Between the Lines - Chapter 2 von Karo_del_Green (It's more than just words) ================================================================================ Kapitel 3: Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst... ---------------------------------------------------------------------- Kapitel 3 Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst... Die Haut an meinem Hals pulsiert und bebt. Ich schließe meine Augen, um dem Gefühl nicht zu verfallen. Doch ich erreiche das Gegenteil. Die Empfindung, so klein sie auch ist, wird zum starken Widerhall. Die Vibrationen in meiner Brust werden heftiger und schlagen Wellen bis in meine Fingerspitzen und Zehen. Mein gesamter Körper steht in Flammen und das nur wegen der provokativ geflirteten Worte des anderen Mannes. Ob ich mich jemals an diese überfordernden Gefühle gewöhnen werde? Will ich es? Es ist berauschend und aufregend, wäre es nur nicht ebenso flatterhaft. Ich weiß mit den vorherrschenden Gefühlen nicht umzugehen, denn sie machen mich schwach. Auf vielerlei Art. Ich schlucke kaum merklich, weil sich mein Mund trocken anfühlt. Kain fixiert mich mit seinen warmen braunen Augen und ich schlucke ein weiteres Mal. „Wie viel hast du eigentlich schon getrunken?“, frage ich, um von der Tatsache abzulenken, dass mein eigener Alkoholpegel stetig meine Gehirnleistung dimmt. „Komme ich dir etwa betrunken vor?“, fragt er skeptisch, hebt seine Augenbraue und verschränkt locker seine Arme vor der muskulösen Brust. „Da du Unsinn redest... durchaus, ja“, provoziere ich ihn ein klein wenig weiter. Das feine Lächeln, welches sich dabei auf meine Lippen legt, kann ich nicht verhindern und schiebe es auf das Hochgefühl des Alkohols. „Unsinn?“ „Wahnsinn?“, versuche ich amüsiert. Eins von beidem. Kain rollt offensichtlich mit den Augen. „Ablenkungsversuche“, stellt Kain schneller fest als mir lieb ist und bringt meine Ausreden auf den Punkt. „Mitnichten. Wie heißt es so schön... immer das Gleiche tun und andere Ergebnisse erwarten...“, zitiere ich einen Teil des bekannten Spruchs von Albert Einstein, der meiner Meinung nach in diesem Fall wirklich zutreffend ist. Mittlerweile sollte dem Schwarzhaarigen klar sein, dass Tanzen und ich einfach nicht zusammenpassen. Ich würde sogar behaupten, dass sich jeder Satz mit dieser Wortkombination zur absoluten Absurdität degradiert. Kain wirkt unbeeindruckt. „Gut, dann eben Nägel mit Köpfen...“ Ehe ich nachhaken oder auch nur auf die halbgare Sprichwörterschubserei reagieren kann, spüre ich seine warme, große Hand um meinen Handgelenken, die mich plötzlich in Bewegung bringt. „Huch.“ Mein Gehirn braucht mittlerweile, dem Wodka geschuldet, schon etwas länger. Ich stolpere ihm hinterher und pralle regelrecht gegen ihn als er plötzlich wieder stehen bleibt. Mitten im Wohnzimmer. Inmitten von tanzenden Leibern. Das ist nicht sein Ernst? Ich sehe mich unwillkürlich um aber entdecke bis auf Jeff und Jake keine bekannten Gesichter. Trotzdem spüre ich, wie mein Herz stolpert und enthusiastisch einen Rammbock imitiert. Kain versucht die Lücke zwischen uns zu schließen, indem er nach zwei der Gürtelschlaufen meiner Jeans greift und seine Zeigefinger dort einhakt. Im nächsten Moment setzt ein äußerst vertrautes Lied ein und ich bin nicht der Einzige, der es sofort erkennt. Kain stoppt in seiner Bewegung, belässt seine Hände aber wo sie sind. „Das Lied ist wie ein heimsuchender Poltergeist...“, äußere ich, wende meinen Blick ab und versuche mein Bestes, um nicht dem Ohrwurm zu verfallen. `And that's when you need me there. With you I'll always share. ` Ein Kampf gegen Wackelpudding, denn wirklich jeder wird von diesem Song gepackt, heimgesucht und durchgeschüttelt. „Because...“, singt Kain plötzlich dicht an meinem Ohr weiter, „´When the sun shines, we'll shine together. Told you I'd be here forever`...“ Sein Gesang mündet in Gesumme. Tief und rau. Ich merke, wie sich die Haut auf meinen Armen aufrichtet und atme stockend aus, als auch mein Nacken zu pulsieren beginnt. Noch immer stehen wir beieinander. Mit so viel Abstand, dass es gewöhnlich aussieht und doch so dicht, dass ein einziger wissender Blick alles offenlegen würde. Ich spüre, wie mein Herz bei dem Gedanken nur noch heftiger zu schlagen beginnt, aber nicht aus Unbehaglichkeit. Es ist Spannung. Es ist ein reiner Rausch gepaart mit gleisender Aufregung und feinherber Ernüchterung. Denn da ist dieser Teil in mir, der es nicht zulassen will, der denkt, dass ich zurücktreten sollte. ´You can run into my arms. It's OK, don't be alarmed. Come here to me. There's no distance in between our love.´, setzt sich der Song fort und hüllt uns zwei in eine Blase der unausgesprochenen Worte. Ich schaue auf und werde von seinem intensiven Blick gefangen genommen. Alles, was ich in diesem Augenblick sehe, ist offen, ehrlich und unmissverständlich. Warum bin ich mir noch immer unsicher? Warum vertraue ich nicht auf das, was ich ganz deutlich sehen kann? Warum ergibt es für mich keinen Sinn? Kain lächelt und vollführt Ansätze von tänzelnden Bewegungen. Seine Hüfte kreist und ich sehe dabei zu, wie er spielend näher rutscht, sich etwas dreht und im nächsten Moment sein Becken gegen meine Hüfte stößt. Seine Augenbrauen wackeln auffordernd. Er gibt nicht auf. „Nur einen Tanz. Du musst gar nichts tun... nur locker dastehen und ein bisschen shaken.“ Er macht es mir vor, zieht dafür die Ellenbogen an die Seite heran, ballt lockere Fäuste und wackelt mit dem ganzen Körper, während seine Arme eine Lokomotive imitieren. Ich amüsiere mich spontan darüber, wie es ein derartig großer Kerl schafft, putzig auszusehen und hasse mich im selben Moment dafür. „Was?“, fragt er mit einem unschuldigen Blick nach dieser eindrucksvollen Demonstration und ich presse mittlerweile die Lippen aufeinander, um diese lästigen rosaroten Gedanken zu verdrängen. Kain macht es einem manchmal echt schwer. „Ich hielt dich immer für einen Mufasa-Typ, aber gerade bist du Timon und Pumba... Und ja, ich meine beide zusammen und es ist kein Kompliment“, offenbare ich ihm meine Gedanken in abgewandelter Form. Kain scheint von meinem König der Löwen-Vergleich unbeeindruckt und wackelt lediglich mit seinem Haupt, was seine Haare durcheinanderbringt. „Hakuna matata, du Möchtegern-Scar“, erwidert er schnippisch und stupst ein weiteres Mal seine Hüfte gegen meine. „Komm schon...“ Ein flehendes Flüstern. Ein weiterer Versuch. Ich bin Granit. Halt. Kautschuk. Kain gibt nicht auf. Diesmal fasst er zusätzlich nach meinen Ellenbogen, führt mich sachte in seine Richtung und beginnt, sich im Takt des Liedes zu bewegen. Rihanna ist passé und Robin Schulz mit `Sugar´ setzt ein. Wieder ist es so ein halbgarer Hinweis des Universums. Ich bin kurz davor, mich meinem Schicksal hinzunehmen und mich diesem Tanz zu ergeben. „..... obin...“ Mit einem Mal trifft mich von hinten ein anderer Körper, der mich fast in die Knie zwingt. Zwei Arme legen sich auf meinen Schultern ab und dann hängt ein achtzig Kilo schwerer Geologe um meinem Hals wie ein Kartoffelsack auf Halbmast. Jeffs warmer Atem streicht über meine Wange und ist so alkoholisch, dass ich das Gefühl habe, allein dadurch noch betrunkener zu werden. „Fuck... Jeff, was zum Teufel...“, fluche ich laut. Ich ächze unter dem plötzlichen Gewicht und greife nach seinen Unterarmen, jedoch nicht um ihn wegzudrücken, sondern um eine halbwegs stabile Position zu bekommen. Kains Hände helfen mir ebenfalls dabei, drücken sich gegen meine Brust und verhindern, dass ich vornüberkippe. Ich sehe auf, entdecke einen Hauch Besorgnis und Enttäuschung in Kains Gesicht. Er startet einen halbherzigen Versuch, mir irgendwie zu helfen, doch er lässt seine Hände wieder sinken. „Keine...Ussfli...mehr...“, brabbelt das Anhängsel in den Stoff meines adoptierten Pullovers und ich verstehe erwarteter Weise kein Wort. Kain scheinbar auch nicht, denn auch seine Stirn runzelt sich verwundert über den Wortsalat. Jeff winselt jämmerlich, um seinem Gesagten mehr Nachdruck zu verleihen und macht es nicht verständlicher. „Geht’s auch etwas deutlicher?“, entfährt es mir schroff und mäßig genervt. Kain wirft mir einen vielsagenden Blick zu, den ich mit einem Schnauben kommentiere. Freundlich bin ich erst morgen wieder. „Es gibt keine Erdnussflips mehr“, wiederholt mein Mitbewohner lallend. Aber halbwegs deutlich. Dafür hebt er kurz den Kopf an und lässt ihn ermattet zurückfallen. Erdnussflips? Wirklich? „Und du denkst, ich habe welche in der Tasche?“ Der Kopf in meinem Nacken wackelt ein paar Mal hin und her. Er weiß also noch, dass ich kein Erdnussflipsautomat bin. Immerhin. „Jeff, wo hast du Jake gelassen?“, hakt Kain nach und sieht sich genauso wie ich kurz um. „Sucht Flips...“, folgt Jeffs genuschelte Antwort. Danach reibt er seine Wange über einen der Wirbel in meinem Rücken, was mir ein unangenehmes Kitzeln beschert. „...und wird sie vermutlich niemals finden...“, führe ich Jeffs Satz fort. Ich schüttele mich leicht, aber das scheint Jeff wenig zu stören. Vermutlich ist der ITler vor dem betrunkenen Quasselkopp geflohen und ich werde ihn dafür keinesfalls verurteilen. Ein betrunkener Jeff kann bisweilen grundnervige Züge annehmen. Ich erinnere mich gut an unseren letzten Alkoholexkurs, der dazu führte, dass er mir eine Glitzersteinlektion verpasste, von der ich einzig das Wort Glimmerschiefer behalten habe. „Kannst du mir Flips kaufen?“, bettelt Jeff mit sanfter Stimme und mein inneres Seufzen wird lauter. „Nein, kann ich nicht“, erwidere ich und sehe verzweifelt zu dem Schwarzhaarigen. Wo sollte ich um diese Uhrzeit Erdnussflips herbekommen? Wie sollte ich jetzt noch an einen Ort kommen, wo es Knabbereien gibt? Jeff brummt frustriert und ich kann ihm nur beipflichten. Allerdings aus völlig komplementären Gründen. „Ich will aber Flips.“ Von Brummbär zu Schmollmaus in nur drei Sekunden. Neuer Rekord. „Und ich will Pudding. Tja, das Leben ist scheiße“, gebe ich wenig mitfühlend retour, „Kannst du nicht einfach etwas anderes essen?“ Die Auswahl war groß und Jeffs Appetit normalerweise nicht derartig spezifisch. Allerdings frage ich mich gleich darauf, wieso ich überhaupt versuche, vernünftig mit einem Betrunkenen zu reden. Jeder Hamster ist aufnahmefähiger als mein Jugendfreund in diesem Moment. „Nein.“ Deutlich. Jeff festigt seinen Klammergriff um meinem Hals. Ich sehe immer noch zu Kain, der uns schweigsam beobachtet und ein wenig abwesend scheint. Erst, als ich die Hand hebe, sieht er mich an und greift instinktiv nach meinen wackelnden Fingern. „Vielleicht sollten wir ihn ins Wohnheim zurückbringen...“, schlägt er vor und zieht sein Handy aus der Hosentasche, um auf die Uhr zusehen. Meine Hand lässt er dabei los. „Nur, wenn du ihn trägst.“ Wie jeder Betrunkene verhält sich Jeff wie ein kleines Kind. Für nur 100 Meter Weg benötigt man die dreifache Dauer, denn sie drehen sich dauernd um, halten an und laufen zurück. Drehen sich im Kreis und singen. Gut, das macht Jeff auch so. Aber darauf habe ich keinen Bock. Es ist spät. Ich bin müde und mein Gehirn fühlt sich an, als wäre es in Formaldehyd eingelegt. Hierlassen kann ich Jeff aber auch nicht. Ein Dilemma par excellence. „Ich dachte eigentlich an ein Taxi.“, erläutert Kain seinen Vorschlag und wackelt mit dem Handy vor meiner Nase herum. Oh. Ein Taxi. Das nenne ich wirklich hilfreich. Ich merke immer mehr, dass mir der Kartoffelsack wirklich zu schwer wird und bin dankbar, dass Kain sofort mit der Organisation beginnt. Es dauert einen Moment, bis ich meinen Jugendfreund davon überzeugt habe, dass ich ihn nicht die Treppe runtertragen kann. Nach einer demonstrativen Zurschaustellung meiner Nudelarme und der Feststellung, dass mein Wissen um seine Jugendsünden hilfreiche Drohungen sind, setzen wir uns in Bewegung. Kain weißt mich zwischendurch daraufhin, dass er uns bei allen verabschiedet und unsere Jacken holt. Auf dem Weg nach unten muss ich Jeff hin und wieder stützen und mehrmals hartnäckig intervenieren, weil er der Überzeugung ist, noch nicht genügend Konversation betrieben zu haben. Ich argumentiere vehement. Mit nur mäßigem Erfolg. Trotzdem schaffe ich es, ihn nach unten zubringen. „Schau, ein Drei-Köpfiger-Affe“, rufe ich halblaut, deute in den Nachthimmel und lasse Jeff draußen ins Gras rutschen. Ich sehe mit Genugtuung dabei zu, wie er brav nach oben starrt und reibe mir mit der Hand über den Nacken, weil ich sein Phantomgewicht auf meinem Rücken spüre. Ich schließe die Augen, seufze und atme die frische, kühle Nachtluft ein. Eigentlich hätte ich das sein sollen. Ich hätte dort sitzen und betrunken unsinniges Zeug labern sollen. Der ungenießbare Wodka hat einen schlechten Job getan und ich fluche leise vor mich hin, weil ich mich wegen des ausbleibenden Rauschzustands übermäßig geschafft fühle. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es weit nach Mitternacht ist und ich verspüre das dringende Bedürfnis, dem Deckenburritotum zu frönen und leise die Stupidität des modernen Seins zu bejammern. „Hallo.“ Ich öffne träge die Augen und sehe zur Seite. Es ist Jake, der neben mir aufgetaucht ist und sich mit der Hand durch die dunklen Haare streicht. Ich kann nicht verhindern, dass mein Blick einen Moment lang bei ihm verweilt. Auch er sieht geschafft aus. Irgendwie angespannt. Sein Gesichtsausdruck ist auffällig besorgt und seine Augen haften sich an den am Boden sitzenden Jeff. „Hey“, erwidere ich auf seine Begrüßung und schaue zurück zu meinem Jugendfreund, der mittlerweile auf seinem Handy rumtippt. Als er es sich ans Ohr hält, beginnt der Mann neben mir zu vibrieren und wie zur Bestätigung zieht Jake auch sein Handy hervor. Er schaut auf den eingehenden Anruf und grinst verlegen. Einerseits fange ich an, mich stellvertretend für meinen Mitbewohner zu schämen. Andererseits wird es mir eine diabolische Freude sein, Jeff morgen damit aufzuziehen. „Jeff?“, rufe ich und versuche ihn darauf aufmerksam zu machen, dass der ITler direkt hinter ihm steht. „Pscht, ich telefoniere mit Jake...“, watscht er mich harsch lallend ab und kichert im Nachgang. Er dreht sich nicht mal um, sondern winkt nur ungelenk rückwärts. Jakes macht keine Anstalten ranzugehen. Jeff brabbelt irgendwas Undeutliches, legt auf und versucht es gleich darauf erneut. Ich streiche mir mit der Hand über das Gesicht. Das Lachen kann ich mir nur mit viel Mühe verkneifen. Das werde ich ihm morgen definitiv erzählen. In all der peinlichen Pracht und Heiterkeit. Bevor Jake auf den anderen zugehen kann, um auf sich aufmerksam zu machen, halte ich ihn zurück. „Lass gut sein. Kain und ich bringen ihn zurück ins Wohnheim. Das ist das Beste." „Okay,.. aber ich könnte euch..." „Nicht nötig", fahre ich ihm über den Mund, bevor er den Satz zu Ende bringen kann. Es ist eher unbeabsichtigt schroff. Jake ist sichtbar irritiert und zögert. „Ich habe nicht...“, setzt er erneut an, „Jeff hat mit einem Mal angefangen, mit jedem anzustoßen und dann... ging's plötzlich ruckzuck. Und ich wollte noch, dass er etwas isst, aber er wollte nur diese doofen Erdnussflips und die konnte ich nicht finden“ Er klingt dabei wirklich ein wenig verzweifelt, aber vor allem gestresst. Ich kann gut nachempfinden, wie er sich fühlt und bleibe nur cool, weil ich weitaus mehr Erfahrung mit diesem Jeff habe als er. Jake hat nichts falsch gemacht und er muss sich in keiner Weise rechtfertigen. Schon gar nicht vor mir. „Die hat Shari alle gegessen... und ich wollte nichts andeuten“, erwidere ich schlicht und sehe zu meinem Jugendfreund, der seelenruhig im Gras sitzt und sich die Hose einsaut. Vermutlich erweitert er gerade seine Steinchensammlung, denn er beugt sich vor und streckt stetig seine Hand nach etwas aus, was vermutlich nur er spannend findet. „Du kennst Shari?", fragt Jake erstaunt. „Ja... und auch Mark", gebe ich Preis. Ich kenne Mark nicht wirklich, aber das muss er nicht wissen. Bei der Erwähnung des anderen Mannes sehe ich ihn deutlich zusammenschrumpfen, was bei seiner Größe durchaus eine Leistung ist. Noch dazu weicht er prompt meinem Blick aus. Es geht fast nicht verräterischer. Das mit Mark war also kein wie von Shari betiteltes harmloses Ding gewesen. Jedenfalls nicht, wenn man sich die Reaktion des ITlers so anschaut. „Jaaaaaake...“, ertönt es plötzlich. Jeff hat sich aufgerappelt und wankt begeistert auf uns zu. Ungeniert hängt er sich an Jakes Hals und ich schaue skeptisch dabei zu, wie der größere Mann fast behutsam dafür sorgt, dass mein Jugendfreund nicht die Fassung verliert. Er zieht Jeffs Pullover zurecht, stabilisiert seinen Stand und tätschelt liebevoll dessen Rücken, während der Blonde jammernd davon berichtet, dass ich ihm keine Erdnussflips kaufen will. Zweimal. Wow, ich bin echt der schlimmste Kumpel aller Zeiten. Nun weiß es die ganze Welt. Oder zu mindestens die Partygesellschaft. Ein wenig mehr Respekt empfinde ich für Jake, als er sich ohne Umschweife dafür entschuldigt, dass auch er keine Flips für ihn finden konnte. Unnötig, denn Jeff ist längst selig und lächelt dem anderen Mann glücklich entgegen. Er ist so verliebt, dass ich gedanklich einen Zahnarzttermin mache, um zu verhindern, dass ich bald ohne Kauleiste dastehe. Ich wende mich von dem verschmolzenen Turtelhaufen ab und sehe Kain in diesem Moment aus der Tür kommen. „Gut, Jake hat euch gefunden...“, stellt er fest, als er auf uns zu kommt und reicht mir die Jacke, „Habe ihn unterwegs getroffen... Oh, das Taxi ist in fünf Minuten da.“ Es dauert keine fünf Minuten, bis das Taxi kommt, aber zehn, bis sich Jeff von Jake gelöst hat. Ich schubse meinen Jugendfreund mit dem Oberkörper voran auf den Rücksitz als er sich beim Einsteigen anstellt wie ein Fünftklässler beim Bockspringen und überhöre sein Gezeter. Aber nicht Kains Kichern. Ihm schenke ich einen vielsagenden Blick, der leider keine Wirkung zeigt. Bevor ich neben Jeff Platz nehme, spüre ich Kains warme Hand an meinem unteren Rücken als beschwichtigende Geste und lasse ihn hinter mir die Tür schließen. Immerhin endet der Partyabend ohne große Katastrophen. Und was ganz wichtig ist, sie endet. Mein alkoholvernichtender Mitbewohner lässt seinen Kopf, sobald ich sitze, auf meine Schulter kippen, murmelt etwas Unverständliches und gähnt. Er ist warm und im betrunkenen Zustand wie immer schrecklich anhänglich. Ich lasse meinen Kopf erschöpft gegen die Stütze fallen, schließe die Augen und merke, wie mich die Müdigkeit trifft, wie ein Bumerang. Es fällt mir unsagbar schwer, mich nicht von der Wärme des anderen Körpers einlullen zu lassen und auch der Alkohol in meinem Blut trägt dazu bei, dass ich innerlich die weiße Flagge schwenke. Erst als Jeff beginnt, neben mir auf dem Sitz rumzurutschen und mehrere Male seinen Ellenbogen in meinen Rippen stößt, sehe ich auf. „Was machst du da?“, frage ich genervt und betone jedes einzelne Wort besonders deutlich. Jeff stoppt und hält in seiner Bewegung inne. Er grinst mir entgegen und ich merke, wie er es diesmal schafft, seine Hand in die Hosentasche zuschieben. Ich spüre die Bewegung an meiner Hüfte, werfe einen Blick in den vorderen Teil des Wagens und kann sehen, wie uns der Taxifahrer einen Moment lang durch den Rückspiegel hindurch mustert. „Schau mal, ein Chert oder ein Radiolarit", flüstert mein betrunkener Mitbewohner enthusiastisch und hält mir seine ausgestreckte Hand hin. „Weder noch. Ist nur `ne Schnecke, Jeff", entgegne ich müde, nachdem ich kurz überschlage, dass die zwei Begriffe aus seinem Geologenrepertoire stammen müssen. Ich habe keine Ahnung, was er genau meint. „Oh, eine Schnecke“, flieht es verblüfft über Jeffs Lippen, als er selbst noch mal genauer hinschaut, „Bei uns wird sie es besser haben.“ „Sicher? Genaugenommen hast du sie entführt und wahrscheinlich ist sie jetzt schwer traumatisiert“, gebe ich zu bedenken. Mein Kopf fällt ermattet zurück und trotzdem denke ich weiter an Siliciumdioxid und wie sich Sand unter nackten Füßen anfühlt. Ich brauche Urlaub. „Oh man...“, entflieht ihm gequält und sein Zeigefinger drückt sich lax in meine Wange, „Du bist schrecklich, weißt du das?“ Ich lasse seine Aussage unkommentiert. Ich bin nun mal geradeaus und stehe nicht auf Beschönigung. Jeffs Hand bleibt nach mehreren kleinen Klopfern schlaff auf meinem Oberschenkel liegen. Wir fahren nur ein paar Minuten und doch reicht es aus, um jeglichen Rest der alkoholisch angeregten Überreizung aus meinem System zu vertreiben und sie durch steinerne Müdigkeit zu ersetzen. Als wir am Wohnheim ankommen steigt Kain als erstes aus und zieht den halb schlafenden Jeff aus dem Auto. Ich bezahle den Fahrer, ehe ich die letzte Tür des Wagens schließe und wir sehen schweigend dem Taxi nach. „Ich hätte das bezahlt...“, murmelt Kain. Ich winke ab. „Kein Ding... gab Tantiemen", teile ich ruhig mit, grinse dümmlich, als ich Kains verschmitztes Lächeln registriere. Zum Glück hakt er nicht weiter nach. Seufzend sehe ich zu meinem Mitbewohner, der mehr oder weniger in Kains Armen hängt und den Eindruck vermittelt, zu schlafen. Wir rütteln beide an ihm rum bis er murrt. Oben angekommen, hat Jeff seine Lebensgeister vollständig zurückerlangt und meine dabei vermutlich absorbiert. Sein abruptes Wachsein kollidiert förmlich mit meiner Müdigkeit und man braucht kein Meistermathematiker sein, um eins und eins zusammenzurechnen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als verständnislos dabei zu zusehen, wie er angeregt ins Zimmer stürmt und die Nacht zum Tag erklärt. Kain bleibt dicht hinter mir stehen und auch sein Elan liegt maximal eine Stufe über meinem. Wenn überhaupt. „Oh oh, lass uns einen Filmeabend machen! Ich habe alle Filme von Harry Potter auf meinem neuen Laptop!“, sprudelt es aufgeregt aus Jeff heraus, während er ein paar der abgelegten Klamotten von seinem Bett räumt. Genau genommen stößt er sie lapidar über die Kante und klatscht danach in die Hände. Zaubern ist anders. „Es ist mitten in der Nacht, Jeff“, bemerkt Kain höchst diplomatisch. „Umso besser... die Stimmung!“ „Nein“, mische ich mich ein, bevor der Schwarzhaarige mit einem weiteren Weichspülerargument nachlegen kann. Genug ist genug, denn mit diesem Jeff ist keine vernünftige Konversation zuführen. „Doch.“ „Nein.“ „Doch.“ „Nein!“ „Aber...“ „Nein!!! Hinlegen!“, befehle ich streng und sehe dabei zu, wie der blonde Mann stoppt, starrt und instant auf sein Bett kippt. Ein wahrhaft komödienhafter Anblick, der mich nicht zum Lachen bringt. Jeff streckt mir die Zunge raus, sobald er sein Kissen umklammert und wir liefern uns einen dezenten Blicke-Blitzkrieg, bei dem ich als Sieger hervorgehe. Darüber freuen werde ich mich morgen früh, wenn ich einen halbwegs erträglichen Zustand zurückerlangt habe. Wieder blitzt Jeffs Zunge hervor. Ich verdrehe die Augen und schiebe Kain aus dem Zimmer, der nichts Sinnvolleres beizusteuern hat als Gelächter. „Danke für deine Hilfe beim Herschaffen“, sage ich draußen und schließe die Tür hinter mir. Ich gähne, ohne mich vor Kain zurückzuhalten und lasse auch nicht erkennen, ob mein Dank sarkastisch oder aufrichtig gemeint ist. „Kein Ding“, erwidert er lächelnd, „Wie geht es dir?“ Er tippt mir sanft gegen die Stirn. „Ich bezeichne Schnecken nicht als Steine... prima, nehme ich an.“ Sicher bin ich mir nicht. Wer weiß, welche hinterhältigen Tricks der Wodka noch im Petto hat. „Was?“, fragt Kain irritiert. „Jeff hat vorhin im Taxi...“, beginne ich und belehre mich selbst eines Besseren, „Ist nicht wichtig, vergiss es einfach wieder... Mir geht’s gut.“ Im nächsten Moment schrecken wir zusammen, als aus dem Zimmer ein lautes Poltern ertönt. Es dauert etwas, doch dann ruft uns Jeff ein 'Nichts passiert' zu und Musik geht an. „Nicht zu fassen.“, murmele ich geschafft. „Soll ich euch wirklich allein lassen?" „Ja, ist nicht mein erstes Rodeo mit dem betrunkenen Clown da drin", beschwichtige ich und bin mir ziemlich sicher, dass er bald den Punkt erreicht hat, an dem er einfach wieder umfällt und schläft. Das passiert so schnell wie das Betrunkensein. „Wenn du das sagst...“ Kain klingt skeptisch, führt es aber nicht aus. Ich sehe ihn ruhig an, suche nach etwas in seinem Blick, was ich selbst nicht richtig benennen kann und doch finde. Manchmal ist es so deutlich, dass es mich schier erdrückt und dann wieder nur eine hintergründige Präsenz. Sanft und zärtlich. Kain schenkt mir in diesem Moment ein Lächeln und setzt damit die feinkitzelnde Maschinerie der Erregung in Gang. Meine Atmung wird ein klein wenig flacher und ich schaffe es nicht, meinen Blick von ihm zu lösen. Von seinem Mund. Seinen Lippen. Kains Daumen legt sich unter mein Kinn und er drückt es sanft nach oben, sodass ich aufsehe. Kain haucht mir einen Kuss auf die Lippen und ich nehme zum ersten Mal seit langem wieder das Aroma von Ingwer und Zitrone wahr. Er muss einen seiner Bonbons im Auto gegessen haben und ich fühle mich seltsam beruhigt. Der vertraute Geschmack lullt mich in eine tiefgreifende Sicherheit. Die warme Berührung seiner Hand vermittelt Vertrauen. Was macht er nur mit mir? „Du schuldest mir einen Tanz“, sagt er ruhig und schenkt mir ein weiteres Lächeln. Es ist tief und warm. Es erschafft ein kleines, aber heftiges Flattern in meiner Brust. „Nur, wenn die Hölle zu friert... oder...“ Ich schaffe es nicht, meine eigenen Gedanken zu stoppen. „Oder?“ „Oder...vielleicht morgen Abend", ergänze ich, wohlwissend, dass es bei einem Vielleicht bleibt. „Morgen ist schlecht, ich hab schon ein Date...", berichtet er und obwohl ich es nicht will, setzt meine Atmung kurz aus, " ... Marvin fühlt sich vernachlässigt." Die Ergänzung folgt unbedarft und doch bin ich mir sicher, dass er die Pause absichtlich gesetzt hat. Ich beiße die Zähne zusammen und weiche seinem Blick aus. „Ist das so? Die Steroide scheinen nun auch seinen Verstand zu schrumpfen.", kommentiere ich absichtlich bissig. „Wirklich? Muss das immer sein? Er hat dir gar nichts getan.", folgt es prompt. „Er heißt Marvin.", begründe ich. Mein Argument ist reichlich fadenscheinig und ich weiß es auch. "...und die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit.", füge ich hinzu und mache es damit nicht besser. Auch, wenn es stimmt. „Und das ist dein Freibrief?“ „Ach komm, ich will nicht wissen, wie er über mich redet.“ Kains huschender Seitenblick ist mir Antwort genug. „Ich sage zu dir dasselbe, wie zu ihm... Mach es besser, dann wird es besser.“ Mister Moralapostel. Ich verdrehe effekthascherisch die Augen bei diesem scheinheiligen Glückskeksspruch. „Jetzt bist du auch noch Rafiki.“ „Ist das der Affe?“ „Mandrill.“ „Das sind Affen.“ „Ja, hab es nur spezifiziert.“ „Du weißt schon, dass du mich wahnsinnig machst?“, erwidert er. „Frag lieber nicht, wie ich mich fühle.“, kommentiere ich trocken und weise still auf die momentane Situation hin und wer zu einem Teil daran Schuld hat, dass ich mich darin befinde. „Armer Spatz!“ Gnadenlos unglaubwürdig. „Hat denn dein Modell seit neusten ein Emotionssimulationssynthesierungsprogramm?" „Im Ernst?", frage ich ungläubig, nachdem er grundlos dieses hochkomplexe aber absurde Schachtelwort von der Stange lässt. Er will clever klingen und schafft es tatsächlich auch. Trotz des Alkohols in seinem Kreislauf. Allerdings brauche ich auch länger, wegen des Alkohols in meinem Blutkreislauf. Ich fühle mich eindeutig verkohlt. Und das in mehrfacher Hinsicht. Wieso schon wieder Roboter? Wieso ständig Spatz? Und noch viel wesentlicher ist, was hat das Synthetisieren in dem Wort verloren? Kain hat eindeutig zu viel Zeit im Labor verbracht und das meint nicht nur der ebenfalls vernachlässigte Sexsympathisant in mir. Er grinst mir schelmisch entgegen und macht erneut einen überaus selbstgefälligen Eindruck. Ich möchte ihn kneifen. Und ich will Pudding essen. Aber nichts von alledem wird heute Nacht geschehen. „Trägst du auf Arbeit eigentlich einen Kittel?“ Mit Freude sehe ich, wie Kains Gesichtsausdruck bei dieser kleinen Abschweifung umschlägt. Denn mit dieser Frage hat er nicht gerechnet und strauchelt. Für mich hingegen wird das Bild von Kain in seiner Arbeitskleidung, wie er grüblerisch auf Testresultate starrt, immer klarer und verführerischer. „Ähm... ja, natürlich.“ „Hm...“, raune ich nur und bemerke, wie er mich irritiert anstarrt. Ich führe meine Gedanken nicht weiter aus, sondern verschränke locker meine Arme vor der Brust. „Hm was?“, hakt er ungeduldig nach, als ich nicht weiter darauf eingehe. „Nichts... Aber du könntest ihn mal mitbringen.“ „Was?“ Es dauert einen Moment, bis sich das gleiche implizierte Bild auch in seinem Kopf malt. Diesen Zeitpunkt erkenne ich ganz genau in seinen Augen. Seine Pupillen weiten sich. Es ist wie ein feines Blitzen. Ein angeregter Schimmer, welcher sich mit einem minimalen Heben seines linken Mundwinkels paart. Ich sehe, wie seine Vorderzähne langsam über die empfindliche Haut seiner Unterlippe gleiten und bemerke, dass er sich noch dichter zu mir heran beugt. Kain presst die Lippen aufeinander und ihm entflieht ein feines Lachen. „Was, was?“, frage ich ruhig, ein bisschen schelmisch stichelnd. Den sonst so abgebrühten Mann aus der Bahn zu werfen, bereitet mir ein diebisches Vergnügen. Ich sehe dabei zu, wie Kains Blick zwischen meinen Augen und Mund hin und her wechselt. Ich weiß, wie gern er mir klarmachen will, wie sehr ihn meine Fantasie anspricht und es doch nicht tun wird. Die Musik im Zimmer wird ruhiger. Jeff ist in seiner melancholischen Phase angekommen und ich bin mir sicher, dass er gleich tief und fest schläft. Ich sehe zur Tür, so, als könnte ich damit wirklich sicher gehen, dass er keinen Mist baut und zucke leicht zusammen, als Jeff plötzlich aus vollem Hals zu singen beginnt. ´Not really sure how to feel about it. Something in the way you move. Makes me feel like I can't live without you.` Wir beide starren ungläubig die Tür an, hören dem leicht schiefen Gesang zu und ich bin der Erste, der seinen Blick zurück auf den Mann vor sich richtet. `It takes me all the way. I want you to stay´. Ich betrachte Kains Gesicht im Profil, ehe auch er sich wieder zu mir dreht. „Wenigstens nicht Umbrella...“, witzelt er und grinst. Ich hätte nicht mal gewusst, dass das ein weiterer Rihanna-Song ist. Doch allein die Erwähnung setzt die Rädchen in meinem Kopf in Gang. Ich schaue abwesend auf die leichten Bartstoppeln auf seinem Kinn und versuche das Echo des Ohrwurms zu verdrängen. Unwillkürlich strecke ich meine Hand nach ihm aus. Mit den Fingerspitzen streiche ich über die Stoppeln an seiner Wange und entdecke zwischen den vielen bereits weichen schwarzen Haaren kleine rote. Es ist mir vorher noch nie aufgefallen. Irgendwie süß. Ich weiß, dass es ein mutiertes MC1R-Gen ist, das dazu führt, dass auch dunkelhaarige Menschen rötliche Haare ausprägen können. Ich stehe auf diese niedlichen Melanine, die dafür sorgen. Kain hat möglicherweise ein paar rotblonde Verwandte, aber wissen tue ich es nicht. Er spricht nicht sehr viel über seine Familie. Etwas, in dem wir uns ähneln, auch wenn wir es aus unterschiedlichen Beweggründen vermeiden. „Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragt er und verschränkt seine Finger mit meinen. Ich hefte meinen Blick auf die ungewohnte Berührung. Sein Daumen streichelt über meinen Handrücken und sein kleiner Finger auch. Seine Hand ist warm, stark und trotz seiner rauen Fingerkuppen angenehm und wohltuend. Ich mag, wie es sich anfühlt. Sicher. Beständig. Irgendwie klar. Und doch regt sich die imaginäre Warnleuchte in meinem Kopf. „Quicki?“, sage ich das Nächstliegende. Oder auch das Dümmste, was mir durch den Kopf schießt. „Jetzt? Hier? Mitten auf dem Flur?“, fragt er skeptisch. Er nimmt es nicht ernst. Wie sollte er auch? Ich bin selbst nicht sicher, warum ich gerade das gesagt habe. Ich wollte gestern nicht mal mit ihm in einem Bett schlafen, weil Jeff noch im Raum war. Vielleicht wirkt der Wodka doch. „Manchmal ist es so offensichtlich, dass du lügst“, entgegnet Kain wissend. Eigentlich war es keine richtige Lüge, aber es war auch nicht die ganze Wahrheit. Ich habe an Sex gedacht, nur nicht in diesem Moment. „Also kein Quicki?“ Ich gebe mir keine Blöße. Kain stößt laut die Luft aus. „Geh pennen“, fordert er mich stattdessen auf und macht Anstalten zu gehen. Doch ich greife ihm an den Kragen seiner Jacke und ziehe ihn ruckartig an mich heran. Kain strauchelt leicht, fängt sich aber. „Dann schuldest du mir einen Fick“, sage ich provokativ, direkt und als Retoure. Kain sieht mich direkt an und grinst. „Okay! Tanzen und ficken, damit kann ich sehr gut leben.“, entgegnet er ebenso offensiv. Er greift erneut nach meinem Kinn, küsst mich schmatzend auf den Mund und wendet sich zum Gehen ab. Bevor er um die Ecke zur Treppe nach unten abbiegt, dreht er sich noch einmal zu mir um und winkt wie ein Grundschüler. Der Kerl macht mich fertig. Ich schaffe es erst zu grinsen, als er nicht mehr zu sehen ist und wage mich danach in die Höhle des berauschten Löwen. Bevor ich mich ins Bett lege, erreicht mich Kains Nachricht, dass er gut im Wohnheim angekommen ist und darauf hofft, dass wir uns am Sonntag sehen. Ich schaue zu meinem Mitbewohner, der halbnackt auf seinem Bett liegt und sich nicht entscheiden kann, ob er hellwach oder klinisch Tod ist. -Jeff ist da.-, tippe ich ihm als Hinweis, dass es keinerlei Chance auf Zweisamkeit geben wird. Tanzen und Sex sind damit ausgeschlossen. -Ist mir egal.- Mir leider nicht. Ich wünsche ihm eine gute Nacht, lege das Handy auf dem Nachttisch ab und falle ins Bett. Ich schlafe fast sofort ein. Die nächsten Tage verlaufen weitestgehend unspektakulär und zelebrieren den herkömmlichen Uni-Trott. Es ist wie ankündigt relativ kainlos und der Sonntag ein weiteres Hängen und Würgen mit der universitären Herdenunterbringung, die letztendlich in fast prophezeiter Dreisamkeit endet. Jeff hat zwar seine Steincheneskapaden vom Partyabend vergessen, aber nicht die euphorische Androhung eines Harry Potter- Marathons. Dass der schwarzhaarige Sportler ebenso entzückt zustimmt, lässt meinen scheintheatralischen Motzversuch schnell im Keim ersticken. Leider nimmt er mir das Kissen aus der Hand, ehe ich es mir erfolgreich ins Gesicht drücken kann. Ich schlafe ein, während Ron Schnecken spuckt und Montagmorgen sitzt Kain bereits im Zug. Im Grunde eine Woche, wie jede andere, doch ich war noch nie unsteter. Es fühlte sich noch nie zermürbender an. Kein gutes Zeichen, oder? - Am Dienstagabend verspürt mein Mitbewohner das plötzliche Bedürfnis danach, Pizza selber machen zu wollen und trotz meiner berechtigten Hinweise, dass bestellte Pizza wesentlich schneller, einfacher und vermutlich auch schmackhafter sein würde, stehe ich kurz vor Ladenschluss mit Jeff vor der Käsetheke. Mozzarella und Emmentaler als Gegenspieler von Cheddar und Gouda. Alles Käse und Laktoseintoleranz ist etwas für Anfänger. Letztendlich gewinnt eine Packung mit der Aufschrift Pizzakäse, die sich weigert preiszugeben, was daran eigentlich die Pizzatauglichkeit ausmacht. Ich befürchte, dass nicht mal echter Käse drin ist, aber Jeff ignoriert mich und meine Meinung geflissentlich und sammelt pfeifend weiteren Belag ein. Schinken. Salami. Tomaten. Oliven. Kein Thunfisch, aber Zwiebeln. Ich frage schon lange nicht mehr nach dem Sinn dahinter. Als Nachtisch packt er Pudding ein und ich bin für den Heimweg brav und friedlich. Manchmal bin ich das Haustier, was er nie hatte. In der Gemeinschaftsküche sind trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit noch ein paar andere Studenten, die kochen oder sich mit belegten Broten verköstigen. Jeff krempelt seine Ärmel hoch und ich schiebe ihm den gekauften Fertigteig zu, zu dem ich ihn überreden konnte und stoße wiederholt auf taube Ohren als ich anmerke, dass wir nie im Leben ein ganzes Blech Pizza essen können. Der Teig ist schnell ausgebreitet und genauso fix mit dem Tomatensud und den restlichen Zutaten belegt. Jeff spart nicht am Käse und argumentiert damit, dass er Nervenfutter braucht. Er plappert munter weiter und ich lasse den Plaudersturm über mich ergehen, wie der brave Kumpel, der ich sonst nicht bin. Ich habe früh gemerkt, dass ich meinen Mitbewohner in diesem Quatschwahn sowieso nicht stoppen kann und er mit periodischem Nicken vollkommen zufrieden ist. Ich löffele den ersten Becher Pudding aus, während ich ihm mit halbem Ohre beim Update an der IT-Front zuhöre und er das Blech im Ofen verschwinden lässt. Es ist zu Jeffs Leidwesen noch immer nicht der Stellungskrieg, den er sich wünscht. Mein einziger Gedanke ist, wie ich ihn unauffällig darauf aufmerksam machen kann, dass er die nächsten Dates mit Jake so plant, dass ich eine Chance habe, mit Kain ins Bett zugehen. Sexlosigkeit war vorher nie so anstrengend. Ich hänge diesem Gedanken noch immer nach, als wir die fertige Pizza aus dem Ofen holen und uns ein erstes Stück genehmigen. Nach dem großen Knall mit Abel ist das Zimmer der beiden höheren Semester keine Ausweichmöglichkeit für uns und Jeff ist leider weniger fremdgesellig als ich dachte. Früher ist mir nicht aufgefallen, wie oft er eigentlich da ist, wie viel Zeit er in unserem Zimmer verbringt und wie blind ich gewesen sein muss, nicht zu merken, dass er mit jemanden zusammen gewesen war. Mehr als ein halbes Jahr lang. Unfassbar. „Ach und stell dir vor, Jenny und Maik haben...“, schwatzt Jeff gutgelaunt und ich brauche einen Moment, bis ich merke, dass er schon wieder das Thema gewechselt hat. Er streckt seine langen schlanken Finger nach einem weiteren Stück der fettigen Leckerei aus und befördert sie inmitten des Satzes in seinen Mund. Ich sehe von meinem Stück auf und warte geduldig ab, bis er fertig kaut. „...geheiratet.“ Der Gefühlsrausch bleibt wie erwartet aus. „Aha.“, entgegne ich mit dem Enthusiasmus eines Käsebrots. Ich erinnere mich nur dunkel an Personen mit diesen Namen. Jemand aus unserer Parallelklasse hieß Maik. In der anderen gab es einen Mike. Und eine Meike gab es auch. Für sie würde ich mich freuen. Jenny sagt mir im ersten Moment nichts mehr und Jeff hält es nicht für nötig, es zu detaillieren. Der witzige Namensdialog schreibt sich trotzdem von ganz allein in meinem Kopf. „Er hat mir erzählt, dass sie sich durch Zufall Anfang des Jahres wieder gesehen haben und es war Liebe auf dem, nun ja, zweiten Blick“, lacht er auf, „Aber letzte Woche haben sie geheiratet. Ist das nicht romantisch?“ Jeff seufzt beflügelt. „Das ist nicht romantisch, sondern fahrlässig.“ „Du wieder...Wieso sagst du das?“ „Das sage ich zu jedem, der auf die Idee kommt, nach nur zehn Monaten zu heiraten.“ „Gut, dass du niemals in so eine Verlegenheit kommen wirst“, kommentiert der Blonde resigniert und entfernt sich ein paar der Käsefäden vom Kinn. Er erwischt nicht alle und ich helfe auch nicht, sie zu finden. „Ach komm, niemand, der halbwegs bei Verstand ist, würde sowas machen.“, entgegne ich, ohne auch nur einen Millimeter von meiner Einstellung abzurücken. „Ich denke, wenn man liebt, dann liebt man und kann solche Entscheidungen auch unabhängig von Zeiträumen treffen.“ Erbärmlich romantisch und hoffnungslos naiv. „Aber wie will man sich denn nach so kurzer Zeit wirklich sicher sein? Man kennt sich doch gar nicht.“ Ich versuche es spottend klingen zu lassen und merke selbst, dass es aus meinem Mund ungewöhnlich ernst klingt. „Kann man sich denn jemals wirklich sicher sein?“, gibt er die Frage zurück und sieht mich mit seinen blauen, ehrlichen Augen an. Ich habe plötzlich keinen großen Appetit mehr und lasse das Stück Pizza wieder auf meinen Teller zurücksinken. Stattdessen greife ich nach der Wasserflasche und befeuchte meine trockenen Lippen. „Weiß Kain wegen Du-weißt-schon-was Bescheid?“, fragt Jeff nach einem Moment der einvernehmlichen Stille. Ich runzele die Stirn, weiß aber, was er meint. Nun hat mein Geburtstag tatsächlich die Stufe zum unverzeihlichen Fluch erklommen. Nie wieder Harry Potter. Meine Nicht-Reaktion ist ihm Hinweis genug. „Denkst du nicht, dass er es wissen sollte?“ „Wozu denn?“, erwidere ich lieblos und frage mich, wieso ich diese Diskussion führen muss. Ich nehme einen weiteren Schluck vom Wasser. Dass mich die Frage tatsächlich beschäftigt, merkt man nur daran, dass ich die Beine übereinanderschlage und die Flasche in meiner Hand kleine Knautschgeräusche von sich gibt. „Na ja...“, beginnt er und leckt sich Tomatensoße vom Handballen, während er abwägt, wie er mir seine Gedanken am besten mitteilt, „vielleicht solltest du... nach all den Jahren des Ignorierens ausprobieren, wie es wäre, deinen Geburtstag mit jemanden zu verbringen, den du gut leiden kannst... Du musst es ja nicht feiern nennen.“ „Ich habe ihn auch schon mit dir verbracht...mehrfach“, merke ich an. Jeff blinzelt überrascht. „Awww,...“, quietscht er vielsagend und ich möchte ihn mit irgendwas bewerfen. Doch stattdessen verdrehe ich die Augen und lasse Jeff seinen Moment. Soll er doch glauben, was er will. „Und das ist nicht das Gleiche. Also nimm es als kleine Inspiration für das Knüpfen stabiler Beziehungen!“ Ein neuer Wink mit dem Zaun, der mir lediglich ein Knurren abringt. Als ob er der Experte für gute Beziehungen ist. Dennoch hat er irgendwie Recht. Mit Kain wäre es etwas anderes. Seit unserer Jugend hat sich Jeff stets selbst zu meinem Geburtstag eingeladen und dafür gesorgt, dass ich, ohne zu feiern, dennoch irgendwas erlebte. Meistens waren es ganz simple kleine Sachen, wie die Einladung zu einem Eis mit seinem eigenen Taschengeld. Ein Kinobesuch, bei dem ich wie gewohnt eingeschlafen bin, aber deswegen noch am Abend Popcorn essen konnte. Noch dazu bin ich mir sicher, dass Jeff mir jedes Mal seine übriggebliebene Hälfte des süßen Korns mit in meine Tüte getan hat. Was hin und wieder seltsam wurde, weil ich manchmal auch auf die salzige Variante zurückgriff, was die Mischung im Nachhinein besonders abenteuerlich machte. Er hat es immer geschafft, mich auf andere Gedanken zu bringen und insgeheim bin ich ihm sehr dankbar dafür. Auch wenn er sich jedes Jahr beschwert, dass ich so resolut damit umgehe und ihm eine große Party entgeht. Ich bin fest davon überzeugt, dass er es nur sagt, um mich zu ärgern. „Du kannst dich nicht den Rest deines Lebens davor drücken.“, fährt Jeff fort. Doch kann ich, denke ich und schraube die Flasche zu, „und sicher ist das auch nicht im Sinne von…“ „Hab´s verstanden.“, unterbreche ich seinen Redeschwall rabiat, bevor er René auch nur erwähnen kann. Jeff hebt abwehrend seine Hände in die Luft und sein gemurmeltes Wirklich ignoriere ich ebenso, wie seine lächerliche Peace-Geste. Er bewegt sich auf dünnem Eis und er weiß es. Die Gründe, aus denen ich meinen Geburtstag nicht feiere, sind nicht unerwartet. Sie resultieren aus Erlebnissen, die ich vermutlich niemals vollständig überwinden werde. Ich werde älter und mein Bruder wird es nicht mehr. Es nur zu wissen, zu denken oder gar auszusprechen, schmerzt. An diesem Tag ist es das erste, woran ich denke und auch das letzte. Jahr für Jahr und das auch noch zu feiern, fühlt sich falsch an. „Ich glaube, das war zu viel Pizza.“, ächzt Jeff lautmalerisch nach einem kritischen Blick auf den Tisch und dem effektvollen Tätscheln seines Bauches. Mit einem schweren Raunen lehnt er sich im Stuhl zurück. „Hast du echt geglaubt, dass wir das schaffen?“, frage ich überrascht. Ich beäuge das nicht mal zur Hälfte geleerte Blech und greife nach dem Puddingbecher, der neben Jeffs Teller steht. Er sieht aus, als würde er ihn nicht mehr schaffen. „Du hast enorm geschwächelt!“, wirft er mir an den Kopf und macht keine Anstalten, mich wegen des Diebstahls zu schelten. „Von wegen. Du bist schlichtweg verfressen...“, kontere ich die offensichtlichere Tatsache. „Ich darf das, denn ich bin frustriert.“ Ausrede. „Ist das nicht dein Dauerzustand?“ „Willst du Haue?“, droht mit Jeff und zieht seine Augenbraue so weit nach oben, dass sie in seinem Haaransatz verschwinden würde, wenn sie könnte. Ich halte seinem Blick stand und öffne den Pudding, ohne hinzusehen. Doch statt ihn zu essen, stehe ich auf und schiebe den Stuhl ran. „Weißt du, im Moment fürchte ich mich mehr davor, dass du mich platt walzt“, äußere ich frech. Die erwartete Reaktion setzt sofort ein. Jeff stößt bestürzt die Luft aus, springt auf und setzt an. Doch ich bin schon losgelaufen und wie erwartet viel schneller als mein vollgefressener Mitbewohner. Kurz hinter der Tür zur Gemeinschaftsküche gibt er auf und ruft mir lediglich ein paar leere Drohungen hinterher. Ich lache den gesamten Weg nach oben und esse den Pudding gemütlich an meinem PC, während Jeff unten das restliche Chaos beseitigt. Am Mittwochmorgen weckt mich Kains Nachricht ein paar Minuten bevor mein Wecker klingelt. Es ist ein Bild von einem angebissenen Blaubeermuffin und einem Mokka, der so groß ist, dass ich meine gesamte Hand in den Becher bekäme, ohne die Ränder zu berühren. Ich bin mir sicher, dass Kain irgendwann an einer selbstinduzierten Koffeinüberdosis stirbt und das vermutlich mit einem Lächeln im Gesicht. Noch beim Anziehen schüttele ich verständnislos meinen Kopf. Doch die Programmierung meines Unterbewusstseins funktioniert dennoch. Bevor ich in die Vorlesung verschwinde, besorge ich mir von dem beliebten Kaffeestand ebenfalls einen Blaubeermuffin und einen vollmundigen Chailatte. Ich nehme sogar in Kauf, dass mir einer dieser Kaffeezombies aufgeregt in den Nacken atmet, als ich es wage, mein Getränk vor Ort umzurühren. Beim Vorbeigehen knurre ich ihn blutrünstig an und ergötze mich an seinem Zurückzucken. Mein Tag ist gerettet. Jedenfalls für die nächsten fünfzehn Minuten, in denen ich an meiner Latte schlürfe und den Muffin verdrücke. Ich verspeise ihn bis auf eine einzelne Blaubeere, von der ich Kain ein Bild schicke. Keine Ahnung, was die Aussage dahinter ist oder der höhere Zweck, aber ich kriege instant einen tränenlachenden Smiley zurück. Scheint okay gewesen zu sein. Am Abend vertilgen wir die Reste der Pizza, die Jeff nicht zum Mittagessen geschafft hat und führen dieselbe Diskussion, wie immer. Kalt oder warm. Was ist besser? Was ist ekelig? Niemand gewinnt und doch sind wir beide davon überzeugt, recht zu haben. Im Grunde haben wir schon vor Jahren akzeptiert, dass wir uns dahingehend nicht einig werden. Die Diskussion dient meinerseits nur dem Selbsterhalt, denn ich versuche krampfhaft nicht darüber nachzudenken, dass Kain schon wieder den Zug nicht geschafft hat und mir vorhin schrieb, dass er direkt ins Bett fällt. Schlafen kann ich nicht, denn sobald ich die Augen schließe, ist da René. Am nächsten Morgen bin ich aus dem Wohnheimzimmer verschwunden, noch bevor mein Mitbewohner erwacht. Draußen lasse ich mich auf eine der Bänke nieder, ziehe mein Handy hervor und ignoriere die Nachrichten von Lena und Hendrik, die scheinbar morgens um sieben Uhr nichts Besseres zu tun haben, als mir ein Sammelsurium an bunten Emojis zu schicken. Nur meine Mutter fehlt, aber sie wird mich sicher in den nächsten Stunden anrufen. Ich versuche, mich dafür zu wappnen, denn schon jetzt füllen sich meine Gedanken mit den Erinnerungen an meinen Bruder. Unser sechster Geburtstag ist zugleich auch der letzte gemeinsame, den wir feierten. An die Vorigen erinnere ich mich größtenteils nur durch Bilder, deswegen hat dieser die stärkste Bedeutung für mich. Es hatte am Vormittag geregnet, aber die Tage vorher hatte das Laub begonnen, sich vollständig zu verfärben und die herabgefallenen Blätter bildeten eine dichte, farbenfrohe Decke. Perfekt zum Toben und Reinspringen. Wir liebten es, in die mühsam zusammen geharkten Laubhaufen der Nachbarn zu rennen. Das habe ich danach nie wieder getan. Nicht mit Lena. Nicht mit Jeff. Schon gar nicht allein. Wie automatisch hole ich mein Portmonee hervor und ziehe das Foto meines Zwillingsbruders heraus. Seit der Schulzeit trage ich es bei mir. Ich hole es nicht oft hervor, daher sieht es noch relativ ordentlich aus. Es hat ein paar kleine Wellen und eine einzige Ecke ist eingerissen und leicht geknickt. Wie immer streiche ich sie glatt, obwohl es nichts daran verbessert. Es ist nichts weiter als ein Automatismus, vielleicht auch ein kleines Ritual. Ferner eine liebgewonnene Geste. Soweit es möglich ist. Das Foto wurde kurz vor unserem sechsten Geburtstag aufgenommen. René lächelt mir darauf entgegen und in meiner Brust wird es eng. Manchmal sind die Erinnerungen an sein Lächeln nur noch ein blasser Schimmer. Manchmal erkenne ich mich nur noch selbst und nicht mehr das, was René von mir unterschied. Der Zwiespalt zwischen nicht vergessen wollen und nicht dran denken zu müssen, ist schmerzhaft und verzerrend. Und er ist allgegenwärtig. René und ich sahen uns sehr ähnlich, sodass unsere Mutter früh damit begann, uns verschiedene Klamotten anzuziehen, um uns als Babys auseinanderhalten zu können. Oft waren es Mützen oder die Socken. Wir behielten es bei, auch wenn wir uns im Alter immer mehr voneinander unterschieden. Allein schon unsere Persönlichkeiten. René stand stets neben mir, aber immer auch ein klein wenig weiter vorn. Er war der Ältere. Er war der Mutigere. Er war mein Wegweiser. Wahrscheinlich fühle ich mich deswegen oft verloren und unvollständig. Mein Bruder fehlt mir, aber im Vermissen zu verweilen, verschafft mir keine Linderung. Das hat es nie und wird es nie, daher erlaube ich es mir nur in diesen wenigen Momenten. Doch dann entsteht dieses Was-wäre-wenn in meinem Kopf und ich stelle mir selbst unendliche viele Fragen, die nur mit Fantasie zu beantworten sind. Mein Handy vibriert, doch ehe ich die Nachricht lese, schiebe ich das Bild meines Bruders sorgsam zurück ins für ihn bestimmte Fach des Portmonees. Kain fragt mich, ob wir nachher gemeinsam Mittagessen gehen. Eigentlich habe ich eine Übung zu der Zeit und Kain für gewöhnlich immer zu tun. Doch ich habe so gar keine Lust auf Strukturanalytik und Massenspektrometrie und ich möchte ihn sehen. Der Wunsch danach ist in diesem Moment so intensiv, dass ich es nicht schaffe, es vor mir selbst zu leugnen. Ich will ihn sehen. Ich schreibe Kain eine Antwort. Ein kurzes, knappes Ja. Zu mehr fühle ich mich gerade nicht in der Lage. Dann lehne ich mich zurück und starre in den grauen Himmel. Ich starre lange. Sehr lange. Spüre nur langsam, wie meine äußeren Glieder kalt werden. Meine Finger leicht steif und meine Zehen taub. Auch der einsetzende Nieselregen tangiert mich zunächst kaum. Erst, als ein kühler Tropfen von meinem Kinn in den Ausschnitt meines Pullovers fließt, richte ich mich auf und wische mir den Regen aus dem Gesicht. Wie ich diesen Tag hasse. Wie ich dieses Gefühl hasse. Ich würde es gern aus mir herausreißen und irgendwo vergraben. Es nie wieder finden. Ich will es vergessen. Doch leider ist es unmöglich. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich noch Zeit habe, da Kains Vorlesung erst gegen 10 Uhr endet. Also vertreibe ich mir die Zeit, laufe zu dem kleinen Foodstore und kaufe dort eine Flasche Wasser, Kaugummi und ein Packung Schlümpfe, die ich in der Innentasche meiner Jacke verschwinden lasse. Es ist die Seite direkt über meinem Herzen und es hat etwas Beruhigendes. Ich mag die Süßigkeit mittlerweile nicht mehr, aber René liebte sie. Danach recherchiere ich die Raumnummer von Kains Vorlesung, hole meine Kopfhörer hervor und bleibe für die letzten fünf Minuten vor der verschlossenen Tür stehen, bis sie sich öffnet. Ich leere die Flasche Wasser und stelle sie neben dem Mülleimer ab. Kain ist einer der Letzten, der rauskommt. Er unterhält sich angeregt mit einem Kommilitonen, dem ich mit Sicherheit schon mal begegnet bin. An einen Namen erinnere ich mich nicht. Er bemerkt mich zuerst und deutet in meine Richtung, sodass auch der Schwarzhaarige auf mich aufmerksam wird. Sie verabschieden sich voneinander und Kain kommt lächelnd auf mich zu. Er wirft demonstrativ einen Blick auf seine nicht vorhandene Uhr an seinem Handgelenk und das Lächeln wird zu einem Grinsen. Direkt vor mir bleibt er stehen. Ich rege mich nicht, sehe ihn einfach nur an. Kain beugt sich vor, positioniert seinen Kopf neben meinen und zieht mir den Kopfhörer vom Ohr. Er riecht nach Ingwer und Sandelholz. Der Duft muss neu sein. Etwas anders als sonst, aber angenehm. „Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man meinen, du hast mich vermisst“, flüstert er mir neckend zu und richtet sich direkt wieder auf. „Wie gut, dass du dich daran erinnerst, dass du es besser weißt“, erwidere ich ruhig, lächele aber unbeabsichtigt. Kain grinst verschmitzt und wackelt mit den Augenbrauen. Er denkt sich seinen Teil und es ist okay für mich. „Da es noch zu früh für Mittagessen ist, was hältst du von einem Tee?“ „Tee ist okay.“ Hunger habe ich sowieso keinen. Kain nickt lächelnd und boxt mir sachte gegen die Brust. Dabei trifft er genau die Packung mit den Gummitieren und sie gibt ein lautstarkes Knistern von sich. Die Stirn des Schwarzhaarigen runzelt sich fragend und ehe ich etwas sagen kann, öffnet er die Seite meiner Jacke. Aus der Innentasche lugt das blaue Plastik der Schlümpfe hervor. „Frag nicht“, sage ich schnell, aber mehr bittend als vorschreibend und greife nach seiner Hand. Kain mustert mich einen Moment lang und nickt. Seine Lippen formen das Ok, ohne es auszusprechen. „Kain!“ Die weibliche Stimme echot durch den mittlerweile leeren Gang und ist gleich doppelt so nervig, wie sonst. Kain sieht sich irritiert um und ich rücke automatisch von ihm ab. Ihre roten Haare leuchten in dem einheitlichen Grau des Flurs und ich kann mir eine offensichtlich ablehnende Reaktion nur schwer verkneifen, während sie schnellen Schrittes auf uns stakst. Das kann doch nicht wahr sein. Sie ist einfach überall und scheint ein schrecklich feinfühliges Radar für Kains Aufenthaltsort zu haben. Mein mittlerweile liebgewonnenes Sarkasmuseinhorn dreht freudig wiehernd ein paar Pirouetten in meinem Kopf. Es beendet sein Engagement mit ihrem Eintreffen und zwinkert zum Abschluss vielsagend. Während sie Kain überschwänglich begrüßt, wirft sie mir nicht mehr als einen deutlichen Blick zu, der mich mustert und abwertet. Ein Hoch auf ihren einfallslosen Dilettantismus, der es nicht nötig macht, auch nur im Geringsten darauf zu reagieren. Dafür verbrauche ich keine Energie. Wieder richtet sie einen Blick direkt an mich, der mich höchstwahrscheinlich darauf aufmerksam machen soll, dass ich Abstand zuhalten habe. Nun mache ich es gerade nicht, sondern bleibe demonstrativ neben dem Schwarzhaarigen stehen. Denn auch Kain scheint sich daran nicht zu stören. Sie gibt sich geschlagen und fällt schnell zurück in ihr übliches Palaver. Ihre Hände suchen ständig Kains Körper, berühren seine Hand, seine Jacke und einmal kurz seine Wange. Obwohl ich es besser wissen müsste und es ignorieren müsste, merke ich, wie sich die Eifersucht in mir ausbreitet, wie ein Lauffeuer. Ich beiße die Zähne zusammen, drehe mich nun doch von den beiden weg und halte unwillkürlich die Luft an. Atmen ist für gewöhnlich ganz leicht. Der Körper macht es von allein. Einfach ein. Aus. Ein. Aus. Es ist eine autonome Grundfunktion. Und obgleich ich es mir vorspreche, halte ich die Luft weiter an. Weil das nicht sonderlich dazu beiträgt, dass ich mich beruhige, schiebe ich zusätzlich meine Hände in die Hosentasche und starre zu der naheliegenden Infotafel, die über und über mit Verkaufszetteln gespickt ist. Bücher, Möbel und Zimmer. Jemand sucht sein Kaninchen. Ich sehe mich unwillkürlich um, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass es gerade zu einer Vorlesung hoppelt, minimal ist. Doch mein Blick bleibt letztendlich bei Kain hängen, der es schafft, halbwegs interessiert auszusehen, aber mehrmals flüchtig zu mir sieht. Ich schneide eine Grimasse und gestikuliere kleinere Unflätigkeiten, als die Rothaarige ihn unbeirrt mit belanglosem Zeug zu textet. Sie hat Tickets für irgendwas, was Kain angeblich auch mag. Sie fragt nicht direkt danach, ob er sie begleiten würde, aber sie impliziert sein Willkommensein. Ich räuspere mich, weil sich mein Mund plötzlich schrecklich trocken anfühlt. „Arghn, was? Kannst du dich nicht in Luft auflösen?“, zischt sie ungehalten in meine Richtung. „Die Physik sagt nein!“, erwidere ich ruhig und merke trotzdem, wie sich meine Augenbrauen zusammenziehen. So viel zu meiner mühsam erarbeiteten Zurückhaltung. Mittlerweile reagiert sie schon übertrieben zickig, sobald ich nur in ihrer Nähe atme und insgeheim ergötze ich mich an dieser geheimen Superkraft. Vielleicht schaffe ich es irgendwann, dass ihr Kopf explodiert, wenn ich den Raum betrete. Das wäre ein Jahrestag zum Feiern. Sie wirft mir einen extra genervten Blick zu und wendet sich wieder Kain zu. „Jedenfalls, tut es mir leid, aber ich habe meinen Vater noch nicht erreicht“, setzt sie unbeirrt fort. „Okay Schade. Ich schreibe ihm zur Erinnerung nächste Woche noch mal eine Mail.“ Es geht also um die Bitte von der Party und ich schaffe es nicht, nicht mehr zu zuhören. Ich verschränke locker die Arme vor der Brust und lehne ich mich dichter an Kain heran, so dass ich mit der Schulter gegen seinen Arm stoße. Der Schwarzhaarige weicht nicht zurück, sondern schenkt mir ein leichtes Lächeln, welches natürlich auch seine Ex mitbekommt. „Im Ernst, Robin, musst du nicht irgendwelchen nichtigen Schnulzenschmunz schreiben gehen?“, bespöttelt sie. Ein großer Fehler. Kain raunt augenblicklich ihren Namen wie ein verzweifeltes Flehen und meine Geduld kippt endgültig. Einzig mein Blick wandert für einen Sekundenbruchteil zu der Tasche in ihrer Hand. Sie ist klein und sieht nicht schwer aus, aber das kann täuschen. Bisher war ich friedlich, aber solche Kommentare will ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich habe ihr zwar nie wirklich bestätigt, dass sie mit ihrer Vermutung richtig liegt, aber das hindert sie nicht daran, diese Karte auszuspielen und zu glauben, damit die Oberhand zu haben. Weit gefehlt. „Und müsstest du nicht in Martens Vorlesung sitzen und so tun als würdest du schnallen, was dort gesagt wird?“, stichele ich, „Jetzt beim zweiten Anlauf sollten dir doch einige Dinge bekannt vorkommen.“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust und ihre langen Fingernägel drücken sich auffällig in die Haut an ihren Ellenbogen. Ihr Gesicht ist fast maskenhaft. „Du kommst dir immer besonders schlau vor mit deinen Kommentaren, oder?“ Lahm. „Durchaus. Immerhin bin ich nicht durch vier von sechs Grundkursen gefallen“, gebe ich retour. Ich habe, wenn es nötig wird, meine Augen und Ohren überall. Die Rothaarige schaut seltsam nervös zu Kain und als auch ich zu dem anderen Mann sehe, weiß ich wieso. Er hat es nicht gewusst. Ehe er nachhaken kann, schneidet sie ihm das Wort ab. „Es ist nichts so, wie es klang und es gab Missverständnisse.“ „Missverständnisse?“, echoe ich lachend, „Ist schon hart, wenn man seinen Namen auf der Klausur nicht richtig schreibt.“ „Wie bitte?“, wirft Kain ungläubig dazwischen und sie stöhnt angestrengt auf. „Das ist nicht wahr, ich habe ihn auf ein paar Blättern vergessen. Das ist alles, also halt einfach deine Klappe. Du willst mich doch sowieso nur vor ihm schlecht machen.“ „Also das ist wirklich das einzige, wofür du keine Hilfe brauchst“, perlt es sarkastisch über meine Lippen. Sie ist so lachhaft, dass selbst Clowns neidisch wären und diesmal nicht nur wegen ihres lächerlichen Schminkrepertoires. Klausurblätter ohne Namen oder mit falschgeschriebenen Namen werden nicht gewertet, da sie als Betrugsversuch eingeschätzt werden. So oder so war es dumm und fahrlässig von ihr, egal welche Version stimmt. „Seid ihr fertig?“, wirft Kain angestrengt ein. Wir ignorieren ihn beide. „Egal, wie sehr du es versuchst. Uns verbinden Dinge, die du nicht verstehen kannst.“, legte die Rothaarige bissig nach und legt wieder ihre Hand an seinen Arm. „Ganz richtig, ich werde niemals verstehen, was er an dir gefunden hat. Wenn du wenigstens Brüste hättest.“ „Was für ein billiger Spruch. Und damit du es weißt, das hat ihn nicht daran gehindert, ausgiebig mit mir Spaß zu haben.“ „Wow, ernsthaft, ich stehe neben euch.“ „Und doch hat er nun lieber mit mir Spaß“, platzt es aus mir heraus. Kain überhören wir einfach. Ihr Mund öffnet sich und schließt sich, als sie begreift, was meine Aussage impliziert. Kain sieht mich mit einem Musste-das-sein-Blick an, der mich mehr anstachelt als tadelt. „Okay, das reicht! Merena, ich melde mich und du...“ Und ich? Er bringt den Satz nicht zu ende, sondern umfasst mit seinen langen Fingern lediglich mein Handgelenk und zieht mich rücksichtsvoll, aber trotzdem bestimmt mit sich mit. Wir hören noch, wie die Rothaarige mehrmals Kains Namen ruft und vermutlich ebenso oft mit dem Bein auf dem Boden aufstampft. Weder ich noch Kain drehen uns zu ihr um. Erst, als wir aus dem Ausgang treten, bleiben wir stehen. „Musste das sein?“ Da ist es. Ich habe drauf gewartet. „Ja.“ entgegne ich stoisch und weiß selbst, dass das Bedauern erst später einsetzt, wenn das kitzelige und wutentfachte Zankadrenalin endgültig aus meinem Blut verpufft ist. „Ich denke, du bist...“, setzt Kain an. Ich unterbreche ihn, indem ich ihm blitzschnell die flache Hand auf den Mund presse und damit verhindere, dass er seine lächerliche Was-auch-immer-Vermutung preisgibt. „Sie provoziert mich absichtlich“, verteidige ich mich. Diesmal hat sie es offensichtlich getan, sodass es nicht mal Kain abstreiten kann. Er murmelt etwas Unverständliches gegen meine Hand. Danach stupst seine Zunge gegen meine Handfläche. Ich ziehe sie weg und wische sie an seiner Jacke ab. Kain schweigt und sieht mich vorwurfsvoll an. Ich bin mir sicher, dass der Grund nicht die Jacke ist. Aber auch das ist nur eine Vermutung. „Ich musste ihr in die Parade fahren und... außerdem bist du doch derjenige, der ständig behauptet, dass es kein Problem wäre.“ Meine Hand wackelt mehrfach zwischen uns hin und her und Kains Blick haftet sich an diese Wischiwaschi-Bewegung. Nicht mal jetzt schaffe ich es, dem Ganzen einen Namen zu geben. „Ist es auch nicht, aber nicht... bevor...“ Er strauchelt mit seinen Worten, streicht sich mit der Hand über den Mund und scheint darüber nachzudenken, was genau er mir sagen will. Ich spüre das Kribbeln unter meiner Zunge immer stärker werden. Kein gutes Zeichen und mehr als gefährlich. „Nicht bevor was?“, frage ich ungeduldig und noch immer deutlich durch den vorangegangenen Disput gepusht. Kain presst die Lippen aufeinander und kratzt sich mehrere Mal über den linken Unterarm. Diese nervöse Geste macht es nicht besser. „Nicht bevor... du euer Postbeziehungsvergnügen genügend ausgekostet hast?“, reize ich besseren Wissens. Ich kann es nicht unterdrücken. Die Eifersucht zeigt vollen Körpereinsatz beim Niederstemmen meiner Vernunft und ich höre sie fast nach Luft japsen, während ihr Kopf hilflos in der gelben Pfütze ditscht. Kains Schultern spannen sich an. Er holt ausgiebig Luft, doch dann sackt er etwas in sich zusammen. „Das schon wieder? Du denkst, ich ficke sie noch? Du denkst, das ist mein Grund?“, entflieht es ihm entrüstet und aufgebracht, „Verdammt, Robin, ehrlich?“ Könnte personenbezogene Dummheit fluoreszieren, würde ich in Kains Gegenwart leuchten, wie ein Glühwürmchen. Genaugenommen bin ich mein eigener kompletter Schwarm voller bunter, lumineszierender Unzulänglichkeiten und sein momentaner Blick stempelt mich im sekundenbruchteil zum Närrischsten aller Lebewesen ab. Ich will nicht, dass er mich so ansieht, aber ich schaffe es ebenso wenig, mich angemessen zu erklären. Als ich nichts sage, seufzt Kain hörbar enttäuscht auf. „Entschuldige, aber ich muss doch noch mal in die Bibliothek. Unglaublich!“ Der letzte Teil unterstreicht seine Fassungslosigkeit. Er erklärt das Gespräch für beendet und lässt mich und meine Dummheit im symbolischen Regen stehen. Ich habe es nicht anders verdient. Ich spüre die kalte Dusche förmlich, auch wenn es nur ein leichter Windzug ist. Die Haut auf meinen Armen und in meinem Nacken bäumt sich auf und das simmernde Kribbeln verweilt in meiner Brust, wie ein anhaltendes Mahnmal. Ich weiß einfach nicht, warum ich wieder und wieder und trotz besseren Wissens solche Dinge sage. Ich weiß, dass es ihn verletzt und dass es mitnichten stimmt. Und doch. Es ist nicht, als würde ich ihm nicht trauen oder ihm nicht glauben. Ich vertraue mir eher selbst nicht und das hat, wie man merkt, gute Gründe. Als ich endlich aufschaue, ist Kain nicht mehr zu sehen. Draußen blicke ich zum wiederholten Mal an diesem Tag in den wolkenverhangenen Himmel und fühle mich noch ein Stück verlorener als vorher. Großartig. Wenn man denkt, es kann nicht schlimmer werden, sorgt man selbst für den Supergau. Ich drehe mich hilflos ein paar Mal in alle Richtung und gehe letztendlich zum Wohnheim zurück. „Hey!“, begrüßt mich mein Mitbewohner, als ich im Zimmer ankomme. Jeff lehnt sich im Stuhl zurück, um mir dabei zu zusehen, wie ich etwas Undeutliches murmele und mich an den Schreibtisch setze. Mit dem großen Zeh betätige ich den Powerknopf meines Rechners und verschränke locker die Arme über dem Bauch. Ich bin nicht wirklich bei ihm und auch nicht für Gespräche aufgelegt. Es ist zum Verrücktwerden. Ich verhalte mich jedes Mal wieder wie der letzte Arsch, wenn es um die rothaarige Zimtzicke geht und es geht mir selbst auf die Nerven. Ich sollte über jeden ihrer lauen Okkupierungsversuche lachen und sie abtun. Aber stattdessen schaltet mein Gehirn vor Eifersucht jedes Mal in den stumpfsinnigen Idiotenmodus. Meine innere Schelte wird unterbrochen als ich das Gefühl nicht loswerde, Jeffs Blick auf mir zu spüren. Ich merke fast, wie er sich in meinen Rücken bohrt. Als ich mich mit dem Stuhl umdrehe, sehe ich ihn mit hinter dem Rücken versteckten Händen mitten im Raum stehen. „Komm her...“, fordert mich Jeff auf und ich sehe ihn entgeistert an. Als er merkt, dass ich mich nicht rühre, schließt er theatralisch seufzend die Lücke zwischen uns, zieht mich vom Stuhl hoch und presst mich in eine feste Umarmung. Ich falle ihm durch den kräftigen Zug förmlich entgegen und japse überrascht auf. Könnte ich zappeln, würde ich es tun, aber Jeffs Todesgriff ist unnachgiebig. Ich gebe das erwartete Jammern von mir und er drückt mich nur noch fester. „Happy Birthday, my dear Sunshine“, flüstert er mit übertrieben britischen Akzent und reichlich Amüsement. Danach lässt er mich abrupt wieder los. Ich knurre lediglich. „Mein Geschenk an dich... ist meine Abwesenheit. Mach was draus.“ Mein Jugendfreund grinst, greift sich seinen gepackten Rucksack und ist verschwunden, ehe ich etwas erwidern kann. Ich sehe auf die ins Schloss gefallene Zimmertür und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. „Großartig!“, sage ich laut und tropfe förmlich vor Sarkasmus. “Und das konntest du mir nicht texten, ja?“ Den Rest ergänze ich kraftlos, wohlwissend, dass es nur meiner Selbstunterhaltung dient und mein Motzbedürfnis befriedigt. Normalerweise hätte ich mich darüber gefreut, doch gerade hinterlässt es einen seltsam faden Beigeschmack in meinem Mund. Ich wende mich meinem Schreibtisch zu, starre auf den hell erleuchteten Bildschirm und drehe mich zurück zu Jeffs Zimmerseite. Selbst sein Laptop ist weg und das bedeutet, dass er wirklich nicht wiederkommt. Mir entflieht ein jammernder Laut und ich bin drauf und dran, mich für den restlichen Tag in mein Bett zu verkriechen. Es würde niemand merken. Keiner wissen. Allerdings werde ich gestoppt, als ich etwas auf der Decke entdecke. Ich gehe aufs Bett und greife danach. Es ist ein Päckchen aus Kondomen mit der Aufschrift Gefühlsecht und einer Tube Gleitgel. Feinsäuberlich mit einer Schleife zusammengebunden. Schon wieder winkt der Zaunpfahl, doch diesmal nehme ich den Fingerzeig als bare Münze. Dieses Jahr möchte ich nicht allein sein. Ich greife mir meine Jacke und verschwinde Richtung Bibliothek. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)