Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 12: Runterkommen ------------------------ Ich schwamm. Wurde von den Wellen hin und her geworfen wie ein Stück Treibholz. Eine Zerbrochene Planke. Eine Eisscholle irgendwo auf dem weiten Meer. Die Wassermassen schoben mich mal hier- und mal dorthin. Ich war ihnen hilflos ausgeliefert. Hatte keinen Einfluss mehr auf mein Schicksal. So kam es mir zumindest vor, als ich Benedikt stumm folgte.   Er lotste mich den Hügel hinab und am Küchengebäude vorbei in die entgegengesetzte Richtung der Zelte. Am Rand des Parkplatzes angekommen, wo die schmale Zufahrtsstraße in einen Feldweg überging, hielt er an.   „Wald oder Wasser?“, wollte er wissen.   Ich musste an Reike denken.   „Wasser“, antwortete ich schnell.   Ich brauchte jetzt Landschaft und Weite um mich herum. Gleichzeitig hätte ich mich am liebsten irgendwo in einem Loch zusammengerollt und wäre gestorben. Was hatte ich getan? Ich hatte mich Benedikt offenbart. Ausgerechnet ihm. Hatte ihm dabei gleich noch einmal wehgetan. Denn nun wusste er, dass ich ihn ohne Grund zurückgewiesen hatte. Dass es lediglich meine Angst gewesen war, die mich zurückgehalten hatte. Die Angst, die Unsicherheit und meine eigenen Lügen, mit denen ich mir Augen und Ohren verstopft hatte. Doch er … er hatte es schon immer gewusst. War sich schon immer sicher gewesen. Ich wusste es irgendwie.   Und jetzt?   Jetzt kam ich daher und heulte ihm die Ohren voll, weil ich auf Männer stand. Als wäre das etwas Schlimmes. Eine unheilbare Krankheit. Etwas, dessen man sich schämen musste. Dass er mir deswegen nicht ins Gesicht gespuckt hatte, wunderte mich eigentlich. Meine überzogene Reaktion war so dermaßen daneben, dass ich kurz davor war, mich umzudrehen und einfach davonzulaufen. Immer weiter und weiter, bis ich irgendwann umfiel und nicht mehr aufstand. Allein die Tatsache, dass ihm das noch deutlicher gezeigt hätte, wie erbärmlich ich war, ließ mich weiter einen Schritt vor den anderen machen. Unter meinen Füßen festgefahrener Sand und Steine. Ein Grasstreifen in der Mitte des Weges teilte ihn in zwei nahezu gleiche Hälften. Am Rand wuchs das Schilf, hinter dem man in der Ferne noch die Stimmen der Kinder und Kilians lautes Rufen hören konnte, mit dem er die Bande wieder aus den Zelten trieb. Zum Glück waren die Pflanzen so hoch, dass uns niemand sehen konnte. Auf der anderen Seite öffnete sich eine brachliegende Wiese. Dazwischen schlängelte sich der Weg weiter in eine unbekannte Ferne.   Einen Augenblick lang war ich versucht, Benedikt zu fragen, ob er wusste, wo es hier hinging. Aber dann ließ ich es bleiben. Es gab weitaus wichtigere Fragen zu klären. Gleichzeitig wäre mir jedes Thema lieber gewesen als das, das wie eine dicke, drohende Wolke über uns hing. Ich wartete nur darauf, dass das Unwetter losging und sich mit Donner, Blitz und Hagelschauern über mir entlud. Aber es kam nicht. Stattdessen gingen wir weiter und weiter und weiter, bis ich es irgendwann nicht mehr aushielt.   „Willst du nicht mal irgendwas sagen?“   Benedikt wurde ein wenig langsamer. Eigentlich hatte ich die ganze Zeit entweder meine Füße, den grasüberwucherten Weg oder den Schilfgürtel zu meiner Rechten angestarrt. Jetzt, da er mich ansah, hob ich ein wenig den Kopf, wagte aber nicht, ihm in die Augen zu schauen. „Ich?“, fragte er in leicht erstauntem Tonfall. „Ich dachte, du wärst derjenige, der etwas auf dem Herzen hat.“   Ich schwieg statt zu antworten. Natürlich hatte er recht. Aber womit sollte ich anfangen? Nach diesem mehr als peinlichen Start wusste ich einfach nicht, was ich jetzt sagen sollte. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich die Zeit einfach um eine halbe Stunde zurückgedreht und wäre auf dem Sofa sitzengeblieben, aber das ging nun nicht mehr. Ich hatte das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und den Zuber gleich noch hinterher geworfen. Jetzt war die Katze aus dem Sack und somit alles zu spät. Ich konnte nicht mehr zurück.   „Ich … ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, gestand ich daher leise ein. „Ich komme mir gerade schrecklich dämlich vor.“ „Warum? Weil du schwul bist?“ „Nein, weil ich so einen Aufriss davon mache. Du hast das alles so viel besser im Griff.“   Ich hörte an den knirschenden Steinen unter seinen Schuhen, dass er stehengeblieben war. Er schnaufte. „Man, Theo“, meinte er, während ich noch ein paar Schritte weiterging, um dann auch mit hängendem Kopf zu verharren. Ich schämte mich so.   Das Gefühl wurde auch nicht besser, als meine Augen schon wieder zu schwimmen begannen. Jetzt bloß nicht wieder heulen. Alles, nur das nicht.   „Das ist doch kein Wettbewerb“, sagte er und kam langsam näher. „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der beste Schwule im ganzen Land, oder was? Hör auf so einen Blödsinn zu erzählen. Ich hab überhaupt nichts im Griff.“   „Doch!“, widersprach ich ihm heftig und viel lauter, als ich eigentlich gewollt hatte. „Du bist darin so verdammt viel besser, dass ich … dass ich …“   Mir fiel einfach nichts ein, um meinen Standpunkt zu unterstreichen. Dafür kiekste meine Stimme schon wieder. Scheiße!   „Hey“, sagte er plötzlich gleich neben mir und berührte mich am Arm. „Jetzt komm mal wieder runter. Niemand will dir was Böses. Ich hab einfach gesehen, dass es dir nicht gutgeht, und ich dachte, es hilft dir vielleicht, wenn du mit jemandem darüber reden kannst. Aber wenn du nicht reden willst, ist das auch okay. Dann gehen wir einfach noch ein Stück und nachher wieder zurück. Einverstanden?“   Ich nickte stumm und wir setzten uns wieder in Bewegung. Wortlos liefen wir nebeneinander den Weg entlang, der, wie es aussah, um den ganzen See herumführte. Zumindest machte er jetzt, da wir den äußersten Rand der Wasserfläche erreicht hatten, einen Knick und folgte dem Uferverlauf.     Irgendwann, nachdem wir schon fast die andere Seite erreicht hatten, fand ich meine Sprache wieder. „Tut mir leid“, murmelte ich. „Ich … ich bin momentan ziemlich durch den Wind.“ „Kann ich mir vorstellen.“ „Ach ja?“ „Ja, klar. Ging mir damals nicht anders, als ich es das erste Mal jemandem erzählt habe.“   Ich sah auf. Von der Seite konnte ich ein leichtes Schmunzeln erkennen, das in seinen Mundwinkeln saß. Er warf mir einen kurzen Blick zu, woraufhin ich schnell wieder den Kopf senkte. Ich konnte ihn jetzt nicht ansehen.   „Ich hab’s meiner Mutter gebeichtet, als wir damals von der Klassenfahrt zurückgekommen sind. Ich war da einfach an einem Punkt angekommen, an dem ich mich nicht mehr verstecken wollte. Keine Lügen mehr erzählen. Zumindest nicht den Leuten, die mir wichtig sind.“ Er lachte kurz. „Wobei ich gerade vergesse, dass ich es eigentlich Anton zuerst erzählt habe, aber dessen Reaktion war so unspektakulär, dass ich mich heute noch darüber amüsieren könnte.“   Unwillkürlich musste ich dabei auch ein wenig lächeln. Anton war Benedikts bester Freund und ein Nerd, wie er im Buche stand. Bewundernswerterweise machte er sich überhaupt nichts daraus und nicht mal die Tatsache, dass er per Attest vom Sportunterricht freigestellt war, hatte seinem Ego irgendetwas anhaben können. Ich ahnte, warum Benedikt ihn mochte, auch wenn wir beide noch nie ein längeres Gespräch miteinander geführt hatten. „Wie hat er denn reagiert?“, fragte ich vorsichtig nach. „Er wusste es schon.“ „Was?“   Schockiert sah ich Benedikt jetzt doch an, aber der zuckte nur mit den Achseln. „Er hat damals gemeint, es wäre ziemlich offensichtlich gewesen und ob ich ne Liste der Anzeichen wollte. Ich hab mich dann aber doch damit zufrieden gegeben, dass es ihm schlichtweg nichts ausgemacht hat. Außerdem hatten wir dann Wichtigeres zu besprechen. „Ach ja? Was denn?“ „Ähm … also … ach, nicht so wichtig. Viel wichtiger ist doch, was jetzt mit dir ist? Weiß es bei dir schon jemand?“   Ich schüttelte den Kopf und sah wieder nach unten. Irgendwie wusste ich gerade nicht, wie ich es finden sollte, dass Benedikt nicht wenigstens einmal „bist du dir sicher“ gefragt hatte. Wobei … hätte er es gefragt, wäre ich vermutlich ebenfalls beleidigt gewesen. Immerhin hatte ich mit ziemlicher Sicherheit nicht ausgesehen, als würde ich Witze machen.   „Mhm“, machte Benedikt und ich war mir nicht sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes „Mhm“ war. Vielleicht ein bisschen von beidem.   „Dann bin ich der Erste, dem du es erzählt hast?“   Wieder nickte ich. Erzählt war zwar vermutlich das falsche Wort für meinen Ausbruch, aber ja, es stimmte. Er war der Erste und bisher Einzige, dem ich es erzählt hatte. Wobei das bisher in diesem Satz mir mehr Angst machte, als ich zugeben wollte. Das implizierte schließlich, dass noch andere folgen würden. Aber wann? Und wie? Die Beantwortung dieser Fragen überstieg gerade meine Vorstellungskraft. Warum war ich nicht einfach anonym geblieben? Ich hätte mich unter falschem Namen bei irgendeiner Internetplattform anmelden können, um mich dort mit irgendwem auszutauschen. Mit Leuten, die von der Scheiße, die ich verzapft hatte, nicht betroffen waren so wie Benedikt.   „Tut mir leid.“   Ich sah aus den Augenwinkeln, dass er die Stirn runzelte. „Was? Dass du es mir erzählt hast?“ „Ja. Nein. Ich … ich hätte dich da nicht mit reinziehen sollen.“   Er ließ geräuschvoll die Luft entweichen. „Also um ehrlich zu sein … Luftsprünge mache ich nicht gerade deswegen. Ich hab zuerst echt gedacht, du verarschst mich. Aber als ich begriffen habe, dass es dir ernst ist, da hab ich … ich hab mir gedacht, dass du einfach erst mal Hilfe brauchst. Dir eine reinhauen, weil du dich wie ein Arsch verhalten hast, kann ich später immer noch.“   Ich musste gegen meinen Willen lächeln. „Ich dachte, du bist nicht mehr wütend auf mich.“ „Na ja, das war ja auch, bevor du mir erzählt hast, dass du schwul bist. Das ändert so einiges an der Sachlage.“   Sein süßsaurer Gesichtsausdruck ließ mich wieder in die andere Richtung blicken. Ich hatte also recht gehabt. Er war deswegen verletzt.   „Tut mir leid“, sagte ich. Schon wieder. Vermutlich würde ich diesen Satz in nächster Zeit noch sehr viel öfter gebrauchen.   Benedikt schnaubte neben mir.   „Man, Theo! Hör auf, dich dauernd zu entschuldigen. Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass du es nicht besser gewusst hast. In dubio pro reo und so. Ist zwar schon ein ziemlicher Hammer, dass du das so lange Zeit nicht mitgeschnitten hast, aber du warst ja noch nie so die hellste Kerze auf der Torte.“   Obwohl ich ahnte, dass er damit auf meine schulischen Leistungen anspielte, ließ ich den Kopf noch ein wenig tiefer hängen. Ich wusste, dass ich mich wiederholte, aber ich hatte es wirklich gründlich verbockt. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn er mir wirklich eine reingehauen hätte. Oder ich das hätte selbst erledigen können. Ich war so dumm, so dämlich, so …   Benedikt stieß mich an und holte mich damit wieder aus meiner düsteren Gedankenschleife. „Hey, alles in Ordnung? Du sahst gerade so aus, als würdest du gleich jemanden ermorden.“   Ich schaute ihn an und war in Versuchung zu erwidern, dass das vielleicht gar keine schlechte Idee war und ich ja bei mir damit anfangen könnte. Mir war jedoch bewusst, dass ich das nur gesagt hätte, damit er mir widersprach. Damit er Mitleid hatte oder so. Mich nochmal in den Arm nahm und mir ganz besorgt ins Ohr flüsterte, dass man über so was keine Witze machte. Das wollte ich nicht. Es wäre noch erbärmlicher gewesen als sowieso schon. Ich musste endlich aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken. Das Dumme an der Sache war nur, dass ich, wenn ich das nicht tat, ich nicht wusste, wo mir selbiger stand. Ohne das war ich sozusagen kopflos. Planlos. Ich wusste einfach nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Nicht so wie zuvor, das stand schon mal fest. Aber wie dann? Wie sollte ich aus diesem Gefängnis ausbrechen, das ich mir selbst gebaut hatte, ohne dabei alles in Schutt und Asche zu legen. Mit Sicherheit würde ich dabei nur noch mehr Menschen verletzen. Menschen, die, wie Benedikt schon gesagt hatte, mir etwas bedeuteten. Bei einem hatte ich das ja schon mal geschafft.   „Ich bringe niemanden um“, sagte ich schließlich ein wenig lahm. „Ich hab nur einfach keine Idee, wie ich den ganzen Mist wieder ausbügeln soll, den ich da angestellt habe. Und ich hab Angst, wie die anderen reagieren, wenn sie es rausbekommen. Ich kann das einfach nicht.“   Benedikt machte wieder dieses Geräusch, das irgendwo zwischen schwerem Atmen und Seufzen lag. Das machte er öfter in meiner Gesellschaft.   „Ist schon keine leichte Entscheidung. Hast du dir schon überlegt, bei wem du anfängst?“   Überlegt? Das klang ja so, als ginge er davon aus, dass ich das Ganze hier geplant hätte. Dabei hatte ich das nicht. Nichts davon. Es war einfach so über mich gekommen und ich bereute es, auch wenn ich ein ganz kleines bisschen erleichtert war, endlich mal mit jemandem darüber reden zu können. Selbst wenn derjenige eigentlich allen Grund gehabt hatte, nie wieder ein Wort mit mir zu wechseln.   „Als Erstes müsste ich es wohl Mia sagen. Ich … ich kann ja nicht einfach … weiter mit ihr zusammensein, obwohl … na ja.“   Ich sah ihn ein wenig hilflos an. Benedikt seufzatmete wieder. Ich konnte sehen, dass ihm etwas auf der Zunge lag, das er aber mit aller Macht zurückhielt. Als ich ihn darauf ansprach, seufzte er dieses Mal richtig.   „Ich … ich frage mich einfach nur, wie das eigentlich mit euch beiden funktioniert hat. Noch dazu so lange.“   Ich zog die Schultern hoch und stopfte die Hände in die Hosentaschen. Mein Blick wanderte wieder in Richtung Boden. „Das kann ich dir auch nicht so wirklich erklären. Es … es war ja auch schön, so nicht. Mia ist toll, es ist nur …“   Ich rang nach Worten, denn die, die ich im Mund hatte, konnte ich unmöglich aussprechen. Nicht Benedikt gegenüber. Denn es stimmte. Mia war toll. Sie war wunderbar. Die Sache war nur, dass ich nicht mit ihr ins Bett gehen wollte. So gar nicht. Anfangs war es noch okay gewesen. Aufregend. Einfach weil es eben Sex gewesen war. Zumal uns ja noch so viel anderes Verband. Aber seit dieser Sache mit Benedikt wusste ich, dass sie eben nicht das war, was mich anmachte, und dieses Wissen ließ sich einfach nicht mehr ignorieren. Jetzt erst recht nicht mehr, nachdem ich es endlich ausgesprochen hatte. Ich fand sie immer noch bildhübsch, aber für mehr als ein bisschen Kuscheln reichte es einfach nicht.   „Sie ist nicht das, was ich will“, beendete ich den Satz schließlich leise. Insgeheim hoffte ich wohl, dass Benedikt nachfragte, was beziehungsweise wen ich denn wollte, aber den Gefallen tat er mir leider nicht. Er nickte nur verständnisvoll. „Tja, schöner Mist“, meinte er und blickte für einen Moment auf den See hinaus. Noch einmal bereute ich, mich nicht besser zusammengerissen zu haben. Dann würde er jetzt ganz vergnügt mit Kilian und den anderen Ball spielen oder irgendwas und nicht mich bemitleidenswertes Etwas an der Backe haben. Ich atmete tief ein.   „Ich … Du musst das hier nicht machen. Mir ist klar, dass dich das getroffen haben muss. Dass ich … dass ich mich so verhalten habe, obwohl ich … du weißt schon. Ich mochte das mit dir. Ehrlich.“   Es war die Untertreibung des Jahrhunderts, aber ein Mehr konnte es an dieser Stelle nicht geben. Was hätte es auch gebracht, ihm zu gestehen, dass der Kuss, den wir damals getauscht hatten, das Intensivste war, das ich bis dahin gespürt hatte. Dass von ihm berührt zu werden und ihn anzufassen das Aufregendste und Erregendste war, das ich je gemacht hatte. Dass ich mich auch jetzt danach sehnte, in seinem Arm zu liegen und einfach vergessen zu können, wenigstens für eine Weile. Nur zu sein, zu riechen, schmecken, fühlen. Nicht nachdenken. Nicht planen. Nicht an Morgen denken. Doch dieses Geschenk würde mir nicht zuteil werden. Er hatte es selbst gesagt.   Benedikt erwiderte nichts und ich musste schlucken, um nicht noch einmal dem Drang nachzugeben, in Tränen auszubrechen. Ich wusste, dass ich es schon wieder falsch machte, aber ich konnte einfach nicht anders. Ich raste auf den Abgrund zu, aber ich konnte es nicht aufhalten.   „Erinnerst du dich noch an das Lied, das ich dir am Strand vorgesungen habe?“   Er atmete tief ein und nickte. Ich schluckte. Musste meine Lippen mit der Zunge befeuchten, bevor ich weitersprechen konnte. Jedes der Worte lag wie ein Wackerstein in meinem Mund. „Ich … ich habe es nicht für Mia geschrieben.“   Mit angehaltenem Atem wartete ich, was er darauf sagen würde. Würde er verstehen, was das für ein Geständnis war? Eines, das ich mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal selbst gemacht hatte.   Ich wusste noch, wie wir damals in der Pausenhalle gesessen und zusammen Mathe gelernt hatten. Ich hatte mich kaum auf die Aufgaben konzentrieren können, weil ich so nervös gewesen war. Es war das erste Mal, dass wir längere Zeit allein miteinander verbracht hatten. Er hingegen war ganz entspannt gewesen. Hatte mit seinem Freund getextet, von dem ich damals noch gedacht hatte, dass es eine Freundin war, während ich neben ihm saß. Ich erinnerte mich noch, dass ich ihm sein Handy am liebsten aus der Hand gerissen und an die nächste Wand geworfen hätte, damit er sich nicht um sie kümmerte, sondern um mich. Aber natürlich hatte ich mir das nicht eingestehen wollen. Stattdessen hatte ich versucht, mich auf den Stoff zu konzentrieren, während ich ihn heimlich dabei beobachtet hatte, wie er beim Nachdenken mit dem Stift an seine Lippen tippte. Das war das erste Mal gewesen, dass ich kurz daran gedacht hatte, wie es sich wohl anfühlen würde, ihn zu küssen. Ich erinnerte mich daran, wie erschrocken ich gewesen war und wie dankbar, als er mir von sich aus Mia als Rettungsanker zugeworfen hatte. Wir hatten zusammen beratschlagt, wie ich es anstellen könnte, sie als meine Freundin zu gewinnen, und ich hatte jeden anderen Gedanken zurückgedrängt bis zu dem Punkt, an dem er mir vorgeschlagen hatte, dass ich Mia ein Gedicht schreiben sollte. Da hatte ich mich einfach nicht mehr zurückhalten können und hatte ihm erzählt, dass ich Songtexte schrieb. Kaum dass es mir herausgerutscht war, hätte ich es am liebsten wieder zurückgenommen, aber er war so verständnisvoll gewesen. So sensibel mit meinem Geheimnis umgegangen, das ich bis dahin noch mit niemandem geteilt hatte. Aus dem Grund hatte ich zugestimmt, ihm mal etwas vorzuspielen.   Zuerst hatte ich gedacht, dass er es vielleicht vergessen würde. Dass es nur so dahingesagt war und er sich nicht wirklich dafür interessierte. Aber er hatte immer wieder danach gefragt, sodass ich es wirklich in Erwägung gezogen hatte. Nachmittage lang hatte ich in meinem Zimmer gesessen und meine Textsammlung durchforstet auf der Suche nach etwas, das ihm gefallen könnte. Nach etwas, das ihn beeindrucken würde. Dass ihm die Schuhe auszog und ihn sehen ließ, wie ich wirklich war. Dass hinter der coolen Fassade etwas ganz anderes lag. Etwas, das ich mit ihm teilen wollte. Dass ich nur ihn sehen lassen konnte. Und gleichzeitig hatte ich mir vorgemacht, dass das normal war. Nur normales, teenagermäßiges Imponiergehabe. Jetzt wusste ich, dass mehr dahinter gesteckt hatte. Dass ich, als ich schließlich alle meine Werke für unzureichend befunden und einen völlig neuen Text verfasst hatte, unterbewusst immer an ihn gedacht hatte. Nur an ihn und nicht an Mia.   Noch einmal glaubte ich, auf diesem Steg zu sitzen. Mitten in der Nacht. Über uns der Mond und um uns herum die Wellen. Ein Meer aus Dunkelheit und wir zwei Gestrandete auf einer einsamen Insel. In dem Moment war ich ganz ruhig geworden. Ich hatte meine Gitarre genommen und hatte angefangen zu spielen. Mein Herz hatte zwar wie wild geklopft und ich hatte die Melodie zweimal wiederholen müssen, bevor ich endlich gewagt hatte zu singen, aber dann … dann hatte ich ihm mein Herz ausgeschüttet und weder er noch ich hatten etwas davon gewusst.   Benedikt hatte den Kopf gehoben und sah mich an. Ich ahnte, dass auch er sich an diesen Abend zurückerinnerte. Zumindest hoffte ich das, denn das Lied und danach der Kuss waren für mich etwas Einzigartiges. Etwas Kostbares. Ein Sturm der Gefühle, bei dem ich lange gebraucht hatte, um ihn wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich weiß noch, wie ich nach der Klassenfahrt aus seiner Nähe geflohen war. Ich hatte den Abstand gebraucht, um wieder zu mir selbst zu finden. Hatte ich gedacht. In Wahrheit hatte ich nur die Maske wieder aufgesetzt, die ich die ganze Zeit getragen hatte. Die Maske, die jetzt erhebliche Risse aufwies.   „Für wen war das Lied?“   Ich schluckte. Die Frage war natürlich berechtigt, aber als ich schon antworten wollte, wurde mir bewusst, wie unfair ich mich gerade benahm. Ich drängte mich ihm auf. Nicht nur mit meiner Hilflosigkeit, sondern auch emotional. Er hatte klar gesagt, dass er mit mir fertig war. Keine Beziehung zu mir wollte. Zumindest keine, wie ich sie mir gewünscht hätte. Ich hatte kein Recht mehr dazu, ihm diese Wahrheit zu offenbaren.   Meine Schultern hoben und senkten sich ganz von allein. Eine hilflose Geste, doch zu mehr war ich gerade nicht in der Lage. Benedikt sah mich nur einen Augenblick lang an und ich bereute, dass ich überhaupt davon angefangen hatte. Er wollte mich nicht und ich musste das endlich akzeptieren.   „Sollen wir zurückgehen?“, fragte er nach einer Weile und ich nickte stumm. Die Stimmung zwischen uns war wieder einmal ruiniert und das war ganz allein meine Schuld. Ich schluckte schwer an dem Kloß, der jetzt in meinem Hals saß. Ich rechnete damit, dass sich unsere Wege einfach wieder trennen würden, sobald wir das Lager erreichten, aber wieder überraschte Benedikt mich. Als bereits die ersten fröhlichen Kinderstimmen zu hören waren, blieb er stehen. Er drehte sich herum, stellte sich vor mich hin und sah mich geradeheraus an. „Also, ich … ich kann dir nicht versprechen, dass ich so der kompetenteste Ansprechpartner bin für die Fragen, die du bestimmt hast. Aber ich kann dir anbieten, dass du mit mir reden kannst, wenn dir was auf dem Herzen liegt. Ich weiß, wie scheiße es ist, wenn man ganz alleine damit ist. Und was für eine Erleichterung es sein kann, wenn da jemand ist, an den man sich wenden kann. Mit dem man einfach mal quatschen kann, weil er in der gleichen Lage ist wie man selbst. Deswegen würde ich dir gerne anbieten, dass … dass ich dir meine Nummer gebe. Dann kannst du mir notfalls schreiben oder mich anrufen, wenn was ist. Also wenn wir wieder zu Hause sind.“   Der Klumpen in meinem Hals rutschte augenblicklich eine Etage tiefer. Er wollte mir … seine Nummer geben?   Noch einmal, hämmerte es in meinem Kopf. Und beinahe wäre mir herausgerutscht, dass er das nicht musste. Dass ich den Zettel, den er mir nach jener Nacht im letzten Sommer geschrieben hatte, immer noch aufbewahrte. Ganz tief unten unter all meinen Texten lag er. Inzwischen verblichen, zerknittert und mit einem feinen Riss, den ich mit Klebeband repariert hatte, nachdem ich ihn aus Versehen einmal zu heftig hervorgezogen hatte. Aber das erzählte ich Benedikt nicht. Stattdessen nickte ich. „Danke. Ich … ich gebe dir dann auch meine Nummer?“   Die Frage klang ein wenig zu hoffnungsvoll in meinen Ohren und ich konnte nur beten, dass Benedikt es nicht bemerkte. Aber er bestätigte das nur ebenfalls mit einem Nicken. „Okay“, meinte er und sah sich um, bevor er noch einmal tief durchatmete. „Da wäre nur noch eine Sache.“   Ich hob den Kopf und sah ihn an. Was würde jetzt kommen?   „Also das vorhin … das mit dem Kuss. Mach das bitte nie wieder.“   Ich war im ersten Moment wie vor den Kopf geschlagen, bevor ich mir ein kleines, sehr zaghaftes Lächeln erlaubte. Ich merkte, wie ich rot wurde, aber ich hielt seinem ebenfalls leicht verlegenen Blick trotzdem stand. „Ich verspreche es“, sagte ich und war froh, dass er nicht mehr verlangt hatte, denn ich wusste, dass ich ihm nichts hätte abschlagen können. Ich hätte alles getan, nur um in seiner Nähe bleiben zu können. „Dann mal los. Ich glaube, dir steht noch eine Runde Wikinger-Schach bevor.“   Ich lächelte breiter und er erwiderte es, bevor er mir noch einmal ein wenig ungelenk auf die Schulter schlug und wir endlich zum Lager zurückkehrten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)