteinander zu kombinieren, wie beim Plädoyer eines Meisterkoch beim Staatsexamen. Mama stellt kurz darauf jedem von uns eine Tasse mit Glühwein hin und die von Kain gewünschten Plätzchen. Er ist selig und bekennt sich mit euphorischen Bekundungen, bevor er mit seinen jetzigen Bachelorwahnsinn fortfährt.

„Es ist ein gutes Arrangement. Die praktische Arbeit macht echt Spaß und ist vielschichtig. Die Kollegen sind sehr hilfsbereit. Ich kann jeder Zeit die Labore nutzen und wir bereiten gerade eine Studie vor, die ich bis zum Ende begleiten kann. Ich habe sogar eine Unterkunft bekommen. Eine kleine, möblierte Wohnung mitten in der Innenstadt“, erklärt er. Ich höre nur beiläufig zu, süffele meinen Glühwein, der auffällig viel Orangensaft beinhaltet und damit mehr als mundend. Genaugenommen ist er zu lieblich, aber was solls. Ich schlürfe schnell Leere und Gewürzkrümel. Ich zerteile einen lilafarbenen Waschbären-Keks in zwei Hälften und kann nicht mehr erkennen, was vorn und hinten war. Also schiebe ich die Stücke wieder zusammen und es ergibt immer noch keinen Sinn. Die Unterhaltung der anderen ist lediglich Geräuschuntermalung für mich. „Die meisten meine Kurse sind Donnerstag und Freitag, also kann ich von Montag bis Mittwoch dortbleiben, arbeiten und fahre Mittwochabend zurück zum Campus. Das ist optimal.“ Alle raunen zustimmend.

„Pff, nur wenn die Züge mitmachen. Optimal am Arsch“, murre ich in die leere Tasse, stecke mir das Wasch ohne Bär in den Mund und kriege erst nicht mit, dass mich alle beäugen wie ein buntes Zootier. Lena beginnt zu kichern. Ich sehe kauend auf. Kains Mund hat vergessen, was Synchronisation heißt, öffnet und schließt sich ein paar Mal und meine Mutter und Hendrik tragen einen Ausdruck in ihrem Gesicht, der eine Bandbreite von A bis Z aufweist. Ich entscheide mich für I wie ignorieren.

„Noch jemand Glühwein?“, frage ich mit einem unechten Lächeln und springe auf, ohne eine Antwort abzuwarten. In der Küche seufze ich schwermütig, greife mir die angefangene Flasche Glühwein und leere die letzten Reste in den vorbereiteten Topf hinein. Die Zimtstange und die Orangen sind mittlerweile dunkel gefärbt und ich lehne mich auf die Arbeitsplatte, während ich dabei zusehe, wie sie im Wein rumschwimmen. Lena hat gekichert. War es so offensichtlich? Es echot quasi durch meinen Kopf wie blanker Hohn. Es gefällt mir nicht und das sagt mir nicht nur das unterschwellige Simmern im Abdomen.

„Hey…“ Kain betritt die Küche. Er hält seinen leergefegten Teller und die Tassen der anderen in den Händen. Beides stellt er neben dem Herd ab. Ich behalte den Alkohol im Blick, um zu verhindern, dass er kocht und somit der nützliche Rauscheffekt flöten geht. Vielleicht könnte ich den Alkohol einfach inhalieren? Ich beuge mich weiter über den Topf, doch gerade als ich einen tiefen Zug nehmen will, schiebt Kain meinen Kopf mit zwei Fingern an der Stirn zurück. Ich schenke ihm einen mörderischen Blick und fühle Resignation als er einfach nur lächelt.

„Optimal am Arsch, ja?“, wiederholt er den Ausfall meinerseits und grinst. Ich wusste, dass er mich damit aufziehen wird. Früher oder später. In meinem Fall gleich. Ich rolle mit den Augen und rühre die rote Flüssigkeit um. „Und apropos Züge…“, fährt er fort und lehnt sich gegen den Küchentresen. Ich sehe ihn entgeistert an. Was kommt nun?

„Guck nicht so, du weißt gar nicht, was ich sagen will“, tadelt er meinen Blick. Ich ziehe einen Flunsch und schaue ihn danach regungslos an.

„Nicht unbedingt besser, aber was will man machen, das ist nun mal dein Gesicht, nicht wahr?“

„Du weißt Küchen haben Messer?“

„Werd kreativer“, schmettert er problemlos ab. Der Apfelgehäuseentkerner wäre auch gut. Beim nächsten Mal. „Also, was die Problematik mit den Zügen angeht, da hat dein lieber Mitbewohner ein kleines Weihnachtsgeschenk für uns… Er überschreibt mir das Auto.“ Während der effekthascherischen Pause im Mittelteil habe ich zwei Tassen mit Glühwein gefüllt und sehe nun überrascht auf.

„Im Ernst?“

„Im Ernst“, versichert er.

„Aber Jeff liebt sein Auto.“ Warum ist mir bis heute ein Rätsel. Es ist alt, laut und müffelt. Im Grunde ist Jeffs Auto wie der Onkel dritten Grades, den jede Familie hat und den man auf jeder Feier fürchtet.

„Tja, dich liebt er scheinbar mehr“, flüstert Kain mit einem Schulterzucken und beugt sich dafür dichter an mich heran. Ich kann Mayonnaise und Gurke an ihm riechen. So wie die vanillige Süße der Kekse. Es ist sonderbar und interessant.

„Hey, wo bleibt der Glühwein“, grölt Lena und rauscht in die Küche. Ich richte mich auf und drehe mich zum Herd.

„Reicht nur noch für zwei Tassen… du hattest schon genug“, fasele ich, drücke Kain eine der Tassen in die Hand und leere die andere in einem Zug. Zum Glück war der Inhalt dank meiner Ungeduld nie richtig heiß. Er ist dennoch so warm, dass ich merke, wie sich die warme Flüssigkeit zu meinem Magen arbeitet. Noch dazu spüre ich, wie mir der Alkohol trotz allerhand abmildernder Zusätze direkt in den Kopf steigt.

„Wohl bekommt´s. Ich beziehe jetzt das Gästebett. Sayonnara." Ich hebe die Hand lose zum Gruß und ignoriere die verständnislosen Blicke der Anwesenden.
 

Als ich am oberen Treppenabsatz ankomme, greift Kain nach meiner Hand. Natürlich hat er mich eingeholt. Ich bleibe nicht stehen, sondern ziehe den anderen Mann direkt in mein Zimmer.

„Du schickst mich also nicht zu Jeff…“, bemerkt er und läuft an mir vorbei zu seinem Rucksack. Statt nach ihm zu greifen, sieht er sich lediglich um, so, wie er es schon im Sommer getan hat. „…dafür aber ins Gästezimmer.“ Obwohl seine Stimme einen kuriosen Schwung vollführt, ist es eine blanke Feststellung und resultiert mehr oder weniger daraus, dass ich ihm nicht gleich antworte. Auch ich bleibe am Bett stehen. Doch obwohl uns nur eine Armlänge trennt, fühlt es sich an, als würde ich mich aus der Gewohnheit heraus weiter von ihm entfernen.

„Spatz. Was ist los?“, fragt er weiter, weil ich keine Anstalten mache zu reagieren. Ich zucke nur mit den Schultern und ziehe meine Schlafklamotten unter der Decke des Bettes hervor. Die Socken, die ich in der Nacht zuvor getragen habe, purzeln auf den Boden. Der grüne rollt zum Nachtschrank, der gestreifte landet bei Kain. Er hebt ihn auf und wirft ihn zurück.

„Ist spät. Lass... einfach schlafen“, schlurre ich abgelenkt und unvollständig. Irgendwas lässt mein Gemüt straucheln und ich weiß nicht, was es ist. Ich klemme mir die Schlafsachen zwischen die Beine und ziehe mir demonstrativ den Pullover über den Kopf, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. Ich schmeiße das ausgezogene Kleidungsstück auf einen Stuhl neben dem Kleiderschrank, der bereits mit einem Stapel frischer Klamotten belegt ist. Er wankt, fällt aber nicht. Irgendwas sagt mir, dass ich diesem Stapel gerade ganz ähnlich bin. Ich bleibe unschlüssig neben dem Bücherregal stehen, die Hände an meinem Gürtel, ohne ihn zu öffnen. Kain beobachtet mich aufmerksam, erkennt jedes Zögern, jeden winzigen Taumel meines Innenlebens, auch wenn er sie nicht immer korrekt deuten kann.

„Bist du doch sauer?“, pickt er letztendlich die Regung heraus, die bei mir am naheliegendsten ist.

„Nein“, sage ich, wende mich ab und schiebe ein paar Bücher in meinem Regal zurecht. Es sind diese kleinen flachen Hefte, gefüllt mit epischen Dramen, weisen Parabeln und herzschmerzender Liebesballaden, die ich im Laufe meiner Schulzeit lesen musste. Ich hatte sie nach Genre sortiert und Jeff irgendwann zu dem Farbverlauf eines Regenbogens. Eines steht falsch. Eines der Dramen, welche ich stets gehasst habe, welches mich Nerven gekostet hat ohne Ende und sich vermutlich bis zu meinem Ableben in meinem Kopf festsetzt.

„Du siehst aber verstimmt aus. Das aggressives Backfire, dass du sonst lieferst, wäre mir fast lieber... also bitte, rede mit mir“, entgegnet Kain und reißt mich aus den Gedanken. Aggressives Backfire also. Ich drehe mich langsam zu ihm um, nach dem Maria Stuart wieder an ihrem Platz ist.

„Ich bin nicht sauer.“, gebe ich zurück mit der maximalen Aggression eines Faultiers. Vielleicht bin ich minimal verstimmt. Doch das bin ich immer und in den seltensten Fällen weiß ich warum. In der letzten Zeit verstehe ich oft nicht, wieso ich fühle, wie ich fühle. Wieso muss man überhaupt fühlen? Es ist anstrengend. Ermüdend und lästig.

„Was ist es dann? Direkt und ohne Weglaufen, das war der Deal“, drängt der Schwarzhaarige weiter, verschränkt locker die Arme vor der Brust und lehnt sich gegen die Kommode hinter ihm. Immerhin lässt er mir Raum. Ich würde gern zurückfeuern, doch ich weiß nicht womit. Ich kopiere die Position und spüre, wie sich ein Brett des Bücherregals gegen einen der Wirbel in meinem Rücken drückt. Fast automatisch spanne ich meine Schultern an, sodass ich noch verkrampfter wirke. Das entgeht auch Kain nicht, der mich kritisch mustert. Wie heißt es so schön, man kann nicht nicht kommunizieren? Egal, wie sehr man es auch versucht. „Du willst mich nicht hier haben.“ Diesmal ist es keine Frage.

„Nein…“, erwidere ich angestrengt. Kain lässt die Arme sinken und sein Mund öffnet sich, ohne dass ein Laut seinen Weg hinausfindet. Sein Anblick in diesem Moment ist Wort genug. Oh. Es dauert etwas, bis ich begreife, dass er nicht das Schlafarrangement meinte. Oh! „Moment, so war das Nein nicht gemeint. Sondern mehr wie… Nein, das ist es nicht“, setze ich erklärend und leicht gequält nach, in der Hoffnung, dass ich nicht schon wieder einen Supergau produziere, weil ich unfähig bin, meine schriftlichen Fähigkeiten adäquat ins Mündliche zu übertragen. Ursache und Wirkung, die einen ständigen Kreislauf des Missverstehens verursachen. Es ist wie bei diesen Fragen, bei denen man nicht sicher sein kann, ob Ja oder Nein sie ablehnt. Kain atmet aus, nimmt sein Ausgangsposition wieder ein, doch seine Haltung ist weniger offen als zuvor. Auf Beziehungsebene versage ich wie immer auf voller Linie.

„Wie ist es dann? Es ist unübersehbar, dass du angespannt bist. Okay, wahrscheinlich weiß ich wieso, weil ich einfach hier aufgetaucht bin, ohne dir Bescheid zusagen…Ich habe mich reingedrängt und das passt dir nicht. Verstehe ich und das tut mir leid, aber...“

„Nein, Kain. Ich…“, setze ich an und breche wieder ab, weil es doch ein Grund ist. Aber nicht allein und nicht in der Intension, die er mir andenkt. Ich atme stark ein. „Ganz ehrlich?“ Ich stoße die Luft aus.

„Ich bitte darum. Ich kann deine Gedanken nämlich leider nicht lesen.“ Es würde ihm nicht mal etwas nützen.

„Ja, du bist hier und es verwirrt mich“, presse ich hervor.

„Was genau verwirrt dich?“, hakt er stirnrunzelt nach. Wieder spannt sich sein gesamter Körper, so, dass ich sehen kann, wie sich die Muskeln unter dem Stoff seiner Hose bewegen. Es ist nicht hilfreich. Meiner Konzentration nicht zuträglich. Ich überlege fieberhaft, wie ich es ihm erkläre, ohne dass ich wie ein absoluter Vollhonk rüberkomme und da ist jede Ablenkung kontraproduktiv. Vor allem weil ich gar nicht genau verstehe, was es ist.

„Kannst du noch eine Stunde warten, dann schreibe ich es auf…“, witzele ich und presse die Lippen aufeinander.

„Du verarscht mich doch, spuck es einfach aus, Robin“, blufft er. Einfach ausspucken. Diese Verhaltensweise sorgt bei mir selten für qualitative Beiträge. Kain seufzt, stößt sich von der Kommode ab, die zum Glück an der Wand befestigt ist und kommt geschmeidig auf mich zu. Ich rühre mich nicht, sondern sehe dabei zu, wie er direkt vor mir stehenbleibt. Ich starre direkt auf die u-förmige Kerbe, die durch den Musculus sternohyoideus an seinem Hals gebildet wird. Sein Adamsapfel hüpft als er schluckt. Mein Blick wandert zwischen beidem hin und her, aber nicht höher. Ich schaffe es nicht.

„Was genau empfindest du?“, flüstert Kain, „Was passiert da in deinem Kopf?“ Er tippt mir mit dem Finger gegen die Stirn, als würde es das Wirrwarr darin in Reih und Glied bringen können. Ist Chaos ein Gefühlszustand? Wie kann es sein, dass die Unsicherheit schreit, während die Gewissheit keinen Zweifel zulässt? Ist es schlicht Verunsicherung, die mich einzig daran hindert, das angeregte Kribbeln in meinem Inneren zu genießen? Kains Adamsapfel bobbt auf und ab und nicht mal die vielen Bartstoppel mindern das hypnotische Spiel, an dem ich mich festklammere, um nicht den Fokus zu verlieren. Dem konfusen Dunst in meinem Kopf hilft es wenig. Mit Daumen und Zeigefinger hebt Kain mein Kinn an, sodass ich wohl oder übel aufsehen muss. „Soll ich gehen?“ Da. Es geschieht wieder. Die Intensität seines Blickes macht mich für das metaphorische Meer, in das ich schaue, farbenblind. Denn wenn man ertrinkt, dann spielt die Farbe des Wassers keine Rolle mehr. Ich war ja noch nie ein Freund dieser massentauglichen Stilmittel, die durch ihre Omnipräsenz zur laienhaften Rhetorik verkommen. Doch auch ich falle ihrer mystischen Kraft anheim. Und Schuld sind diese lächerlichen, schönen braunen Augen, die mir zur gleichen Zeit eine sanfte Woge schenken und mich in einen reißenden Strudel zerren. Als würde man durch das alleinige Hineinstarren nichts anderes tun können, als sanft zu entschlafen und dabei einfältig lächeln.

Ist es das, worüber die großen Meister in den alten Dramen stritten? Ist es das, was die Philosophen der Weltgeschichte das Singen der Sirenen nannten? Ist das der Zauber, der selbst Gelehrte Vernunft und Intellekt vergessen ließ?

Egal, was es ist, es ängstigt mich. Und dennoch es ist unausweichlich und es ist beständig. Es nistet sich tief ein und verharrt. So sehr ich auch dagegen zu kämpfen vermag. Kain ist da und nichts in mir, kein Funken, kein My, will zu lassen, dass er geht.

„Nein.“

„Nein?“ Es klingt mehr wie das Flehen nach Sicherheit als das Necken, hinter dem es sich versteckt. In diesen Moment bin ich mir sicher, dass es auch für ihn nicht leicht ist. Ich bin daran schuld. Ich bin launenhaft und abweisend, wenn ich über meine Gefühle stolpere, wie ein tapsendes Kind über Spielzeug beim Entdecken des Kinderzimmers. Was diese Beziehungskiste angeht, stecke ich in Kinderschuhen fest, während Kain im Hinterhof seine erste Zigarette raucht. Eine, die ich nur zu gern in die Finger kriegen würde. Sei es nur für einen einzigen Zug, für einen einzigen klaren Gedanken. Damit wäre ich zufrieden. Er vermutlich auch. Auch, wenn er es verbirgt, ich sehe die Frustrationen, die jede meiner Unzulänglichkeiten schüren.

„Spatz.“ Ein flatterndes Flüstern. Ich schließe meine Augen, während es über meine Wange streift und mich erahnen lässt, was folgt. Der erste Kuss ist einfach, aber bedeutend. Der zweite intensiv und genießend. Diesen löst er nicht so schnell. Unsere Lippen bewegen sich übereinander. Kostend. Liebkosend. Kains Zunge beginnt meine zu locken, als ich mehr und mehr meinen Mund für ihn öffne, mich ihm weiter entgegen lehne. Er muss nicht lange darum bitten. Er muss kaum Mühen dafür aufbringen, denn ich schmelze in die Verbindung wie Eis in der prallen Sonne. Ich erwidere jede seiner Berührungen genüsslich, spüre, wie wir unbeweglich miteinander tanzen und ich langsam das vergesse, woran ich eben noch strandete.

Doch es ist nicht der richtige Zeitpunkt, nicht der richtige Ort. Vielleicht ist es nicht mal das richtige Leben, um mich zu verlieren, aber als wäre ich längst in dem anschwellenden Sog gefangen, schlägt mein Herz in einem stetigen Rhythmus einzig nach mehr, mehr, mehr. Es fleht. Ich gehorche. Es will. Ich scheitere. Ich schiebe Kain sachte von mir, sodass sich auch unser Kuss löst. Er hält seine Augen geschlossen, während sich meine zur Hälfte öffnen. Statt sich zu beschweren, streicht er mit seiner Hand in meinen Nacken. Hält mich und erdet mich, als hätte er selbst Angst davor, dass ich jeder Zeit ausbreche und fliehe. Es ist nicht unbegründet. Die plötzliche Wärme, die Sanftheit dieses schlichten Kontakts schlagen mir den letzten Atem aus den Lungen. Ich spüre seine Fingerspitzen tiefer in meine Haare gleiten, wie sie ein winziges Gewitter auf meiner Haut auslösen und die Spannung mit weiterem Verlangen belegen. Ich kippe meinen Kopf gegen seine Schulter, versuche mich auf etwas zu konzentrieren, was mir ermöglicht, klar zu denken. Doch da ist nichts. Nur Kain, in diesem Augenblick. Sein Geruch gemischt mit der Vertrautheit meines Elternhauses. Sein Geschmack auf meinen Lippen gewürzt mit Weihnachten und dem Bewusstsein, dass er vielleicht bleiben wird. Ich muss es nur richtig machen. Irgendwie.
 

Das Alles, seit dem Moment, ab dem Kain unerwartet bei uns in der Haustür stand, wäre ein perfekter Plot für eines meiner Bücher. Verrückt. Wenn ich darüber nachdenke, fallen einige Dinge, die ich mit Kain erlebe, in diese Kategorie. Dabei hätte ich schwören können, dass es sowas im echten Leben nicht gibt. Dass vielleicht ein Prozent aller Beziehungen eines schnulzigen, fluffigen Buches entsprechen und Szenen malen, die so vollumfänglich sind, dass sie vor Romantik triefen und jedem aufzeigen, dass Liebe möglich ist. Selbst dem begriffsstutzigen Protagonisten, der sich längst des Liebesschmerzvergessens verschrieben hat. Wahrscheinlich hätte ich es selbst noch kitschiger geschrieben und das schwebende Gefühl in meiner Brust besser verstanden. Doch dem ist nicht so. Das hier ist die Realität und für mich ist es nicht einfach, nicht fließend. Nicht mal hundertprozentig klar. Egal, welche Auflösung die Bilder haben. Denn der Zweifel ist stark. Die Angst ist präsent. Sie ist immer da und hier, in meinem Elternhaus, ist sie wesentlich stärker. René umgibt mich überall, obwohl er schon lange nicht mehr da ist und zu wissen, wie schnell es geht, etwas zu verlieren, was einem die Welt bedeutet, macht es so viel schwerer, es zu akzeptieren. Dennoch fühlt es sich anders an, schöner, hier und jetzt mit Kain zu stehen. Also mache ich das, wonach sich ein Teil von mir sehnt und drücke ein wenig mehr gegen die Mauern, die mich umgeben. Ich hülle das Gefühl ein, um es nicht zu vergessen, um es zu bewahren. Dann löse mich aus der Umarmung. Kains Augen sind mittlerweile geöffnet und blicken mir sanft entgegen. Er sagt nichts und ich danke es ihm. Ich greife endlich nach meinen Schlafklamotten, die zwischen meinen Beinen klemmen und lege sie auf dem Bett ab. Ich greife nach Kains Rucksack und stelle ihn auf meinem Nachtisch ab. Ich krame das Ladekabel seines Handys hervor und lege es auf dem Schränkchen ab. Ich nehme seine Waschtasche und ein paar Socken. Ein Paar gleichfarbige. Dilettant. Beides werfe ich dem Schwarzhaarigen zu, nicke und trabe ins Badezimmer. Gedankenlesen hin oder her, er versteht meine Einladung. Als ich mir am Waschbecken die Zähne putze, stößt er zu mir. Ich stoppe mit den kreisenden Bewegungen, als er mir einen Kuss gegen die Schläfe drückt und danach nach der Zahnpastatube angelt.
 

Am nächsten Morgen erwache ich, weil ich davon träume, nackt auf dem Himalaya festzusitzen und Eis zu essen. Mit all der schlafgescholtenen Kraft, die ich aufbringen kann, fuchtele ich mit der Hand in der Luft herum, um einzig festzustellen, dass meine Finger derartig steif gefroren sind, dass plötzlich alles schmerzt. Als ich das gleiche unerklärlicherweise auch mit den Füßen versuche, scheitere ich kläglich. Ich kriege sie nicht mal angehoben. Der Glühwein gestern hat ganze Arbeit geleistet, denn scheinbar war ich so betrunken, dass ich nicht mehr merkte, dass ich kurz davor bin, zu erfrieren und sich bereits Teile meines Körpers verabschiedet haben. Es folgt Phantomschmerz und einfach alles tut weh. Mein Kopf. Mein Rücken. Meine Arme und Beine. Sogar mein Ohrläppchen. Allerdings nur das Linke, jenes, welches nicht ins Kissen gedrückt war. Dabei war ich gar nicht wirklich betrunken gewesen. Sex hatten wir auch keinen und dennoch fühlt sich mein Körper schwer und unbeweglich an. Was vermutlich eine externe Komponente hat, denn so langsam wird mir klar, dass der Kerl, mit dem ich gestern keinen Sex hatte, die Decke okkupiert und seine Gliedmaßen als Anker benutzt. Ich greife hinter mich und ertaste etwas Stoff. Ohne Scheu und jeglichem Mitgefühl zerre ich daran und gewinne die Oberhand. Einfach bei einem schlafenden Gegner. Der Stoff, der nun mich bedeckt, ist angenehm körperwarm. Ich sammele jeden Fitzel zusammen und rolle mich darin ein, sodass nur noch ein paar Haare auf dem Kissen zu sehen sind. Selbst die frieren. Nun ist es an Kain, die Eiszeit zu erleben und er meldet sich erstaunlich schnell mit einem deutlichen Murren. Auch seine Füße bewegen sich, jedoch nicht von mir weg.

„Hey, … kalt.“ Auch er tastet rücklings, tätschelt dabei meine Hüfte und hat keine Chance. Ich gebe die Decke nie wieder her. Erst, wenn meine Körpertemperatur um mindestens drei Grad gestiegen ist. Meine brummende Antwort wird von der Bettdecke geschluckt. Ich höre, wie sich Kain neben mir regt, wie die Matratze auf und ab wippt und nun auch die Füße von meinen unteren Gliedmaßen verschwinden. Ich ziehe meine ein und schrumpfe auf die kompakte Größe eines Hamsters zusammen. Die suchende Hand tippt mir mehrfach gegen die Schulter und irgendwann bleibt sie auf meinem Kopf liegen. Ich lasse meine Augen geschlossen und stelle mir vor, wie Kains Daumen über den Stoff der Decke streicht. Das würde das kratzende Geräusch erklären. Langsam und beständig, da sein Körper selbst noch schlaftrunken reagiert. Es dauert weitere Minuten, bis ich einen deutlichen Zug an der Decke spüre und wie sich langsam immer mehr Luftlöcher bilden. Das erste an meinem Hintern. Das nächste an meinem Schulterblatt. Ich brumme ablehnend, kann aber nicht verhindern, dass sich die luftigen Lücken mit einem Festkörper füllen. Ich reagiere erst, als sich Kains stoppeliges Kinn in meinen Nacken presst.

„Fuck, ernsthaft?“

„Was?“, ertönt es unschuldig und er besitzt die Frechheit, sein Kinn demonstrativ über meinen Nacken zu reiben. Ich bestehe für einen Moment nur noch aus Gänsehaut, selbst meine Organe erpeln munter drauflos. Da ich nur in eine Richtung fliehen kann, falle ich aus dem Bett und schaue mit zusammengebissenen Zähnen zu dem Schwarzhaarigen.

„Hast du echt so viel zu tun, dass du nicht mehr dazu kommst, dich zu rasieren?“, erkundige ich nach einem Moment der Stille bei dem mehr und mehr nach Piratenhäuptling aussehenden Riesen hinter mir und frage mich, ob er ihn extra dran gelassen hat, um seine Eltern zu ärgern. Zuzutrauen wäre es ihm.

„Ich wollte mir einen Weihnachtsmannbart wachsen lassen, meinst du nicht, dass mir das steht?“, erklärt Kain mit ernster Miene.

„Du als Weihnachtsmann?“, wiederhole ich belustigt und komme nicht umher, mir zweierlei Dinge vorzustellen. Harmlos und Schamlos. „Halbnackt in einem Pin-up-Kalender für Frauen vielleicht. Ansonsten fehlen dir die Maße.“

„Pff, von wegen! Der Weihnachtsmann kann so aussehen, wie jeder ihn sich vorstellen will. Das ist die Macht der Fantasie. Moment! Stört dich mein Wuschelbart etwa?“, fragt er, kratzt sich über das feste Haar und bevor ich darauf antworten kann, schmatzt er mir gegen die Wange. Wuschel am Arsch. Es piekt deutlicher als gestern, also verziehe ich den Mund und rutsche eilig aus seiner Reichweite ans Fußende des Bettes. Darüber, ob er mich stört oder nicht, habe ich bisher nicht nachgedacht. Stören ist auch das falsche Wort. Es ist nur anders.

„Ich habe eigentlich nur keine Rasierklingen mehr, jedoch ist der Nebeneffekt so nutzbringend, dass ich es nur etwas hinauszögere.“

„Nebeneffekt?“, frage ich skeptisch. Ich weiß nicht, was daran, abgesehen von den thermischen Effekten hinsichtlich der niedrigen Temperaturen der Wintermonate, nützlich sein soll.

„Japp, er bringt meine Mutter zu Weißglut und das heißt, ich mag ihn“, klärt er mich auf. Meine Vermutung war also richtig. Ich erhasche noch einen kurzen Blick auf sein gehässiges Grinsen, als ich mich zu ihm umdrehe und ebenso sehe, wie er auf allen Vieren auf mich zu kommt.
 

Ehe Kain auch nur ansetzen kann, wird die Stimmung im Raum durch den Einmarsch des Todessterns zerrissen, der in Form des Star Wars Soundtracks aus seinem Handy ertönt. Demonstrativ lässt er seinen Kopf nach vorn kippen und als wäre das nicht genug, gibt er seiner Frustration auch geräuschvoll Ausdruck. Erst knurrend, dann ausformuliert. Ich habe ihn noch nie so viel am Stück fluchen gehören. Dennoch macht er keine Anstalten, nach dem Telefon zu greifen, daher nehme ich ihm den Weg ab und gehe um das Bett herum zum Nachtisch. Kain fällt seufzend zur Seite und ich werfe ihm das Handy in den Schoss, jedoch nicht, ohne vorher einen kurzen Blick auf den eingeblendeten Namen auf dem Display zu erhaschen. 'Erzeuger'. Kain schaut gequält auf. Das Klingeln hört nicht auf, also rutscht er zum Rand des Bettes. Es wirkt als wolle er sich erden, indem er die Füße auf den Boden stellt.

„Geh schon ran", fordere ich ihn auf und ziehe mir ein Shirt aus dem Schrank. Kain seufzt hinter mir und nimmt den Anruf entgegen. Keine Begrüßung und scheinbar ist sie auch nicht nötig, damit der Anrufer losgeht.

"Ja.... Nein... Nein... Ja. Nein." Klingt aufregend. Kain derartig kurzangebunden zu hören, lässt mich aufblicken. Er hat seinen Arm über dem Bauch gelegt und starrt auf seine wippenden Knie. "Nein. Warum? … Bei meinem Freund... Was spielt das für eine Rolle?" Ich schnüffle gerade an dem Shirt, als er das sagt. Statt es anzuziehen, stecke ich es zerknüllt wieder zurück und nehme mir stattdessen einen Pullover, den ich beim Verlassen des Zimmers überstreife.

Als ich unten ankomme, frage ich mich, wie ich es geschafft habe, die Treppe zu bewältigen ohne zu stürzen, denn ich kann mit Gewissheit sagen, dass sich mein Gehirn für die letzte Minute vollkommen abgeschaltet hat. Schuld ist Kain. Hat er ein Freund oder mein Freund gesagt? In meinem Kopf entsteht ein monotones Summen. Blackout. Schon wieder. Diesmal bin ich zum Glück nicht auf die Idee gekommen, die Treppe hoch oder runter zulaufen. Mein Erinnerungsvermögen straft mich sicher Lügen und im Grunde hat es auch nichts zu bedeuten. Ein Freund. Mein Freund. Daraus kann man nichts Konkretes ablesen. Wieso verursacht es mir dennoch Herzrasen? Es macht mich fertig und ganz ehrlich, es kann nicht gesund sein. Ich schüttele nach einem Moment den Kopf. Zähne putzen war ich auch noch nicht. Eigentlich habe ich ins Bad gehen wollen. Jetzt stehe ich im Flur. Wow, was ist nur los mit mir?
 

Schon im Flur kann ich meine Mutter leise zum eingeschalteten Radio summen hören. Obwohl ich leichtfüßig unterwegs bin, dreht sie sich zu mir um, als ich im Türrahmen auftauche und lächelt. Sie trägt eine dunkelblaue Jeans, dicke Wollsocken und eine Bluse mit lauter kleinen Mistelzweigen darauf. Lena hat ein passendes Kleid dazu, wobei ich mir sicher bin, dass sie nicht mehr reinpasst. Hendrik und ich bekamen damals Krawatten. Mein Pendant habe ich nie getragen, denn mir erschließt sich der Nutzen von Schlipsen nicht.

„Guten Morgen, mein Schatz, wie hast du geschlafen?“

„Wie ein Kiesel in einem Feld voller größerer Steine“ Schwer und kalt. Kains lange, muskulösen Beine lagen auf mir und er hatte die Decke. Mehr muss ich nicht sagen.

„Ich würde ja nach einer Erklärung fragen, aber vermutlich würde ich sie nicht verstehen.“ In diesem Fall würde sie es, doch ich bin nicht gewillt, sie Preis zu geben. Ich lächele lediglich verschwörerisch, stupse sie mit der Schulter an und wandere zum Wasserkocher. Ich fülle ihn mit Wasser, schalte ihn an und widme mich den vorbereiteten Tellern für den Frühstückstisch. Ich begutachte die viele frischen Zutaten. Gurke. Tomate. Verschiedenes Obst. Aufschnitt und Käse. Ein Glas selbstgemachter Himbeermarmelade. Das Einzige, was meine Mutter freiwillig von Hendriks Mutter annimmt.

„Ist alles okay mit Kain?", fragt sie beiläufig und wendet die Brötchen im Herd, „Er wirkte gestern zu Beginn ein wenig durcheinander.“

„Wirklich?“

„Ja, also, alles okay bei ihm?“

„Glaub nicht“, erwidere ich schlicht und liebäugle mit einer der roten Früchte des Nachtschattengewächses.

„Geht das nicht etwas mitfühlender?", tadelt sie mich und schlägt mir sachte das Handtuch gegen den Oberschenkel, als ich mir gerade eine Tomate in den Mund stecken will. Ich lasse sie prompt fallen.

„Was denn?", frage ich empört und erlege mit einem neuen Versuch gleich zwei der roten Früchte.

„Geht es ihm gut? Wie fühlt er sich? Was geht in ihm vor?" Sowas kann auch nur meine Mutter fragen. Wie kommt sie auf die Idee, dass ich darauf Antworten habe?

„Woher soll ich das wissen? Ich kann doch nicht in seinen Kopf gucken! Gedankenlesen kann ich auch nicht und will ich gar nicht." Und wie mitfühlend ich gestern Abend gewesen bin, will sie mit Sicherheit nicht wissen.

„Aber du könntest ihn fragen und Interesse zeigen. Sowas macht man bei Freunden“, schlägt sie vor und macht mit ihren Händen eine anmutige kreisende Bewegung, die mir gar nichts sagt und die ich nur skeptisch beäuge, während ich eine Seite meiner Oberlippe hochziehe. Sie kann ihn doch selbst fragen. Mama schüttelt ihren Kopf. Ich stecke mir die Tomaten diesmal wirklich in den Mund und hoffe, dass sie es als Signal dafür versteht, dass ich nicht gewillt bin, weiter darüber zu reden. Freunde! In meinem Kopf beginnt es erneut, sich zu drehen. Ich inspiziere den Teller mit dem Obst, klaube etwas Pflaume und Mandarine vom Teller.
 

„Sag mal, willst du nicht mal einen neuen kaufen?", fährt meine Mutter ihren Klagemarathon fort und zupft an meinen Pullover rum. Was habe ich ihr heute getan? Ich bin doch bisher nur aufgewacht.

„Warum?", frage ich und stecke mir das Obst in den Mund. Die Mandarine ist säuerlich und ich mag es.

„Den Pullover hast du jetzt sicher seit zehn Jahren."

„Und?" Er passt noch und erfüllt seine Funktion. Ich schaue an mir herab und wieder auf. Er ist nicht mehr flauschig, aber kuscheln war sowieso noch nie mein Ding. Egal womit. „Hast du was gegen meinen Pullover?"

„Nein, er ist nur alt und er hat da ein Loch. Der Weihnachtsmann sollte dir einen neuen schenken", erklärt sie und piekst mir durch die Öffnung hindurch in die Seite. Er soll es ruhig versuchen. „Mit dem da gehst du nicht vor die Tür, verstanden?“ Ich würde damit zu einer Hochzeit gehen, ohne darüber nachzudenken. „Deine Schwester hat sich übrigens seit neusten in den Kopf gesetzt, Koreanisch zu lernen.“

„Ich dachte, sie will boxen?“, frage ich verblüfft oder war es Rugby? Nein. Das war davor. Zwischendurch gab es noch Fechten. Ich bin mir sicher, dass Lena während der Hochzeit unserer Onkels darüber gesprochen hat, dass sie gern einen schwarzen Fechtanzug hätte, wie Wednesday Addams. Meine kleine Schwester ist sprunghafter als ein Grashüpfer. „Warum ausgerechnet Koreanisch?“

„Das kann ich dir nicht beantworten. Gibt es da eine koreanische Boxtechnik? So ein koreanisches Taekwondo?“, erkundigt sich meine Mutter voller Unwissenheit und schenkt mir einen arglosen Blick, während sie ein paar Scheiben Schinken auf einer Platte drapiert. Ich kann nicht anders und lache lauthals los.

„Mama, das kommt sowieso Korea“, erkläre ich erheitert und ernte einen leicht beschämten Stupser. Wahrscheinlich dachte sie an Karate.

„Redet ihr vom Essen?“, ertönt es hinter uns und Kain betritt die Küche. Er trägt einen hellen, wolligen Pullover über einer dunkelgrauen Jeans und mein eigentlich schweifender Blick wird verweilend. Er hat sich rasiert und sieht wieder aus wie ein griechischer Gott. Verdammt, dieser gutaussehende Mistkerl. „Guten Morgen.“ Kain lächelt einnehmend und wirkt nicht mehr ganz so mitgenommen wie gestern Abend, was vermutlich auch an den stoppelfreien Wangen liegt.

„Guten Morgen, Kain. Nein, es geht um Sport, nicht wahr?“ Die Frage richtet meine Mutter an mich.

„Nicht Linguistik?“, entgegne ich absichtlich Verwirrung stiftend. Es folgt Schweigen, dann lachen wir beide und Kain schaut stattdessen verdutzt aus der Wäsche.

„Einigen wir uns darauf, dass wir uns uneinig sind, okay? Was möchtest du trinken, Kain?“, fragt Mama den Schwarzhaarigen, während ich bereits zwei Espressopads aus der Schublade nehme und einen in der Maschine platziere, ohne aufzuschauen oder abzuwarten.

„Einen richtig starken Kaffee, bitte“, sagt er, während ich längst die Kaffeemaschine starte und durch das laute Brausen die Hälfte seiner Antwort schlucke.

„Ich kenne ein gutes koreanisches BBQ-Restaurant in der Nähe des Campus. Das Kimchi ist göttlich. Wir sollten mal dorthin gehen.“, schlagt Kain vor, beugt sich ebenso wie ich auf die Arbeitsplatte und schaut dabei zu, wie der braune Lebenssaft in das Glas tröpfelt. Er ist so stark, dass es mir in der Nase zwiebelt. Unsere Ellenbogen berühren sich und ich starre auf eine besonders weich wirkende Stelle an Kains Hals.

„In der Innenstadt gibt es seit kurzem ein Sushi- Restaurant“, teilt uns Mama mit und verhindert damit, dass ich meinen Finger nach der beobachteten Stelle austrecke. Stattdessen weiche ich zur Kaffeemaschine aus und lege das zweite Kaffeepad in die Maschine.

„Das ist aber japanisch“, merke ich an, schaue zu Kain, der schlicht lächelt und dabei umwerfend aussieht. Ich hasse ihn.

„Das weiß ich, du Besserwisser. Ich wollte auch nur erzählen, dass mein Goldschatz von Mann und ich dort bereits essen waren und es war sehr gut.“

„Hendrik hat freiwillig rohen Fisch gegessen?“, erkundige ich mich argwöhnisch, wende mich in den Raum hinein und sehe, wie der besagte Ehemann gerade die Küche betritt.

„Natürlich nicht. Es gab dort auch richtiges Essen und wirklich tolles grünes Eis zum Nachtisch, welches deine Mutter hatte. Das solltest du mal probieren.“

„Matcha-Eis“, erklärt meine Mutter uns, „Hendrik hatte einen Cocktail mit Sojasoße.“ Sie kichert wie ein Schulmädchen. Sojasoße im Getränk? Hendrik haucht ihr einen Kuss auf und stibitzt eine der Cocktailtomaten.

„Klingt nach einem sehr romantischen Date“, gibt Kain hinter mir zum Besten. Meine Mutter nickt eifrig und lächelt Hendrik entgegen. Ich ertappe mich dabei, dass ich unter keinen Umständen länger darüber nachdenken möchte, dass die beiden ein Rendezvous hatten. Noch weniger will ich daran denken, dass der große Kerl gerade seinen Finger in meine Hüfte piekst. Ich quieke langgezogen und hüpfe von ihm weg, strecke ihm stattdessen tadelnd meinen Finger entgegen. Kains unschuldige Miene überzeugt niemanden. Er rutscht wieder zu mir auf und zieht die fertige Tasse Kaffee zu sich heran. Er schnuppert, pustet in den Rauch und sieht mich danach verschmitzt lächelnd an. Gefährlich. Meine Ahnung kommt nicht von ungefähr.

„Wann holen wir eigentlich unseres nach?“, flüstert er. Ich starre ihm dabei auf die Lippen und merke, wie sich ein brizzelndes Gefühl in meinem Unterbauch bildet. Das erste Date, was niemals stattgefunden hat und welches Dank alltäglicher Umstände bisher nicht zur Sprache kam. Bislang. Ich schlucke unwillkürlich, sehe dabei zu, wie Hendrik und Mama mit den restlichen Speisen in den Nebenraum verschwinden und sehe danach erst zu dem Verursacher meines anstehenden kardiologischen Akutereignisses.

„Wann hast du denn mal keins mit deinem Muskelbuddy?“, entgegne ich schnippisch, schnappe mir meinen Tee und husche an ihm vorbei ins Esszimmer. Die Tatsache, dass ich im Grunde nicht Nein zu diesen antiquierten Balzgebären sage, lässt meine Fingerspitzen aufgeregt kribbeln und mich an meinem Verstand zweifeln. Verdammt. Wo bleiben die allesverschlingenden Erdlöcher, wenn man sie braucht? Oder die Meteoriten? Die Supernova, die das Leben unter Menschen um ein Vielfaches vereinfachen würde? In Gedanken versunken falle ich auf meinen gewohnten Sitzplatz und krieche erst wieder in die Realität, als Kain mir einen Toast vor die Nase hält.
 

Er bedenkt mich mit einem mehr als deutlichen Blick. Er wird es nicht vergessen und ich werde weiterhin alles dafür tun, ihm auszuweichen. Irgendwann beginnt Hendrik über das Mittagessen zu sprechen und die Aufgaben zu verteilen. Meine Mutter ordert Kain zum Rotkohl schneiden. Lena trifft mit einem Kissenabdruck auf der Wange ein, als wir über Kartoffeln oder Klöße debattieren. Sie will Knödel. Mir ist es egal. Ich favorisiere weder das eine noch das andere. Ich esse einfach. Auch Kain ist keine Hilfe, also erinnere ich daran, dass es im letzten Jahr bereits Knödel gab. Der Nachtisch obliegt wie immer mir und ich habe mich schon im Vorfeld für Maronen-Tiramisu entschieden. Niemand wagt es, sich einzumischen.

„Oh, vielleicht können wir nachmittags eine Runde Siedler von Catan spielen. Zu fünft macht es so viel mehr Spaß.“, wirft Lena zwischen zwei Happen in den Raum. Den letzten Bissen ihres Toasts belädt sie mit einem zusätzlichen Löffel Himbeermarmelade.

„Du willst ja nur jemanden haben, mit dem du schummeln kannst“, watsche ich sie direkt ab. Ich weiß ganz genau, was sie plant. Der Tisch lacht, nur Kain nicht. Er wirkt mit einem Mal abgelenkt und ich denke wieder an das Telefonat, welches er vorhin mit seiner Mutter hatte.

„Ich erkenne nicht, was daran falsch sein soll.“

„Und das ist das Problem“, gebe ich zu bedenken. Sie meckert mimisch. Lena kriegt die Aufgabe, den Tisch abzuräumen und ich schaffe es, Kain davon abzuhalten, ihr zu helfen. Ich ziehe ihn in die Bibliothek oder eher den abgegrenzten Teil des Wohnzimmers, in dem Mama Krimis stehen.

„Worum gings vorhin in dem Telefonat mit deinen Eltern?“ Kain presst die Lippen aufeinander, gibt ein paar unstete Geräusche von sich und sieht von links nach rechts. Geschmeidig an mir vorbei. Er schnalzt und ich weiß auch ohne diese Geräuschkulisse, dass er am liebsten nicht darüber reden möchte.

„Sie verlangen, dass ich morgen bei dem Familienessen anwesend bin. Sie meinen, ich würde mich zu sehr ausgrenzen und nicht mal versuchen, mit ihnen auszukommen.“

„Enterben sie dich, wenn du es nicht tust?“, erkundige ich mich, statt auf seine implizierten Anschuldigungen einzugehen. Kain schenkt mir einen mokierten Blick.

„Schön wäre es. Nein, sie drohen nur und erweitern die Palette an Vorwürfen.“

„Finanzieren sie dir nicht auch das Studium?“

„Tun sie.“

„Denkst du nicht, dass das Essen die Wogen vorerst glättet und sie dich danach wieder in Ruhe lassen würden?“

„Nein! Denn egal, was ich mache oder nicht, sie geben mir eh die Schuld an allem und finden neue Vorhalte. Ich könnte der beste Sohn der Welt sein und sie wären nicht zufrieden, also lasse ich das mit dem Hofieren.“

„Strategisch mangelhaft und dämlich. Meinst du nicht, dass sie sich in allem bestätigt fühlen, wenn du nicht zu dem Essen erscheinst?“, gebe ich zu bedenken. Kain verstummt lange. Sein Kiefer ist angespannt und seine Augenbrauen bilden eine deutliche Furche zwischen seinen Augen, die ich schon ein paar Mal bei ihm erleben durfte. Ich bin fast erleichtert, dass ich diesmal keine Schuld daran trage, dass er irgendwann dort permanente Falten entwickelt.

„Begleite mich“, äußert er ruhig nach der scheinbar für ihn aufschlussreichen Grübelei.

„Was?“, entflieht es mit stumpfsinnig und von dieser Wendung überrumpelt.

„Lass mich mit den Verrückten nicht allein, weil ich im schlechtesten Fall für den Rest meiner Lebenszeit in den Knast wandere und dort als Lustknabe für einen noch größeren Kerl als mich selbst Ende.“ Wie dramatisch.

„Das ist kaum möglich.“

„Wenn ich es dir doch sage“, versichert er so, als wäre es irgendwo festgeschrieben.

„Höchstwahrscheinlich würdest du zum Lustknaben von jemand werden, der viel, viel kleiner ist“, spekuliere ich unaufgeregt. Es projiziert interessante Bilder in meinen Kopf, bei denen ich die Lust verspüre, sie aufzuschreiben.

„Du bist nicht hilfreich.“

„Natürlich nicht. Du bist der, der absurde Vorschläge macht. Du kannst mich nicht einfach zu eurem Familienessen mitnehmen.“

„Wieso nicht? Ich nehme doch auch an eurem Teil. Außerdem, Familienessen, dass ich nicht lache", entgegnet er spöttisch und senkt seinen Blick, „In meiner Familie ist es wohl eher ein letztes Abendmahl am Weihnachtsfeiertag, mit anschließender Kreuzigung. Ich bin es so leid, allein gegen sie anzureden."

„Und du denkst meine Anwesenheit würde irgendwas daran ändern? Glaub mir, mit mir folgt die Sintflut.“ Und ich glaube kaum, dass Noah sein U-Boot schon fertig hat.

„Ich kann schwimmen.“ Ist Kains einziger Kommentar dazu. Ich sehe ihn mit kräuselnden Augenbrauen an.

„Dein Ernst?“, frage ich nach etlichen Minuten, die ich damit verbringe, sein Gesichtsausdruck zu interpretieren. Ich sehe keinerlei Zweifel. Ein wenig schadenfrohe Heiterkeit und einen Hauch von spitzbübischem Funkeln. Beides gut beschattet mit der augenscheinlichen Seriosität, die Kain aufsetzt, wenn er mit Professoren spricht. Irgendwas ist faul.

„Mein voller Ernst“, bekräftigt er daraufhin.

„Deine Eltern kennen mich nicht.“

„Dann lernen sie dich kennen.“ Es klingt fast wie eine Drohung.

„Es ist Weihnachten.“

„Makulatur.“ Wahrlich gäbe es keinen Anlass, der meine Abneigung schmälern würde, irgendjemandes Verwandten kennenzulernen.

„Ich bin nicht gesellschaftsfähig“, gebe ich zu bedenken und deute auf das von meiner Mutter entdeckte Loch in meinem Gammelpullover, welches stellvertretend für das Schwarze Loch steht, mit dem ich jegliche Sympathien verpuffen lasse. Der Schwarzhaarige begutachtet das Loch skeptisch und seufzt.

„Spatz…“, setzt er an und ich stoppe ihn schnell, indem ich ihm die komplette Hand über den Mund lege. Wir starren uns an. Ich schaue erschrocken und warnend. Kain zunächst irritiert, dann entschuldigend. Erst danach blicke ich zu den jeweiligen Ausgängen des Raums und unterdrücke das mulmige Gefühl in meiner Magengegend, während ich still hoffe, dass das niemand gehört hat. Lena würde diese Spatzen-Geschichte mit Freude aufnehmen und dann hätte ich nie wieder Ruhe.

„Das ist keine gute Idee“, führe ich uns zurück zum Punkt.

„Bitte.“ Schlicht und einfach. Es ist kein betteln, eher ein Er-geht-mir-solange-auf-die-Nerven-bis-ich-nachgebe.

„Warum?“

„Support?“

„Beim Weltuntergang?“

„Für mich, du Blödmann. Du kannst eine vortreffliche Ablenkung sein.“

„Oh ho“, begleite ich seine Erklärungsversuche.

„Beim Stressreduzieren oder zur Entspannung zum Beispiel.“

„Klar, Sex ist ein willkommener Aggressionsabbau“, erwidere ich spitz, aber flüsternd. Kain streckt seine Hand nach mir aus und packt mich am Kragen, jedoch ohne mich näher zu ziehen. Er schürzt die Lippen und zieht scharf die Luft ein.

„Wieso erstaunt es mich eigentlich immer noch, wie unsensibel du sein kannst…“

„Das muss die naive Weihnachtsstimmung sein. Wichteliwooh."

„Oder die Tatsache, dass du manchmal ein echter Idiot bist.“ Ebenso zutreffend. „Ich dachte ernsthaft, dass wir über dieses Es-ist-nur-Sex-Ding hinaus sind. Das kostet dich eine Karte..."

„Was? Nein, das ist gegen die Regeln“, wehre ich mich ad hoc.

„Wieso? Du darfst sie einsetzen, damit ich dich in Ruhe lasse und ich verlange eine, wenn du mir mit deiner uncharmanten Art auf die Füße trittst. Finde ich fair."

„Das ist nur in deiner Welt fair. Außerdem bin ich nach der Prämisse alle Karten nach zwei Tagen los."

„Gib doch einfach zu, dass du keine mehr hast“, kommentiert Kain keck und lässt meinen Pullover los, aber nicht, ohne mir danach mit dem Zeigefinger vom Adamsapfel zum Kinn zu streichen. Seine Augenbrauen tanzen neckisch auf und ab.

„Okay."

„Okay? Wow, das war einfach. Viel zu einfach!"

„Ich meine nicht die Time-out-Karten, sondern die Beihilfe zu der Apokalypse."

„Wirklich?", erwidert er perplex und lässt seine Hände sinken. Seine vormalige Begeisterung weicht einer paranoiden Skepsis. Ich kann es ihm nicht verübeln. “Einfach so?“

„Nein“, entgegne ich erwarteterweise, „Dafür bekomme ich alle Karten zurück und zwei Neue. Und…" Ich stoppe erneut, baue Spannung auf, so wie Kain es gern macht, wenn er mich foppt. Sein Blick schwankt zwischen meinen Lippen und Augen hin und her. „Du erklärst es meiner Mutter.“

Flamingo-Bingo zum Planters Punch

Kapitel 8 Flamingo-Bingo zum Planters Punch
 

Kain spielt die volle Bandbreite seiner natürlichen Charmeurhaftigkeit aus, obwohl ich mir sicher bin, dass es nicht nötig ist. Meine Mutter ist von Beginn an vollumfänglich verständnisvoll, kooperativ und schrecklich ergriffen. Warum auch immer. Es muss die Jahreszeit sein. Irgendwas sagt mir, dass sie mit zu viel Enthusiasmus ein paar Mitbringsel zusammenstellt, die ich Kains Eltern mit ihren besten Wünschen überreichen soll. Als Prävention gegen garantierte Ausfälle meiner dezent akzentuierten sozialen Fähigkeiten. Ihre kleinen Seitenhiebe mir gegenüber sind diskret und in anspruchsvolle Worte gepackt. Kain sehe ich mehrfach schmunzeln. Letztendlich drückt Mama es mit ‚zu sehr Robin‘ aus, was den Schwarzhaarigen lauthals und wissend zum Lachen bringt. Nach diesem verlorenen Wortgefecht fühle ich mich den Socken eines kauzigen Eremiten näher als dem Einsiedlerprädikat selbst. Doch was soll ich tun? Ich bin so. Niemand weiß das besser als meine Familie. Der Ulk ist hausgemacht, daher darf ich mich nicht darüber beschweren, dass die Menschen um mich herum darauf Bezug nehmen und sich ausspinnen. Allerdings trägt es ebenso wenig dazu bei, dass ich gewillt bin, etwas daran zu ändern. Starrsinn ist mein Lebenselixier und setzt damit eine Spirale der selbsterfüllenden Prophezeiungen in Gang.
 

Kain revanchiert sich für die Großzügigkeit und das Verständnis meiner Familie, indem er Hendrik beim Kochen zur Seite steht wie ein perfekter Sous Chef. Keiner von uns anderen war jemals so gefügig wie er, wenn es darum geht, Hendrik beim Kochprozess zu begleiten. Mein Stiefvater scheint es sehr zu genießen und Kain sich nicht daran zu stören, dass er gescheucht wird wie ein Tennisball in Wimbledon. Bisher kann ich Kains Kochfähigkeiten nur in die Form von Fischstäbchen pressen. Nicht, dass das zusammengewürfelte Mahl von damals schlecht gewesen ist. Im Gegenteil. Es war ausgesprochen lecker, wenn man Sina und ihre unliebsame Unterbrechung ausklammert. Ihre unheilsamen Flirtversuche verfolgen mich bis heute und wenn ich ehrlich bin, hinterlässt es stets einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Eigentlich war das Essen damals fast wie ein Date, aber zu dem Zeitpunkt wollte ich nicht mal daran denken. Jetzt allerdings beginnt, während ich darüber nachdenke, etwas in mir zu flattern und ich versuche mich schnellstmöglich auf andere Dinge zu fokussieren.

Lena wird nach kurzer Diskussion zum Entremetier und greift sich das Gemüse. Meine Mutter sucht das gute Geschirr und ich fühle mich schlicht und einfach überflüssig. Demnach verschwinde ich nach oben, um ein paar Klamotten zusammenzupacken. Ich sehe auf, als meine Mutter gegen den Rahmen meiner Zimmertür klopft und beschwingt auf mich zukommt. In ihren Händen hält sie eine gefaltete, frischgewaschene Jeans.

„Hier. Ich dachte, die könntest du gebrauchen“, erklärt sie neckend.

„Oh, danke sehr, das ist wahrhaftig die Einzige, die noch keine Löcher hat...“, witzele ich heiter mit und trage meinen ramponierten Pullover mit Grazie. Ich ernte dafür einen ernsten Gesichtsausdruck.

„Das ist nicht mehr lustig, Schatz, brauchst du Geld für etwas Neues?“, fragt sie und haut mir die Jeans sachte gegen den Kopf, ehe ich sie abfange.

„Näh, am Geld liegt´s nicht. Nur an dem Fakt, dass Shopping nervig ist und dem Einzelhandel der Funktionalitätsgedanken von Bekleidung dank Statussucht abhandengekommen ist.“ Meine Mutter seufzt fast so perfekt, wie es Jeff macht. Vielleicht sollten sie einen Chor gründen. Jeff und die Mimimis.

„Robin, im Ernst, soll ich dir etwas überweisen?“

„Mama, im Ernst. Ich brauche kein Geld, okay? Mir geht’s gut…“ Atme. Esse. Verfall. Und so weiter und so fort. Es auszusprechen spare ich mir.

„Nichtdestotrotz musst du dich vernünftig anziehen. Auch bei der Arbeit“, fährt sie mir mit ihrem klassischen Elternratschlag dazwischen.

„Ich garantiere dir, dass sich bei der Arbeit niemand für meine Klamotten interessiert“, kommentiere ich amüsiert und stopfe die Jeans in meinen Rucksack. Ich könnte in Unterwäsche oder Badehose an meinem PC sitzen, es tangiert keinen. Wahrscheinlich würde es nicht mal Jeff bemerken, hätte ich nicht dieses auffällige Tattoo auf meinem Rücken, wonach er fragen würde. Als ich mit Verstauen der Hose fertig bin, drehe ich mich erneut zu ihr um und erstarre bei dem Blick, den sie mir entgegenbringt. Entsetzen. Es ist übel und ich begreife nicht, warum.

„Erzählst du mir gerade, dass du bei deinem Job nackt bist?“

„Was? Nein!“, gebe ich schnell von mir. Wo kommt das plötzlich her? Es fühlt sich an, als öffnete sich über mir ein Wasserfall mit bergfrischem Quellwasser.

„Hör auf mit den Ausflüchten! Sag es geradeheraus. Ziehst du dich für Geld aus?“ Mein abruptes Leugnen entkoppelt ihren Fantasiewaggon.

„Denkst du wirklich, ich bin Stripper?“

„Oh Gott, ist es etwa noch schlimmer?“ Kollision. Frontal und ohne Überlebende. Die Augen meiner Mutter sind unerfreulich weit geöffnet und ich taste hilflos nach der Notbremse.

„Ein Verlag, okay? Ich arbeite bei einem Verlag! Bücher. Texte. PC. Homeoffice. Jogginghose. Schlafanzug“, zähle ich verteidigend auf und mir ist egal, dass meine sonst gekonnte Syntax auf der Strecke bleibt. Meine Stimme wird mit jedem ausgepressten Wort etwas höher, hastiger und ich sehe in einem Anflug der Erleichterung, wie sich ihre Gesichtszüge entspannen, „Wie kommst du bitte auf sowas?“ Nun lasse ich mein eigenes Entsetzen deutlich in die Frage einfließen und streiche mir mit beiden Händen über das Gesicht.

„Du machst immer so ein Geheimnis aus deiner Nebentätigkeit und da hatte ich gerade mütterliche Horrorvorstellung. Ich habe da erst vor kurzem so einen Krimi gelesen und der letzte Tatort. Puh!“, plaudert sie los, „Ein Verlag, also! Was genau machst du da?“

„Nur so Zuarbeit. Korrekturen und sowas.“ Ich brauche eine Herztransplantation und neue Nervenbahnen, denn die sind gerade in einem Anflug an Kurzschlussreaktion verbrutzelt. Um zu verhindern, dass sie meine bebenden Hände bemerkt, greife ich nach dem Rucksack und drücke ihn gegen meine Brust. „Du solltest auf ein anderes Genre umsteigen. Historische sollen gut sein.“

„Kannst du mir etwas empfehlen?“, neckt sie mich, „Verschweig uns nicht jedes Mal so viel, mein Schatz.“ Ihr Mahnen ist offenkundig und ich kann lediglich dümmlich grinsen. „Es gibt nichts, was meine Kinder tun könnten, durch das ich sie weniger liebe, das weißt du?“

„Sicher. Ich bin übrigens anständig.“ Meistens jedenfalls und je nach Auslegung.

„Hör ich gern und damit bin ich einverstanden“, sagt sie lächelnd und verschwindet zur Tür.

„Du hättest also etwas dagegen, wenn ich mich als Aktmodell betätige?“, rufe ich schnippisch hinterher und bin froh, dass sie nichts mehr in der Hand hat, was sie nach mir werfen kann. Bisher hatten sie und Hendrik stets Vertrauen in meine Entscheidungen, damit sollen sie nicht aufhören. Als sie außer Sichtweite ist, lasse ich den Rucksack los und laufe rückwärts zum Bett. Ich lasse mich fallen und fast sofort benebelt mich der Geruch von warmen Körpern. Kains Duft. Überall. Wie hat er das nach nur einer Nacht geschafft? Ich setze mich wieder auf, schüttele heftig meinen Kopf und kann nicht verhindern, dass meine Gedanken wieder zurückstolpern. Nun weiß meine Mutter, dass ich für einen Verlag arbeite. Verdammt! Vor lauter Schreck ist mir keine anderswertige Ausrede eingefallen, deswegen habe ich nach den naheliegendsten Strohhalm gegriffen. Was mache ich, wenn sie mich nach dem Namen des Verlags fragt? Wieso habe ich nicht einfach gesagt, ich wäre Katzensitter? Oder professioneller Bäumchenmobber. Aber auch das wären eindeutige Ausflüchte gewesen und im Grunde hat meine Mutter recht. Ich bekomme langsam das Gefühl, sie hat mich aufs Glatteis geführt und ich bin bravourös in ihre Falle geschliddert.
 

Ich teste noch mehrere Minuten lang meine Gehirnwindungen auf die übriggebliebene Funktionalität, schiebe die Summe meiner innerlichen Irritationen von der einen Ecke in die nächste und geselle mich mit rauchenden Nerven zu den anderen in die Küche. Sie sind fleißig am Werkeln. Ich beginne stillschweigend damit, das Dessert vorzubereiten, nutze die freien Stellen und Spots, die sich ergeben, während die anderen unentwegt und laut herumwuseln. Nur Lena sitzt an der Theke und lässt sich die zu schälenden Gemüse waschen und reichen wie die Diva, die sie gern wäre, während sie mit Kain über irgendwelche Sportereignisse redet, bei denen ich nicht mal die Sportart heraushöre. Die wenigen Male, in die sich auch Hendrik energisch einbringt, lassen mich erahnen, dass es um American Football gehen muss.

Ich zerkleinere die gebackenen Maronen, die wir schon gestern Morgen zubereitet haben und malträtiere sie mit dem Mörser, um sie besonders sämig und fein zu bekommen. Sie wandern in die Mascarponecreme, die ich aus aufgeschlagenem Eigelb, Zucker und aus dem benannten Doppelrahm-Frischkäse zusammengemixt habe. Kain klaut sich beim neugierigen Bespitzeln einen Löffelbiskuit, knuspert mir mitten ins Ohr, während ich diese sorgsam in einer Kaffee-Kakao-Lösung mit einem Hauch Orangenschale und Cointreau tränke. Der klassische italienische Nachtisch war mir zu langweilig. Ich arrangiere alles akkurat in der quadratischen Form. Das Schichten geht schnell und das Dessert wandert in den Kühlschrank. Den letzten Löffelbiskuit zerbreche ich in zwei Hälften. Ich lasse einen Teil in Kains und den anderen in Lenas Mund verschwinden. Danach lege ich mich bis zum Mittagessen auf die Couch und durchstöbere eine weitere von Mamas Frauenzeitschriften. Natürlich nur zur Vermeidung der Langenweile, nicht wegen der durchaus interessanten Artikel. ‚Vertraue deinem weiblichen Instinkt‘. Geht klar. Oder ‚Besser spät als nie‘. Nichts, was ich gewöhnlich gebrauche, aber ich kann etwas damit anfangen. Bei den beliebtesten Weihnachtsgebäcken Europas schlafe ich ein und werde erst mit einem Finger in der Wange wieder wach, der mich rhythmisch piekst. Ich murre, während das nervige Körperglied zwischen Stupsen und Streicheln hin und her wechselt. Ich nehme den feinen Geruch von Ingwer und Zitrone wahr. Doch erst als der foppende Finger meinen Nasenrücken entlang streicht, die Spitze anstupst und auf dem Amorbogen meiner Oberlippen trifft, öffne ich die Lider. Kains Augen schmunzeln und erst danach verzieht sich auch sein Mund zu einer passenden Form. Sein Lächeln ist zu sanft, um wirklich zu necken, zu warm, um es nicht zu genießen.

„Gibt gleich Essen“, flüstert er und tippt die Fingerbeere seines Zeigefingers komplett auf meine Lippen. Mit einem Zwinkern berührt er danach schmatzend seinen eigenen Mund und richtet sich auf. Ich folge in eine sitzende Position und schaue über die Rückenlehne hinweg zur Tür, durch die Kain verschwindet. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich fast anderthalb Stunden rumgelegen habe. Ich werde mich nicht dafür entschuldigen. Immerhin sind Feiertage dafür da und meine innere Batterie bedankt sich für jede Minuten frei von anderem menschlichem Leben.

Hendrik taucht als nächstes im Wohnzimmer auf, schiebt aber lediglich seinen Kopf durch die Tür. Er möchte wissen, ob beim Nachtisch noch irgendwas fehlt. Ich brabbele etwas von Kaki und karamellisieren. Er ruft nach Lena und sie wiederum, im Bruchteil weniger Sekunden, nach mir. Ohne mich bestände die Süßspeisenraffinesse dieser Familie aus einer Tafel Schokolade mit Sahne und Spekulatiuskrümeln. Ich gebe meiner Bettfrisur ein Couchfinish und schlurfe zu den anderen Hausbewohnern in die Küche. Es riecht fantastisch. Reichhaltig. Würzig. Weihnachtlich im angenehmen Sinn.

Mir werden sofort die orange Frucht und ein Messer in die Hand gedrückt. Ich suche mir stillschweigend ein Brettchen. Das scharfe Werkzeug lege ich zurück in die Schublade und verwendet stattdessen eine Reibe, bei der ich auch die Dicke der Scheiben einstellen kann. Ich brauche die Kaki superdünn, damit man sie gut mit dem Löffel zerteilen kann. Lena sieht mir dabei zu, wie ich die Scheiben sorgsam auf das fertige Tiramisu verteile. Das Karamellisieren erfolgt erst beim Servieren, - für den klassischen Knack-, also scheuche ich meine Schwester davon und suche unwillkürlich nach Kain, der zusammen mit meiner Mutter die Schüsseln füllt, schwatzt und scherzt. Sie lacht. Er passt gut in das Bild und dennoch fühlt es sich eigenartig an. Nicht schlecht. Nur ungewohnt. Kain ist ganz Kain, auch während des Essens. Er gehört zu der Sorte Mensch, die in jedwedes Szenario gesteckt werden können und niemals nicht dazu gehört. Manchmal beneide ich ihn um seine Sozialkompetenzen. Jedenfalls in solchen Momenten. Meistens sind sie mir bereits beim Zuschauen zu anstrengend.
 

Wir fahren erst am Nachmittag nach dem Essen und einer kleinen Runde Zug um Zug Europa los. Ich habe vor lauter Fresserei das Gefühl zu platzen und bin der Überzeugung, dass ich deswegen vergesse, nach Brest zu fahren, obwohl das zwei meiner Ziele waren. Weihnachtliches Überfressen? Schon am zweiten Tag erledigt. Während der Fahrt hole ich mein Handy hervor und checke die Nachrichten, die trotz meiner gutgeschmierten Ignoranzoffensive eingetrudelt sind. Es sind mehr als im letzten Jahr. Sie reichen von einfachen Grußformeln bis hin zu nervig blinkenden GIFs, die die gesamte Bandbreite an weihnachtlichen Sonderheiten umfassen. Bei einigen der Nervtöter bin ich mir sicher, dass sie es absichtlich übertreiben und die heftigsten brechreizfördernden Bilder verwenden, nur um mich zu mobben. Shari, zum Beispiel, schickt mir ein kunterbuntes Rudolph-das-Rentier-Kompendium und rundet ihre Nachricht mit einem zwinkernden Smiley ab, welcher glücklicherweise einzig aus den entsprechenden Interpunktionszeichen besteht. So, wie ich es mag. Ihr sei verziehen. Wie immer. Der hübschen Inderin kann man sowieso nicht sauer sein und ich frage mich, wie ihr Partner und ihr bester Freund das aushalten. Vielleicht sollte ich mir zusätzlich die Frage stellen, warum gerade sie oder auch Luci die Tastenkombination für meinen inneren Softie kennen. Ihr antworte ich mit einem schlichten `Frohe Weihnachten` und sende das Gleiche der kleinen Eisfee zu, die mir daraufhin prompt das Bild eines Eisbechers mit Zipfelmütze geschickt. Wo findet man so etwas? Danach tippe ich den Chat mit Brigitta an, schließe ihn aber direkt wieder, als wäre er elektrisch geladen. Es ist eine Bombe des Farbenfrohsinns und nur schwer zu ertragen. Selbst für Sekunden. Ich seufze schwer und starte einen neuen Versuch mit nur einem halbgeöffneten Auge. Ich tippe so lange auf das Kotzsmiley, bis das GIF aus dem Display verschwunden ist und atme aus. Meine Lektorin profitiert von einer jahrelang gefütterten Toleranz und der Tatsache, dass sie mich quasi ernährt. Ihre feierliche Märchenposse ist so kunterbunt wie die Lektorin selbst und verdient ein laufwarmes Merry-Christmas am Ende der Emojiconkette und das auch nur wegen des vorher genannten Grundes. Nächstes Jahr mache ich Urlaub in einer Wüste. Irgendwo in einem Funkloch. Die Kalahari soll sehr schön sein und wenn ich Glück habe, ist das Telefonnetz dort inexistent. Wie Kain wohl aussieht, wenn er auf einem Kamel reitet? Ich unterdrücke das tiefe Giggeln nicht, welches meiner Kehle entrinnt bei der Vorstellung, wie der Schwarzhaarige sitzend wegen seiner langen Beine quasi mit dem Paarhufer mitläuft.

„Teilst du den Witz mit mir?“, fragt Kain amüsiert und lockt mich zurück in die Welt, in der er meinen Chauffeur spielt. Ich schaue auf und betrachte sein Profil ausgiebig, während ich abwäge, ob es sich lohnt, meine Gedanken mit ihm zu teilen. Immerhin durfte ich mir vorhin einen weiteren Kommentar zu der bestätigten Unfähigkeit meines Beifahrerdaseins abholen. Wer bin ich schon, es nicht auch zu verifizieren. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als auf die befahrende Straße zu schauen, daher kann ich mir Zeit lassen.

„Würdest du auf einem Kamel reiten?“, frage ich dann doch.

„Einem Kamel?“, wiederholt er verdutzt und schnaubt, „Wäre es keine Tierquälerei, vielleicht. Ich bin nicht gerade der Typ, der reitet.“

„Schade“, kommentiere ich schlicht.

„Schade?“, fragt er irritiert zurück und ich beginne unweigerlich in mich hinzulachen, weil das Bild in meinem Kopf einfach köstlich ist „Wo genau kam das jetzt her?“

„Ach, nur so ein Gedanke“, beschwichtige ich und schaue schmunzelnd zur Seite, bis Kain seine warme Hand auf meinem Oberschenkel ablegt und jede Aufmerksamkeit zurück auf ihn lenkt.

„Weißt du was, Spatz?“, setzt er flötend und lächelnd an und wirkt etwas zu schwärmerisch. Der allzeit genutzte Spottname setzt eine Kettereaktion in Gang, die sich in den kleinsten Regungen meines Körpers zeigt. Mein Herz vibriert. In meinem Bauch entfesselt sich ein Ameisenhaufen. Das alles wegen eines dummen Spitznamens. Es schüttelt mich, während ich ungewollt lächele und das beginnende Kribbeln auf meiner Haut sinkt tiefer in mich hinein, bis es sich sanft und warm in meinem Magen bündelt. Mal für Mal mehr. Jeweils ein kleines bisschen stärker. Ich bin verloren. Als nächstes habe ich einen Kosenamen für ihn. Hoffentlich fällt mir etwas Besseres ein als Sweety oder Honey. „Ich hatte viel Spaß heute und das Essen war große Klasse, das musst du Hendrik unbedingt noch mal sagen.“

„Das hast du bereits.“ Dreimal genaugenommen. Während des Essens. Nach dem Essen und noch mal beim Losfahren. Keiner aus der Familie wird die überschwänglichen Anspielungen Hendriks überleben, die wir uns jetzt ein Jahr lang anhören dürfen. Kain lacht leise vor sich hin wie ein überdimensionaler Goblin.

„Oh, kommst du an den Beutel hinter mir? Da müsste eine Flasche Wasser drin sein.“ Ich schaue zur Rückbank, entdecke den roten Stoffbeutel und strecke meine Hand danach aus. Ich ziehe alles auf meinen Schoß, krame die Flasche Wasser hervor und reiche sie Kain geöffnet. „Ach und dein Weihnachtsgeschenk ist auch drin.“ Er trinkt und ich ertrinken in dem Strudel einbrechender Emotionen. Sie sind nicht unbedingt Willkommen heißend und schwer zu schlucken.

„Hatten wir das nicht besprochen?“

„Jup, und du wirst nicht tot umfallen, wenn du es ohne Worte annimmst und mir damit eine Freude machst“, kommentiert er, als er mit dem Trinken fertig ist und mir die Flasche zurück in die Hand drückt. „Es ist nur etwas Kleines.“ Ich spare mir die Erwiderung, dass ich nun nichts für ihn habe und dass es, gegen aller Erwartungen, kein gutes Gefühl ist. Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen. Es hält sich nie jemand an diese Art der Absprachen. Nie. Auch Lena und ich haben vor Jahren beschlossen, uns nichts zu schenken, mit dem Resultat, dass sie etwas für mich hatte und dann weinte.

„Machst du es nicht auf?“

„Können wir es wie Schrödingers Katze handhaben?“

„Du meinst, solange du es nicht öffnest, ist es nicht real?“

„In der Art.“ Kain sieht kurz zu mir, legt danach seine Hand auf meinem Knie ab und tätschelt es. Irgendwie auch ein Statement. Doch er lässt es ruhen und genau jetzt ist es das, was ich brauche.
 

Als wir endlich ankommen, ist es längst dunkel. Doch auch die mäßige Straßenbeleuchtung mindert nichts von dem Eindruck, den das Haus hinterlässt, vor dem wir halten. Das Stadthaus ist unumwunden imponierend und ich habe in keiner Weise damit gerechnet. Durch die Tatsache, dass Kain vor seinem Bachelor-Arrangement keinen Studentenjob wahrnehmen musste, war mir bewusst, dass seine Eltern sich ohne weiteres einen Vollzeitstudierenden leisten können aber das… Wow.

„Hier bist du aufgewachsen?“, frage ich, als ich ihm zum Kofferraum folge. Kain angelt nach meinem Rucksack und den Tüten mit den Mitbringseln, die meine Mutter zusammengestellt hat.

„Bin ich jetzt eine bessere Partie für dich?“, blödelt er, wirft sich alles über die Schulter.

„Nicht wirklich“, erwidere ich unaufgeregt. Nichts davon hätte irgendeine Bedeutung für mich. Eher gegenteilig.

„Schon daran gedacht, dass ich nur der Sohn des Butlers bin, der im Gartenschuppen wohnt?“; kommentiert er neckend, grinst verschmitzt und in meinem Magen rumort es, aber nicht nur wegen des stetig wachsenden Hungergefühls. Der Telenovela-Plot wird immer greifbarer. Ich fühle mich jetzt schon wie der schlechte Sidekick.

„Wäre mir lieber...“, erwidere ich leise. „Aber ich verstehe jetzt, wieso Miss Miststück dich nicht aufgeben will.“

„Nicht schon wieder das und nenn sie nicht so…Sag einfach ihren Namen“, murrt er seufzend. Ich würde es tun, wenn ich mich daran erinnern könnte. Ihr Name ist in meinem Kopf quasi geschwärzt, ausradiert und als nichtig erklärt. Wäre er in einer ägyptischen Stele vermerkt, hätte man ihn rausgemeißelt. Ich weiß nur, dass er mit M beginnt, was allerding auf eine Mehrheit an Namen zutrifft. Seit Jahren zeigt sich das auch in den Namensstatistiken bei den Vornamen von Neugeborenen. M und L sind allgegenwärtig. Für den nächsten Roman habe ich mir vorgenommen, keinen einzigen Namen mit M zu verwenden. Ich empfinde meine Beschreibungen für das rothaarige Biest viel aussagekräftiger. Drache. Scheusal. Hexe. Der Campus ist mein Märchenwald und ich bin der Held in Strumpfhosen. Außerdem weiß jede für mich relevante Person, wen ich damit meine. Glück für mich, dass Kain selten mitbekommt, wie ich sie sonst noch nenne. Meine Fantasie kennt keine Grenzen, ganz nach Albert Einstein. „Merena war nie hier gewesen“, erklärt er fast beiläufig und das so leise, dass ich es beinahe überhöre. Es überrascht mich abermals.

„Tatsächlich?“

„Was, glaubst du mir nicht?“, ertönt es pikiert, als er mein bohrendes Starren des Unglaubens bemerkt. Er studiert eindringlich meinen Gesichtsausdruck und ich nehme ihm den Rucksack ab, solange ich nicht weiß, was ich ihm antworten will.

„Doch, ich frage mich nur, ob das für oder gegen mich spricht.“

„Für oder gegen?“, erkundigt sich Kain verdutzt, scheint sich aber schnell zu fangen, „Für dich. Ganz klar.“

„Bist du dir sicher? Immerhin hast du keine gute Beziehung zu deinen Eltern. Warum also soll das hier positiv für mich sein?“ Ich treffe den Nagel direkt auf den Kopf und sehe es deutlich an seinem Gesichtsausdruck. Wie so oft wäre es heilsamer für mich gewesen, wenn ich es vorher durchdacht hätte.

„Spatz, das ist…“, setzt der Schwarzhaarige mit einem eigenartigen Ton an, leckt sich die Lippen und druckst ungewöhnlich rum, „Familie gehört nun mal dazu und ich will mein Leid mit dir teilen… macht man das nicht so?“ Kain knirscht weiter und schiebt mich im selben Moment sachte zur Seite, damit er die Kofferraumklappe schließen kann.

„Macht man das so?“, echoe ich mit Skepsis, ohne meinen Blick von ihm zu lösen. Kain erwidert ihn nicht, also folge ich ihm, bis er im Vorgarten stehen bleibt und ich fast gegen ihn stoße.

„Übrigens wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt für die versprochene Sintflut“, muckt er und sieht sich abwartend um. Nichts geschieht. Beruhigend für mich. Für ihn katastrophal. Kain seufzt und strafft seine Schultern, bevor er zur Eingangstür geht.
 

Beim Öffnen der Tür ist er leiser, als ich es ihm jemals zugetraut hätte. Nur ein feines Klicken ist zu hören und dann öffnet er sie erst einen Spalt breit, schielt hinein und wägt erneut ab, ob die Chance besteht, dass er ungesehen aus der Sache herauskommt. Wie gern hätte ich jetzt eines dieser Schilder, auf dem ein dummer Spruch steht, wenn er sich umdreht und mir ein Hotel schmackhaft machen will, so, wie er es schon während der Fahrt versucht hat.

„Kain!“ Bereits im Eingangsbereich vor dem Schuhe Ausziehen hören wir die weibliche, helle Stimme durch die hohen Räume schallen und ich spüre fast, wie sich der Körper des größeren Kerls neben mir weiter anspannt. Unglaublich, dass das möglich ist. „…Wie erfreulich, dass du hierher zurückgefunden hast. Du hättest Bescheid sagen sollen, wann du ankommst… Oh, und du bringst einen unangekündigten Gast mit.“ Eine schlanke Frau, etwas älter als meine eigene Mutter, erreicht mit wehender schwarz-roter Tunika das Ende der Treppe. Sie klingt weder bei der einen noch bei der anderen Äußerung ehrlich erfreut. Nur belustigt.

„Immer wieder eine Freude, hier zu sein…“, spottet Kain murmelnd in meine Richtung, „Mutter, das ist Robin. Er ist…“

„Ah, ich nehme an, das ist der Kommilitone, zu dem du schmollend geflüchtet bist. Nun gut, je mehr, desto besser, nicht wahr?“, flötet sie, ohne ihren Sohn ausreden zu lassen. Kain atmet tief ein, während sie mir einen Blick zu wirft, der höchst amüsiert ist und das aus nichts geringerem als Affektiertheit. „Dein Cousin trifft morgen ebenfalls ein. Wie erwartet ohne diese Freundin vom letzten Mal."

„So ein Familienessen wird das also… toooll, dann kann ich mit Nöli wetteifern, wer das fruchtlosere Leben führt“, kommentiert Kain überspitzt. Sein Blick flattert kurz zu mir, doch ich weiß partout nicht, was ich sagen soll. Meiner kurzen Analyse nach ist es besser; wenn ich in dieser Atmosphäre so wenig zusätzliche Spannung herbeiführe, wie möglich. Die beiden fahren auch ohne mein Zutun unbeirrt mit ihren Spitzen fort.

„Du weißt, dass er es hasst, wenn du ihn so nennst.“

„Dann hätte man ihn nicht Noel nennen dürfen. Warum ist er nicht bei sich zu Hause?“, erfragt Kain, nimmt mir die Jacke aus der Hand, hängt sie auf einen Bügel. Er bugsiert das Ganze in eine Art Garderobenraum und greift danach nach unseren Taschen.

„Seine Mutter…“

„Deine Schwester…“, berichtigt Kain.

„…seine Mutter verbringt die Feiertage in Spanien und er… nun ja, er sitzt vermutlich auf dem Trockenen“, berichtet sie unbeirrt weiter, „Apropos, was darf ich euch anbieten? Einen Drink? Braucht ihr Dinner?“

„Nicht wirklich“, erwidert Kain schnell, erinnert sich dann aber doch noch an mich, „Du?“ Den Drink würde ich fast nehmen. Die angestrengte Energie zwischen den beiden ist fast greifbar, auch wenn der Hauptteil von Kain ausgeht. Es wirkt, als würde er ununterbrochen die Luft anhalten und dabei schmerzhaft stark den Kiefer zusammenpressen. Ich habe ihn noch nie so angespannt gesehen.

„Vielleicht später“, lehne ich ab, weil ich befürchte, dass Kain jeden Moment vor Sauerstoffmangel umkippt oder sein Kopf explodiert.

„Wie ihr wollt. Dann lasse ich gleich noch ein Gästezimmer vorbereiten…“

„Nicht nötig“, verneint Kain salopp und subtil zweideutig. Er nutzt seinen freien Arm, um mich zur Treppe zu navigieren. Erst als wir oben ankommen, löse ich mich aus dem Griff und stoppe ihn mit warnendem Blick. Kain gibt ein undefiniertes Geräusch von sich, eine Mischung aus Grunzen und Brummen. Er gestikuliert die Richtung, in die ich gehen soll und ich gebe unter Anstrengung nach.
 

In seinem Zimmer angekommen lässt Kain die Taschen fallen und stampft wortlos an mir vorbei ins Badezimmer, während ich irritiert stehen bleibe.

„Ich nehme doch das Gästezimmer“, sage ich, ohne dass Kain es hört und sehe mich um. Das Zimmer ist unerwartet gradlinig, sauber und wesentlich kleiner als erwartet. Die Fenster gehen zur Straße hinaus. Die Farben sind dezent. Weiß und Beigetöne. Helles Holz. Keine rumliegenden Klamotten, Bücher oder Müll. Kein Vergleich zu dem Wohnheimzimmer, in dem er mit Abel haust wie studierende Messis. Ich vermeide es stets, einen tieferen Blick zu riskieren. Mit einem kleinen Handtuch um den Hals kehrt Kain zurück und fällt aufs Bett. Er gibt ein wehleidiges Knirschen von sich und Kain jammert irgendwelche undeutlichen Worte ins Kissen, die mich davon überzeugen sollen, dass er ein armer Drops ist. Ich betrachte die Szenerie mit einem simmernden Kitzeln im Bauch und frage mich nicht zum ersten Mal, wie ein einsneunzig großer Kerl in nur wenigen Sekunden ein metaphorisches Taschenformat annehmen kann. Physikalisch kaum möglich und doch bekommt Kain es hin. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, knipse ein Bild, weil jeder Erpressungsmaterial benötigt und schreibe meiner Mutter, dass wir gut angekommen sind. Der andere Man greint wie ein Minimammut.

„Wie ätzend. Ich bin fertig. Diese Fahrerei schlaucht und ich habe Hunger“, grummelt Kain laut, dreht sich auf den Rücken und setzt sich gequält langsam auf. Ich verdrehe in Anbetracht dieser Aussage meine Augen. Das Bett gibt ein leicht knackendes Geräusch von sich und ich frage mich, ob es älter ist als es aussieht oder massive Gebrauchsspuren vorweist. Kain stützt sich leger auf beiden Armen ab und mustert mich.

„Warum haben wir das Angebot deiner Mutter nicht angenommen?“, erfrage ich, obwohl ich mir die Antwort denken kann. Kain entgegnet nichts, sondern zieht einzig einen beeindruckenden Flunsch, der derartig viel Unwillen ausstrahlt, dass er damit ein Kernkraftwerk ersetzen könnte. Ich erwidere es mit einem schiefen Grinsen und möchte weder seine Aversionen füttern, noch unterstützen. Ich klaube meinen Rucksack vom Boden auf, damit ich ihn auf dem Schreibtisch abstellen kann. Ich krame das zusammengerollte Ladekabel hervor, bastele mein Handy dran und sehe mich nach einer Steckdose um. Kain deutet zum Bücherregal. „Deine Mutter ist wirklich ...“, beginne ich nach kurzer Stille.

„Blasiert? Affektiert? Ja, in Reinform und mit Leib und Seele. Überrascht dich das?“ Eigentlich nicht. Nur hätte ich es als speziell bezeichnet. Ein derartiges oder ähnliches Verhalten war aus den sporadisch fallenden Kommentaren Kains durchaus zu erahnen. Trotzdem ist es noch mal etwas anderes, wenn man die Atmosphäre persönlich zu spüren bekommt. „Du hättest übrigens gern mehr sagen können.“

„Und den vollen Umfang eines Kain Anders in campusferner Wildbahn verpassen? Niemals. Das war besser als Kino. Ich wusste gar nicht, dass du die Contenance verlieren kannst.“

„Haha“, erwidert er und streicht sich die dunklen Haare zurück. Ich visiere die Steckdose an, lege mein Telefon ab und kehre zum Schreibtisch zurück.

„Außerdem wollte ich ungern die Nacht im Auto verbringen müssen, weil sie mich nach zehn Minuten rauswirft. Ich habe zwar ein kompakteres Format, aber eine Rückbank ist trotzdem unbequem.“

„Das hätte ich nicht zugelassen“, kommentiert Kain schlicht, „Und wieso musstest du in einem Auto schlafen?“

„Ach, nur eine Gezeitenkollision vor etlichen Jahren zwischen mir, Jeff und seinen chaotischen Schulliebschaften.“

„Klingt nach Drama“, kommentiert er lächelnd.

„Jeff, in Reinform und mit Leib und Seele“, recycle ich die vorher von Kain genutzte Umschreibung und verwende sie für meinen Jugendfreund. „Ich wundere mich selbst ständig, wieso ich noch keine dieser Lappalien in meine Bücher aufgenommen habe. Jeff wäre darüber sicher ‚not amused‘.“ Ich versuche es britisch und scheitere kläglich. Wenn es nach mir geht, wird Jeff nie erfahren, dass ich Bücher schreibe. Daher werde ich mich schwer hüten, da er es bei meinem Glück über fünf Ecken doch erfährt. „Lass uns etwas zu Essen suchen, okay?“, erkundige ich mich ausweichend, doch eigentlich will ich keine Bestätigung von ihm, sondern nur der Spannung entgehen, die sich langsam aber sicher zwischen uns aufbaut. Ich lasse den Rest meines Zeugs im Rucksack und wende mich ab.

„Hey, hey…nein, hiergeblieben…“, ordert Kain mich zurück, richtet sich auf und greift nach mir. Er kriegt eine meiner Gürtelschlaufen zu fassen und zieht mich Richtung Bett. Auch die andere Hand findet etwas Stoff vom Pullover. Er hält mich fest und schaut mich mit wachen Augen an, nachdem er sich wieder auf die Decke fallen lässt.

„Danke“, sagt er, bettet sein Kinn gegen meinen Bauch. Er schließt die Augen und seine Gesichtszüge werden weich.

„Wofür?“

„Dafür, dass du mich begleitetet hast und dich freiwillig neuem Drama aussetzt.“

„Schon gut, ich werde das einfach im nächsten Buch verarbeiten“, kündige ich an, ohne es wirklich ernst zu meinen.

„Mein Go hast du. In dieser Familie stecken so viel Spott, bittere Satire und Absurdität, dass du damit eine Trilogie füllen kannst“, ächzt er mit überspitztem Ungemach. Diese Beschreibung könnte auch mich meinen und ich frage mich, ob Kain das bewusst ist. So sehr er versucht, dem Bekannten zu entkommen, sucht er scheinbar unbewusst nach identischen Mustern. Das würde zu mindestens erklären, warum er bei mir hängen bleibt. Ich versuche mich aus Kains Griff zu lösen. Doch er lässt mich nicht, drückt stattdessen sein Gesicht fester gegen meinen Bauch. Ich verstehe diese Geste als Wunsch, sich an etwas festzuhalten und erliege selbst dem Begehren, meine Hände in seinem dunklen Haarschopf zu schieben. Er hat sie heute nicht gestylt, deswegen fühlen sie sich zart und kitzelig an, als ich durch sie hindurchgleite. Der Kontrast zwischen dem satten Schwarz und meinen winterhellen Fingern ist besonders deutlich. Er zieht mich mit einem sanften Ruck runter und ich stoppe mit den Knien auf der Matratze, hocke direkt über ihm. Wir sind uns deutlich näher als Sekunden zuvor. Sein Mund ist leicht geöffnet als er aufblickt und mich seine braunen Dackelaugen erfassen. Sie fesseln mich mit ihrer Hingabe, pinnen mich fest mit ihrem Verlangen und lassen mich schweben mit ihrem Flehen. So intensiv sind sie. Klar, wie frisch gedrucktes Wort auf Papier. Sein Körper ist warm und solide. Er erdet meinen eigenen flatternden Leib. Ich habe es ihm nie gesagt, aber ich stehe drauf, dass er so viel größer ist als ich, dass er mich überragt und manchmal völlig umgibt. Es ist heilend, tröstend. Kains Hände wandern vom Saum meiner Hose nach hinten und ich schiebe automatisch mein Becken vor, als sie sich meinem Rücken hocharbeiten. Erst über den Stoff des Pullovers, danach tauchen sie tiefer und streicheln sich über blanke Haut. Einzig die Temperatur seiner Finger reicht aus, um meinen inneren Ofen zu entfachen. Es fühlt sich gut an und ersehnt. Ohne es auszusprechen, spricht mein Körper vom Vermissen. Kain tastet sich höher, bis er in meinem Nacken gelangt, streichelt mit den Fingerspitzen über die kurzen Härchen in meinem Nacken und lässt die Haut auf meinen Armen tanzen. Ich gebe nach, ohne, dass er mich darum bitten muss, ohne, dass er es anzudeuten braucht. Ich küsse ihn zuerst, giere nach der Berührung seiner Lippen wie der heuchlerische Narr, der ich bin. Kain schmilzt mir entgegen wie ein eruptives Bündel an Leidenschaft und mit dem angedeuteten Lächeln eines wissenden Schelms. Der Kuss ist unkontrolliert, heiß und voller lechzendem Brennen. Er presst mich in seinen Schoss und ich lasse meine suchenden Finger tiefer in seine Haare gleiten, während ich mehr und mehr seines Mundes in Beschlag nehme. Ich locke seine Zunge, sauge sie zwischen meine Lippen und empfange sie mit gleichgesinnter Euphorie. Die feinen Schauer, die mich durchfahren, sind Segen und Wahn. Sie rufen nach dem Verlangen in mir, sodass mein gesamter Körper zu einem verräterischen Widerhall wird. Kains Nähe macht mich gierig und ich fürchte mich davor, mich vollends in diesem süchtig machenden Kosmos zu verlieren. Doch die Gedanken werden schnell zum leisen Echo und verstummen, während der lustvolle Nebel meine Synapsen lahmlegt. Ich drücke mich tiefer in Kains Schoss, spüre die deutliche Härte des anderen Mannes und genieße den Rausch der Gewissheit, dass ich es ausgelöst habe. Ich möchte mehr von ihm spüren, küsse genüsslich seine Unterlippe, ehe ich meine Zunge neckend gegen die obere stupse. Seine mittlerweile geschlossenen Augen öffnen sich. Er schnappt nach einem weiteren Kuss, doch ich weiche aus. Mit einem rauen Murren packt er mit beiden Händen meinen Hintern und grinst spitzbübisch, als er das feste Fleisch spürbar knetet.

„Quicki?“, fragt er, wackelt mit der Hüfte und küsst mich mit spürbarem Hochgefühl. Feucht und mit halboffenem Mund. Es schmatzt laut. Er trifft dabei nur die Hälfte meiner Mundpartie und macht das gleiche summend mit der anderen Hälfte, als er es bemerkt. Es ist kindisch, aber es lässt mich schmunzeln.

„Dafür hast du plötzlich Energie, ja?“, spotte ich. Kain packt mich am Kragen, zieht mich runter. Durch den plötzlichen Zug verliere ich prompt das Gleichgewicht. Er fängt mich ab und wir sind uns kussnahe. Lippen an Lippen. Würde ich sie spitzen, dann könnte ich ihn schmecken. Doch ich halte mich zurück. Ich suche die kleine, helle Narbe unterhalb seiner Augenbraue, deren Geschichte ich noch nicht kenne. Den winzigen kleinen Leberfleck genau an seinem linken Mundwinkel, der meistens kaum zu sehen ist, weil er viel lächelt. In meinem Gehirn schwimmt die Lust kleine Salti, genährt durch die wärmende Nähe des anderen Mannes. Ich will mehr von ihm entdecken. Jede Narbe, jede Geschichte.

„Dafür immer…“, flüstert er, haucht seine Lippen gegen meine, mehrfach, eher er sich an meiner Hose zu schaffen macht und wir den Kuss intensivieren.
 

„Warte kurz. Lass uns vorher duschen.“, stoppe ich ihn und löse mich nur mit äußerstem Ungemach von ihm. Ich entlocke Kain ein paar sanft klagende Geräusche, als ich dabei meine Lippen zu lange von seinen entferne. Die Haut meiner Lippen ist etwas wund, aber das einhergehende Kribbeln ist süchtig machend.

„Aber dann ist es kein Quicki“, schmollt er, öffnet frech den Knopf meiner Jeans und schiebt seine flinken Finger probehalber in die geöffnete Hitze. Er festigt seinen Griff an meinem Pullover und zieht mich zurück in seinen Orbit.

„Und wenn ich keinen will?“, gestehe ich.

„Ist das so?“ Ich antworte nicht. Stattdessen positioniere ich mich um, drücke mit den Beinen seine Knie weiter auseinander und stelle mich dazwischen.

„Was wird das?“ Der Protest verebbt in dem Moment, in dem ich vor ihm auf die Knie gehe, sich meine Hände an seinen Hosenknopf zu schaffen machen und die Konsequenz in seinem sexnebelverhangenen Hirn vordringt. Kain atmet erregt aus, lässt sich leicht zurückfallen und schaut dabei zu, wie ich langsam seinen Gürtel löse, den Zipper seiner Jeans runterziehe und die Verschlusshälften zur Seite klappe. Die Aufregung durchfließt mich dabei, als würde ich langsam ein Geschenk öffnen. Ich beuge mich vor und küsse seinen Unterbauch kurz unterhalb des Nabels. Das getrimmte Haar seines Glückspfads piekt mich sachte in die Oberlippe und der Schauer der Erregung nistet tief in meinen eigenen Lenden.

„Killt es die Stimmung, wenn ich dir sage, wie sehr mich das anmacht?“ Kain spielt lächelnd mit meinem Ohr, streichelt über die knorpelige Helix. Ich hebe die Augenbraue in Skepsis. „Auch das, sehr sexy“, flirtet er locker und beißt sich neckisch auf die Unterlippe. Jedes Mal, wenn er etwas derartiges sagt, regt sich die Ungläubigkeit in mir. Eine sachte Berührung streichelt über meine Wange, vor zu den Lippen. Er fährt die Form des äußeren Lippenrands ab, fixiert jeden Kontakt mit seinem Blick, als würde er sie damit wahrhaftiger machen. Als würde er spüren, dass ich ihm nicht glaube. Sein Daumen tippt abschließend auf mein Philtrum und ich ziehe das Kinn hoch.

„Ich bin schon auf den Knien, du brauchst mich nicht verführen…“, murre ich, küsse seinen Unterbauch kurz oberhalb seiner Shorts. Kain schnaubt.

„Du bist ja so romantisch.“ Seine Hand gleitet zurück an meinen Kopf, sobald ich meine Bemühung abwärts bringe und meine Finger in das Gummiband seiner Shorts hake. Ich brauche nicht bitten, denn als ich einen leichten Zug andeute, hebt sich Kains Hüfte von ganz allein. Seine Jeans fällt bis zu seinen Knöcheln und bleibt letztlich an einem Fuß hängen. Mit den Shorts lasse ich mir Zeit, küsse jeden Zentimeter warmer, entblößter Haut. Kain öffnet unwillkürlich seine Schenkel mehr. Ich nutze die verlockende Gelegenheit, mich auch seinen Innenschenkel zu widmen. Küsse. Beiße und nippe, bis ein paar kleine rote Male zurückbleiben. Ich genieße es so lange, bis ich sein ungeduldiges Keuchen vernehme. Hektisch und tief. Es dringt wie Wonne in mich ein. Ich folge seiner unausgesprochenen Aufforderung, schließe die Lippen um die Eichel, bilde einen lockeren Ring und tänzele mit der Zunge über das zarte Fleisch. Es fühlt sich gut an. Weich und warm. Der Geschmack leicht bitter, als ich die Zungenspitze den schmalen Schlitz entlangführe. Mein Gehirn rotiert, während ich genüsslich raune. Doch nichts setzt so viele fleißige Endorphine in Gang, wie Kains Finger in meinem Haaren, die sich mit jedem Necken rhythmisch bewegen und das feine Keuchen, das wie pures Lob im Raum widerhallt. Der sachte Griff soll führen und leiten, doch er gibt mir ebenso erdenden Halt. Er japst ekstatisch, als ich sanft an ihm sauge und meine Lippen reibend bewege. Das heiße Gefühl auf meiner Zunge ist elektrisierend. Ich lecke einmal über die gesamte Länge, kitzele Venen und Haut. Erst als ich bei der Spitze angelange, öffne ich meine Augen und blicke auf. Kains Blick ist ungebrochen und der lustverhangene Nebel im warmen Braun seiner Iriden lässt mich die Relevanz ferner Planeten nur noch erahnen. Das Zentrum des Universums, hier und jetzt, bin ich und die heiße, feuchte Hitze meines versprechenden Mundes.
 

Es fühlt sich berauschend an, diesen Blick zu spüren. Es erregt mich mit steigenden Wellen, die meinen Körper überschwemmen, mich mit Verlangen fluten. Ich lege meine Lippen um die feuchtschimmernde Spitze seiner Härte und bewege meinen Kopf auf und ab. Erst langsam. Stück für Stück, bis ich mich selbst an das ungewohnte Gefühl und die Fülle in meinem Mund gewöhne. Trotz der vielen Male, die wir nun das Bett miteinander teilten, ist Oralverkehr noch etwas Seltenes für uns. Vielleicht auch besonderes. Kains Griff in meinen Haaren festigt und lockert sich bei jeder Änderung des Tempos. Sein Keuchen ist tief und der feine Schmerzimpuls lässt mich selbst immer wieder erregt schnaufen.

Meine freie Hand gleitet über seinen Unterbauch, hinauf zu den spürbaren, festen Erhebungen seines trainierten Bauches. Ich schiebe dabei sein Oberteil höher und entblöße ihn weiter. Rhythmisch spannt er die Muskeln an und ich genieße den Anblick aus halbgeöffneten Lidern. Kain murmelt meinen Namen und versetzt mich in blanken Rausch. Das R rollt sanft und langgezogen über seine Lippen wie pure Verheißung. Seine Hüfte zuckt leicht nach oben und trifft den gleichen Takt meiner Bewegungen. Es ist fantastisch, sinnlich und zugleich derb und direkt. Es gefällt mir. Jedes Mal mehr, denn es ist ein beglückendes Gefühl, ihn so zu erleben. Ich bewege meinen Kopf schneller, ändere den Druck, den ich mit meinen Lippen ausübe und lausche, wie Kains Atmung stottert und flattert. Langgezogenes Stöhnen paart sich mit murmelndem Flehen. Er will mehr. Ich auch, also gebe ich es ihm. Ich erhöhe das Tempo, nehme ihn tiefer auf. Dabei werden auch meine Bewegungen etwas rauer. Doch da ist auch dieses erregte Schlucken, wenn es ihn heiß durchfährt. Es animiert mich und ich nehme ihn so weit auf, wie ich kann.

„Hey Vorsicht, vergiss nicht zu atmen“, flüstert er besorgt mit lustverhangenem Blick. Er keucht vollmundig, als ich als Antwort sanft seinen Hoden stimuliere. Abermals spannt sich seine Bauchdecke an, wechselt von rhythmisch locker und fest hin und her. Er ist kurz davor. Ich möchte die erregenden Zuckungen spüren, drücke meine Hand flach auf die beste Stelle. Die andere Hand nehme ich hinzu, erhöhe die Stimulation seiner Erregung zusätzlich, um ihn zum Orgasmus zu bringen. Als Kain kommt, liegt seine Hand in meinem Nacken. Noch während die Spannung nachlässt, fällt sein Oberkörper zurück aufs Bett. Er japst etwas Unverständliches, brabbelt herzerwärmende Floskeln und ich wische mir mit der Handfläche über die untere Gesichtshälfte und Mundwinkel. Der Geschmack von Kain auf meiner Zunge hinterlässt ein befriedigtes Prickeln und der Druck in meinen eigenen Lenden wird mir immer fühlbarer. Allerdings verspüre ich kein Bedürfnis, etwas dagegen zu unternehmen, sondern schwimme weiter in der mentalen Befriedigung, den anderen Mann derartig glückselig zu sehen.
 

Ich lecke mir über die benetzten Lippen, während mich Kain mit halbgeschlossenen Augen dabei beobachtet. Die Erregung ist schwächer, aber nicht verschwunden. Sie simmert in dem warmen Braun. Er lächelt träumerisch, setzt sich fahrig auf und streicht mir mit dem Daumen über das Kinn. Danach führt er mich für einen Kuss in eine aufrechte Position, also knie ich mich hin. Seine Finger finden ihren Weg unter meinen Pullover und die feurige Hitze seines Körpers durchströmt mich mit wohligem Schauer. Trotzdem löse ich mich von ihm und stehe vollständig auf. Ohne Widerrede lässt er mich gehen und ich verbringe ein paar Minute im Badezimmer.
 

Kain sitzt mit offenem Gürtel auf seinem Bett und wackelt mit den Knien, als ich zurückkomme. Er grinst neckisch und zufrieden.

„Wieso konnten wir das nicht schon bei dir machen?“ Ich werfe ihm das Handtuch ins Gesicht. Es landet in seinem Schoss und das Schmunzeln wird breiter.

„Weil dort meine Familie ist“, sage ich schlicht und ziehe mir den Pullover über den Kopf. Mir ist immer noch warm.

„Hier ist meine, stört dich das nicht?“

„Stört es dich?“ Kain schüttelt ad hoc den Kopf. Das habe ich vermutet. Mit einem schnellen Handgriff schließt er seine Hose, doch ich sehe, dass der Knopf nur halb im Loch landet. Kain hievt sich hoch, streicht sich die Haare zurück, so, dass sie noch mehr abstehen. Er sieht wüst aus und es lässt mich lächeln. Ich stelle mich ihm in den Weg, greife seine Hand, die sich unwillkürlich nach mir ausstreckt. Anschließend widme ich mich dem Hosenknopf, schließe ihn richtig und konzentriere mich kurz auf seine Haare.

„Du weißt, dass ich das ernst meine“, sagt er ruhig, tippt mir gegen das Schlüsselbein, ans Kinn und zuletzt auf die Nasenspitze.

„Was?“, frage ich abgelenkt, kämpfe mit einem exponierten Strang seiner Haare und streiche diesen zurück, sodass wenigstens eine Seite halbwegs normal aussieht.

„Was ich vorhin sagte. Dass ich dich sexy finde.“ Ich stoppe und lasse meine Hand sinken. „Ich weiß, dass du es nicht magst, aber ich höre nicht auf damit, es zu sagen.“

„Ja, sicher“, wiegele ich ab, „Und ich habe nie gesagt, dass ich es nicht mag. Gehen wir jetzt etwas essen?“

„Ja, wenn wir Glück haben, ist meine Mutter schon in ihrem Zimmer verschwunden und wir haben unsere Ruhe. Ich bin nicht unbedingt scharf auf Cocktailanekdoten und nächtliche Besserwissereien.“

„Sie hat ihr eigenes Zimmer?“

„Meine Eltern haben seit ich denken kann getrennte Schlafzimmer und glaub mir, ich bin sehr dankbar dafür. Ich hatte zum Glück keinen dieser spektakulären Ich-ertappe-meine-Eltern-beim-Sex-Momente.“ Ich auch nicht. Erst mit Jeff bin ich diesen Horrorsequenzen ausgesetzt und ich würde alles dafür tun, die Bilder von ihm und Abel aus meinem Kopf zu bekommen. Wir kommen an einem der von seiner Mutter erwähnten Gästezimmer vorbei und ich stoppe für eine Millisekunde, nur um zu schauen. Danach folge ich Kain die Treppe runter in die Küche.
 

Kains Plan geht nicht auf. Als wir die Küche betreten, sitzt Mutter Anders mit einem Glas Wein am Küchentisch und durchblättert ein Interieurmagazin. Es wirkt fast als hätte sie auf uns gewartet. Auch ihr eigenartiges Lächeln spricht dafür, sowie die Geste, die sie in Richtung der gegenüberliegenden Plätze am Tisch macht, nachdem sie uns abwechselnd mit einem musternden Blick bedenkt. Ich schiele unauffällig zu Kain und seiner verwüsteten Haarpracht, die ihn selbst nicht zu stören scheint. Ich allerdings verspüre das dringende Bedürfnis, zu prüfen, ob meine Haare halbwegs sitzen, lasse es aber bleiben, um nicht weiter aufzufallen. Stattdessen sehe ich mich unauffällig in der modernen Küche um. Edelstahl ohne Ende. Dunkles Holz und auffällig gemusterte Fliesen. Es ist extravagant.

„Wieso bist du noch auf?“, fragt Kain geradeheraus und ohne den ablehnenden Unterton zu verstecken. Seine Mutter streicht sich eine Strähne ihres langen, braunen Haares zurück, legt dabei einen üppigen silbernen Ohrring frei, der einen passenden rotfarbenen Schmuckstein trägt. Sie ist für mich das Klischee einer Vorzeigefrau. Übertrieben, gekünstelt und glatt. Man wurde sie dennoch eine schöne Frau nennen. Es fällt mir wahrlich schwer, die beiden genetisch miteinander in Verbindung zu bringen. Ihre Gesichtszüge sind eher oval, fast rundlich und somit so gar nicht mit Kains zu vergleichen. Aber mit Saharas. Ich erinnere mich gut an das gemeinsame Bild mit ihr, das Kain als Lesezeichen benutzt.

„Ich bin neugierig und noch nicht im Rentenalter, wie du dich vielleicht erinnerst“, entgegnet seine Mutter mit ruhigem Sopran.

„Ich dachte, du bestehst auf deinen Schönheitsschlaf“, kontert Kain, öffnet den Kühlschrank und beugt sich vor, um den Inhalt besser begutachten zu können. Ich beobachte, wie sie bei der offenkundigen Spitze keine Miene verzieht und nur ihre Hand nach dem Glas Wein ausstreckt. Sie schwenkt es, nimmt einen kleinen Schluck und hinterlässt einen roséroten Lippenstiftabdruck, den sie direkt mit dem Daumen wegwischt.

„Zu den Feiertagen darf ausgeschlafen werden. Will einer von euch beiden einen Drink? Cocktails? Ich mixe einen mustergültigen Planters Punch.“ Damit wäre sie der Kracher auf jeder Studentenparty. Kain schlägt die Kühlschranktür zu.

„Nein, danke. Niemand hier will Cocktails“, pfeffert er in den Raum. Der Bruch der Stimmung kommt trotz hängender Spannung unerwartet und ich straffe unwillkürlich die Schultern, weil ich den deutlichen Ärger aus Kains Stimme heraushören kann. Die Cocktailparty vom Vorabend ist ihm verständlicherweise ein Dorn im Auge. Auch seine Mutter reagiert auf den Umschwung. Doch lediglich mit einem rhythmischen Klackern der Fingernägel auf der steinernen Tischplatte. Es wirkt, als zählte sie bis zehn runter, atmet tief ein und blättert eine Seite ihrer Zeitschrift um, um zu zeigen, dass sie sich nicht aus der Fassung bringen lässt. Ich lasse meinen Blick durch die moderne Küche schweifen, während Kain hinter mir unbeirrt an unserem Abendbrot wirtschaftet.
 

„Was studierst du? Robin, richtig?“, erfragt sie mit interesseerahnender Stimme und lächelt. Die eigentlich positive Geste erreicht nicht die Augenpartie. Ich würde meinen, sie hebt nicht mal die Wangen. Botulinumtoxin. Mein einziger Gedanke.

„Biochemie.“ Beinahe hätte ich Botox laut ausgesprochen, also beiße ich mir unauffällig auf die Unterlippe und bin froh, dass meine Filter heute ungewöhnlich gut funktionieren. Hoffentlich morgen auch noch. Kain raschelt hinter mir und klackert mit Geschirr.

„Das klingt... aufregend.“, presst seine Mutter hervor. Der verzögerte Ausdruck der Begeisterung macht ihre Aussage nur noch unglaubwürdiger. „Ist das ähnlich zu dem, was Kain studiert?“

„Es hat gemeinsame Schnittmengen“, erläutere ich kurzangebunden. Weitere Erklärungen wären vermutlich ein unnötiger Sauerstoffverbrauch, daher belasse ich es dabei. Kain fragt hinter mir nach meinem Wunschbelag für die Brote, murmelt noch andere Sachen, die ich glücklicherweise nicht verstehe. Mir reicht eins mit Käse.

„Wohnst du auch in diesem unmöglichen Wohnheimkomplex?“, fragt Kains Mutter gelassen weiter, blättert nebenher ein paar Seiten ihres Magazins um, „Man sollte doch meinen, dass man für dieses Geld ein eigenes Badezimmer zur Verfügung hat oder wenigstens ein Zimmer für sich allein.“

„Fang nicht schon wieder an. Mich stört das nicht. Außerdem ist man den Großteil des Tages in der Vorlesung oder Bibliothek.“ Wenn man Kain heißt oder Jeff. Ich sitze nachweislich öfter im Wohnheimzimmer als die anderen Kommilitonen, die ich sonst noch kenne. Kain reicht mir ein Stück Gurke, indem er es mir über die rechte Schulter hält, öffnet und schließt danach den Kühlschrank. Ich bemerke, dass auch er bereits kaut.

„Wenn man sich die steigenden Wohnraumpreise urbaner Räume ansieht, können wir froh darüber sein, ein eigenes Bett zu haben“, äußere ich und esse brav mein Gemüse.

„Das ist wahr. Gerade in Städten mit akademischen Bildungsmöglichkeiten ist es ein zunehmendes Problem. Ein Platz im Wohnheim zu haben ist ein Glücksfall“, bestätigt Kain, „Ich hätte kein Problem damit, mir eins mit dir zu teilen.“ Das raunt er mir ungeniert ins Ohr. Wenig dezent, sodass es durchaus zu hören ist. Sein warmer Atem kitzelt neckend über die Haut unterhalb meines Ohres und ich merke, wie sich meine Schultern unwillkürlich nach oben ziehen. Das Grinsen in seinem Gesicht macht es nicht besser. Ich lasse ihm einen warnenden Blick zukommen. Doch dieser prallt an ihm ab wie Wassertropfen am Lotosblatt.

„Ach, du bist sein Mitbewohner?“, erkundigt sich seine Mutter mit einem hüpfenden Laut der Erheiterung und schließt die Zeitschrift endgültig. Sie hat es eindeutig gehört.

„Hell no, ganz sicher nicht. Mein Mitbewohner ist unerträglich“, flucht Kain mürrisch und wehrt diese implizierte Fehlinterpretation ab, während ich und seine Mutter die Stirn runzeln. Dass er sich gerade selbst widersprach, stört ihn scheinbar nicht. „Senf?“. Ich nicke. Mutter Anders nimmt einen Schluck Wein, während sich ihr Blick an ihren Sohn haftet. Ihre Augen sind suchend und dabei unglaublich forsch.

„Und in welchem Semester befindest du dich? Schreibst du bereits an der Bachelorarbeit, so wie Kain?“, fragt sie mich.

„Fünfte und nein.“ Das schneidende Geräusch hinter mir wird langsamer und hört letztendlich sogar auf. Ohne mich umdrehen zu müssen, weiß ich, dass Kain aufmerksam zu seiner Mutter schaut, deren Blicke von mir zu ihm wandert und zu mir zurück. Kain drückt mir eine weitere Scheibe Gurke in die Hand, die beim Belegen der Brote übriggeblieben ist.

„Kannst du dieses lästige Verhör lassen?“ Als Hendrik das gleiche mit ihm getan hat, hat es ihn nicht gestört. Kain drückt mir den Teller samt Serviette mit dem belegten Brot in die Hand. Sein eigener Abendsnack ist bis auf eine halbe Stulle und ein paar Gurkenscheiben vertilgt. Ich nehme das Käsebrot, lecke Senf vom Rand und beiße hinein.

„Interesse, mein Lieber und nein, das ist mein mütterliches Privileg. Immerhin hast du ihn uneingeladen hierher mitgebracht.“

„Ja, weil ihr mich zwingt, hier zu sein und ich wenigstens ein bisschen Freude an Weihnachten haben will.“ Ich schaue kauend zu Kain, der mit eisiger Miene eine Packung Reiswaffel aus dem Regal nimmt. Er pfriemelt sich eine der runden Scheiben heraus, kommt hinter der Kücheninsel hervor und krümelt grimmig los.

„Das schon wieder. Du benimmst dich kindisch. Als wäre es eine Ungehörigkeit, sich zu wünschen, dass der Sohn die Weihnachtsfeiertage bei seiner Familie verbringt“, kommentiert sie ruhig, während Kain neben mir knistert, „Robin, du bist nicht sehr gesprächig, wie mir scheint", richtet sich seine Mutter nun wieder an mich und ich schaue kauend vom Brot auf.

„Ich bin mir sicher, dass Sie meine Meinung und Ansichten nicht hören wollen", begründe ich und schlucke den angefangenen Happen beschwerlich runter. Sie schlägt ihre langen, schlanken Beine übereinander und positioniert sich mehr zu uns hin.

„Ich kann sehr wohl damit umgehen, dass du auf seiner Seite stehst. Ich empfinde es nur als übertrieben, wegen einer ohnehin geplanten Feier einen derartigen Aufstand zu zelebrieren. Er nimmst es zu persönlich.“ Als der Ball zurück in Kains Feld kullert, widme ich mich wieder meinem Essen.

„Ach bitte, mir ist doch scheiß egal, ob ihr eure dämlichen Feiern veranstaltet. Aber dass ihr mir nicht erzählt, dass Sahara dieses Jahr keinen Besuch bekommen darf und ihr mich trotzdem zwingt, hier zu sein, nehme ich sehr persönlich.“

„Und ich erklärte dir bereits, dass wir davon ausgegangen sind, dass dir die Einrichtung ebenfalls Bescheid gibt.“

„Sicher, wo ihr doch beim letzten Mal ausdrücklich daraufhin gewiesen habt, dass nicht ich ihr Vormund bin“, erwiderte Kain sarkastisch und zerkrümelt die halbe Getreidewaffel in seiner Hand. Die mürben Flocken rieseln zu Boden und auch ich stoppe langsam das erneute Kauen. Der Senf brennt auf meiner Zunge und die Stimmung auf meiner Haut. Kains Mutter seufzt effektvoll und unumwunden.

„Es ist nicht unser Verschulden, dass deine Schwester ihre Besuchsprivilegien wegen einer Dummheit verspielt hat. Vergiss das bitte nicht. Die Situation lässt sich nicht ändern und wir machen das Beste daraus.“

„Ja, das Beste für alle anderen, nur nicht für Sahara und mich. Wie immer.“

„Kain…“, setzt sie an, doch er stoppt sie mit einer ruhigen Handbewegung. Sein Blick wandert zu mir und ich sehe die Bitte darin, ohne, dass er sie in Worte fassen muss. Ich nehme Serviette und Brot vom Teller, stelle diesen einfach an der Spüle ab und verlasse mit Kain die Küche.
 

„Wo ist eigentlich dein Vater?“, erkundige ich mich beiläufig bei Kain, während ich ihm die Treppe rauffolge und das dringende Bedürfnis habe, irgendwas zu plappern. Es passiert selten und ist diesmal zusätzlich durch eine kuriose Vorstellung gespeist. Da er, bis auf die Augen, seiner Mutter kaum ähnlichsieht, muss er wohl nach seinem Vater kommen und das macht mich neugierig.

„Arbeiten, vermutlich.“, antwortet er unaufgeregt und undeutlich, weil er an der Reispappe kaut.

„Während der Feiertage?“, hake ich verwundert nach und stecke mir den übriggebliebenen knusprigen Rand meines Brotes zwischen die Lippen. Es war wirklich lecker und Kain hat die richtige Menge an Senf auf dem Käse verteilt. Es ist keine leichte Aufgabe, mich dahingehend zufriedenzustellen. Die Serviette knülle ich in einen handlichen Ball und inspiziere währenddessen aufmerksam das Haus. Diesmal achte ich auf die Kunst an den Wänden und die vielen verrückten Lampen. Am anderen Ende des Flurs steht ein alter Apothekerschrank, dessen Schubladen alle einen anderen Knauf haben.

„Anwälte arbeiten immer. Er wird wahrscheinlich erst morgenfrüh zurückkommen und alle wissen lassen, wie unverzichtbar er ist.“

„Klingt nach Spaß. Wer weiß, vielleicht sprühen die Konversationen morgen vor Einigkeit und Frohsinn.“ Manchmal ist Gegenteiltag und zu Weihnachten gibt es immer wieder Wunder. Nicht wahr?

„Ja, klar.“ Kain lacht. Es ist tief, aber unecht.

„Ist nur ein Essen. Wird schon nicht eskalieren.“ Ich weiß nicht, wen von uns beiden ich eigentlich beruhigen will. Auch mein Verstand schreit danach, dem Ganzen Lebwohl zu sagen und frühzeitig abzudanken.

„Ich hoffe doch…“, ächzt er und knuspert an dem letzten Rest dieser geschmacklosen Reissnacks rum. Es ist dieses winzige Momentum, dass mich stocken lässt. Eine subtile Pause und diese kleine Änderung der Betonung, die seine Äußerung einen gegenteiligen Kontext gibt. Es dauert einen Augenblick, bis ich es begreife. Doch dann ist es klar.

„Ich verstehe… also doch“, gebe ich mit halbherziger Verwunderung von mir. Ich halte den Schwarzhaarigen davon ab weiterzugehen, indem ich ihm gekränkt meine zerknüddelte Serviette an den Kopf werfe. Kain zuckt überrascht, folgt der Papierkugel mit den Augen, wie sie zu Boden geht und zurück in meine Richtung rollt.

„Was verstehst du?“, fragt er, hebt es auf und wedelt damit vor meiner Nase rum.

„Wieso ich hier bin“, erläutere ich und tippe dem Schwarzhaarigen mit dem Zeigefinger, mehrmals gegen den harten rechten Brustmuskel. Im Grunde wusste ich es schon vorher und wollte es nur nicht wahrhaben. Kain schaut auf den Finger, runzelt die Stirn und mixt zu seinem furiosen Lächeln noch ein verwirrtes Zwinkern.

„Du bist hier, weil ich dich mit meiner stichhaltigen und glaubwürdigen Argumentation überzeugt habe“, vermutet er dümmlich und macht ein Peace-Zeichen mit der Hand, mit der auch die Serviette hält.

„Natürlich“, sage ich voller Sarkasmus und lasse ihn in die Falle laufen, „Weißt du, für mich wirkt es eher, als wäre ich hier, um deinen Eltern eins auszuwischen." Noch deutlicher kann er es nicht machen, dass ich die Sorte Kerl bin, die man mit nach Hause bringt, um zu zeigen, dass man rebelliert. Obwohl ich es nicht möchte, spüre ich, wie sich bei dem Gedanken mein Magen verkrampft und sich ein unangenehmes Kratzen unter der Haut ausbreitet.

„Ughn…“, entflieht es ihm. Dass Kain es nicht schafft, direkt etwas Verneinendes zu erwidern, sondern überrascht mit den Worten hadert, macht es nicht besser.

„Das ist wirklich deine Intention!“, entblöße ich die bare Münze, „Vielen Dank auch.“

„Hey, nicht doch. Warte bitte“, sagt er eilig und greift nach meiner Hand, „So ist es nicht.“

„Ach ja?“

„Es ist alles wahr und so gemeint, womit ich im Vorfeld argumentiert habe. Ich möchte dich bei mir haben, als Verbündeten, weil ich es leid bin, als einziger mit ihnen auf Kriegsfuß zustehen, aber …“, erklärt er sich hastig und stoppt. Er atmet tief ein und wieder aus. „Womöglich bin ich meinen Eltern doch ähnlicher als mir lieb ist. Tut mir leid, Spatz. Ich wollte nicht…" Zu meiner Überraschung klingt er ehrlich bedrückt, fast schon entsetzt und es nimmt mir den Wind aus den Segeln. Was mich fast ein wenig mehr ärgert, als mir lieb ist. Mit einem grummeligen Brummen entreiße ich Kain die Serviette und stakse an ihm vorbei ins Zimmer.
 

„Spatz, Spatz, Spatz, entschuldige, ich bin manchmal wirklich ein elendiger Holzkopf.“ Kain folgt mir.

„Was du nicht sagst. Lass das mit dem Spatz“, warne ich ohne viel Nachdruck. Er hievt seinen Oberkörper auf meine Schultern, mit den Armen links und rechts an meinem Kopf vorbei und hält mich vom Weitergehen ab. Ich schaffe dennoch ein paar Schritte und weiß, dass er schmollt, was ich an dem melodischen Gesumme und Brumme direkt am Ohr merke. Er flüstert Motzspatz, was durch die plötzlichen Vibrationen meines Handys fast übertönt wird. Das vibrierende Rattern ist laut, dennoch brauche ich einen Moment, bis ich es an der richtigen Stelle verorte und gehe darauf zu. Kain folgt mir wie ein summender Dackel und belässt nur die Hände auf meinen Schultern. Das Display zeigt mir einen eingehenden Anruf meines Mitbewohners, was auch Kain sieht. Er formt mit den Lippen Jeffs Namen. Ich nicke, gehe ran und ignoriere Kains mimische Aufforderung, es nicht zu tun.

„Bitte sag mir, dass ihr Plätzchen oder Stollen oder Pfefferkuchen habt", platzt es aus Jeff hervor, ehe ich auch nur ein Ton von mir geben kann. Sicher, wir sind eigentlich die böse Hexe aus Hänsel und Gretel.

„Dir auch ein schönes Weihnachtsfest."

„Spar dir die Freundlichkeiten. Habt ihr Kekse?", würgt er mich prompt ab. „Ich will Kekse. Bitte gebt mir Plätzchen.“ Nun klingt Jeff fast weinerlich und quengelt. Ich stelle mir prompt vor, wie er mit den Füßen auf den Boden rumtippelt.

„Wow, sachte, Krümelmonster. Es ist viel zu spät für Plätzchen. Und die Frage ist eher, wieso hast du keine?" Normalerweise könnte er mit den Backwaren, die seine Mutter zur Weihnachtszeit kreiert, einen eigenen Laden eröffnen.

„Mama ist auf Diät und foltert mich", erklärt mein Jugendfreund den Bettelanruf, „Ist das rechtmäßig? Das darf sie doch bestimmt gar nicht, oder? Ich kann doch bestimmt Rechtsmittel einlegen? Klagen?“

„Auf dein Recht auf Diabetes? Du erinnerst dich schon daran, dass du ein erwachsener Mensch bist? Wieso ist sie schon wieder auf Diät?", frage ich wohlwissend, dass ich damit eine Tretmine auslöse. Es ist nicht das erste Mal, dass seine Mutter solche Anwandlungen hat und sie hat schon alles probiert. Ananas-Diät. Mittelmeer-Diät. Dabei ist es nicht mal nötig. Sie ist zwar keine Gazelle, aber das ändert nichts daran, dass Jeffs Mutter toll aussieht und ihre Umarmungen großartig sind. Ich schiele zu Kain, der seinen Kopf mittlerweile auf meiner Schulter abgelegt hat und lauscht.

„Irgendwelche Tantchen im Ort haben wohl dumme Kommentare gemacht. Es ist totaler Nonsens, aber wenn ich ihr das sage, zählt es nicht. Ich bin ja nur der Sohn. Und nun leide ich… es ist schrecklich.“ Das dachte ich mir bereits bei der Verwendung des Wortes Foltern nach der fehlenden Begrüßung. „Diesmal hat sie den Kohlenhydraten abgeschworen. Aber wenn du denkst, mit Low Carb wäre es getan, nein, es ist noch schlimmer! Sie isst gar keine Kohlenhydrate mehr. Alles Käse, sag ich dir." Im wahrsten Sinne der Bedeutung. Ohne Kohlenhydrate bleibt nicht viel übrig.

„Ich schreibe Lena, sie soll dir ein Notfallpaket fertigmachen“, schlage ich vor, drehe mich aus Kains Griff und gehe auf das Bett zu.

„Ooh Bingo. Danke. Danke. Danke. Halt, wieso machst du es nicht selbst? Wo bist du?“

„Wo ich… oh, der Empfang wird schlechter…Jeff? Kannst… du…uh…“ Ich drücke den Anruf weg und Kain macht im selben Moment ein langgezogenes Piep-Geräusch.

„War das wirklich notwendig?“, fragt er daraufhin vorwurfsvoll, „Du hättest ihm einfach sagen können, dass du bei mir bist. Lena sagt es ihm sowieso.“ Er nimmt mir das Handy aus der Hand und wirft es aufs Bett.

„Hätte ich, muss ich aber nicht.“ Aber auch ich bin mir sicher, dass er es durch Lena erfahren wird. Die beiden Tratschenten sind schlimmer als alle Tantchen im Ort zusammen, wenn man mich fragt.

„Du hast ihm aber schon mitgeteilt, dass wir zusammen sind, oder?“

„Ich muss ihm das nicht extra sagen, du bist so offensichtlich, dass es dir quasi auf der Stirn steht“, murre ich. Noch dazu wusste es Jeff im Grunde vor mir, was nicht ansatzweise so unerwartet war, wie es sein müsste. Immerhin hat er auch von allein mitbekommen, das Kain und ich miteinander ficken.

„Hast du ein Problem damit?“, erkundigt sich Kain und klingt leicht angepisst.

„Nein“, setze ich an, „Ich habe kein Problem damit, dass es Jeff weiß oder der halbe Campus. Es ist auch längst zu spät. Aber ich würde mich freuen, wenn du bei solchen Gelegenheiten…“ Ich deute einmal in alle möglichen Richtungen. „…vorher fragst, ob ich will, dass andere es mitbekommen.“

„Ja, sicher, machst du mir noch eine Liste, bei wem es dir recht und bei wem nicht?“, spottet er. „Als ob ich damit hausieren gehe. Ich bitte dich.“

„Das sage ich gar nicht. Ich meine ja nur, wir hätten vorher darüber reden können“, verteidige ich meinen Standpunkt. Bevor er seiner Mutter mitteilt, dass wir in einem Bett schlafen.

„Reden? Das sagst gerade du? Damit du es weißt, ich bin mir an manchen Tagen nicht sicher, ob ich mir unseren Beziehungsstatus nicht einbilde.“

„Wirklich diese Schiene? Ich bin doch hier, oder?“

„Du hast unsere Beziehung als Dings bezeichnet, als es beim letzten Mal zur Sprache kam.“ Ich erinnere mich. Einmal. Möglicherweise zweimal. Es waren Versehen.

„Nicht unwahr… aber unfair. Du hast mich überrumpelt.“

„Jedes Mal, wenn ich es anspreche? Ich warte darauf, dass du mich irgendwann als Dingster vorstellst. Mit dem Wort Dings kann man einfach alles erklären, ohne es wahrhaftig aussprechen zu müssen“, scherzt er bitter und tropft vor Ironie. Auch das ist nicht vollkommen unwahr. Kain, mein Dingster, hat doch was.

„Du bist nicht hilfreich und ich habe dir längst bestätigt, dass das Beziehungsparadigma Gültigkeit hat, aber gut, du willst ein Label? Fick dich, Dingster“, pfeffere ich ihm harsch entgegen.

„Paradigma? Nicht dein Ernst.“ Oh, doch. Ich schnappe mir demonstrativ meinen Rucksack und verlasse das Zimmer. Erst jetzt scheint er zu begreifen. „Ahh, nicht doch. Fuck! Robin, lauf nicht weg“, ruft Kain furchtvoll aus und folgt mir strauchelnd. „Lass uns jetzt darüber reden.“ Er holt mich vor dem Gästezimmer ein und ich drehe mich ruckartig zu ihm um. Er zuckt tatsächlich zusammen und presst die Lippen aufeinander, nachdem er mit einem Quietschen vor mir zum Stehen kommt. Mein bissiger Hundeblick wirkt.

„Nein!“, sage ich strikt. Ich betrete das Zimmer und lasse Kain einfach stehen, als ich ihm die Tür vor der Nase zuschlage. Um dem Ganzen noch etwas Nachdruck zu verleihen, drehe ich den Schlüssel im Schloss, der zu meiner Freude existiert und höre, wie direkt darauf etwas Schweres gegen das Holz ploppt. Vermutlich Kains Kopf. Dass er das Schloss gehört hat, befriedigt mich ungemein.

„Lässt du mich bitte rein? Oder komm einfach wieder raus. Lass uns reden.“ Seine Stimme ist durch die Tür hindurch gedämpft und klingt deshalb verzweifelter. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass es meinen Prolaktinspiegel nicht singen lässt. Schmore in deinen eigenen Saft, du furchtloser Quatschkopf. „Robin!“, bettelt Kain. Zum Glück sieht er nicht, wie ich die Augen verdrehe, wegen mir selbst und ihm.

„Nacht, Dingster!“, entgegne ich laut, spottend und abschließend. Das absonderliche Hochgefühl, welches mit dem kleinen absurden Sieg einherging, währt nicht lang und wird schnell durch eine schwere Bitternis ersetzt. Ich schleudere meinen Rucksack aufs Bett, ignoriere Kains reuevolle Klopfer und spaziere direkt ins angrenzende Bad. Es ist nicht groß, hat aber ein schmales Seitenfenster Richtung Garten. Ich öffne es und schaue seufzend in die Nacht.
 

Nach einer Katzenwäsche und aggressivem Zähneputzen krame ich meine Schlafklamotten hervor und stoße frustriert die Luft aus, als mir eine mehr als unerwünschte Farbe in die Hände fällt.

„Ach shit.“ Ich habe nur das von Jeff rosa verfärbte Langshirt dabei. Eigentlich wollte ich meine Mutter bitten, es zu entfärben, aber das habe ich vergessen. Ich muss Lena wegen dem Notfallpaket schreiben. Im nächsten Moment taste ich nach meinem Handy und stelle fest, dass es nicht da ist. Auch nicht im Rucksack. Es dauert etwas, bis mir einfällt, dass ich es bei Kain im Zimmer liegen gelassen habe. Feiertage sind ohnehin nervtötend und mit diesen Voraussetzungen sind sie unerträglich. Ich betrachte erneut den Flamingostoff mit all der Abscheu, die ich empfinde und streife mir das Shirt letztendlich über. Ein Flamingo bei Nacht ist grau, nicht wahr? Oder wie war das mit diesen verfluchten Katzen? Immerhin ist niemand da, der mich sehen kann, weil der Blödmann Kain ein Blödmann ist. Verdammt, wieso ärgert es mich eigentlich? Dann weiß es seine Familie eben! Dann hat er mich als Provokation benutzt. Na und! Ich würde es an seiner Stelle auch tun. Es ist mir völlig egal. Sowas von gleich und schnuppe. Okay, es ist mir nicht egal und ich weiß auch, dass ich selbst daran schuld bin. Ich weiß, es ist von Bedeutung, was man sagt, oder versäumt zu sagen. Ich habe es nicht aktiv angesprochen und gehofft, es so lange wie möglich nicht aussprechen zu müssen. Nicht weil ich mich für diese Beziehung schäme, sondern viel mehr, weil ich befürchte, dass ich es zu schnell verbocke und alle enttäusche. Einschließlich und vor allem Kain und mich selbst. Meine Familie mag Kain. Jeff mag Kain. Sogar Luci kann ihn gut leiden, wobei ihr Männergeschmack zu wünschen übriglässt. Alle mögen Kain. Vielleicht ist genau das mein Problem. Denn diese Gewissheit macht mich manchmal rasend.

In diesen strudelnden Gedanken gefangen zerre ich mir die lange Schlafhose über die Beine, falle wenig elegant in die Laken, nachdem ich prompt das Gleichgewicht verliere. Ich bleibe zweimal im Stoff hängen, ehe ich sie über die Hüfte kriege. Danach starre ich an die Decke, die mit verschnörkeltem Stuck versehen ist. Aufwendige Zierleisten und eine pompöse Deckenrosette runden das dekadente Bild ab. Ich vermisse plötzlich die schmuddeligen Deckenplatten des Wohnheims. Es ist einfach fremd. Ich setze mich wieder auf und schaue mich zum ersten Mal aufmerksam im Zimmer um. Für ein Gästezimmer ist es mehr als geräumig und wirkt quasi wie ein Hotelzimmer. Auch, wenn die typischen Annehmlichkeiten wie ein Fernseher und eine Minibar fehlen. Es ist, ebenso wie Kains Zimmer, eher minimalistisch dekoriert und unpersönlich. Kein Schnickschnack. Kaum Familienfotos. Auch nicht im Flur oder in der Küche. Anscheinend ist das der Anders-Stil oder einfach der Tatsache geschuldet, dass sie wenig familiär sind. Kain, mit seinem klaren Bedürfnis nach Nähe, passt da kaum ins Bild oder vielleicht genau deswegen. Ich bin mir nicht sicher, wie ich Kains Verhalten einordnen kann.

Kain. Mein Freund. Es rollt unausgesprochen über meine Zunge und klingt dennoch seltsam. Dingster finde ich besser. Mit einem kurzen Blick zur Tür lege ich mich erneut senkrecht und vergrabe die Beine unter der Decke. Draußen ist es still, demnach hat Kain die Versuche, mich zu bequatschen, aufgegeben.
 

Ich schaffe es nicht, die Augen für mehr als zehn Sekunden zu schließen, bevor sie wieder aufspringen und ich wacher bin als vorher. Leider ist mir trotz der voranschreitenden Zeit nicht gelungen, zu identifizieren, warum oder was es ist, was mich wachhält. Vielleicht doch dieser Geruch? Ich drehe meinen Kopf zur Seite, sodass sich die Hälfte meines Gesichts ins Kissen drückt. Er ist blumig, so wie der Rest des Zimmers, aber das ist es nicht. Vielleicht die Konsistenz der Matratze? Vermutlich bin ich durch die brettartigen Betten unseres Wohnheims derartig entwöhnt, dass mein Hintern mit guten Matratzen nicht mehr umgehen kann. Ich wackele ein paar Mal mit der unteren Körperhälfte im Laken umher und gestehe mir ein, dass es daran nicht liegt. Es ist okay.

Womöglich ist es zu ruhig? Normalerweise raschelt, brummt, atmet oder schnarcht irgendwas in den Zimmern, in denen ich nächtige. Doch wenn ich in meinem Elternhaus bin, stört mich Kains Fehlen auch nicht.

„Verdammt“, fluche ich in den stillen Raum hinein. Ich vermeide es, auf die Uhr zuschauen, als ich die Beine aus dem Bett schwinge und aufstehe. Kurz überlege ich hin und her, fühle mich wie eine der mittleren Kugeln in einem Newtonpendel. Ich ziehe sogar die Packung Zigaretten hervor, die ich in einer der Innentaschen meines Rucksacks bunkere für Notfälle. Es fühlt sich an wie eine eindeutige Zwangslage, auch wenn ich es besser weiß. Doch statt mich auf den Balkon zu stellen, werfe ich die Packung zurück, greife mir die Bettdecke, werfe sie mir um und husche behutsam über den Flur.



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Kommentare zu dieser Fanfic (25)
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Von:  Dcsag
2023-06-17T11:39:08+00:00 17.06.2023 13:39
Uff.. das war irgendwie viel…
Also hat Kain Robin deshalb (u.A.) mitgenommen, um seiner Familie eins auszuwischen, weil:
a. Unangekündigt
b. Robin ein Kerl ist (+ Andeutungen)
c. Weil Robin so ist wie er ist und seine Persönlichkeit und Hintergründe nicht reinpassen
… ich wär ja sowas von abgehauen an seiner Stelle - vor allem weil das nicht besprochen war.
Ich glaub bei "kommst du mit meiner garstigen Familie auf die Nerven gehen" wäre er (und ich auch) eher dabei aber so…
Gut für Kain, dass Robin das nicht so eng sieht wie ich es würde, denn ich finds ehrlich gesagt richtig übel und hätte das von ihm nicht erwartet. Seine Familie ist so schlimm dass ihn nicht mal ein blowjob ansatzweise entspannen kann … heißt es wird weiterhin rund gehen - gut, um Kain besser kennen zu lernen.
Ich bin sehr gespannt was da noch so kommen mag ;)
Von:  Kayara
2023-06-03T17:05:11+00:00 03.06.2023 19:05
Mit viiiel Verspätung hab ich das Kapitel endlich gelesen. :D Es ist großartig. Der letzte Satz kam unerwartet. Hihi 😍
Von:  Loal
2023-01-23T19:09:39+00:00 23.01.2023 20:09
Ich liebe deine Story einfach egal welche von ihnen. Hab jetzt erst wieder Between the Line von vorne begonnen zu lesen da es schon ne Weile her war und voll druchgesuchtet. Mein Freund hat sich schon beschwert das ich so viel lese und immer wenn er auf den Schrirm guckte stand da wohl Robin. Robin. XD

Kanns kaum erwarten das es weiter geht. Aber mal ne andere Frage gibt es deine Storys auch in Buchform? Ich würde sie glatt kaufen, schön als taschenbuch zum mitnehmen, genug Wörter sollten sie ja haben.
Antwort von:  Karo_del_Green
24.01.2023 07:29
Awww, das war jetzt gerade der süßeste Zucker für meinen imaginären Morgenkaffee (bin Teetrinker ^^) und vielen lieben Dank für das Lächeln, welches du mir gerade ins Gesicht gezaubert hast! Ich freue mich, wenn ich dir mit meinen Chaoten eine gute Zeit bescheren kann und nein, ich habe gar kein schlechtes Gewissen gegenüber deines Freundes XD

Meine Chaosgeschichten als echtes Buch wären ein echter Traum, aber bis lang habe ich mich nicht getraut 🙈 aber ich arbeite an meinem Mut.

Ich danke dir sehr für deine Worte,- sie machen mir Mut-, und dafür, dass du auch mehrfach liest ❤❤ Das macht mich sehr glücklich.
Von:  Dcsag
2022-09-20T21:40:09+00:00 20.09.2022 23:40
Hallo erstmal ;)

was mir bei Ezra’s letzter Erwähnung aufgefallen ist ist, dass Kain kaum Eifersucht zeigt(e). Jetzt ist eine direkte Konfrontation durchaus wahrscheinlich und ich würde Kain gerne mal eifersüchtig/besitzergreifend erleben.
Generell darf es gerne mal wieder etwas abgehen und ich glaube da ist auch schon was im Busch xD

Ich freu mich auf das nächste Kapitel 😊
(5k sind ja schon da, kann also nicht allzu lange dauern, aber fühl dich nicht gestresst)
Antwort von:  Karo_del_Green
21.09.2022 06:08
huhuuuuu ❤❤ danke, dass auch du so geduldig mit mir bist^^. Ja, slow burn ist bei mir noch zu schnell, aber man bedenke, wir sind noch im 6 Kapitel, das ist fast noch Exposition. Nein, alles Ausreden. Du hast recht! Es bleibt natürlich nicht bei dem heiter Sonnenschein, Schneefall? Passt besser für Weihnachten. 🤣
Hab vielen lieben Dank und ich gebe mir große Mühe, dass ihr nicht so lange auf das nächste warten müsst.
Antwort von:  Dcsag
22.09.2022 01:05
Hat Jeff eigentlich Geschwister? Oder wer ist da Weihnachten noch bei den Kochs? Der Vater ja nicht 🤔
Antwort von:  Karo_del_Green
22.09.2022 06:11
Nein, keine Geschwister für Jeff. Nur seine Mama, wahlweise seine Tante und Oma, aber nicht immer. Manchmal kommt Robin zum Spielen vorbei, aber dieses Jahr müssen wir schauen, ob das klappt ;)
Antwort von:  Dcsag
23.09.2022 15:50
Ja vielleicht ist Robin dieses Jahr … anderweitig… beschäftigt ;)
Von:  z1ck3
2022-09-18T20:40:51+00:00 18.09.2022 22:40
Mein Kopf hat die ganze Zeit gebrüllt,.das Robin ihn hätte einladen sollen. Weihnachten mit ätzenden Menschen ist doch grausam. Ich hoffe, er ist aus einem netten Grund da und nicht weil's geknallt hat🥺
Antwort von:  Karo_del_Green
21.09.2022 06:04
Huhuuu :D ❤ Da gebe ich dir absolut recht. Weihnachten gehört aber bei vielen auch zu den Feiertagen, die nur in der Familie stattfinden und Kain hat gegenüber seiner Familie auch ein gewisses Pflichtgefühl, so vermurkst es auch ist! Vor allem gegenüber seiner Schwester! Und Robin hat in seinem Kopf noch nicht so recht vereinbart, dass er Kains Anwesenheit dann vllt auch begründen müsste. Davor scheut er sich noch!
Vielen lieben Dank, dass du weiterhin mit dabei bist ❤❤
Von:  chaos-kao
2022-09-18T13:07:55+00:00 18.09.2022 15:07
Na hoffentlich hat Kain irgendwo am Körper ein Schleifchen versteckt, damit Robin etwas zum Auspacken hat :D Ich bin ja mal gespannt ob es im nächsten Kapitel ein Outing geben könnte? Zumindest Lena scheint ja schon 1 und 1 zusammengezählt zu haben. Ich freue mich auf alle Fälle schon sehr auf das nächste Kapitel!
Antwort von:  Karo_del_Green
21.09.2022 05:57
Huhuuuu ❤ Ich fand ja das `irgendwo` super witzig XD Also ich hatte gerade nur eine Stelle im Kopf. Natürlich der große Zeh!
Und ja, Lena kriegt mehr mit als Robin lieb ist und wer weiß, was sie sich so alles in ihrem kleinen Köpfchen zusammenreimt. ^^ Danke sehr, dass du dran bleibst! ❤❤
Von:  chaos-kao
2022-04-29T21:05:23+00:00 29.04.2022 23:05
Oh Pablo, ich habe ihn vermisst :D Ich bin großer Fan von ihm. Allgemein von den Hauptcharakteren in dieser Geschichte. Es ist wirklich einfach schön zu beobachten, dass Robin langsam auftaut. Nicht nur gegenüber Kain, ganz allgemein wird er zugänglicher. War wieder ein wunderbares Kapitel, das ganz viel Spaß beim Lesen gemacht hat! <3

PS: In folgendem Teilsatz bin ich beim Lesen zweimal gestolpert: "dass er auf dich hört, du bist nicht mal guter Freund“, ächzt er weiter.". Da fehlt ein 'ein' und müsste es statt 'ächzt' nicht 'ätzt' heißen?
Antwort von:  Karo_del_Green
30.04.2022 06:46
Huhuuuu ❤ danke schön fürs Dranbleiben! *__* oh ja, selbst ein Stein, wie Robin gewöhnt sich mit der Zeit und beginnt zu schmelzen. ^^
und es ist ja einfach so, dass wenn sich andere unvoreingenommen öffnen und auf einen zugehen, können sich die Ansichten und Überzeugungen ändern und man merkt, dass nicht alle Menschen beißen. Wobei ich mit der Aussage lieber vorsichtig bin XD
Und lieben Dank für die Hinweise! Das fehlende Wort habe ich eingebaut. Mit ächzt dachte ich eher an ächzen. also: wenn man gespresst und angestrengt einen Laut ausatmet.
Vielleicht ist das andere Stelle nicht verständlich. Ich denke drüber nach :D Danke dir!

Ich wünsche dir ein wunderbares Wochenende!
Von:  z1ck3
2022-04-29T19:08:40+00:00 29.04.2022 21:08
Ach, ich liebe diesen Kerl. Ernsthaft. Mit deinem Schreibstil, rettest du mir einen echt trüben Tag. Ich habe es vorher gesagt, ich werde es wieder sagen: ich finde Robin fantastisch und lustig und ich mag den. So. Und Kain auch.
Antwort von:  Karo_del_Green
30.04.2022 06:49
Huhuuuu ❤
und ich danke dir unglaublich dafür, dass du meine Chaoten ebenso lieb hast! Das bedeutet mir wirklich viel. :)
Danke, dass auch du dranbleibst, wo ich doch so eine Schreibschnecke bin.

Ich wünsche dir ein wunderbares und erholsames Wochenende!
Antwort von:  z1ck3
01.05.2022 22:20
Papperlapapp gut Ding will Weile haben :D
Danke dass du dran bleibst und weiter schreibst!
Von:  Dcsag
2021-11-30T20:13:52+00:00 30.11.2021 21:13
Wow, ein himmelweiter Unterschied zum ersten Buch, Robin ist schon viel viel weiter. Trotzdem glaube ich ist keinem bewusst WIE viel ihm abverlangt wird. Ich denke auch, dass es noch knallen wird, Kain ist immernoch zu schnell. Aber ich hoffe natürlich sie schaffen das, es wäre so wichtig für Robin's Entwicklung und wenn nicht ein fataler Rückschlag immensen Ausmaßes. Ich freue mich so oder so drauf.
Bitte weiterschreiben (& drucken) ;)
Antwort von:  Karo_del_Green
04.12.2021 12:45
Haha, ja nach mehr als 500 Seiten sollte er auch langsam mal ein paar Schritte nach vorn machen. :D und du hast ebenso recht, Kain muss aufpassen, dass er nicht zu schnell zu viel verlangt. Robin kämpft und seine inneren Kämpfe sind die schwersten. Aber er möchte und das ist erstmal das, worauf es ankommt.
Ich danke dir sehr dafür, dass du den beiden mit vollem Herzen beistehst! Danke ❤
Von:  chaos-kao
2021-11-30T09:51:59+00:00 30.11.2021 10:51
Wurde ja doch noch ein schöner Geburtstag, auch wenn Kain keine Ahnung hat. Aber sie haben sich etwas ausgesprochen und haben es tatsächlich geschafft einen Schritt in Richtung Beziehung voran zu schreiten. Jetzt muss nur Robin es irgendwie schaffen nicht dauernd mit Kains Freunden aneinander zu geraten - und das wird richtig schwierig werden. Ich bin auch gespannt ob Kain demnächst noch herausfinden wird, dass Robin Geburtstag hatte und es ihm nicht mitgeteilt hat. Das könnte evtl. auch nochmal etwas Gesprächsbedarf nach sich ziehen. Aber für den Moment haben sie einen seeeehr großen Schritt nach vorne gemacht :) Hat mir gut gefallen das Kapitel. Wieder sehr gut geschrieben und ich mag die Charaktere einfach unglaublich gerne.
Antwort von:  Karo_del_Green
30.11.2021 11:06
Danke, dass du mich und meine Chaoten so unterstützt! Es bedeutet mir wirklich viel. 🥰🥰
Ja, Robin macht mal ein paar Schritte nach vorn und Kain nimmt das natürlich dankend an. Aber wie du schon sagst, es gibt noch genügend Konfliktpotenziale in Form des Bekanntenkreises. 🤣 Robin und seine Art sind halt schwer genießbar und manch einer braucht zwei drei weitere Blicke bis er es durchdringt. Nun liegt es an Robin, da auch zu überzeugen.

Ich danke dir von Herzen ❤
Antwort von:  chaos-kao
29.04.2022 22:09
Hab das Kapitel zur Feier des neuen Kapitels nochmal gelesen. Ich liebe diese Beschreibung vom Apfelstrudel einfach: "Es ist traumhaft. Wenn ich könnte, würde ich mich nackt in dem Strudel wälzen und schnurren. Und es wäre mir nicht mal peinlich." Allgemein liebe ich die blumige Sprache in 'Between the Lines'. Macht es einfach zu etwas Besonderem.


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