Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 7: Aneinandergeraten ---------------------------- Mit wahrem Feuereifer verteilten die Kinder die Matten, die Stephan aus dem Heim geholt hatte, auf dem Rasen. Dabei gab es einiges Gerangel, wer eine Matte tragen durfte und wie diese hinzulegen war. Ich nutzte die allgemeine Aufregung, um mich neben Benedikt zu stellen.   „Was sollte das eben?“, wisperte ich. Er antwortete nicht, also stellte ich meine Frage noch einmal etwas lauter.   „Ich weiß nicht, was du meinst“, gab er zurück, ohne mich anzusehen.   Ich presste die Kiefer aufeinander. „Das weißt du sehr wohl. Du hast mich getreten.“   Er schnaubte.   „Tja, dann habe ich jetzt wohl auch ein schlechtes Geheimnis.“ Mit einem unechten Lächeln drehte er sich zu mir herum. „Damit kennst du dich ja bestens aus, nicht wahr, Theodor?“   Ich prallte zurück. Das durfte nicht wahr sein. Er wusste es. Er wusste von den Tabletten. Ich hatte keine Ahnung, wie er das aus Kurt rausbekommen hatte, aber das war im Grunde genommen auch nicht von Belang. Viel wichtiger war, dass ein Wort von Benedikt genügte, damit ich hier hochkant rausgeworfen wurde. Er hatte mich in der Hand. Mir wurde kalt.   Wie durch Watte bekam ich mit, dass das Verteilen der Matten ein Ende gefunden hatte und sich die Kinder jetzt im Kreis um das rechteckige Feld verteilten. Benedikt ging in dessen Mitte und begann, als alle still geworden waren, mit einer Erklärung.   „Beim Judo wird im Gegensatz zu vielen anderen Kampfsportarten nicht mit Schlägen oder Tritten gearbeitet. Vielmehr erlernt man Techniken, die dazu dienen, seinen Gegner zu Fall zu bringen und in einigen Fällen auch noch am Boden zu fixieren. Das Ganze wird unterteilt in Fallschule, Bodenarbeit und Wurftechniken.“ Er winkte mich heran und ich folgte ihm, ohne ein Wort der Gegenwehr. Wie ein Lamm zur Schlachtbank trat ich zu ihm auf die Mitte der Matten. Ich sah, wie sich sein Mund bewegte, aber ich war einfach nicht in der Lage, seinen Ausführungen zu folgen. In meinem Kopf kreisten ständig die gleichen Gedanken.   Was würde er tun? Würde er mich verraten? Und wenn ja, worauf wartete er dann noch? Warum schrie er die Wahrheit nicht heraus, wenn er sie doch kannte? Warum ließ er mich zappeln? Wollte er mir Angst machen? Genoss er das Gefühl, mich in der Hand zu haben? Ein Druckmittel zu haben, mit dem er mir drohen konnte? War er so ein Mensch?   Benedikt erklärte jetzt etwas, das mit dem speziellen Kampfanzug zu tun hatte, dass man als Judoka trug. Ich erinnerte mich daran, dass er einmal eine Beratung dafür durchgeführt hatte. An dem Tag war er das erste Mal im Sportgeschäft gewesen. Ich wusste noch, wie ich ihm in der Umkleide eines der speziellen T-Shirts, die wir im Laden tragen mussten, gegeben hatte. Er hatte sich beim Umziehen darin verheddert und ich hatte ihm dabei geholfen, sich zu befreien. Damals hatte ich mir nichts dabei gedacht, ihm so nahe zu sein. Ebenso nahe wie jetzt. Damals war es noch bedeutungslos gewesen.   In meinen Ohren summte es. Nur undeutlich bekam ich mit, wie Benedikt „Das sieht dann in etwa so aus“ sagte, dann packte er mich auch schon, die Welt um mich herum drehte sich und ich knallte schmerzhaft mit dem Rücken zuerst auf den Fußboden. Sofort war er über mir und schlang einen Arm um meinen Nacken, während er mich auf den Boden drückte und so festhielt, dass ich ihn nicht angreifen konnte.   Die plötzliche Entwicklung brachte mich zurück in das Hier und Jetzt. Ich schnappte erschrocken nach Luft. „Normalerweise wäre das Fixieren jetzt nicht mehr notwendig“, erklärte Benedikt mit dem Gesicht zu den Kindern, „da mein Gegner bereits beim Wurf mit beiden Schulterblättern auf dem Boden aufgekommen ist. Es gibt jedoch auch Techniken, die vorsehen, dass man den Gegner in eine bestimmte Haltung bringt und ihn dort festhält. Es gibt dabei für verschiedene Griffe verschiedene Möglichkeiten, um sich zu befreien.“   Er wandte sich von den Zuschauern ab und sah mir direkt in die Augen. „Wenn du kannst, versuch dich loszumachen.“   Der Ton, in dem er das sagte, war ohne Zweifel herausfordernd. Er war immer noch wütend, das konnte ich sehen. Hinter seinen Augen brodelte es und wenn er gewollt hätte, hätte er mir wahrscheinlich sehr wehtun können. Aber er tat es nicht. Er lag einfach nur auf mir und hielt mich fest. Da meine Beine frei waren, hätte ich uns vermutlich irgendwie drehen können. Mich aus seinen Armen winden oder einen Versuch starten, meine eigenen Arme freizubekommen, um ihn von mir runterzuschieben. Trotzdem zögerte ich   Ich spürte, wie er atmete. Wie sich sein Brustkorb über mir hob und senkte. Wie seine Finger an meiner Schulter lagen. Sein Gewicht, das mich nach unten drückte. Sein Gesicht ganz dicht vor meinem. Ich konnte jede Einzelheit erkennen. Die blauen Augen mit dem dunklen Ring um die Iris. Darüber die leicht zusammengezogenen, dunklen Brauen, die ihm einen entschlossenen Ausdruck verliehen. Die Nase mit den breiten Sommersprossen. Der Mund mit den vollen Lippen. Sein Kinn, das einen leichten Schatten zeigte. Anscheinend hatte er am Morgen keine Zeit gefunden, sich zu rasieren. Ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn dieses Kinn über meinen Bauch strich. Die Innenseite meiner Schenkel. Das kantige, leicht raue Gefühl, gepaart mit der Festigkeit seiner Lippen und der fordernden Feuchte seiner Zunge. Ich wusste, wie es sich anfühlte.   Im nächsten Moment verschwand der Druck von meinem Brustkorb und Benedikts Stimme drang nur noch von weit her in mein Ohr. „Wir werden jetzt keine Würfe ausprobieren, da ihr die notwendigen Falltechniken nicht beherrscht. Die Gefahr einer Verletzung wäre zu groß. Stattdessen werde ich euch eine einfache Vorstufe einer Bodenübung zeigen.“   Wie betäubt lag ich da und konnte mich nicht rühren. Was war das gewesen? Warum hatte ich nur wie ein Idiot dagelegen und ihn angestarrt? Warum hatte ich nichts gemacht?   Weil ich dort nicht weggewollt hatte.   Die Erkenntnis traf mich wie ein Hammerschlag. Ich hatte in seinen Armen gelegen und ich hatte mich gut gefühlt. Sicher. Obwohl ich mich nicht bewegen konnte und ihm vollkommen ausgeliefert gewesen war, hatte es sich gut angefühlt. Irgendwie … geborgen, auch wenn mir das Wort schon in dem Moment, in dem es mir in den Sinn kam, albern vorkam. Und doch … Irgendwas war da gewesen.   „Ist alles in Ordnung?“   Stephans Frage riss mich aus meiner Erstarrung. Er stand über mir und sah auf mich herab. Eilig rappelte ich mich auf und setzte ein Lächeln auf. „Ja, klar, alles okay.“   Ich sah zu, wie die Kinder sich zu Paaren zusammenfanden. Eines von ihnen legte sich auf den Bauch, während das andere versuchte, es auf den Rücken zu drehen. Es gab eine Menge Gelächter und Gekicher. Ein fröhliches, unschuldiges Gerangel. Nicht so wie das, was gerade zwischen mir und Benedikt gewesen war. Das war gefährlich gewesen. Gefährlich auf eine Art und Weise, die mich erneut schlucken ließ, als ich ihn beobachtete, wie er zwei Mädchen Hilfestellung gab.   Seine Worte kamen mir wieder in den Sinn. Er wusste von den Tabletten. Damit war es nur eine Frage der Zeit, bis Wolfgang es erfuhr, und der würde mit Sicherheit meine Eltern informieren. Ich konnte schon den enttäuschten Blick meiner Mutter sehen, die bitteren Worte meines Vaters hören. Den abfälligen Kommentar meines Bruders, wenn er Wind von der Sache bekam. Sie würden es alle erfahren und sie würden zu Recht enttäuscht von mir sein.   Plötzlich wollte ich nur noch weg. Was sollte es noch bringen, die Fassade aufrechtzuerhalten? Es würde ja doch alles rauskommen. Wenn es so weit war, sollte ich besser so weit weg wie möglich von diesem Ort sein. Irgendwo dort, wo mich niemand fand.     Ohne jemandem Bescheid zu geben, stahl ich mich vom Platz. Je eher ich ging, desto besser. Bevor jemand mitbekam, dass ich auf der Flucht war.   An den Zelten war niemand zu sehen. Ich schlüpfte hinein und wurde von einer warmen, leicht stickigen Atmosphäre empfangen. Ein dezenter Geruch nach getragenen Turnschuhen lag in der Luft. Die Lagerstätten waren dank Stephans Anweisungen aufgeräumt. Mein Schlafsack lag ebenso gerade da wie die anderen. Eilig fing ich an, ihn zusammenzurollen. Ich würde ihn brauchen, wenn ich mich ohne viel Geld durch die Lande schlagen wollte. Um Platz zu bekommen, riss ich einige der Klamotten aus meiner Tasche und versuchte stattdessen, den Schlafsack hineinzustopfen. Er war zu groß und ich wollte ihn gerade herauszerren, um ihn noch einmal kleiner zusammenzufalten, als sich die Zeltplane hinter mir teilte. In der entstandenen Öffnung erschien eine mir nur zu bekannte Gestalt.   „Was tust du da?“   Benedikt sah immer noch wütend aus. Fast noch wütender als vorhin. „Ich packe.“ „Und wo willst du hin?“   Mir lag eine weitere, giftige Antwort auf der Zunge. Dass ihn das nichts anging und dass ich irgendwo hingehen würde, wo er nicht war. Aber ich konnte es nicht aussprechen. Stattdessen sah ich ihn einfach nur an. Er schüttelte den Kopf. „Ja, alles klar. Du haust mal wieder ab. Darin bist du ja Weltmeister, nicht wahr? Wenn es ein Problem gibt, machst du dich einfach aus dem Staub. Ich weiß wirklich nicht, warum ich eigentlich …“ Er brach ab und schüttelte den Kopf.   „Warum du was?“, fauchte ich jetzt ebenfalls aufgebracht. „Mich erpresst?“   „Ich tue bitte was?“ Er sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost. Dabei war er es doch, der mit der ganzen Sache angefangen hatte. Stattdessen führte er sich auf, als hätte man ihm ein Unrecht getan. „Ich hätte kein Wort gesagt“, knurrte er. „Aber du musstest ja Kurt mit reinziehen und ihm von deinem schlechten Geheimnis erzählen.“ „Ich hab ihm nichts erzählt!“ „Und warum weiß er dann davon?“ „Weil …“ „Weil was?“   Ich rang mit mir. Musste ich ihm wirklich die Einzelheiten erzählen? Aber Benedikt stand vor dem Zelteingang wie ein Fleisch gewordener Rachegott und es würde kein Weg an ihm vorbeiführen, es sei denn …   „Er hat mich erwischt. Heute Nacht. Ich … ich wollte nicht, dass es jemand mitbekommt, aber er …“   Im nächsten Moment fand ich mich auf meinem Bett wieder. Benedikt ragte über mir auf und seine Faust schwebte direkt über meinem Gesicht. „Überleg dir gut, was du jetzt sagst. Wenn es das Falsche ist, kannst du dich schon mal von deinem hübschen Gesicht verabschieden.“ „Was? Aber ich hab doch gar nichts …“ „Du hast ein Kind belästigt. Das ist eine Straftat.“ „Was?“   Ich verstand überhaupt nichts mehr. Wovon redete er da?   „Wovon redest du?“ „Wovon redest du?“   In diesem Moment schien uns beiden zu dämmern, dass irgendwas nicht stimmen konnte. Ich sah förmlich, wie sich die Erkenntnis auf seinem Gesicht ausbreitete. Im nächsten Augenblick wurden seine Augen schmal. „Was hat Kurt gesehen?“   Seine Haltung hatte sich nicht geändert. Er hatte immer noch die Faust zum Schlag erhoben und war bereit es durchzuziehen. Ich schluckte langsam.   „Ich … also das heute Morgen. Die Sache hinter den Zelten. Das war von mir.“   Er sah mich einen Augenblick lang an, bevor er mich plötzlich losließ und vor mir zurückwich. In seinem Gesicht stand Fassungslosigkeit.   „Warum hast du das nicht gesagt? Wegen dir stecken sich hier noch alle an.“ „Es ist nicht ansteckend.“ „Ach, bist du Arzt, oder was?“   Er sah immer noch wütend aus, wenngleich auch nicht mehr ganz so sehr. Trotzdem war mir klar, dass er es Wolfgang erzählen würde. Schon allein um die Kinder zu schützen. Langsam senkte ich den Kopf.   „Es ist wirklich nicht ansteckend. Ich … ich hatte nur Kopfschmerzen.“   Benedikt knurrte unwillig. „Verkauf mich nicht für dumm, Theodor. Wegen ein bisschen Kopfschmerzen macht man doch nicht so einen Aufstand.“   Ich schluckte. Mein Mund war viel zu trocken. Ich sehnte mich nach etwas zu trinken.   „Ich habe … ziemlich oft Kopfschmerzen“, sagte ich langsam. „Und ich … ich nehme Tabletten dagegen.“   Er reagierte nicht, also redete ich weiter.   „Ich wollte nicht, dass jemand etwas davon mitbekommt. Deswegen habe ich die Packungen bei mir im Zelt behalten. Ich weiß, ich hätte sie abgeben sollen, aber ich konnte es einfach nicht.“   Langsam hob ich den Blick. Er hatte mir den Rücken zugedreht. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Hatte keine Ahnung, wie er diese Eröffnung aufnahm.   „Was noch?“   Ich zuckte zusammen. Sein Ton war neutral, fast kalt. Mir war, als müsse ich mich erneut übergeben. „Heute Nacht hatte ich wieder eine Schmerzattacke. Es war so schlimm, dass ich mich …“   Ich konnte es nicht aussprechen. Die Worte aus meinem Mund wurden zu einem kaum wahrnehmbaren Raunen.   „Dabei habe ich die Tabletten verloren. Kurt hat sie gefunden und aufgehoben. Er wusste, dass ich sie nicht bei mir haben darf. Darum ging es bei dem Geheimnis.“   Er atmete tief durch. „Kurt hat gesagt, ihr hättet über mich gesprochen. Da dachte ich …“   Ich lächelte leicht. Es war so etwas wie ein Reflex.   „Wir haben über dich gesprochen, das ist wahr. Aber ich habe ihm nichts von … von uns erzählt.“   Benedikt lachte bitter auf. Das Geräusch jagte mir einen Schauer über den Rücken. „Es gibt kein uns, Theodor. Dafür hast du doch sehr effektiv gesorgt. Du hattest deinen Spaß und dann … dann hast du mich fallenlassen.“ „Aber so war das doch gar nicht.“ „Ach nein?“   Er fuhr herum. „Ich hab dir vertraut in dieser Nacht. Ich dachte, du würdest … Ach, ist doch auch egal.“   Da war etwas in seiner Stimme, in der Art, wie er dastand, das mir schier den Atem nahm.   „Es tut mir leid.“   Meine Stimme war so leise, dass sie fast nicht zu hören war. Er atmete tief ein. „Was genau?“ Die Frage traf mich vollkommen unvorbereitet. Unfähig zu antworten saß ich da, während er mich mit seinem Blick förmlich durchbohrte. Wieder begann es in meinen Ohren zu rauschen. „Was genau tut dir leid?“, präzisierte er noch einmal, doch ich war nicht in der Lage zu reagieren.   Seine Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln.   „War ja klar. Sonst spuckst du große Töne, aber wenn es darauf ankommt, ist da nur heiße Luft.“   Er wandte sich ab und ballte die Hand zur Faust, bevor er sich noch einmal zu mir herumdrehte. „Weiß du was, Theodor? Wenn du mir nicht sagen kannst, was genau dir leidtut, dann vergiss es einfach. Lass uns wieder so tun, als wäre nichts passiert. Und wirf diese Tabletten weg, sonst werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass man dich hier rausschmeißt.“   Damit drehte er sich endgültig um, schlug mit ärgerlichem Schwung die Zeltplane beiseite und verschwand nach draußen. Mit einem viel zu leisen Geräusch fiel die weiße Wand wieder an ihren Platz.   Ich saß da wie betäubt. Die Heftigkeit seiner Reaktion hallte in mir nach wie ein Gongschlag. Ich hatte nicht gewusst, nicht einmal geahnt, wie sehr ihn das Ganze getroffen hatte. Als wir uns nach den Ferien in der Schule wiedergesehen hatten, hatte er meine Eröffnung so kühl hingenommen, dass ich gedacht hatte, dass es für ihn nur eine kleine Sache gewesen war. Oder ich hatte es mir zumindest eingeredet. Weil ich Angst gehabt hatte. Angst vor dem, was es bedeuten könnte. Für mich. An ihn hatte ich dabei nie gedacht. Viel zu sehr in meinem eigenen Kopf gefangen, hatte ich nie versucht mir vorzustellen, wie es ihm dabei ging. Dass er vielleicht ebenfalls vor dem Telefon gesessen und auf meinen Anruf gewartet hatte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, mir selbst leidzutun. Ich war ein egoistischer Arsch.   Mir das einzugestehen war bitterer, als ich erwartet hatte. Am liebsten hätte ich mich einfach zusammengerollt und darauf gewartet, dass die Welt mich vergaß. Doch das ging nicht. Ich war hier nicht allein und früher oder später würden Leute kommen. Wenn sie mich in diesem Zustand fanden, würden sie Fragen stellen. Fragen, die ich nicht beantworten wollte. Also musste ich mich zusammenreißen und mich wieder in einen einigermaßen vorzeigbaren Zustand bringen.   Mechanisch griff ich nach dem Schlafsack und zog ihn wieder aus meiner Tasche heraus. Jede Bewegung kostete mich eine unheimliche Kraft, aber ich gab nicht auf. Ich entrollte das blaue Kunststoffgewebe und strich es glatt, so gut es eben ging. Dann machte ich mich daran, meine verstreute Kleidung wieder einzusammeln. Ich klopfte den Dreck ab, faltete sie zusammen und wollte sie gerade wieder zurück in die Tasche stopfen, als ich am Boden die Ecke einer Pappschachtel erblickte. Ich hatte sie fast schon wieder vergessen.   Einen Augenblick lang starrte ich sie an, bevor mich plötzlich die Wut packte. Auf die Tabletten und alles andere, was damit zusammenhing. Ich würde damit aufhören. Jetzt. Wild entschlossen, wenigstens das richtig zu machen, packte ich die Packung und wühlte zwischen der noch in der Tasche befindlichen Kleidung nach der zweiten. Ich knüllte sie zusammen und sprang auf. Meine Füße trugen mich wie von selbst zu den großen Abfalltonnen hinter dem Küchengebäude. Ich öffnete den Deckel.   Eine dicke Fliege flog brummend auf und davon. Vermutlich hatte sie dort im Müll reichlich Eier gelegt, die schon bald zu fetten, weißen Maden werden würden. Neues Leben zwischen all dem Verfall.   „Widerlich“, flüsterte ich und zerquetschte die Packungen in meinem Händen fast, bevor ich sie mit einer entschiedenen Geste zwischen die gefüllten Abfalltüten warf. Ich zog an einem der Säcke, bis er über den Packungen lag, sodass sie nicht mehr zu sehen waren. Dann ließ ich den Deckel fallen. Es schepperte laut und ich erschrak. Was, wenn mich jemand gehört hatte?   Tatsächlich hörte ich im nächsten Augenblick ein Fenster klappen und eine Stimme rief: „Ist da wer?“   Es war Susanne. „Ja, ich“, antwortete ich und lief nach vorne zum Fenster, sodass sie mich sehen konnte. „Ich hab nur was weggeworfen.“   „Ah, verstehe“, sagte sie und nickte mir zu. „Hast du Zeit? Ich bräuchte jemandem zum Kartoffeln schälen.“   Ich dachte an das Chaos, das ich hinterlassen hatte, und setzte ein Lächeln auf. „Kein Problem. Ich gehe nur nochmal eben rasch was erledigen. Dann kann ich dir helfen.“ „Prima.“ Sie schloss das Fenster wieder und ich lief zurück zum Zelt. In Windeseile sammelte ich meine Sachen ein und warf die Tasche hinter meine Lagerstatt. Während ich zur Küche zurückjoggte, musste ich noch einmal an das denken, was Benedikt gesagt hatte. Dass ich, wenn ich ihm nicht sagen konnte, was genau mir leidtat, es einfach vergessen sollte. Doch was, wenn ich es herausfand? Wenn ich ihm eine ehrliche Antwort darauf gab, und mich bei ihm entschuldigte? Was dann? Der Gedanke versetzte mich in eine eigenartige Hochstimmung und ließ gleichzeitig den Stein in meinem Magen zu neuem Leben erwachen. Denn um ihm eine ehrliche Antwort zu geben, würde ich wohl zunächst einmal ehrlich zu mir selbst sein müssen und ich war mir nicht sicher, ob ich das hinkriegen würde. Ich hatte mich schon zu lange versteckt. Aber vielleicht … vielleicht war es an der Zeit, etwas daran zu ändern. Und vielleicht würde ich es dieses Mal nicht versauen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)