Between the Lines - Chapter 2 von Karo_del_Green (It's more than just words) ================================================================================ Kapitel 2: Mission: unflirtable ------------------------------- Kapitel 2 Mission: unflirtable So simpel. So unspektakulär und doch fühlt es sich gewichtig an. Ein Kuss, wiederholt es sich in meinem Kopf und mein Blick richtet sich automatisch auf Kains Lippen, so als würde die passende Antwort direkt dort zu finden sein. Vielleicht ist sie es auch. Denn seine Lippen wirken weich und wohlig und ich weiß, dass sie nicht nur so aussehen, sondern sich genauso soft anfühlen. Ein Kuss ist die logische Konsequenz. Ich bin mir fast sicher. Kain lässt die letzten Zentimeter zwischen uns verweilen, während sein ruhiger Atem die Spannung und meine Sehnsucht schürt. Ein simpler Kuss und doch spüre ich, wie das schwerfällige Ding in meiner Brust die Vibration annimmt, die zwischen uns herrschen und sie noch schneller wiedergibt. Dann küsst er mich. Einfach nur seine Lippen auf meinem. Sanft und warm. Verweilend. Es ist unaufgeregt, zärtlich und schön. Haut auf Haut. Mein Herz versteht die Entspanntheit nicht, wummert und rast. Auch mein Verstand zieht nach. Der Kuss ist der Richtige für diesen Moment und doch giere ich schnell nach mehr. Wie so oft in letzter Zeit. Ich schmecke das Aroma vertrauter Zuneigung, als er zärtlich an meiner Oberlippe nippt, fühle die erregenden Explosionen in meinen Lenden, noch bevor er an meiner Unterlippe verweilt. Meine Finger greifen fester in den Stoff seiner Strickjacke, ziehen ihn unwillkürlich dichter an mich heran. Auch, wenn es nur die wenigen verbliebenen Zentimeter sind, die uns trennen. Kains Augen sind geschlossen, als er den Kuss löst und ich dabei zusehe, wie seine Zunge, ihrer Wirkung bewusst, über die eben noch von mir geküsste Stelle leckt. Sie hinterlässt eine feuchte Spur und es fällt mir schwer, mich zurückzuhalten. Kain hat es genossen. Er hat darauf gewartet und wenn ich ehrlich bin, ich auch. „Schon viel besser“, summt er bestätigend und mein Bauch kribbelt vielsagend. Dieser elende Verräter. Ich rolle als Gegeneffekt mit den Augen und wende meinen Blick von ihm ab, fixiere einen Punkt im Nirgendwo, der hoffentlich den beginnenden Sturm in mir erstickt. „Wenn du das meinst...“, murmele ich, klinge fast trotzig und wünschte, Kain würde nicht mehr in mein Gesagtes hineininterpretieren, als meine obligatorische Standardreaktion. Ich wünschte es und bin mir doch sicher, dass er genau das nicht macht. Sein forschender Blick bestätigt es mir. „Okay, Spatz, was beschäftigt dich?“ Du! Wir! Meine Gedanken schreien abrupt. Doch mein Mund bleibt geschlossen und statt zu antworten, fliehe ich an ihm vorbei auf mein Bett zu. Was auch besser ist, denn dank des Stimmungsgewitters in meinem Inneren durchläuft mein Gesicht einen unpassend passenden Mimikparcour, den ich beim besten Willen nicht unterdrücken kann. Übermannt von meinen eigenen verräterischen Gedankenwellen fühle ich mich seltsam ausgepowert und verletzlich. Nichts, was ich dem Schwarzhaarigen ungefiltert aufbürden will. Ich greife nach den abgelegten Klamotten und ziehe mir das Langarmshirt über den Kopf, welches ich nach der Dusche übergeworfen habe und entblöße meinen tätowierten Rücken. Ich spüre noch immer ein tiefsitzendes Bedenken in Form eines flauen Kribbelns und das, obwohl ich weiß, dass es für Kain längst nicht mehr neu ist. „Dich nervt doch nicht nur die Party, oder? Was noch?“, versucht es Kain erneut und diesmal direkt. Er klingt trotzdem ruhig und besonnen. Besorgt und fürsorglich. Ich hasse es. Kain muss wirklich einen sechsten Sinn haben. Im Gegensatz zu mir. Ich seufze lautlos und streife mir den roten Pullover über. Danach setze ich mich aufs Bett, wechsele Hose und Socken ohne Kain zu antworten und stehe danach eine Weile unmotiviert vor meinem Nachtschrank rum, während ich darüber nachdenke, wie viel ich trinken muss, damit ich den Abend überstehe, ohne den Eindruck zu vermitteln, dass ich emotional bedürftig bin. „Spatz, du...“ „Was?“, frage ich übertrieben gereizt. Kain sieht mich an, erwidert aber nichts. Wieder hat er diesen Blick, den ich immer noch nicht wirklich deuten kann. Ist er jetzt sauer? Enttäuscht? Genervt? Hungrig? Also meine Mimik ist deutlicher. Überhaupt empfinde ich das Spektrum meiner negativen Gesichtsausdrücke allgemein als umfangreicher. Ich stelle mal dahin, ob das als positiv gewertet werden kann. „Dein Pullover. Du hast ihn falsch rum an.“, sagt er schlicht. Es formt sich dieses bestimmte Lächeln in seinem Gesicht, welches eindeutig amüsiert und zu gleich warm und wohlig ist. Ich blicke verwundert an mir hinab und erkenne die Nähte am Saum des unteren Randes und als ich nach hinten greife, ertaste ich das Markenetikett, welches mich darauf hinweist, dass ich ihn nur bei 30 Grad waschen darf und per Hand. Der Pullover ist anspruchsvoller als jedes Haustier. Ich wende Kain den Rücken zu. Doch bevor ich das Oberteil umdrehen kann, spüre ich ihn hinter mir. Seine Arme tauchen auf beiden Seiten meines Körpers auf und betten sich über meinen Bauch. Seine gesamte Länge presst sich gegen meine Kehrseite und das stetig wärmer werdende Gefühl benebelt mir den Verstand. Genauso wie seine Lippen, die sich in meinen Nacken drücken. Federleichte Küsse, dort platziert, wo ich mich am wenigsten dagegen wehren kann und von wo das Kribbeln seine Reise durch meinen ganzen Körper antreten kann. Ich verspüre nur noch weniger Lust, dieses Zimmer zu verlassen, als der Schauer über meine Brust fegt und reine erregende Verwüstung in meinem Bauch hinterlässt. Jede Faser meines Körpers bettelt augenblicklich nach Aufmerksamkeit und ich weiß, dass Kain alles genau beobachtet. Er haucht einen Kuss auf den oberen Wirbel in meinem Nacken und die Reibung des Pullovers an meinen Brustwarzen wird unerträglich. Die kleinen Reize kaschen mich und die großen treiben mich weiter in die Untiefen seiner ersehnten Berührungen. Ich drehe meinen Kopf zur Seite, spüre den Hauch seiner Lippen an meiner Wange und erhalte damit seine Aufmerksamkeit. Er stoppt mit seinen Berührungen und ich vernehme das leise Summen, welches aus seiner Kehle dringt. Kains warme braune Augen sind nur zur Hälfte geöffnet. Ich greife nach hinten in seinen Nacken und gleite mit meinen Fingern in seine weichen, unfrisierten Haare. Damit ziehe ich seinen Mund zurück auf meinen. Der Kuss ist tief und heiß. In dieser Position ist Kains Größe unglaublich praktisch. Er hat keinerlei Probleme, meine Mund zu plündern, zu erforschen und zu necken. Ich genieße das abwechslungsreiche Spiel, das Tippen und Bitten. Das zärtliche Streicheln, welches so viel Chaos in meinem Körper hinterlässt. Ich drehe mich zu ihm um, greife automatisch an seine Gürtelschnalle und lockere das feste Leder, ohne ihn öffnen. Zwei meiner Finger schieben sich am Stoff der Strickjacke vorbei und tauchen hinein in die Hitze seiner Hose. Ich spüre feste Muskeln seines Unterbauches, die Hitze seiner Haut und ich will sie schmecken. Mit der anderen Hand greife ich eine der Jeansschlaufen und ziehe mich dichter in die berauschende Wärme. Jedoch nur so lange, bis Kain mich stoppt. Seine Hände gleiten flach über meine Brustmuskeln, streichen nach oben über meine Schlüsselbeine und stoppen auf beiden Seiten an meinem Trapezmuskel. Sie sind warm und schwer. Sie haben erdenden Effekt auf mich, der mir gerade so gar nicht passt. „Du arbeitest wirklich hart gegen unsere eigentlichen Pläne... nicht, dass es mich überrascht“, bemerkt er amüsiert. „Unsere Pläne?“, frage ich dümmlich und kämpfe gegen den Nebel in meinem Kopf an. „Die Party, auf die wir gemeinsam wollen?" „Du und Jeff wollt…meine Pläne sehen anders aus", entgegne ich und erinnere daran, dass ich noch immer kein Herdentier bin. Ich bin das Kuriosum, was man nach Jahrtausenden in der Wüste ausgräbt und man sich fragt, wie es dahin gekommen ist, weil das Gebiet schon immer ein Ozean war. Oder so ähnlich. Ich gestehe, dass ich Jeffs Geographiefreunden besser zuhören sollte. „Ist das so?“ „Pff, ja, sie sagen mir wesentlich mehr zu“, stelle ich nonchalant fest. „Ach ja? Und wovon reden wir genau? Mal mir ein Bild mit Worten...“, fordert er mich neckend auf und ich unterdrücke einen bekennenden Seufzer. Es ist nicht das erste Mal, dass ich feststelle, dass Kain es mag, wenn ich meine Fantasien in lautmalerische Worte packe. Es ist so ein Ding zwischen uns. Auch wenn es mir bisweilen eher die eigenen Schamgrenze aufzeigt. Trotzdem genießen wir es durchaus beide. Heute jedoch nicht. „Ähm... ficken", kreiere ich freimütig. Ich nutze dafür all die blümelige Geilheit, die mich aktuell durchschwimmt. Es ist schwer, sich auf solche Dinge zu konzentrieren, wenn sich das Blut aus dem Gehirn verabschiedet und langsam, aber freudig erwartend in andere Regionen aufmacht. „Wie plump“, raunt er enttäuscht, aber ohne sich aus meinen Berührungen zu drehen. Stattdessen tippt er mir sogar gegen den flachen Bauch, wandert mit den Fingern von meinem Bauchnabel zu meinem Sternum. Er wiederholt seine Worte flüsternd. „Sagt der, dessen Feingefühl bis vor wenigen Wochen gerade so einen Fingerhut füllte.“ Ich erinnere mich gut an Kains machohafte Phrasen, die schon damals nicht so richtig ins Bild passten. Ich ficke dich, weil es mir Spaß macht, echot eines seiner Highlights durch meinen Kopf und ich muss mir schon wieder verkneifen, mit den Augen zu rollen. Kain hat zwar das eidetische Gedächtnis, aber ich habe, was solche Sprüche angeht, das Erinnerungsvermögen eines Elefanten. Wie zur Bestätigung beißt er sich verräterisch auf die Unterlippe, weil er weiß, was ich andeute und lächelt zurückhaltend, fast etwas beschämt. Es hinterlässt eine Spur Befriedigung. „Ich gebe unumwunden zu, dass das kein Glanzstück war“, gesteht er hochtrabend, „Allerdings nehmen wir uns beide nichts, was das angeht und das weißt du auch.“ Auch das ist wahr. Aber ich habe nie den Versuch unternommen, dahingehend einen anderen Eindruck zu erwecken. Ich stehe zu ungehobelt und barsch. Leider weiß Kain dank meiner Bücher, dass ich auch anders kann oder zu mindestens weiß, wie in der Theorie funktioniert. Wenn ich es will. Ich will nur nicht oft. Auch jetzt nicht. Ein schlichter, schneller Fick würde mir reichen und daraus mache ich kein Geheimnis. Kain jedoch versteht meine fehlende, geäußerte Zustimmung als Aufforderung zur Erklärung. „Du weißt doch, die ganze Situation war auch für mich eher unerwartet... irgendwie neu und verwirrend... und das musste ich erst verarbeiten“, erklärt er weiter, „Es tut mir leid, dass ich dabei so ein unqualifiziertes Zeug von mir gegeben habe.“ „Heißt das, du wolltest mich damit beeindrucken?“, hake ich amüsiert nach. „Nein, eigentlich wollte ich mich nur nicht verletzlicher machen, als ohnehin schon.“ „Indem du den Arsch spielst? Eine eher hinkende Technik, oder?“ „Bist du doch vertraut mit.“ Ein Zaunpfahl. Er ist groß und prägnant und ich ignoriere ihn wohlwissend. „Du weißt, wie man die Stimmung hebt“, kommentiere ich sarkastisch, seufze ernüchtert und wende zum ersten Mal mein Gesicht ab. Auch wenn seine Worte wahr sind, will man sie selten so unverblümt vor den Kopf geschlagen bekommen. Ich schließe meine Augen, merke aber sofort, wie sich Kains Gesicht dichter an meines beugt. Seine Lippen berühren meine Wange. Nur kurz und federleicht, dann legen sie sich gegen meine Schläfe und in meiner Brust wird es plötzlich warm. „Du weißt, dass ich Recht habe...“, flüstert er. „Ow, ich bitte dich...“, entflieht es mir missfällig. So ein Schmu. Kain lacht tief und wohlig auf und erneut treffen seine Lippen meine Schläfe. „Also, wenn du mich fragst, hast du jetzt zwei Möglichkeiten... Entweder du gibst mir dieses Mal recht... oder...“ Option Nummer zwei. Definitiv. Ich muss nämlich gar nichts zugeben. Dennoch warte ich geduldig ab, was seiner Meinung nach die zweite Möglichkeit ist. „Oder was?“ „Oder wir gehen einfach zu der Party und könnten dabei etwas Spaß haben.“ „Du könntest. Für mein Persönlichkeitsprofil gibt es dafür nämlich keine produktiven Schnittstellen“, widerspreche ich skeptisch und ignoriere geflissentlich, dass diese Option überhaupt nichts mit dem eigentlichen Sachverhalt zu tun hat. Zudem ist mir sehr wohl klar, dass ich mit meinem Kommentar eine der Lachhaftigkeiten bediene, die die anderen Jungs öfter über mir ausbreiten. Humankybernetik am Arsch. Jeff hat mich letztens wirklich gefragt, ob ich es plane, mein Update zu zelebrieren. Und zu meiner Schande hat es tatsächlich eine Weile gedauert, bis mir klar wurde, dass er meinen anstehenden Geburtstag meint. Danach hat sich mein Kindheitsfreund eine geschlagene halbe Stunde herzlich über meinen Gesichtsausdruck amüsiert. Mit Schenkelklopfen und Gegröle. Es passiert selten, dass Jeff die Oberhand hat. An diesem Tag war es so und irgendwie werde ich ihm das noch heimzahlen müssen. „Schnittstellen?“, wiederholt Kain den IT-Begriff verwundert, „Ich dachte, Jeff steht auf den Computerfritzen und nicht du...“ „Natürlich! Nur ich habe den Kollateralschaden. Denn glaub mir, Jeff hat plötzlich ein gigantisches Interesse an Computern. Wunder, oh, Wunder.“ Den letzten Rest formuliere ich schwungvoll und meine Lippen formen ein halbherziges Grinsen. Ich habe meinen Jugendfreund schon lange nicht mehr so engagiert gesehen. Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass er die Hälfte der Zeit gar nicht weiß, wovon er eigentlich spricht und nur Glück hat, dass ich es auch nicht weiß. „Nun ja, es schadet nicht, sich für die Belange bestimmter anderer zu interessieren.“ Erneut so eine hinkende Zaunpfahlrhetorik. Ich habe das Gefühl, ich habe irgendetwas verpasst. „Und die dadurch bewirkte Langeweile ist eine der häufigsten Todesursachen. Okay, vielleicht ist es auch Mord.“ „Spatz...“ Schon wieder. Fast schon symptomatisch. Ich beiße die Zähne zusammen und Kain bemerkt es. „Okay, genug davon. Tu mir einen Gefallen und sprich mir nach: Ich werde versuchen, auf der Party Spaß zu haben“, sagt er lächelnd. Ich kneife ad hoc meine Augenbraue zusammen und sehe ihn mehr als zweifelnd an. „Im Ernst?“, frage ich wenig überzeugt und auch nicht gewillt, ihm diesen Gefallen zu tun. „Komm schon!“, fordert er mich auf und zieht eine lächerliche Schnute, die mich einen Moment lang besinnungslos schmunzeln lässt. Ich erinnere mich jedoch schnell eines Besseren. „Ich kann dir einzig eine physische Anwesenheit bestätigen. Nicht mehr und nicht weniger.“ Kain mustert mich kritisch und so zuversichtlich, wie ich mich fühle. Er sollte es annehmen, immerhin habe ich gerade versichert, dass ich wirklich mitkomme. Nicht, dass der von Jeff abgesegnete Pullover und mein Wille, mit ihm zu diskutieren, schon Andeutung genug waren. „Wirklich?“, hakt Kain unzufrieden nach und ich hisse meine Arme, um ihm zu verdeutlichen, dass mir die Hände gebunden sind. Wenn auch nur metaphorisch. „Tu du mir einen Gefallen und sag mir, wie ich es schaffe, dass du aufhörst, mich zu nerven?“, entgegne ich stattdessen. Der Schwarzhaarige schenkt mir ein vielversprechendes Lächeln und erneut merke ich, wie etwas in mir seinen Aggregatzustand zu wechseln beginnt. Herrje. „Du könntest nachher mit mir tanzen...“, schlägt er vor und klingt dabei weniger lustig, als ich es gern hätte. Es ist ihm ernst, auch wenn das von dem feinen Lächeln auf seinen Lippen kaschiert werden soll. Tanzen? Ich? Nur, wenn die Hölle zu friert oder man mich zum Tanzbär umprogrammiert. Dann aber bitte mit dem passenden rosaroten Tutu. „Ich tanze nicht“, sage ich schlicht. „Du könntest ja mal eine Ausnahme machen.“ Bevor ich darauf antworten kann, werden wir von meinem Mitbewohner unterbrochen. „Hört auf zu flirten und kommt endlich“, ruft uns Jeff durch die geschlossene Tür zu und hämmert seine flache Hand zwei Mal gegen das Holz. Flirten? Wer flirtet hier? Wir diskutieren. Blutrünstig und brutal. Vielleicht schaffe ich es, Jeff auf dem Weg zur Party irgendwo in einen Graben zu schubsen. Aus Versehen, natürlich. Das versaute Outfit wäre meine süße Rache für diese Lächerlichkeit und garantiert mir etwas Spaß. Noch dazu wäre Jeff im Schlamm etwas, was ich schon seit gut sieben Jahren nicht mehr erleben durfte. Während in meinen Kopf die teuflischen Pläne handcoloriert und detailreich Form annehmen, starre ich die Tür an und reagiere erst, als Kains Augenbrauen rhythmisch nach oben zucken. „Flirten?“, entflieht ihm giggelnd, fast hicksend. Er betätigt die Türklinke, während er zu lachen anfängt. „Als ob du wüsstest, wie man flirtet...oder merkst, wenn man es mir dir macht.“ Den letzten Teil hängt Kain mit ran, während er laut lachend auf Jeff zu schlendert und mich überrumpelt zurücklässt. „Ich kann flirten“, rufe ich ihm hinter, ohne zu wissen, warum ich das Bedürfnis habe, das klarzustellen, „Ich finde es nur sinnlos.“ Den letzten Teil murmele ich in meinen nicht vorhandenen Bart und greife nach meiner Jacke. Und ich merke sehr wohl, wenn man mit mir flirtet. Ich hab es bei Sina gemerkt, was zugegebenermaßen keine Leistung war, weil sie mich schon bei einem der ersten Aufeinandertreffen unverhohlen küsste und ich mich nicht wehren konnte, weil ich betrunken war. Ich taste zuletzt nach meinem Portmonee und spüre die Packung Zigaretten vom gestrigen Abend in meiner Innentasche. Ich belasse sie dort und schlüpfe in meine Schuhe, während bereits im Flur danach gefragt wird, ob ich mich verlaufen habe. Als wäre ich ein Hamster. Meine Laune bessert sich nicht. Ich bin mir nicht sicher, was ich mir gerade mehr herbeisehne. Schlaf, Sex oder einen schnellen schmerzlosen Tod. Ich werfe meinem Bett einen letzten wehmütigen Blick zu und weiß, dass ich die falsche Entscheidung getroffen habe. Auf dem Weg zur Party setze ich meine mit Kain begonnene Ablehnungstirade fort. Nur dass ich es diesmal mit Sprache und weniger mit Körpereinsatz versuche. Dass Partys eine Ausgeburt der Hölle sind, bleibt hierbei der wenig überraschende Grundtenor. Allerdings gehen mir auf der Hälfte des Weges bereits die markanten, negativen Adjektive aus und Jeff macht keinerlei Anstalten, sich von meiner pessimistischen Einstellung anstecken zu lassen. Im Gegenteil, es scheint förmlich an ihm abzuprallen und ich vermute stark, dass das mit dem unvermeidlichen Aufeinandertreffen mit dem ITler zusammenhängt. Tragisch für mich. Dabei gebe ich wirklich alles. Ich bin abgrundtief mäkelig, aber nichts passiert. Ich verliere langsam meinen einzigartigen Charme. Dann spüre ich plötzlich Kains Hand an meinem unteren Rücken und verstumme. Er lehnt sich beim Gehen näher an mich heran, berührt mit der Nasenspitze meine Haare und atmet warm gegen die Helix meines Ohres. „Gib auf, Motzspatz. Das ist die falsche Taktik. Jeff kennt dich zu gut, als dass er sich davon beeinflussen lässt.“ Genau ins Schwarze und nichts, was ich nicht selbst weiß. Ich werfe Kain einen beleidigten Blick zu und mache abrupt einen Schritt zur Seite als ich bemerke, dass sich Jeff zu uns umdreht. Vermutlich, weil er sich über die eingetretene Stille wundert. Mein Mitbewohner läuft unbeeindruckt rückwärts weiter und beobachtet uns kritisch. Ich präsentiere ihm meinen Mittelfinger ohne dass Kain es bemerkt und Jeff formt mit seinem Mund deutlich ein paar provokante Worte als Antwort. Danach grinst er, dreht sich um und hopst weiter. An einer der oberen Stellen meiner Dislike-Liste stehen fröhliche Menschen und Jeff kriegt jetzt seine eigene Spalte. „Ach übrigens...“, beginnt Kain neben mir, „Du hast den Pullover immer noch falsch rum an...“ Als Beweisführung greift er mir in den Nacken und zieht an dem im Wind wehenden Etikett. Als er seine Hand lachend wegzieht, streift er dabei meinen Hals und entfacht zum wiederholten Mal an diesem Tag ein tiefschwelendes Feuer in meinem Unterbauch. Ich fluche einmal laut und den Rest des Weges leise. Die Adresse der Location ist in der Nähe des Campus und nach 20 Minuten Fußweg haben wir sie erreicht. Es ist eines dieser herkömmlichen Mehrfamilienhäuser, welches sich Reih für Reih in ein einheitliches Gesamtbild einfügt. Fast bieder und irgendwie gleichgültig. Es ist nicht die klassische Partygegend. Trotzdem bleiben wir vor einem dieser Häuser stehen. Auf dem ersten Blick kann ich sehen, dass gut 60 Prozent des Hauses und der Flur hell erleuchtet sind. Ich habe keine Chance, länger darüber zu philosophieren, denn Jeff betritt scheufrei das Gebäude und Kain drückt eine seiner großen Hände auffordernd in meinen Rücken, sodass ich regelrecht in den Hausflur geschoben werde. Es ist wie befürchtet. Das Grauen, echot durch meinen Kopf und ich muss es sogleich revidieren. Dem Grauen tue ich damit definitiv Unrecht. Denn das Bild, welches sich vor mir offenbart, ist garantiert ein zusätzlicher Höllenkreis. Die Musik ist schon beim Eintritt in das Wohngebäude unter meiner Würde. Pop-Rock. ´So much for my happy ending´, brüllt Avril Lavigne im passenden Moment durch die Lautsprecher einer der geöffneten Wohnungen und spricht mir damit aus der Seele. Überall auf der Treppe tummeln sich Menschen, schwatzen und grölen. Ich würde kehrt machen, doch Kain läuft dicht hinter mir, sodass ich spüren kann, wie sich seine breiten Schultern hinter mir zur Mauer aufbauen. Flucht fast ausgeschlossen. Mission: impossible akzeptiert. Ich werde das hier überleben. Komme was wolle. Mein Ehrgeiz schrumpft, als ich in der zweiten Etage merke, dass meine vorige Annahme zutrifft. Das gesamte Haus ist involviert und feiert scheinbar durchgängig Partys. „Vergiss nicht hin und wieder zu lächeln.“, belehrt mich Kain aus dem Hinterhalt und haucht mir dabei direkt ins Ohr. Er schiebt mich in eine der Wohnungen, in die auch Jeff verschwunden ist, befördert mich aus meiner Jacke und findet sogleich jemanden, den er begrüßen kann. Auch Jeff scheint bereits von der Menge verschlungen und mein Unwohlsein steigert sich exponentiell. Ich quäle mir eines dieser von Kain verlangten Mundgestiken ab, sehe mich dabei um. Es ist niemand zu sehen, den ich kenne oder wenigstens erkenne. Kain hat noch nicht gemerkt, dass ich ihm nicht gefolgt bin, also setze ich mich ab und suche die Küche. Ich brauche Alkohol. Am besten viel davon. Die Küche ist nicht allzu schwer zu finden. Die meisten Wohnungen älterer Gebäude sind nach einem ähnlichen Grundprinzip aufgebaut und dem habe ich zu verdanken, dass ich nicht erst durch das überfüllte Wohnzimmer streifen muss oder versehentlich in ein besetztes Schlafzimmer stolpere. Allerdings nimmt sich auch die Küche nichts, was die Überbelegung angeht. Ich atme ein und erst wieder aus, als ich vor der improvisierten Bar ankomme. Ihres Zeichens eine vollgestellte und vollgekleckerte Küchenzeile. Ich hasse es so sehr. Alles. Und jeden. Wirklich jeden. Ohne Ausnahme. Ich resigniere und mache mich auf die Suche nach etwas für mich Konsumierbarem. Neben unzähligen Mixbieren und gewöhnlichen Hopfengebräue stehen natürlich etliche harte Sache parat. Aber auch Wein und anderes zuckersüßes Schlabberzeug. Ich gestehe mir eine leichte Überforderung ein. „Hey, bist du nicht Sharis Biofritze?“, werde ich unerwarteterweise von der Seite angequatscht. Ich schenke der Person nur einen kurzen Seitenblick. Es ist Mark, Sharis Freund, der neben mir steht und ein Glas mit einer grünen undefinierbaren Flüssigkeit schwenkt. „Biochemiker.“, korrigiere ich kurzangebunden und setze unbeirrt meine Suche nach dem Wodka fort. Gin. Korn. Rum. Robbie Bubble. Gin. Brauner Rum. Kurzum eine Menge Ethanol. Ich drehe eine Flasche nach der anderen um. Aber ich finde nicht das, was ich suche. So viel zum Spaß. „Machst du nicht das Gleiche wie Shari? Ihr hattet doch dieses Tutorium zusammen?“, plappert er weiter. „Nicht mal im Ansatz. Das Tutorium gehört lediglich zu ihren Wahlpflichtfächern, welche als Exkurs auch die Biochemie abdecken. Daher meine Wenigkeit...“, erkläre ich und spare mir jegliche Differenzierung. Ich bin mir fast sicher, dass Shari ihm das genauso erzählt hat. Mark nickt verstehend und lehnt sich mit dem Rücken gegen den Küchenschrank. Wenn es keinen Wodka gibt, brauche ich etwas anderes. Erneut fällt mein Blick auf das grüne Zeug in Marks Glas. Er schiebt mir verstehend den Blue Curacao, O-saft und den eben vermissten Wodka zu. Marks Ansehen ist gerade ein paar Punkte gestiegen, jedoch nicht aus dem Keller herausgekommen. Sein letztmaliges Androhen einer Trachtprügel, weil ich Shari ein bisschen geärgert habe, hat ihn Sympathien gekostet. Mal davon abgesehen, dass kaum jemand mit Pluspunkten bei mir anfängt. Bis auf Shari selbst. Ich greife mir ein eigenes sauberes Glas, stelle es vor uns ab und bekenne stoisch meine Hilfsbedürftigkeit, in dem ich auf sein Getränk und dann auf den leeren Raum meines Glases zeige. Ohne mit mir zu diskutieren, zieht er es zu sich ran und öffnet den Wodka. „Was ist das eigentlich?“, frage ich reichlich spät. „Grüne Wiese oder Grashopper, je nachdem, in welchem Fachbereich man sich tummelt.“ Bei diesen Namen brauche ich noch einen Schluck Wodka mehr und deute es dem anderen Mann direkt an. Für Mediziner heißt der Drink vermutlich Infektionsstufe vier. Rotzgrün. Während Mark mein Getränk vollendet, bemerke ich aus dem Augenwinkel heraus Jeff, der seinen ITler gefunden hat und wie erwartet selig vor sich hingrient. Ich sehe einen Moment dabei zu, wie er an Jakes Lippen klebt, als wären sie benetzt mit wohlschmeckenden Honig. Meine Stirn ist gerunzelt, aber in meinem Kopf explodieren die Beobachtungen in feinsäuberlich formulierten Passagen und Annahmen. Sein Mund. Die süßeste aller Verlockungen. Ob er an ihm nippt, wenn sie miteinander allein sind? Ob er mit der Zunge neckend die Konturen entlang leckt und japsend darauf hofft, dass sein Gegenüber den nächsten Schritt wagt und ihre Lippen miteinander vereint? Er spürt das Prickeln, welches erwartend über seinen eigenen Mund tanzt und gierige Ekstase schürt, Leidenschaft entfacht. Ihr Herzschlag synchronisiert mit jedem vergehenden Moment in der freudigen Erwartung auf das Tilgen des heißen Verlangens. Die Szenerie flattert durch meinen Kopf als weiterer potenzieller Stoff für meine anzügliche Anthologie. Wie in einem Film spielt es sich ab und diesmal schaffe ich es nicht, die mir bekannten Gesichter auszublenden. Ich sehe Jeff und Jake. Bis ins Detail. Ich muss verrückt sein. Ich komme gedanklich erst zurück, als das kalte Glas gegen meinen Arm gedrückt wird. „Bitteschön, ein Wodkatrauma im Gras.“ Der Inhalt ist wesentlich satter gefärbt als Marks, was den geringeren Orangensaftanteil verdeutlicht. Ich nehme direkt einen großen Schluck und verziehe keine Miene. Allerdings nur zur Show. Es ist fürchterlich. Der Wodka ist billig und brennt sich ohne Widerstand direkt bis zu meinem Enddarm vor. Jedenfalls gefühlt. Vermutlich hat er den gesamten Magen-Darmpart einfach ausgelassen und sich in Sekundenschnelle durch meinen Körper geätzt. Ich kann kaum atmen und unterdrücke ein verräterisches Husten. Vielleicht falle ich einfach Tod um, dann erspare ich mir den Rest des Abends und wäre nicht mal traurig. Mein Magen gibt daraufhin ein verärgertes Geräusch von sich und mir damit zu verstehen, dass er mir meinen eigentlichen Partyüberlebensplan nicht gestattet. Ich ignoriere ihn so lange, wie möglich. So viel steht fest. „Meine Güte. Du bist hart im Nehmen und scheinbar nicht freiwillig hier.“, kommentiert Mark meine Verzweiflungstat und mustert mich mit hochgezogener Augenbraue. Beeindruckt ist er nicht, sondern geradeso amüsiert. „Wie hast du das nur herausgefunden... ich habe mir solche Mühe gegeben. Ich habe sogar gelächelt.“, entgegne ich trocken. „Wann?“ „Letzte Woche.“ Ich gebe ein klägliches Beispiel für die angesprochene Gesichtsmimik, schaffe gerade so die rechte Seite anzuheben und erinnere mehr an Two-Face, als an den Joker. Mark lacht. Offen und ehrlich. „Solltest du üben. Ist nur als ES-Konkurrenz überzeugend.“ Der nächste Clown. Was für ein Zirkus. Er selbst nimmt einen Schluck aus seinem Glas und streicht sich durch die braunen Haare. Sein Lächeln wird etwas breiter, als ein großer brünetter Kerl mit mehreren Tüten Knabbereien in der Menge auftaucht und nach einem kurzen Blick auf uns zu steuert. „Hier bist du. Ich habe heimlich die Vorräte geplündert. Marika wird mich killen, aber egal...“, sagt der Knabberzeuglieferant liebevoll. Ich versuche, sie nicht allzu offensichtlich zu belauschen. Doch es funktioniert nur semioptimal. „Hier, Sweety“ Der große Brünette öffnet die mitgebrachte Packung Salzstangen, reicht Mark ein paar der Sticks und mahnt ihn an, diese auch zu essen. Das macht er ebenso zärtlich und rührend, wie ihm auch der Kosename von den Lippen perlt. Die beiden sind definitiv ein Paar und ich meine mich daran zu erinnern, dass ich sie sogar schon zusammen auf dem Campus gesehen habe. Nun starre ich sie ungeniert an, bis Marks Kerl wieder verschwindet. Und ich starre noch immer, als Sharis Kumpel meinen Blick bemerkt und scheinbar genau versteht, weshalb ich so schaue. Sweety? Ich wiederhole den Kosenamen nur gedanklich, aber forme es nebenher unbeabsichtigt mit dem Mund. „Guck nicht so, das ist nur ein Probelauf. Ich Sweety, er Honey.“, erläutert er und runzelt seine Stirn, „Ist nicht gut, oder?“ Scheinbar sorgt sein eigener Schmusename für wenig Begeisterung bei ihm. Das sollte ihm zu denken geben. „Bist du sein Haustier?“, erkundige ich mich in der Annahme, dass seine Frage nicht rhetorisch gemeint war. Mark hebt eine Augenbraue und lässt seinen Kopf zur Seite kippen. Er antwortet nicht sofort und das ist höchst bedenklich. „Naja... wenn er nur im Handtuch bekleidet aus der Dusche kommt, dann mache ich hin und wieder Männchen.“ Das gehört eindeutig zu den Dingen, die ich nie wissen wollte. „Das ist auf so vielen Ebenen traurig.“, kommentiere ich. Nach dieser Party brauche ich definitiv eine Therapie. Eine mit viel Eis und Pudding und so wenig Menschen, wie möglich. Mark gibt ein glucksendes Geräusch von sich und knabbert an seinen Salzstangen. „Jeder sollte zu seinen Schwächen stehen. Meine ist dieser Kerl da und deswegen darf er auch wochenlang einen Kosenamen für mich suchen, ohne, dass ich ihn meuchelmorde“, erklärt Mark mit diesem dezent verrückten Lächeln auf den Lippen, welches nur schwerverliebte haben. Ich beiße die Zähne zusammen, um kein Würgegeräusch zu machen. „DAS nenne ich hart im Nehmen.“, echoe ich stattdessen seine vormalige Bemerkung nach und ernte ein ungerührtes Schulterzucken. Mark knuspert energisch ein paar der Salzstangen weg und lässt sich danach von jemanden auf die Tanzfläche zitieren, den ich nicht kenne. Ich lecke bedächtig über den Rand meines Glases und schaue noch immer unzufrieden in die Menge. Danach nehme ich einen weiteren großen Schluck meiner Traumawiese und verziehe hemmungslos das Gesicht. Ich schmecke das intensive Aroma des Wodkas, welcher erneut mit einem russischen Volkstanz über meine Zunge fegt. Er kühlt meine Lippen und entfacht zur selben Zeit ein Feuer in meinem Rachen, welches sich ungehindert tiefer kämpft. Gesteigert wird das Ganze durch die feinherbe Säure des Orangensafts. Eigentlich ist es gar nicht schlecht. Aber es sollte definitiv besserer Wodka sein. Richtiger russischer oder polnischer. Es ist ein Unterschied von Tag und Nacht. „Ich hoffe, das hast du dir selbst gemixt...“ „Ja, Papa.“, gebe ich unbeeindruckt retour und sehe zu Jeff, der mir grinsend ein geschlossenes Bier hinhält. Ich lehne ab und halte ihm stattdessen mein farbenfrohes Mixgetränk hin. Mein Kindheitsfreund schnuppert und schüttelt direkt seinen Kopf. „Uff, legst du es darauf an, dich zu besaufen?“ „Plan A, bis zum Umfallen.“ Darauf ein weiterer Schluck. „Ach komm, früher waren wir auf weitaus schlimmeren Partys und die hast du auch überstanden, ohne dich volllaufen zu lassen.“ Und ich bereue es zutiefst. Der Gedanke spiegelt sich eins zu eins in meinem Gesicht wider. Jeff kichert neben mir, tippt seine Schulter gegen meine und ich mustere ihn zweifelnd. Meine Erinnerungen an diese ganze Thematik sind definitiv anders als seine. Wesentlich rauchiger und gespickt mit einigen Blackouts. Es gibt auch nichts, woran ich mich unbedingt zurückerinnern will. Jeff allerdings schon. Er wird in der letzten Zeit oft nostalgisch und ich lasse ihn dann einfach reden. Genauso, wie jetzt. Ich lehne mich zurück an die Küchenzeile, nippe an meinem Glas und merke, wie die gesprächige Geräuschuntermalung neben mir langsam aber sicher zu einem monotonen Rauschen wird. Suchend gleiten meine Augen über die heitere Ansammlung von Körpern. Überall stehen kleine Gruppen von Menschen mit Gesichtern, die ich teilweise sogar zu ordnen kann. Sie gehören in meinen oder auch Jeffs Fachbereich. Viele kenne ich aber nicht, obwohl ich es vielleicht müsste. Namen merke ich mir sowieso nicht. „...Robin. Hörst du mir zu?“ Mit der Nennung meines Namens und dem deutlichen Stups gegen meine Hüfte wird das Rauschen in meinem Kopf plötzlich wieder klar. „Entschuldige, bin kurz eingenickt.“, kommentiere ich gelangweilt und halte nicht damit hinterm Berg, dass mich diese Party genauso mitreißt, wie prophezeit. Jeff boxt mir gegen den Arm. „Du bist echt... Du versuchst es nicht mal“, motzt er berechtigt und ich stecke ihm einfach nur meine mittlerweile grüne Zunge entgegen. Jeff kichert erheitert. Wenn er angetrunken ist, ist es so viel einfacher, ihn mit Quatsch abzulenken. „Wo ist eigentlich Kain hin?“ „Durch den Kleiderschrank nach Narnia.“, antworte ich gespielt weinerlich und schniefe trocken. „Du weißt es also nicht?“ „Nur die Auserwählten dürfen nach Narnia.“, erwidere ich nicht weniger wehleidig als vorher. Jeff seufzt seinen spektakulärsten Seufzer und rollt zusätzlich mit den Augen. Ein absolutes Schauspiel. Danach lächelt er und der sich anbahnende Effekt ist sogleich zur Nichte gemacht. „Du bist schrecklich, weißt du das?“ Es lässt mich vollkommen ungerührt. „Und du brauchst endlich wieder Sex. Du bist anhänglich und gehst mir auf die Nerven. Geh irgendwo spielen“, kontere ich einfach. Doch statt eines empörten Ausrufs legt mir Jeff seinen Arm um die Schulter, zieht mich näher und stößt geräuschvoll die Luft aus. „Und ich hätte gern Sex. Am liebsten sofort.“ Der Alkohol hat schon grandiose Arbeit geleistet und seine Zunge gelockert. „Warum sagst du das mir? Geh, flirte und verführ Jake. Gibt es dafür nicht die Enter(n)-Taste?“ Okay, der war platt. Jeff grinst trotzdem. „Ich würde gern. Wirklich, ich habe es versucht... Er ist so anständig. Es ist zum Verrücktwerden.“, jammert Jeff mitleidiger, als ich es jemals könnte und legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab, „Gott, ich würde ihn am liebsten einfach in den Garderobenschrank zerren, auf die Knie fallen, sobald die Tür ins Schloss fällt und ihm...“ Seine Lippen machen ein ploppendes Geräusch und er schließt die Augen. Diesmal ist seine Stimme fest und deutlich. „Jeff...“, stoße ich verzweifelt und lauter aus als beabsichtigt und versuche, mir die Ohren zu zuhalten. Was mit dem Glas in der Hand und seinem Kopf auf meiner Schulter leider ineffektiv ist. Mein Jugendfreund beginnt lauthals zu lachen und entlässt mich nicht aus seinem Griff. Das Bild mit allen Details entsteht ganz von allein. Selbst das berauschende Gefühl der Aufregung und der Hitze rollt durch meinen Körper, als ich mir vorstelle, wie sich die Szenerie zusammenfügt. Das schwere Atmen. Die flinken, wissenden Finger. Das erregende Prickeln der Aufregung, weil jeden Moment die Entdeckung droht. Ich kriege es garantiert nie wieder aus meinem Kopf. „Die Schuhe putzen“, sagt Jeff zwischen mehreren Lachern, „Ich meine, seine Schuhe putzen. Was du wieder denkst!“ Nicht lustig. „Ich will nach Narnia.“, rufe ich aus und halte mir nun die Augen zu. Ich wimmere gespielt auf. „Du willst also zu Kain. Sehr interessant“, flüstert Jeff plötzlich direkt in mein Ohr. Seine Stimme ist keineswegs erheitert, sondern unerwartet ruhig. Ich lasse meine Hände sinken, stoppe mit der freien kurz bei meinen Lippen und für einen Moment muss es so aussehen, als würde ich mir den Mund zu halten. Dann sehe ich ihn verblüfft an. Jeff grinst süffisant und meint es als deutliche Provokation, so, wie er es in der letzten Zeit öfter macht. Er will genau wissen, was das mit mir und Kain ist. Dabei weiß ich es doch selbst nicht und das lässt mich jedes Mal schroff reagieren. „Weißt du was, fick dich doch selbst!“, erwidere ich nach diesem Schema barsch und meine es auch so. Ich leere das Glas mit nur einem Zug, lecke mir die Lippen und strecke ihm danach die Zunge raus. Jeffs unterschwellige Andeutungen sind mehr als nervig. Und sie verunsichern mich. „Wenn ich noch mehr selbst Hand anlege, habe ich bald eine Sehnenscheidenentzündung“, scherzt Jeff einfach weiter und nun habe ich die Faxen dicke. Ich löse mich aus seinem Griff und höre ihn, während ich in einen anderen Raum wechsele, erheitert gackern und mehrmals ‚Es war nur ein Scherz' und ´Dein Pullover` rufen. Ich werfe im Gehen einen kurzen Blick nach unten. Verdammt. Ich trage das Oberteil immer noch falsch rum. Ich brauche dringend eine Zigarette und greife mir direkt an die Hosentasche. Ein Griff ins Leere. Die Notfallpackung befindet sich in meiner Jacke und ich weiß nicht, wo Kain sie hingetan hat. Ich mache mich auf die Suche und finde eine lauschige Kammer, in der ich mich ordentlich anziehen kann. Doch meine Jacke kann ich nirgendwo entdecken. Die logische Konsequenz daraus ist, dass ich einfach jemanden mit Zigaretten finden muss. Auf einer Party sollte das kein Problem sein. Meine Lunge vollführt einen Hüpfer, der je nach Gefühlslage unterschiedlich ausgelegt werden kann. Meine momentane Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit identifiziert es als ein freudiges Erwarten und nicht als das mahnende Wimmern, was es eigentlich ist. Ich husche unbemerkt und schnell nach unten. Doch auf dem letzten Treppenabsatz werde ich langsamer. Es ist ihre Stimme, die ich zuerst erkenne und das trotz der Geräuschkakophonie, die im Aufgang herrscht. Sie hat mir gerade noch gefehlt. Achtsam beuge ich mich nach vorn, um so besser an der aufsteigenden Treppe vorbei zuschauen und sehe ihre roten Haare regelrecht aufleuchten. Es ist wie das imaginäre Stoppschild. Der ultimative Warnhinweis und natürlich kann ich erahnen, welches Bild sich mir gleich bietet. Mein Herz macht einen Satz nach vorn, prallt gegen seinen Knochenkäfig und schmerzt. Natürlich ist es Kain, den ich neben ihr sehe. Wer auch sonst. Auf einem Festival mit tausenden Teilnehmern findet sie ihn und das innerhalb von wenigen Minuten. Wieso ist sie eigentlich hier? Welch dumme Frage, wieso sollte sie nicht hier sein. Immerhin ist die Hälfte der Biofachschaft hier und sie bildet sich ein, beliebt zu sein. Seit unserer größeren Handgreiflichkeit mit der Tasche sind wir nicht mehr wirklich aufeinandergetroffen. Was aber mehr oder weniger damit zu tun hat, dass wir es tunlichst vermeiden, uns über den Weg zu laufen. Nicht, dass ich das nicht vorher schon gelebt hatte. Nur jetzt noch ein wenig penibler. Da Kain die Hälfte der Woche nicht auf dem Campus ist, funktioniert das auch sehr gut. Allerdings befriedigt mich dieser Fakt eher wenig. Zumal ich nicht weiß, was Kain ihr erzählt hat. Ob er ihr überhaupt etwas erzählt hat oder ob er des Friedens Willen einfach hofft, dass wir nie wieder aufeinandertreffen. Alles in allem strotzt es nur so vor Lächerlichkeit. Ich sollte darüber lachen, drüberstehen und doch schlägt mein Herz wild und heftig. Es rast und nicht im guten Sinne. Für einen Augenblick wähnt sich die Zurückhaltung und ich denke darüber nach, wie geplant nach draußen zu gehen, mir eine Zigarette zu suchen oder zwei. Es einfach ignorieren, so wie es mir Kain und Jeff raten würden. Doch meine Füße bewegen sich nicht nach vorn. Stattdessen mache ich einen Schritt zurück und stehe so, dass mich keiner der Beiden aus ihrer Position heraus sehen kann. Ich erkenne nur noch einzelne Teile ihrer Körper, aber das Wichtigste ist, ich höre sie. Leise, aber trotzdem deutlich. „Sag es meinem Vater selbst, dann muss ich dich nicht immer damit nerven.“ „Weil es dir auch so viel aus macht. Wie kommt er überhaupt auf die Idee?“ „Es ist nur eine nette Geste.“ „Klar, hör bitte auf, mit ihm über mich zu reden.“ Die Rothaarige verschränkt die Arme vor der Brust und tippt mit ihren langen Fingernägeln einen unmelodischen Takt in ihre bleiche Haut. „Er mag dich und fragt ganz allein nach dir. Ich habe wirklich nichts damit zu tun!“, wehrt sie es empört ab. Alles nur Show. Ich glaube ihr kein Wort und Kain hoffentlich auch nicht. Ihr Ton ist wie immer flirtend, wenn sie mit Kain spricht und das macht mich rasend. Wie auf Kommando lässt sie ihre schlanken Finger über den Reißverschluss seiner Strickjacke gleiten und bleibt etwa auf der Mitte stehen. Ich erkenne, wie sie mehrfach sachte gegen das Metall tippt und ihn unentwegt ansieht. Unwillkürlich beuge ich mich weiter runter, um nun doch ihre Gesichter zu sehen. Kain erwidert ihren Blick nicht, lässt ihre Berührung aber weiterhin zu. Während ich das beobachte, kann ich nicht verhindern, dass ich meine Hand langsam zu einer Faust balle. „Kannst du bitte damit aufhören. Wir haben doch darüber geredet.“, sagt er höflich. Wie er das immer wieder hinkriegt, ist ein echtes Wunder für mich. Ich wäre längst bissig und verachtend. Sie rollt effekthascherisch mit den Augen, macht aber keinerlei Anstalten, ihre Finger von ihm zu nehmen. Sie ist so falsch. Kain wiederholt mahnend ihren Namen. Dann greift er nach ihrer Hand und schiebt sie davon. „Ja. Ja. Wir sind kein Paar mehr. Du hast kein Interesse mehr und urplötzlich sind dir meine Annäherungen unangenehm...Ich weiß, ich weiß.“, meckert sie. „Nicht schon wieder... So habe ich es nie gesagt“, entflieht es Kain genervt und er streicht sich mit der kompletten Hand einmal über den Mund. „Nicht in dem Wortlaut, aber ich weiß, wer dir das eingeredet hat.“ „Ach kommt, das ist nicht wahr und selbst, wenn es so wäre, geht es dich nichts an.“ „Aber den Nerv, mich um Dinge zu bitten hast du noch...“ „Ich bitte vielmals um Entschuldigung, weil ich davon ausging, dass ich dich ohne Gegenleistung um einen kleinen Gefallen bitten kann.“, perlt es sarkastisch von seinen Lippen. Ein Gefallen? Worum er sie wohl gebeten hat? Gefallen sind nie gut. Ich merke, wie sich meine Zehen unruhig auf und ab bewegen und dabei gegen das harte Material des Schuhs drücken. Sie verkrampfen sich, als sie sich eine gefühlte Ewigkeit lang nur anstarren. „Okay, du hast gewonnen. Ich melde mich bei dir, wenn ich was weiß.“ „Danke. War das wirklich so schwer?“, entgegnet Kain leicht grollend. Er greift nach ihrer Hand als dankende Geste und das rothaarige Biest lässt es sich nicht nehmen, diese kleine Geste vollkommen auszukosten. Zusätzlich drückt sie ihm einen Kuss auf die Wange, als es der Moment zu lässt, den Kain mit einem weiteren genervten Entfliehen ihres Namens kommentiert. Ich beiße die Zähne zusammen und obwohl ich ganz genau höre, dass er damit nicht einverstanden ist, reißt mich das hässliche Gefühl mit sich. Es brodelt und schwelt, allerdings bin ich diesmal beherrscht genug, um mich davon nicht zu einer Dummheit provozieren zu lassen. Also trete ich an die frische Luft und atme tief ein. Es hilft. Ein bisschen. Die Kälte der Nacht ist eine Wohltat für mein erhitztes Gemüt. Ich hasse das Biest trotzdem. Und ich hasse, dass Kain weiterhin Kontakt zu ihr hat. Ich hasse, dass sie mich derartig beeinflussen kann und das ich nicht fähig bin, es zu vergessen. Sie ist nur eine Ex. Nicht mehr und nicht weniger. „Fuck!“, murre ich in die Nacht und merke, wie mich das Rauchen-Bedürfnis vollkommen übermannt. Ich finde schnell jemanden, von dem ich mir eine Zigarette schnorren kann. Während er mir beim Anzünden assistiert, versucht er es mit Small Talk und lässt sich zu meinem Glück mit wenigen ´Hm´ und ´Ahas` und Gesten zu friedenstellen. Ich ziehe den Rauch tief in meine Lunge, spüre das beißende Kitzeln und merke keinerlei Befriedigung. Ich kriege sogar ein schlechtes Gewissen, weil ich sowohl Jeff, meiner Schwester und manch anderen wiederholt zugesichert habe, dass ich wirklich aufhöre. Gut, ich meinte, ich gebe mir Mühe und das tue ich. Die meiste Zeit jedenfalls und vor allem dann, wenn Kain nicht mit Rothaarigen spricht. Bevor der Zigarettenkerl geht, erbettele ich mir eine weitere und behalte sie erstmal in der Hand. Als ich allein bin, sehe ich automatisch die Straßen entlang, aus der wir vorhin hierhergekommen sind. Flucht, schreit es in Großbuchstaben in meinem Kopf. Ich würde am liebsten einfach gehen und all diese idiotischen Gedanken ignorieren. Doch ich weiß, dass es nichts an der Situation ändert. Wie hat es ein weiser Indianer einst gesagt: Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden. Und das trifft den Nagel auf dem Kopf und lässt mich Ernüchterung spüren. Noch dazu bin ich selbst schuld daran. Es ist eine selbst herbeigeführte Schwebe, weil ich noch immer nicht laut ausgesprochen habe, was ich will und vielleicht auch erwarte. Obwohl mich Kain danach gefragt hat. Obwohl ich ganz genau begreife, warum mir jedes Auftauchen der Rothaarigen ein Loch in die Brust brennt. Obwohl ich seit Wochen wieder und wieder diese Diskussion mit mir selbst führe. Wie uneins kann man sich eigentlich sein? Es kann nicht gesund sein, aber ich schaffe es einfach nicht, die scharfe Stimme in meinem Kopf zu verdrängen, welche mich davor warnt, mich zu sehr fallen zu lassen. Auch Kains Bekundung hatte nichts daran geändert, dass mich die Unsicherheit schier auffrisst. Ich bin so zwiegespalten wie eh und je. Aber trotzdem ist die Stimme auch etwas leiser geworden. Etwas versöhnlicher. Ob sie jemals verstummt? Vielleicht wird sie das nie. „Robin?“, fragt jemand hinter mir. Ich wende mich erschrocken um und sehe mich einer hübschen Chinesin gegenüber, deren Gesicht mir sofort bekannt vorkommt. Trotzdem funktionieren meine Gesichtserkennung und mein Namensgedächtnis wieder mal nur mittelmäßig. Anscheinend sieht sie, wie sich meine Gehirnwindungen abmühen. „Kara. Kara Wang.“, klärt sie auf. Es klickt. „Ah, entschuldige bitte. Ich habs nicht so mit Namen.“, gestehe ich ehrlich. Sie ist ebenfalls Autorin und eine meiner stärksten Konkurrentinnen im Verlag. Ich traf sie das erste Mal bei dieser aberwitzigen Symposiumsbesprechung, zu der mich Brigitta gezwungen hat. Damals hatten wir Telefonnummern ausgetauscht, aber weiter keinen Kontakt gehabt. „Schon gut.“, beschwichtigt sie und winkt ab. „Was machst du hier?“, frage ich nach einem Moment des Zögerns und Wunderns. Sie hier anzutreffen, ist mehr als eigenartig und unerwartet. „Ich bin auf einer Party.“, entgegnet sie lapidar, „Marika ist eine Freundin von mir... die Veranstalterin?“ Die ich nicht kenne, da ich selbst lediglich ein Mitbringsel bin. Ich scheine weiterhin recht dämlich aus der Wäsche zu gucken, denn ohne, dass ich sie auffordere, setzt sie weitere Erklärungen hinterher. Sie hat ebenfalls hier an der Uni studiert und ist mittlerweile graduiert. Sie ist noch in der Stadt gemeldet, lebt aber überwiegend bei ihrem Partner außerhalb. Das Schreiben vereinfacht die Ortsunabhängigkeit und das kann ich nur abnicken. „... und Brigitta hat sowieso ihre Wege, um zubekommen, was sie will...“ Damit endet ihre Plauderattacke und sie lacht auf. Ich kann es nur bestätigen und schiebe mir die ungerauchte Zigarette hinters Ohr, die bis eben noch meinen unruhigen Fingern ausgesetzt war. Ein paar der Tabakkrümel sind zu Boden gerieselt und ich kann das Aroma deutlich riechen. „Denkst du auch manchmal, sie hat einen sechsten Sinn?“, frage ich Kara und spiele darauf an, dass Brigitta das Talent hat, immer dann anzurufen, wenn man es am Wenigsten gebrauchen kann. „Sieben... den Nervsinn noch dazu.“ Nun lache ich. Es führt eins zum anderen und ich finde mich in einer unerwarteten echten Unterhaltung wieder. Es ist eine nette Abwechslung, mal mit jemanden über diesen Teil meines Lebens plaudern zu können. Zwar weiß Kain von meinem Autorendasein und auch Brigitta ist er zu meinem Leidwesen schon begegnet, aber trotzdem versuche ich das Thema in seine Anwesenheit weitestgehend zu meiden. „Brigitta in all ihrem Größenwahn“, gebe ich wissend von mir, als Kara von einer weiteren Schote berichtet. Ich sehe, wie ihr Gesicht von Sekunde zu Sekunde entspannter und amüsierter wird. „Sie ist ein Pitbull.“, bestätigt sie lachend. „Oh ja.“ Kara hat viele ganz ähnliche Erfahrungen mit unserer gemeinsamen Lektorin gemacht. Gute, verrückte und auch schlechte. Aber grundsätzlich sind wir beide voller Lob für sie. Ich weiß nicht, wie lange wir letztendlich zusammenstehen, doch nach einer Weile wechseln wir zurück in den Flur, weil es dort wärmer ist und bald darauf wird sie von einer Freundin mit kirschroten Haaren weggeschnappt. Ich werfe einen Blick auf mein Handy und stelle fest, dass sowohl Jeff als auch Kain versucht haben, mich zu erreichen. Eine Antwort bekommt keiner von beiden. Jeff, weil er mich nervt und Kain, weil ich noch immer Frustrationen darüber schiebe, dass er, statt dem Drachen dem Kopf abzuschlagen, mit ihr geliebäugelt hat. Ich benehme mich wie ein Idiot und fühle mich auch so. Es ist ernüchternd und ätzend. Das Handy wandert ungenutzt zurück in meine Hosentasche und ich erklimme die Treppe, um in dieselbe Wohnung zurückzukehren, in die man mich zuerst verfrachtet hat. Der Anblick, welches sich mir bietet, hat sich nicht geändert. Ich habe sogar das Gefühl, dass dieselben Leute an den gleichen Stellen stehen, wie vorhin. Wieder trabe ich in die Küche, finde den Wodka diesmal ohne große Suche und fülle ein neues Glas mit der klaren Flüssigkeit. Zunächst schnuppere ich daran und bin mir sicher, dass ich danach keine Nasenhaarentfernung mehr nötig habe. Nach dem ersten paar Schlucken fühle ich alsbald das vertraute warme Kribbeln in meinen Gliedmaßen und den feinen Nebel, der sich in meinem Gehirn ausbreitet. Ich bin ein Leichtgewicht, was den Alkohol betrifft und merke es deutlich. Es ist genau das, was ich will und brauche. Ich leere das Glas in einem großen Zug und ächze. Er schmeckt so scheiße. „Was würdest du für den kleinen Hunger zwischendurch empfehlen? Brezeln, Erdnussflips oder Mäusespeck?“, fragt mich eine liebliche Stimme und ich schaue zu der Person, die neben mir aufgetaucht ist, wie ein hübscher kleiner Geist. Shari hält eine Dose Cola in der Hand, beäugt die Knabbereien und stupst mir auffordernd mit der eigenen Schulter gegen den Arm. Ich bin wie schon so oft für einen Moment von der naiven Schönheit verzaubert, die sie umgibt. Ihre langen schwarzen Haare trägt sie weitestgehend offen. Nur an den Seiten erkenne ich filigran geflochtene Zöpfe, die am Hinterkopf zusammenführt sind und dort offen in sanften Wellen hinab fließen. Ich spüre den Scheiterhaufen deutlich unter meinen Sohlen brennen, während mein Gehirn äußerst unanständige Dinge malt. Ich würde in Flammen aufgehen, wie ein Feuerball und ohne weiteres verpuffen. Schon allein wegen des Alkohols. „Chips mit Pizzageschmack?“, gebe ich von mir, mehr fragend als ratend und greife nach der erspähten Tüte. Ich runzele die Stirn, als ich erneut die Geschmacksrichtung erlese. Pizzageschmack? Was ist mit Paprika und Salz passiert? „Du sollt meine Palette nicht erweitern, sondern konstruktiv reduzieren“, bemerkt sie lachend und nimmt damit jeglicher Grübelei die Luft zum Atmen. Shari trägt eine langärmelige hellrote Bluse mit kleinen weißen Punkten und eine schlichte dunkelblaue Jeans, die etwas zu groß ist, aber ihrer Silhouette keinen Schaden zufügt. Als sie sich einen Erdnussflip zwischen die schönen Lippen steckt und vorher mit der Zungenspitze dagegen stupst, fühle ich bereits den obligatorischen Zuckerschock, den sie mir stets verpasst. „Ich glaube kaum, dass meine Meinung Gewicht hatte. Deine Entscheidung war längst gefallen.“, sage ich und deute auf die Erdnussknabberei, die in ihrem Mund verschwindet. Shari grinst bestätigend und vertilgt einen weiteren Flip. „Und bei dir alles okay?“, fragt sie neugierig und linst in das leere Glas in meiner Hand. „Ja, alles prima.“, sage ich einen Tick zu euphorisch. Sie glaubt mir kein Wort. Ich versuche es mit einem Lächeln und verschlimmere es nur noch. „Wow, dein Blick ist derselbe wie damals, als ich den chemischen Aufbau von D-Glucose und D-Galactose verwechselt habe.“, zwitschert sie giggelnd. Ich fasse mir getroffen an die Brust, als sie das Monosacchariden-Desaster aus dem Tutorium erwähnt und keinerlei Reue zeigt. „Genau in die Wunde... Shari, welch Frevel.“, gebe ich getroffen von mir. „Der Aufbau sieht bis auf eine Stelle vollkommen gleich aus“, beschwert sie sich und führt damit die Diskussion weiter, die wir auch damals begonnen hatten. Ich weiche auch jetzt keinen Millimeter von meiner Position ab. Sie klopft mir mit der flachen Hand gegen das Schlüsselbeinende meiner Schulter, so als würde es ihr Argument verstärken. Keine Chance. „Gar nicht wahr. Es ist, als setzt du Eisbären mit Erdbeeren gleich.“, wimmere ich theatralisch und höre mit Genugtuung, wie die hübsche Inderin bei dem Vergleich aus vollem Halse zu lachen beginnt. Sie zieht etliche Blick auf sich und ich verstehe gut, wieso. Sie ist zauberhaft, lacht unbedarft und ohne Scheu. Noch immer giggelnd schlägt Shari sich die Hände vor den Mund und verbirgt so, dass einige feuchte Erdnussflipskrümel an ihren Lippen und Zähnen kleben. Ich spiele mit dem leeren Glas und entscheide, dass ich noch mehr Wodka brauche. Kurzentschlossen greife ich nach der Flasche und fülle zwei Fingerbreit ins Glas. Als sie sich beruhigt, streicht sie sich mit der Hand über den Mund. „Mit dir macht studieren wirklich Spaß“, flötet sie und meint es so. „Und schön, dass du hergekommen bist. Ich war mir nicht sicher, ob ich dich wirklich erweichen konnte.“ „Du warst ein weiterer Tropfen auf dem heißen Stein. Mein Mitbewohner fing schon vorher an mich deswegen zu nerven.“ Ich mache eine ausladende Geste durch den Raum, die mit Sicherheit auch Jeff einschließt, der sich irgendwo in diesem Haus rumtummelt. „Jeff, oder? Der süße Blonde?“ Ich beiße bei der Beschreibung meines Jugendfreundes sichtbar skeptisch die Zähne zusammen und lache kurz auf. Jeff ist ja vieles, aber süß? Okay, in den Augen einer 20-Jährigen ist Jeff möglicherweise süß. Das gestehe ich ihr zu, wenn man ihn jedoch wiederholt schnarchen gehört hat, dann weicht das liebliche Bild schnell einem Albtraumszenario. Shari piekt mir ihren Finger in die Seite und kichert herzerwärmend. Anscheinend kann heute jeder meine Gedanken lesen. Außer Kain. „Ja, genau. Jeff.“, bestätige ich nun doch noch, „Aber ich beschreibe ihn eher mit chaotisch, nervig und nicht mit süß.“ Shari lächelt, greift sich ein paar neue Flips und hebt ihre Hand in meine Nähe. Ich nehme einen Schluck vom Wodka und greife mir eines der dargebotenen Knabbereien. Meinen Magen neben dem Wodka noch etwas anderes zu präsentieren, ist vielleicht gar keine schlechte Idee. „Er versteht sich sehr gut mit Jake, oder?“, sagt Shari plötzlich und legt dabei ihren hübschen Kopf schief. Ihr grübelnder Gesichtsausdruck und der forsche Blick wundern mich. Doch als sie sich einen weiteren Erdnussflip in den Mund steckt, werden ihre Augen wieder weich. Sie knuspert fröhlich vor sich hin und ich frage mich, was ich mit dieser Aussage anfangen soll. „Ich bin sehr froh, dass er nach Mark endlich wieder jemand Interessantes gefunden hat.“, sagt sie, ohne dass ich letztendlich nachhaken muss. Ich nicke beständig, bis mir klar wird, was sie gerade geäußert hat. „Warte kurz! Jake und Mark?“ „Ja, die beiden hatten im vorletzten Sommer so ein Ding am Laufen“, sagt sie unaufgeregt, Mark? Mister Sweety? Interessant. Ich grinse schief. Ein Ding laufen haben. Ich verstehe ganz genau, was diese Beschreibung meint und stelle daher keine weiteren Fragen. „Sollte ich Jeff vor irgendwas warnen?“, frage ich stattdessen. Da Mark augenscheinlich mit Honey zusammen ist, ist es wohl mit dem ITler nicht gutgelaufen. Vielleicht kommt daher Jakes´ Zurückhaltung? „Hm? Nein, wieso?“ fragt sie zuckersüß und so herzerwärmend naiv, dass ich verzweifelt die Augen schließe. Unfassbar. Ich höre, wie sie sich einen weiteren Snack in den Mund schiebt und sehe dann dabei zu, wie sie ihre Finger sauber leckt. Shari macht mich fertig. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass mich irgendeine dieser höheren Kräfte wirklich hassen muss. Abgrundtief und bösartig. Anders kann ich es mir nicht erklären. Shari ist im Grunde ein Klischee schlechthin. Naiv, aber unbeschreiblich sexy. Sie ist allerdings nicht dämlich, so wie es gern in etlichen Romanen kombiniert wird. Was wiederum sehr beruhigend ist, weil sie nicht Gefahr läuft, blindlings irgendwo reinzurennen und es später zu bereuen. „Jake ist ein Guter...“ „Gut zu wissen.“, sage ich schlicht und hänge meinen Gedanken nach. „Genau, wie Kain...“ Nun sehe ich sie verwundert an und sie deutet hinter mich zum Übergang zum Wohnzimmer. Im nächsten Augenblick suchen meine Augen schon nach dem Angesprochenen und finden ihn überraschend schnell. Kain steht zusammen mit einem seiner Kommilitonen ein paar Meter von mir und Shari entfernt und als würde er es bemerken, sieht er auf. Sein Blick wandert von mir zu Shari. Ihr schenkt er ein Lächeln und einen übertriebenen Winker. Es fehlt nur noch ein Zwinkern. Dann lächelt er für mich und es lässt etwas in meinen Bauch vibrieren. Das Gefühl ist tief und warm und es arbeitet sich bis in die kleinsten Fasern meines Körpers vor. Meine Fingerspitzen kitzeln. Meine Zehen pulsieren und ich fühle mich für einen Moment, als wäre ich aus einem meiner verdammten Kitschromane gefallen. Erschießt mich doch endlich. Ich wende mich ab und sehe zu Shari. Es wird nicht besser. Auch sie lächelt mich an und der Stein in meiner Brust hüpft aufgeregt. Verräterisch. Ich stelle seufzend mein Glas auf der Arbeitsfläche ab, entschuldige mich bei Shari und gehe auf Kain zu, während mir das auffällige Kichern der hübschen Inderin folgt. Neben ihm bleibe ich stehen, schaue bewusst an ihm vorbei und warte so lange, bis Kains vormaliger Gesprächspartner das Weite sucht. Etwas meines besonderen Charmes ist mir doch noch erhalten geblieben. „Hey du, doch noch da?“, begrüßt mich Kain locker und sieht dem anderen nur kurz nach. „Jap.“ Ich lasse das P ploppen. „Jeff war der Überzeugung, dass du heimlich einen Abflug gemacht hast... und sein wir mal ehrlich, du hättest das definitiv drauf.“, erzählt er und lehnt sich lässig an die Wand. Das erklärt die Anrufe. Vermutlich hat mein Zimmerkumpan wieder gedacht, ich könnte irgendwo im Graben vor mich hin verwesen oder derartiges. Jeff ist schrecklich theatralisch. Er dachte wohl auch, dass ich ihn ignorieren würde, Kain aber nicht. Falsch gedacht. „Und ich war mehrmals kurz davor...“, gestehe ich ohne weiteres. „Ach ja?“ „Ja, immerhin warst du unauffindbar und hier sind überall Menschen. Jeff nervt. Und... Menschen... du weißt schon...“, beende ich die Aufzählung der allgegenwärtigen Vermeidungsgründe und sehe auf. „Immer diese Menschen!“, kommentiert er, „Sie haben dich gefressen, wie ich sehe... bei lebendigem Leib.“ Nicht witzig. Ich lache falsch auf. Während Kains Augenbrauen mehrfach neckend nach oben Zucken und er wissend grinst. Ich greife nach dem Zipper seines Reißverschlusses und weiß nicht so recht, was ich hier eigentlich mache. Ich weiß nicht mal, wieso ich überhaupt das Bedürfnis verspürt habe, zu Kain zugehen. Was erwarte ich von ihm? Dass er mich rettet? Dass er den Abend damit verbringt, sich meine schlechte Laune an zu tun? Nein, das ist es nicht, was ich will. Ich lasse den Zipper wieder los, hafte meinen Blick auf den diagonalen Reißverschluss und verschränke die Arme locker vor meinem Bauch. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass du dich langweilst...“, sagt er und ich sehe auf, „Du hast dich draußen recht angeregt mit jemanden unterhalten.“ Kain hat mich mit Kara gesehen. Hat er mich gesucht? Im nächsten Augenblick greift er nach der Zigarette hinter meinem Ohr und nimmt sie zwischen Zeige- und Mittelfinger. Ertappt. Ich greife danach, doch er weicht dem Versuch gekonnt aus. „Und Shari und du habt euch auch gut amüsiert. Nicht wahr?“, bekundet er in einem lockeren Tonfall und seine Augen haften sich an meine Lippen. Ich erkenne die andere stille Frage ebenso deutlich und schmecke gleich darauf kalten verräterischen Rauch auf meiner Zunge. Er ist bitter. „Ist ne Party, oder? Das sollte ich doch. Also, Unterhaltungen führen, Spaß haben... etcetera pp“, wiederhole ich monoton all die Dinge, die mir Jeff und Kain auf den Weg hierher eingetrichtert haben. Kain hatte auch ohne mich seinen Spaß à la `Drachenzähmen leicht gemacht´, wieso also sollte ich mich rechtfertigen? Ich sehe Kain unverwandt an und erkenne einen seltsamen Ausdruck in seinen warmen, braunen Iriden. Ich würde gern wissen, was gerade in seinem Kopf vorgeht und schaffe es dennoch nicht, die Frage zu auszusprechen. „So, so. Du tust also nur, was wir dir aufgetragen haben, ja? Nun gut, dann wirst du folgerichtig jetzt mit mir tanzen...“ „Oww, nein, ... nein, das ist nicht die Schlussfolgerung daraus.“, sage ich entgeistert und schüttele vehement meinen Kopf. Kains Grinsen wird immer breiter, wenn nicht sogar etwas perfide. Er nickt passend zu meiner verneinenden Geste. Wir müssen selten dämlich aussehen. „Oh, doch...“ „Nicht wirklich...“ „Aber tanzen macht Spaß.“ „Nicht wirklich!“, wehre ich mit demselben Wortlaut ab. Unbewusst greife ich abermals nach Kains verführerisch wirkenden Reißverschlusszipper. Ich selbst habe nichts an mir, woran ich ablenkend pfriemeln könnte. Ich öffne den Reißverschluss seiner Strickjacke durch die Bewegung etwas mehr und lege das T-Shirt-Motiv frei. Das Batmanemblem. Kurz blicke ich auf und sehe Kain schmunzeln. Den passenden Gürtel trägt er heute nicht und es ist auch gut so, denn daran kann man sich auch perfekt festhalten. Ich verkneife mir ein Lächeln. Nun bin ich fast glücklich darüber, dass hier so viele Leute rumrennen, denn niemand nimmt von uns Notiz. „Was wird das? Versuchst du gerade zu flirten?“, erkundigt sich Kain, nachdem er eine Weile meine wandernden Finger beobachtet. Ich stocke, weil mir mit einem Mal bewusst wird, dass die Rothaarige vorhin fast dasselbe getan hat. Ein kalter Schauer erfasst mich mit der vollen Ernüchterung. „Nicht wirklich.“, entgegne ich schnell und ziehe meine Hand weg. „Doch, doch, du versuchst zu flirten, um nicht mit mir tanzen zu müssen.“, sagt er amüsiert. Ich beiße mir auf die Unterlippe und weiche seinem Blick aus. So lange, bis ich spüre, wie er sich dichter zu mir heranbeugt und sein Atem kitzelnd meinen Hals trifft. „Du weißt schon, dass ich es dadurch nur noch mehr will.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)