Gegensatz und Vorurteil von Ana1993 (- Ehemals Schubladenmagnet -) ================================================================================ Kapitel 5: ----------- Kurze Erklärung zu den eingefügten Triggern: Die Story ist tiefgründiger geworden, als geplant. Und auch wenn die Themen nur indirekt zur Sprache kommen, denke ich, ist es wohl besser, sensible Personen zu warnen. Wer dazu Fragen hat, kann mich gerne anschreiben.     ~ 5 ~   Pauls POV   „Blödes Wetter!”, fluche ich leise und bin froh, endlich im Fahrradkeller anzukommen. Mein treuer Drahtesel ist schnell vertäut und pitschnass wie ich bin, geht es nun hoch in den Aufenthaltsbereich. Wenigstens ist es um zwanzig nach Sieben noch so leer in der Schule, dass ich mir einen der hohen Heizkörper sichern und wenigstens versuchen kann, meine Jacke und Hose in ihrer Nähe zu trocknen, sowie die vordersten Strähnen meiner Haare, welche trotz Kapuze vom Regen erwischt worden sind. Die Jacke oben drüber geworfen, presse ich mich bibbernd mit dem Rücken an die heißen Röhren. Ich bin nicht für den Winter gemacht! Wobei Schnee und Kälte unter dem Gefrierpunkt halb so wild sind, nur dieser Regen in einstelligen Plusgraden... Mich vom aktuellen Wetter ablenkend, blicke ich mich in der Halle um. In der sehr leeren Halle. Auch vom Bereich der Unter- und Mittelstufe höre ich nur sehr vereinzelte Stimmen. Na, wen wundert's? Bis auf einige unglückliche Vorstadtkinder, deren Busse wahlweise viel zu früh oder viel zu spät fahren, hält sich auch niemand freiwillig über eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn hier auf. Ich seufze leise, rutsche an der Heizung nach unten und hocke mich auf den Boden. Dann ziehe ich mir meine Tasche heran und ein schon ordentlich zerlesenes Buch aus ihr hervor. Ist ja nicht so, als wüsste ich nicht, wie ich mich beschäftigen könnte...   „Was machst du denn da unten?” Ich schrecke auf, die Realität stürzt plötzlich mit all ihrem Lärm und Licht wieder auf mich ein. Als wäre ich nach einer Ewigkeit unter Wasser unvermittelt durch die Oberfläche an die Luft gebrochen. Blinzelnd kläre ich meinen Blick und nehme als erstes ein paar Stiefel wahr, die mir entfernt vertraut vorkommen. Weiter an schwarzer Jeans und schwarzer Jacke vorbei. Ich muss meinen Kopf in den Nacken legen, wodurch mich eine der Lampen unangenehm blendet, doch das fragend schiefgelegte Gesicht erkenne ich auch so. „Äh...” Mein Hirn hängt wohl noch zwischen den Seiten in einer anderen Dimension fest. Joshua schmunzelt, geht vor mir in die Hocke und drückt mit dem Zeigefinger von hinten sachte gegen mein Buch. „Darf ich?” „Öh... klar!” Ich kippe die aufgeschlagenen Seiten gegen meinen Oberkörper, sodass Joshua den Titel lesen kann. „Terry Pratchett?”, liest er den Autoren ab und scheint kurz nachzudenken, dem in sich gekehrten Ausdruck nach zu urteilen, der sich erhellt und wieder auf mich richtet, als er sich erinnert. „Ach, das ist doch der mit den Scheibenwelt-Romanen, oder?” Ich nicke, erwidere sein Lächeln ein wenig zurückhaltend. „Ja. Das ist eins davon.” Erklärend wedel ich mit dem Buch. „Ha! Da lag ich ja richtig. Ein paar haben wir auch zu Hause, ich weiß gar nicht von wem die ursprünglich waren.” Er zuckt mit den Schultern, als würde es ihn auch nicht weiter kümmern. „Aber warum sitzt du dafür auf dem Boden? Ich dachte, ihr habt euch eine Bank gepachtet?” Mit dem Daumen deutet der Schwarzhaarige in die ungefähre Richtung meines Stammplatzes. Meine Wangen werden heiß. „Ja... äh...”, stottere ich erneut los. Dann weise ich zu meiner vermutlich immer noch feuchten Jacke über mir und zuppel anschließend an meinen ebenfalls noch klammen Haaren. „Ich versuche mich ein bisschen zu trocknen.” „Oh.” Der Umstand, dass ich wie ein begossener Pudel aussehe, scheint ihm erst jetzt bewusst zu werden und ich muss mir ein Lachen verkneifen, so wie er mich anguckt. Wenn ich es mir recht überlege, ähnelt er gerade viel mehr dem besagten Hund, als ich es tue. Zumindest, bis auch er zu grinsen anfängt. „Du weißt schon, dass es so eine Erfindung namens Regenschirm gibt?” „War wohl etwas in Eile und hab ihn vergessen.” Nun zucke ich unbekümmert mir den Schultern und verdränge schnell das düstere Gefühl, was mich heute viel zu früh aus dem Haus getrieben hat. Die schokobraunen Augen liegen auf einmal mit einem lauernden Ausdruck auf mir, als hätten sie eine verräterische Regung an mir wahrgenommen. Doch bevor Joshua Fragen stellen kann, die hier an meinem sicheren Rückzugsort namens Schule nichts zu suchen haben, und sei es nur warum ich viel zu früh schon in Eile gewesen sein soll, lächel ich ihn wieder an. „Aber du hast recht. Sollen wir uns setzen gehen?” Inzwischen habe ich meiner Umgebung auch genug Aufmerksamkeit geschenkt um zu wissen, dass es immer noch einigermaßen früh und noch genug Zeit bis zum Unterrichtsbeginn ist. „Können wir machen”, antwortet er mir, als seine Musterung wohl zu meinem Glück ohne Ergebnis bleibt. Geschmeidig erhebt sich mein Gegenüber und hält mir eine Hand hin. Dankbar ergreife ich sie und lasse mich auf die Füße ziehen, meine verkrampften Muskeln protestieren und meine Gelenke beschweren sich schmerzend über die eindeutig zu lang ausgeharrte, unbequeme Position. „Uff!”, entfährt es mir, als meine wackeligen Knie ihre Arbeit verweigern und mich ohne weitere Ankündigung nach vorne fallen lassen. Doch statt des harten Bodens, lande ich mit dem Gesicht voran an Joshuas Oberkörper. Vor Schreck erstarre ich, die Hände haltsuchend in den Stoff an seinen Seiten gekrallt. Wärme schlägt mir entgegen, die und ein unerwartet angenehmer Geruch. 'Sandelholz', schießt es mir durch den Kopf. Und als hätte dieser Gedanke eine Seifenblase zum Platzen gebracht, schrecke ich zurück und löse mich hastig von meinem immer noch erstarrt dastehenden Mitschüler. „So-Sorry”, murmel ich unsicher und schon wieder stotternd. Ich ringe mir erneut ein Heben der Mundwinkel ab, versuche so die Situation zu entschärfen. Oh man, wie peinlich! Josh erwacht blinzelnd aus seiner Trance. „Hoppla, hast wohl schon länger da gehockt?”, fragt er schmunzelnd, als wäre das alles ganz normal. Erleichtert atme ich aus und nicke. „Ja. Wohl etwas zu lange.” Nun etwas vorsichtiger, bücke ich mich nach meinen Sachen und verstaue das vergessene Buch wieder in meiner Tasche. Sicherheitshalber halte ich mich beim Aufrichten mit einer Hand an der heißen Heizung fest. Diese will ich gerade lösen und nach meiner Jacke greifen lassen, doch das Kleidungsstück hängt nicht mehr dort. Irritiert blicke ich zur Seite und finde es sicher aufbewahrt über Joshuas Arm. Ich weiß nicht, wie ich das finden soll, beschließe jedoch, es einfach als eine nette Geste hinzunehmen. So tollpatschig wie ich mich benehme verwundert es mich eher, dass er nicht schon längst die Flucht ergriffen hat. Ich erinnere mich beispielsweise noch gut an den Kaffee letztens. Wortlos gehen wir nebeneinander her zur angesprochenen Bank. Noch niemand sonst da. Seufzend lasse ich mich auf das Holz plumpsen und strecke meine immer noch schmerzenden Beine. Mit deutlich mehr Anmut setzt sich Joshua neben mich, nachdem er seine eigene Jacke ausgezogen hat. Möglichst unauffällig rutsche ich ein Stück näher an die lebendige Wärmequelle heran. Ohne Heizung ist es doch recht frisch hier drin, aber auf den durchweichten Stoff, der am Ende der Sitzgelegenheit über der Lehne hängt, habe ich noch weniger Lust. Meinem Nebenmann scheint mein vorsichtiges Anschmiegen nicht aufzufallen. Zum Glück. Meine Freunde sind meine spontanen Kuschelattacken gewohnt und lassen es meist unkommentiert, wenn ich mal Körperkontakt suche, aber bei einem fast fremden Mitschüler? Besser nicht. Joshua neben mir gibt plötzlich einen genervten Laut von sich und ich will schon erschrocken von ihm wegrücken, als er nach seinem Rucksack angelt und leise vor sich hinfluchend einen Block, ein Buch und einen Stift nacheinander aus den Tiefen zieht. „Hab völlig vergessen, weshalb ich so früh von einem Irrenhaus ins andere geflohen bin”, erklärt er seine Aktion in meine Richtung und wirft damit mehr Fragen auf, als er mir beantwortet. Irrenhäuser? Doch als er sich wieder gerade hinsetzt (immer noch ganz nah neben mir) und zu blättern beginnt, wird mir zumindest klar, dass er wohl noch Hausaufgaben zu machen hat. „Sorry, ich muss das flott machen, sonst kriegt die Ludwigs noch einen Anfall.” Er rollt übertrieben mit den Augen und beginnt zu schreiben. Ich nicke verstehend, schmunzel vor mich hin und beobachte ihn ansonsten schweigend, will ja nicht stören. Zwischendurch erklärt er mir unaufgefordert, dass es gestern Abend ziemlich turbulent bei ihm zu Hause war, weshalb er nicht alle Aufgaben erledigt konnte und früh morgens sei es wohl meistens noch schlimmer. Klingt ziemlich chaotisch, was er so durchblicken lässt. Mit dem Verlobten der großen Schwester allein schon sieben Familienmitglieder, plus Freundinnen der kleinen Schwester und einem rebellierenden kleinen Teeniebruder mittendrin, wenn ich auf die Schnelle richtig mitgezählt habe. Ich kann mir dieses heillose Durcheinander nur sehr schwer vorstellen, welches zwangsweise herrschen muss, wenn mehr Personen als Räume in einem kleinen Häuschen zusammen kommen. Das genaue Gegenteil von dem, was ich täglich erlebe. Mein Blick gleitet in die Ferne.     Joshuas POV   Der letzte Punkt ist gesetzt, doch mein Stift verharrt auf dem Papier. Zu gefesselt bin ich von dem geistig abwesenden Jungen an meiner Seite, von dem sehnsüchtigen Lächeln, was seine vollen Lippen umspielt. Ich würde einiges dafür geben, zu wissen, was in seinem hübschen Köpfchen vor sich geht. Nicht nur jetzt, sondern fast immer. Will mich vergewissern, ob ich mir die Schatten nicht doch nur einbilde, die manchmal für Sekundenbruchteile seine Miene verdunkeln. Und, was dahinter steckt. Doch heute werde ich wohl nichts mehr erfahren, denn ausgerechnet diesen magischen Moment suchen sich die beiden anderen Kerle aus Pauls Clique, um vor uns aufzutauchen und den Kleinen damit aus seinen Gedanken zu reißen. „Wer von euch hat seinen Teller nicht aufgegessen, hm?”, begrüßt uns der Braunhaarige von beiden vorwurfsvoll und scheint sich gar nicht weiter an meiner Gegenwart zu stören, sondern quetscht sich kurzerhand auf die freie Ecke neben Paul. „Ich war's nicht, dafür hab ich zu gut gekocht”, kontert Paul frech grinsend und macht mich damit ein bisschen sprachlos. Der Kleine, frech? Und was meint er mit 'er hat zu gut gekocht'? „Wahrscheinlich war Matz es selber, so wählerisch wie der Herr aktuell ist.” Der mit der Brille rollt mit den Augen, grinst aber selber. „Gar nicht wahr!” Der andere, allem Anschein nach also Matz, plustert übertrieben die Wangen auf und kneift die Augen zusammen. „Dann kannst es also nur du gewesen sein!” Nicht nur sämtliche Augen, sondern auch ein anklagender Zeigefinger sind nun auf mich gerichtet. Skeptisch ziehe ich eine Braue hoch. „Ich? Machst du Witze? Bei mir zu Hause geht es zu wie in einem Wolfsrudel und gestern gab es die Spaghetti Bolognese meines Vaters, da bleibt niemals auch nur eine einzige Nudel übrig.” „Also warst du es entweder wirklich selber, oder wir akzeptieren die Tatsache, dass das Wetter sich nicht an so dämlichen Aberglauben hält und macht was es will”, schlussfolgert der noch namenlose Brillenträger. Sein entschuldigendes Lächeln, kombiniert mit einem erneuten Augenrollen in Richtung seines Kumpels lassen mich vermuten, dass derlei alberne Diskussionen wohl häufiger vorkommen. „Streng genommen macht das Wetter nicht was es will, sondern es hängt von gefühlt zwei Dutzend Faktoren und ein bisschen Zufall ab, aber das klingt immer noch plausibler als die Grütze, die Matthias mal wieder von sich gibt”, erklingt eine deutlich höhere Stimme und die vierte im Bunde taucht auf. Ich bin mir nicht sicher, was auffälliger ist: Dass es sich um das einzige weibliche Mitglied handelt, oder um das einzig übergewichtige. Nicht, dass eins der beiden Dinge in irgendeiner Form verwerflich wäre! Nur neben den drei schon eher zu dünnen Jungen fällt das kräftige Mädchen schon ziemlich aus dem Raster. Eine ulkige Truppe. Und ich bin mir bewusst, dass es ironisch ist, wenn ausgerechnet ich so etwas denke. Leider nimmt sie meine Anwesenheit nicht so wortlos zur Kenntnis, wie ihre Kumpels, sondern mustert mich kritisch. „Und was macht der hier?” Oh oh, Zickenalarm auf zwei Uhr. Aber nicht mit mir Fräulein, ich lebe mit drei von deiner Sorte unter einem Dach! Wäre doch gelacht, wenn ich mit dir nicht fertig werden würde. Wobei ich es mir mit Pauls Freunden eigentlich nicht verscherzen will, das würde meinem Plan widersprechen. Aber zum unterbuttern lassen bin ich leider zu groß, sorry Schätzchen. Also setze ich mein entwaffnenstes Lächeln auf, lehne mich zurück, als hätte ich jegliches Recht hier zu sein – was streng genommen ja auch stimmt – und blicke sie gelassen an. Habe ich eben noch darüber nachgedacht, erneut die Flucht zu ergreifen, habe ich nun fest vor zu bleiben. „Nun, aktuell sitze ich hier. Übrigens, sehr bequem, danke der Nachfrage. Und davor habe ich Hausaufgaben gemacht und mich sehr nett mit meinem Stufenkameraden hier unterhalten, der mich schließlich auch auf eure hübsche Bank eingeladen hat.” Mit dem Daumen deute ich auf den Blonden neben mir. Das Mädel guckt mich ziemlich perplex an, ob meiner Dreistigkeit, ehe sie ein schnaubendes Geräusch von sich gibt, was sich kurz darauf zu einem Lachen steigert. „Na meinetwegen, du darfst bleiben”, erlaubt sie mir grinsend. „Zu gütig, eure Hoheit”, näsele ich gestelzt und mit einer gehörigen Portion Ironie. Mister Klassenclown fällt vor Giggeln fast von der Bank und auch dem anderen Kerl zaubert es ein schiefes Grinsen auf die Lippen. Doch wirklich interessieren tut mich nur eine einzige Person. Und die guckt ziemlich erleichtert in die Runde. Nanu? Hatte da noch einer Bedenken, wie das hier enden könnte?   ~*~   Man hätte ja meinen können, nachdem meine sporadische Anwesenheit im Kreise der Nerd-Außenseiter von diesen akzeptiert worden war, könnte ich Paul unauffällig aber stetig näher kommen, ihn aushorchen, seine Orientierung herausfinden und vielleicht auch mal ein 'harmloses' privates Treffen arrangieren. Doch nichts ist! Keinen Schritt weiter bin ich! Auf seine sonnenscheinige Art ist Paul undurchdringlich wie... Stahl wäre noch zu weich. Diamant eventuell. Ein sehr trüber, undurchsichtiger Diamant. Die Weihnachtstage stehen vor der Türe und so langsam verliere ich sowohl Geduld, als auch Hoffnung. Und gleichzeitig zieht es mich wie ein verdammter Magnet immer und immer wieder zu Paul zurück. Wenn er mich auf seine unschuldige Art anlächelt, schwebe ich für Stunden auf rosaglitzer Wolken umher. Bei jeder noch so zufälligen kleinen Berührung durchzucken mich Stromstöße, die mein kurzfristig erstarrtes Herz wieder in Gang setzen und zu Höchstleistungen antreiben. Und das kommt gar nicht mal so selten vor, diese kleinen Berührungen. Theoretisch ein gutes Zeichen, praktisch sehr ernüchternd eine Angewohnheit, die er bei all seinen Freunden an den Tag legt. Auf der anderen Seite, zählt er mich immerhin dazu. Heute war es ganz besonders schlimm. Zur Begrüßung bekam jeder von uns eine Umarmung und ich Idiot war so überrumpelt, dass ich sie nicht einmal vernünftig erwidern konnte. Wütend auf mich selbst bin ich kurz darauf zu meiner eigenen Truppe gestoßen, die meine gelegentliche Abwesenheit mit gemischten Gefühlen sieht. Also eigentlich ist es ihnen im Großen und Ganzen egal, da ich ohnehin immer ungerne mit in den Raucherbereich bin, erst recht im Winter, oder sie ziehen mich damit auf, dass ich 'fremdgehe'. Nur Sophie ist... schwierig. Sie konnte mir immer noch nicht genau sagen, was zum Henker sie nun gegen Paul hat, außer, dass er so gar nicht zu mir passen würde. Nach wie vor nennt sie ihn 'Muttersöhnchen'. Und über ihre Verkupplungsversuche mit dem Mädel aus einigen meiner Kurse haben wir uns ziemlich heftig in die Haare bekommen, weshalb wir seit Tagen nicht mehr miteinander reden. Was blöd ist, da wir uns fast alle Fächer teilen und dort nebeneinander sitzen. Jackpot, yeay. Nicht.   „Boah! Endlich Schluss!” Ächzend strecke ich meinen verspannten Rücken und folge der schnatternden Horde Schüler durch die Tür des Klassenzimmers in die temporäre Freiheit der Weihnachtsferien. Mein einziger Wermutstropfen: Ich sehe Paul für ganze zwei Wochen nicht. Und als hätte ich ihn damit heraufbeschworen, taucht sein blonder Haarschopf just in diesem Moment neben mir auf. „Ja, endlich ein paar ruhige Tage”, sagt er, als Antwort auf meine so dahingesagten Worte. Ich lache kurz aber sarkastisch auf. „Ruhig? Vielleicht an Silvester, wenn alle verkatert im Bett liegen. Aber vorher werden wir uns wieder alle gegenseitig den letzten Nerv rauben.” Mit einem Seufzen streiche ich mir die Haar hinters Ohr. Mir graust es jetzt schon davor, nach Hause zu gehen, wenn ich so drüber nachdenke. „Oh.” Paul guckt betreten drein wie ein getretener Hund, der nicht versteht was er falsch gemacht hat. Ich spiele schon mit dem Gedanken, mich einfach auf ihn zu stürzen, ihn zu knuddeln und zu knutschen (Pfui, allein sowas zu denken ist nun wirklich nicht meine Art!) bis er aufhört so geknickt aus der Wäsche zu schauen, weil er bald gar keine Wäsche mehr am Leib tragen wird... Ehe mein Kopfkino vollends eskaliert, erstrahlt das Gesicht des Jüngeren plötzlich wieder in seiner gewohnten Fröhlichkeit, die ich an jedem anderen Menschen zum Kotzen finden würde. Nur eben an ihm nicht. Paul darf das. Darf alles. Ääääh, Erde an Hirn und Unterleib, Abbruch, ich wiederhole, Abbruch! „Tja, da hab ich ausnahmsweise mal einen Vorteil. Bei uns wird es tatsächlich eher ruhig und besinnlich. Wobei so eine große Familie, wie du sie hast, bestimmt auch lustig ist.” „Naja... zumindest wird es nicht langweilig”, stimme ich ihm lachend zu. Wir erreichen die Haupthalle, wo sich unsere Wege zwangsläufig trennen. Etwas unschlüssig stehen wir voreinander, dann gebe ich mir einen Ruck und ziehe den Zwerg in eine feste Umarmung. Immerhin hat er heute Morgen damit angefangen, also darf ich das jetzt auch. Paul zögert nur kurz, ehe er die Umarmung erwidert. Viel zu schnell lösen wir uns wieder voneinander. Von mir aus hätten wir noch ewig so hier stehen können, aber ich will ja nicht, dass es ihm unangenehm wird. „Na dann... frohes Fest”, wünsche ich ihm etwas unbeholfen. „Dir auch”, sagt er leise und wendet den Blick ab, ein Lächeln auf den Lippen, die Wangen leicht rosa. Schnell mache ich mich auf den Weg, bevor ich noch etwas sehr Dummes mache. Doch als ich mich an der Türe noch einmal umdrehe, sehe ich, dass Paul noch immer dort steht und mir nachschaut.   Bei mir zu Hause herrscht ein noch größeres Chaos als es das ohnehin schon immer tut und das will einiges heißen. Der Baum liegt, noch im Netz gefangen, im Flur und sieht nicht allzu weihnachtlich aus. In der Küche diskutieren meine Mutter und meine große Schwester Alexis mit dem mobilen Telefonhörer, aus dessen Lautsprechern krächzend die Stimme meiner Oma und einer der Tanten dringt, Martin als stummer Augen- und Ohrenzeuge in einer Ecke eine Liste am anfertigen, die alles von Einkaufszettel bis hin zu Testament sein kann. Wie es sich anhört, hat mal wieder jeder das Essen ganz anders geplant und sich wie immer nicht miteinander abgesprochen, was wie gewöhnlich in einer riesigen Diskussion endet. Ich schnappe mir nur schnell eine Flasche Wasser und fliehe. Durch die geschlossene – und garantiert verriegelte – Türe meines kleinen Bruders dringt laute Hiphop-Musik, die absolut disharmonisch mit den nicht ganz so grässlichen aber immer noch schlimmen Metalcovern diverser populärer Weihnachtslieder aus dem Wohnzimmer konkurriert. In besagtem Raum hocken meine kleine Schwester, drei ihrer Freundinnen und mein Vater über einem halben Dutzend Kartons voller Deko, der halbe Inhalt fliegt bereits wild durch die Gegend. Alles schwankt zwischen Glitzer-Kitsch und Gothic-Kitsch. Was im Grunde das Gleiche nur in weniger bunt und mit mehr Totenköpfen ist, nicht zwangsweise mit weniger Glitzer oder weniger kitschig. „Ah, Josh! Gut das du da bist!” Mein Vater steht von dem abgenutzten Stoffsofa auf und kommt auf mich zu. Die unwesentlich kleinere, deutlich ältere Version dessen, was ich jeden Tag im Spiegel sehe. Plus Wohlstandsbauch, wie er es nennt. Und mit Vollbart. Mein Blick huscht zu einem der stilisierten, schwarzgekleideten Weihnachtsmänner. Hm... mein alter Herr könnte glatt als Santa Claus auf einer Szeneparty auftreten. „Du musst mir mit dem Baum helfen. Das Ding ist ganz schön störrisch dieses Jahr!” „Aber-” „Nichts aber! Hopp hopp, Junge! Pack mal mit an.” Resigniert lasse ich meinen Rucksack noch an Ort und Stelle zu Boden sinken und dackel gehorsam zum nadelnden Ungetüm. Na, was hab ich gesagt? Und spätestens Heiligabend geht die Bescherung erst richtig los. Bis dahin steht uns noch der alljährliche Kampf um Geschenkpapier und Klebeband bevor, panische Einkäufe in letzter Minute und ein aus allen Nähten platzendes Haus. Ich muss schmunzeln. Ja, langweilig wird es hier wohl nie. Und vielleicht habe ich dann auch mal für ein paar Tage Ruhe vor dem sehnsüchtigen Kribbeln in meinem Bauch. Hoffen darf man ja noch.   ~*~   Pauls POV   Vorsichtig öffne ich die Klappe des Ofens, nachdem ich die Uhrzeit kontrolliert habe. Fast perfekt! Habe ich sonst alles? Wein und Nachtisch stehen kalt, alles was warm sein muss, ist es auch. Noch ein letztes Probieren der Suppe, ob auch ja richtig gewürzt ist und ich bin fertig. Die flüssige Vorspeise ist das Einzige, auf das mein Vater seit jeher an Heiligabend besteht, auch wenn ich sie in eine vegetarische Version umwandeln durfte. Ich husche über den Flur und linse ins Wohn- und Esszimmer. Das Deckenlicht ist aus, die Stehlampe in der Ecke spendet nur gedimmtes Licht, doch Kerzen und die Lichterketten am kleinen Baum erhellen den Raum mehr als genug. Am Tisch ist mein Vater gerade dabei die Gläser zu verteilen, sieht dann auf, als hätte er meine Anwesenheit gespürt. „Ich bin soweit, wie sieht es mit dir aus?”, fragt er mich, ein ehrliches Lächeln im Gesicht. Für einen Augenblick wird mir das Herz schwer, als ich diesen viel zu seltenen Anblick in mich aufnehme. Kein Kummer, keine dunklen Schatten weit und breit. Warum nur kann es nicht immer so sein? Warum schaffe ich es nicht, ihm zu helfen? Mühsam verdränge ich diese Gedanken. Dafür ist später noch Zeit, nicht jetzt. Ich lasse mir die Stimmung nicht vermiesen, auch nicht von meinem eigenen Kopf. „Bei mir auch. Sollen wir anfangen?”, antworte ich deshalb.   Das Essen verläuft so, wie ich es prophezeit hatte. Ruhig und besinnlich. Unwillkürlich muss ich an Joshua denken, bei dem es vermutlich gerade ganz anders zugeht. Aber so sehr er auch über seine chaotische Familie schimpft, im Grunde scheint er sie wirklich gern zu haben, seine Worte sind unterschwellig immer sehr liebevoll. Meine Gabel verharrt auf halbem Weg zu meinem Mund. Komisch. Warum muss ich ausgerechnet jetzt an den Schwarzhaarigen denken? Weshalb nicht an an einen meiner anderen Freunde? Schließlich weiß ich, dass zumindest Matz jetzt auch auf einem Familientreffen ist. Und wieso zieht sich alles in meiner Magengegend zusammen? Muss wohl am Wein liegen, ich trinke ja nur selten Alkohol. Ja genau, das wird es sein.     ~*~   So, mal ein bisschen auf die Tube gedrückt, damit die Herren aus den Puschen kommen ;) bald sind wir dann an dem Punkt, den HidSec-Leser schon kennen und dann geht es auf in unentdeckte Gefilde. Yeay! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)