Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 26: Dunkler Strom ------------------------- Nur ein Paar kleiner Erdhügel erinnert noch an die beiden Tribute, Nummer dreizehn und vierzehn auf Finnicks langer Liste der Kinder, die er in den Tod begleitet hat. Zwei Namen mehr, die eine Narbe in seinem Herzen hinterlassen haben; die er in sein tägliches Mantra einschließen wird. Amylin, Flynn, Ephigenie, Titus, Carla, Matthew, Pon, Sia, Gavin, Ylvi, Sam, Eric, Edy, Cordelia. Tränen kommen ihm auch dieses Mal nicht, obwohl er es sich wünscht. Dafür weint Annie seinen Schmerz mit, in jedem Schluchzen, das sich ihrem zitternden Körper entringt. Ihm persönlich bleiben nur Bitterkeit und Resignation, die jegliche Kraft rauben, selbst wütend zu sein oder irgendwas zu empfinden. Schon jetzt graut ihm vor dem Jubeljubiläum und dem Leid, das es unweigerlich bringen wird. Womit soll das Kapitol die Grausamkeiten der letzten beiden Jubeljubiläen denn noch übertreffen? Langsam zerstreut sich die Trauergesellschaft, allen voran Bürgermeister Southshore, der förmlich das Weite sucht. Für gewöhnlich verbleiben nur Finnick und Annie in der Stille des Friedhofs, aber in diesem Jahr ist ohnehin nichts wie sonst. Bevor Riven, deren Augen rot unterlaufen von all ihren Tränen sind, flieht, schiebt Finnick sich ihr schweren Herzens in den Weg. Ehe er die Ruhe und Abgeschiedenheit genießen kann, muss er das hier erledigen. Immerhin gehört sie genauso zu ihrer kleinen Familie der Sieger, auch wenn sie es noch nicht weiß oder nicht wahrhaben will. Und jetzt braucht sie ebenso Unterstützung wie Annie. „Riven?“ Er fasst sie nicht an, sondern sorgt dafür, dass genug Luft zwischen ihnen ist, die ihr signalisiert, dass er nur zum Reden hier ist und sich ihr keineswegs aufdrängen wird. Sie soll bloß nicht wieder wegrennen, wie nach Erics Beerdigung. Der Schmerz in Rivens Augen ist offensichtlich, immerhin hat sie eine gute Freundin – womöglich die beste – verloren. Finnick will das Versagen der Mentoren nicht rechtfertigen, aber ihr doch zeigen, dass sie keinesfalls alleine ist mit ihren Empfindungen. Wie ihr Verlust auch ihm schmerzt, wenngleich aus anderen Gründen. Riven allerdings schlingt nur die Arme enger um sich und starrt ihn mit trotzig vorgeschobenem Kinn an. Ihre hellen Augen sind hart wie Stahl. In ihrer ganzen Haltung lauert etwas Angriffslustiges, eine schlafende Mutation, die nur darauf wartet, losgelassen zu werden. „Es tut mir so leid-“, hebt Finnick an, aber sie hört nicht eine Sekunde zu. Kaum, dass die ersten Worte seine Lippen verlassen haben, schiebt sie sich brüsk an ihm vorbei, nicht ohne eine Schulter schmerzhaft in seine Rippen zu bohren. „Sie waren halt nicht gut genug. Keine Sieger so wie wir. Ich habe es Elia noch gesagt, aber sie wollte ja nicht hören. Das hat sie nun davon.“ „Denkst du das wirklich? Sie war doch deine Freundin oder nicht? Du weißt, dass das Leben manchmal nur an einem seidenen Glücksfaden hängt. Denk an Eric. Er war nicht schlecht, sonst hätte er es nie so weit gebracht. Verletz ihr Andenken nicht so, das tut dir nur weh.“ „Ich war besser als sie. Beide.“ „Nein, du hattest mehr Glück!“ Schon wird seine Stimme lauter, aber ihre unfassbare Sturheit reizt ihn einfach. Warum kann sie es nicht einsehen, jetzt wo sie beobachten musste, wie alle aus der Akademie, die ihr etwas bedeutet haben, in den Spielen für nichts gestorben sind? Sie schnaubt bloß. „Glück, klar. Wir haben ja alle so ein Glück!“ Sarkastisch breitet sie die Arme aus. „Was ist es doch für ein schönes Leben, das wir alle hier genießen, so voller Glück. Ich kotz gleich vor lauter Glück.“ Die vorgeschobene Wut in ihrer Stimme erinnert ihn an Johanna, aber gleichzeitig ist da etwas so viel Verletzlicheres in ihrem Blick, der von Tränen zeugt. Im Gegensatz zu Finnicks Freundin klammert Riven sich verzweifelt an das bisschen Schöne, was sie noch im Leben hat – ihre Familie und Freunde. Und selbst Johannas Gleichgültigkeit angesichts ihrer Verluste ist nur aufgesetzt, auch wenn sie Meisterin darin ist, es niemanden sehen zu lassen. „Ich will doch nur, dass du verstehst, Riven-“ „Was soll ich verstehen? Dass es euch allen so leidtut? Keine Sorge, das ist mir klar. Ich sehe doch, wie Cresta flennt wie die Bescheuerte, die ist-“ Wütend schnappt Finnick nach Luft, um ihr seine Meinung zu sagen, aber sie denkt gar nicht daran, ihre Tirade zu unterbrechen, und er hat mehr Erfahrung darin, seinem Zorn nicht bei jeder Gelegenheit nachzugeben. „-und wie ihr alle Blicke austauscht, als wäre ich ein rohes Ei, dass ihr nicht fallen lassen dürft. Wenn es jemandem leidtun sollte, dann Elia. Sie ist schließlich diejenige, die tot ist. Vermutlich ist sie diejenige, die Glück hatte.“ Rivens Brust hebt und senkt sich hektisch, als der Strom ihrer Worte versiegt. Ihre Wangen sind feuerrot und Zorn vertreibt die ungeweinten Tränen aus ihren Augen. „Fick dich einfach, Odair. Dich und dein dämliches Gestammel.“ Ohne ihn eines weiteren Blicks zu würdigen, stampft sie von dannen. Fassungslos sieht Finnick ihrem leuchtend roten Haar hinterher, als sie den Hügel Richtung Stadt hinab läuft. Wenn überhaupt, dann hat Riven all ihre Trauer in noch mehr selbstgerechte Wut verwandelt. Früher oder später, das weiß er, wird sie daran zerbrechen. So wie sie alle zerbrochen sind, manche still und leise, andere mit einem Knall. Das sind erst die anfänglichen Risse in ihrer Fassade. Doch für den Moment weiß er nicht, wie er helfen kann, denn schon tritt in Form von Cece und ihrem gekünstelten Räuspern das nächste Problem an ihn heran. Verwundert mustert er sie. Üblicherweise flieht sie genauso schnell wie der Bürgermeister, in Gedanken vermutlich bereits zurück im Kapitol. Es ist kein Geheimnis, dass sie den einfachen Friedhof als unter ihrer Würde erachtet. Doch nun steht sie da, das Kinn stolz emporgereckt, in ein feines schwarzes Ensemble gehüllt. Nur die spitzen Hacken ihrer Schuhe versinken im weichen Gras. Gekonnt überspielt sie ihren Unmut darüber, aber die steile Falte um ihren linken Mundwinkel herum kennt er lange genug, um ihre Abneigung doch zu erkennen. „Finnick, mein Junge, auf ein Wort?“ Überrascht hebt er die Augenbrauen, folgt ihr aber ein paar Schritte zur Seite. Über die Schulter wirft er einen Blick auf Annie, die scheinbar gedankenverloren die Reihe an Gräbern entlangwandert, zu Pon. Wenn er Glück hat, bemerkt sie nicht einmal, dass sie gerade alleine ist. „Was willst du?“, fragt er Cece kurz angebunden. „Du solltest sie besser aufgeben.“ Er hat mir vielem gerechnet, doch nicht damit. Irgendwelche sinnlosen Pläne für das Jubeljubiläum, eine Maßregelung wegen Riven, belangloser Kram, der nur eine Betreuerin aus dem Kapitol interessiert. Aber nicht, dass sie so etwas fordert. Etwas Unmögliches. „Bitte?!“ Angesichts seiner mangelnden Höflichkeit verzieht Cece das Gesicht. „Wir sind uns doch einig, dass wir keine Tribute mehr beerdigen wollen, oder? Also, nicht mehr als nötig, versteht sich.“ „Was ... Ich denke, ich verstehe nicht, was du sagen willst.“ „Dabei ist eigentlich ganz einfach.“ Sie schnippt mit den langen Fingernägeln. „Unsere Position im Kapitol gerät gefährlich ins Wanken, wenn wir so unterwältigend weitermachen. Daran kann auch Riven nichts ändern. Und mit Verlaub – an ihrer Wirkung solltet ihr ebenfalls arbeiten, wenn ihr sie zur Siegestour präsentiert. Der Auftritt von euch Siegern in diesem Jahr war – gelinde gesagt – eine Katastrophe und daran trägt Annie einen großen Anteil. Ihr habt die volle Aufmerksamkeit des Präsidenten auf euch gezogen, selbst bei all den Kapriolen, die Distrikt Zwölf sich geleistet hat.“ „Dieses ‚Problem‘ haben wir geklärt, Cece.“ Aber sie schüttelt nur den Kopf und sieht ihn prüfend an. „Ich bin nicht blind für die Dinge, die um mich herum geschehen. Betrachte meine Worte als ein Dankeschön von mir. Wenn du Annie liebst, lass sie gehen, Finnick. Sonst bringst du alle in Gefahr. Auch sie. Falls du es nicht bemerkt hast, das Spiel hat sich verändert.“ Die Sonnenstrahlen wirken mit einem Mal entsetzlich kalt. Hat Snow das instruiert? Oder weiß Cece aus anderen Quellen davon? Versucht sie nur, sich wieder mehr Geltung zu verschaffen, und fischt mit ihrer Warnung lediglich im Trüben? Egal wie, Finnick wird übel. „Ich tue bereits alles, was Snow von mir verlangt. Das sollte für dich auch reichen, nicht?“ „Ich weiß. Betrachte es trotzdem als Warnung. Die Erste und Letzte.“ Ohne Vorwarnung lächelt Cece ihn wieder breit an und tätschelt seine Schulter. „Nächstes Jahr ist schließlich das große Jubeljubiläum, mein letztes Jahr als eure Betreuerin. Das wird wunderbar aufregend und wir wollen uns ganz darauf konzentrieren, nicht wahr? Ein Sieg zum Abschluss, daran werden wir arbeiten!“ Fast glaubt er ihr, dass sie es wirklich so meint. Er nickt, wie fremdgesteuert. Natürlich weiß er jetzt bereits, dass er das niemals können wird. Selbst wenn Snow ihm den Tod androht, gegen seine Gefühle ist er machtlos, das hat das Leben ihm schon einmal bewiesen. Und was können sie ihnen in Distrikt Vier denn anhaben? Sie haben Emerald Isle, auf der sie in Sicherheit sind. Nächstes Jahr, das schwört er sich, wird er es nicht wieder zulassen, dass Annie als Mentorin ins Kapitol muss. Dann wird alles gut, wie früher.   ***   Die Wochen nach der Rückkehr ziehen ereignislos ins Land. Aus dem heißen Sommer wird langsam aber sicher ein trauriger Herbst, der Stürme vorausschickt und das Meer zu krachenden Wellen auftürmt. Finnick ist das egal, denn seine größte Freude ist, dass er wieder bei Mags sein kann. In seiner Abwesenheit hat Isla aufopferungsvoll die Pflege übernommen und inzwischen befindet Mags sich weit vorne auf dem Weg der Besserung. Zwar ist ihre Sprache immer noch beeinträchtigt, aber sie kann wieder kleinere Strecken gehen und so spaziert Finnick oft mit ihr an der Küste entlang, zufrieden damit, zu schweigen. Oft lauscht er Mags‘ mühevollen Worten, mit denen sie ihm Geschichten von früher erzählt, von ihrer Familie und manchmal auch der Zeit vor den Hungerspielen, die ihm so unwirklich erscheint. Über die vergangenen Spiele reden sie gar nicht. Sie hat mitbekommen, was passiert ist, natürlich hat sie alles im Fernsehen gesehen. Auch ohne Worte seinerseits weiß sie als jahrzehntelange Mentorin, was sich während der Hungerspiele im Trainingscenter abspielt. Und über das, was Snow Annie angetan hat, ist er noch nicht bereit, zu sprechen. Manchmal begleitet Annie sie beide, dann hält Mags sanft ihre Hand und erzählt nur von den unzähligen schönen Erinnerungen, die sie wie durch ein Wunder in diesem Leben gesammelt hat. Wenn jemand Finnick Hoffnung spendet, dass alles besser werden kann, dann sie. Aber auch in die Akademie führen ihre Wege sie schließlich wieder. Mit jedem Tag, der verstreicht, rückt die Siegestour näher und mit der Siegestour rückt wiederum der Startschuss für das Jubeljubiläum weiter heran. Während draußen eisige Wellen über dem Strand zusammenschlagen, sitzt Finnick neben Mags in der düsteren Lagerhalle, durch deren Dach es an diversen Stellen tröpfelt, und mustert die klägliche Auswahl an potentiellen Tributen, die sich ihnen bietet. Sieben Jugendliche sind alles, was Lana noch vorweisen kann. Und selbst in den Augen dieser sieben Freiwilligen schimmert die Furcht, sobald er seinen Blick auf sie richtet. „Sie sind nicht bereitet“, seufzt er leise an Lana gewandt. „Und ich bezweifle, dass sie es sein werden, wenn es so weit ist. Nicht einmal Cordelia war bereit.“ Die sonst so stolze Trainerin schlägt müde die Lider nieder. „Ich weiß. Seit eurer Rückkehr habe ich es immer wieder mit Amber durchgesprochen, aber ... sie hat recht. Es hat keinen Sinn mehr, so weiterzumachen. Nachdem die anderen gesehen haben, was mit ihren Freunden passiert ist – nicht einmal Riven könnte sie noch überzeugen. Gerade Riven könnte sie nicht mehr überzeugen!“ Bei dem Gedanken an die jüngste Siegerin im Bunde ziehen sich Finnicks Eingeweide schmerzhaft zusammen. Abgesehen von dem Zusammentreffen auf dem Friedhof hat er sie kaum gesehen, meist nur aus der Ferne, trotz seines noblen Vorhabens, sie dieses Mal nicht alleine zu lassen. Ihm ist klar, dass der unerwartete Tod ihrer besten Freundin sie verändert hat, doch seine eigenen Gedanken sind an den meisten Tagen so laut, dass er immer wieder einen Grund gefunden hat, ihr aus dem Weg zu gehen. Um noch etwas länger Zeit mit Annie zu verbringen, fischen zu fahren, Mags zu besuchen ... Früher wäre seine einstige Mentorin diejenige gewesen, die sich ihrer angenommen hätte, aber das kann er angesichts der Umstände nicht mehr erwarten. Schuld lässt ihn zu Boden blicken. Irgendwer muss Verantwortung übernehmen, bald. „Sie hat es nicht wirklich verwunden, dass Cordelia nicht zurückgekommen ist, oder? War sie überhaupt noch einmal hier seitdem?“ Lana zuckt mit den Schultern. „Sie war ein paar Mal hier, hat aber nicht viel geredet, nur mit dem Schwert um sich geschlagen und alle in Angst versetzt. Allein das hat ein paar Leute verscheucht, nachdem ihre Trainingskämpfe immer brutaler wurden. Ich habe das Gefühl, dass diese Spiele schlimmer für sie waren als ihre eigenen.“ „Einen geliebten Menschen verlieren kann man nicht mit dem Kampf um das eigene Leben vergleichen“, nuschelt Mags leise, mit großer Betonung auf den einzelnen Worten. „Sie trauert, doch nicht jede kann damit umgehen.“ Hinter Finnicks Stirn breitet sich ein stechender Schmerz aus und er lässt den Kopf sinken. Ironischerweise kommt ihm zuerst der Gedanke, dass Cece nicht erfreut sein wird, wenn ihre strahlende Vorjahressiegerin bald endgültig ein Wrack ist. Insbesondere nicht, weil sie auf der Siegestour ihren beiden Nachfolgern das – symbolisch gesprochene – Zepter überreichen muss. „Ich werde versuchen, mit ihr zu sprechen“, versichert er niemand bestimmten. „Wollen wir hoffen, dass sie dieses Mal zuhört.“ Lange suchen muss er Riven nicht, denn sie nimmt ihm diese Aufgabe ab, indem sie selbst in die Trainingshalle gestiefelt kommt, die Kapuze ihrer Regenjacke tief in die Stirn gezogen. Keiner spricht ein Wort, während sie sich ihrer triefenden Kleidung im Tausch für Trainingssachen entledigt und sich ohne Begrüßung ein Schwert schnappt. Die verbliebene Gruppe aus Freiwilligen rückt merklich zusammen, sobald die Siegerin auf sie zukommt. Betretene Blicke wandern in Richtung Lana, die sich mit einem Zischen von der Tribüne löst und zu ihren Schützlingen eilt. „Was wird das Riven?“ Das Mädchen hebt den Kopf. „Ich trainiere, Lana. Irgendeiner von diesen Feiglingen soll schließlich nächstes Jahr überleben.“ „Darf ich dich daran erinnern, dass ich hier die Trainerin bin?“ Bedrohlich baut Lana sich vor ihrer einstigen Schülerin auf, die sie um einen Kopf überragt. „Und ich darf dich erinnern, dass ich die Spiele gewonnen habe, etwas, von dem du nicht einmal träumen kannst.“ Kalt wendet Riven sich ab. „Also, wer tritt gegen mich an?“ Von den Akademieschülern sehen beinahe alle auf ihre Schuhspitzen. Nur ein schmales Mädchen wagt es, Rivens Blick zu begegnen. Sie ist höchstens fünfzehn, ein wahres Fliegengewicht wie Finnick vermutet und bereits jetzt hat sie einige Narben gesammelt. Ein Kind der Straße, der Anblick ist ihm vertraut. Klug vom jahrelangen Überlebenskampf, nur körperlich kaum überlegen. Bevor Lana etwas sagen kann, nickt sie. „Ich tu’s.“ Die Trainerin sieht aus, als möge sie das Kind mit Blicken erdolchen, aber schließlich wirft sie ihr ein Schwert zu. „Bereu’s nicht.“ Mags an Finnicks Seite seufzt leise. „Ich erkenne so viel von euch in Riven“, murmelt sie. Er muss sich anstrengen, jedes ihrer schleifenden Worte zu verstehen. „Wütend wie Amber, stark wie Trexler, selbsthassend wie Floogs, stolz wie du und traurig wie Annie.“ „Verloren“, seufzt er leise. „Ich habe versagt oder? Wir alle haben versagt.“ Die Mentorin, die ihm so sehr wie eine Mutter ist, schüttelt den Kopf. „Ihr habt noch eure Chance. Nutze sie.“ Er wendet den Blick wieder zurück in die Halle, wo Riven ihre Gegnerin in engen Kreisen vor sich hertreibt, Schlag um Schlag. Das Mädchen ist flink, das muss er ihr lassen, aber ihre Kraft lässt schnell nach und Riven wird von Verzweiflung angetrieben. Immer brutaler schlägt sie zu, als wäre sie wieder in der Arena und ihr Leben stünde auf dem Spiel. Unachtsam rutscht das Straßenmädchen schließlich aus und landet auf ihrem Hintern. Gnade erweist Riven ihr nicht. Stattdessen stößt sie ihr wuchtig das Trainingsschwert auf die Brust, sodass ihr Kopf dumpf auf den Boden schlägt. „Riven! Hör auf!“, faucht Lana und springt an die Seite ihrer Schülerin, die benommen stöhnt. „Tot wäre sie, tot!“, brüllt Riven aus Leibeskräften. „Wenn ich ein Karriero wäre, dann hätte sie keine Chance!“ Obwohl ihre Gegnerin längst ergeben die Hand hebt, schlägt Riven noch einmal auf sie ein. „Sie werden dich leiden lassen, so wie Eric, so wie Edy, so wie Cordelia ...“ „Riven, Stopp!“, geht Lana erneut dazwischen. Doch die Siegerin hält nicht eine Sekunde inne. Ihre Schläge prasseln weiter auf die Schülerin ein. Entschlossen springt Finnick über die Abgrenzung der Zuschauertribüne und packt Riven am Kragen. So klein und leicht, wie sie ist, kann sie ihm nichts entgegensetzen. Feuer lodert in ihren Augen. „Was willst du, Odair?“ Hasserfüllt speit sie ihm die Worte entgegen. Die Ohrfeige trifft sie unvorbereitet. Für einen Augenblick ringen verschiedene Gefühle in ihrem Blick miteinander, dann gewinnt Trotz die Oberhand. „Willst du noch jemanden umbringen? Ist es das, was du willst? Die Arena zurück? Glaubst du, das macht es leichter?“ Er ist wütend, so wütend wie schon lange nicht mehr. Es fühlt sich beinahe gut an. Rivens Unterlippe zittert, aber ihre Hände sind immer noch zu Fäusten geballt. „Ach, leck mich doch.“ Mit diesen Worten reißt sie sich los und stapft aus der Halle. Dieses Mal lässt Finnick sie nicht ziehen, sondern setzt ihr nach. „Riven!“ Er bekommt sie auf dem Weg Richtung Hafen zu fassen. Bereits jetzt sind sie beide vom Regen durchnässt und eisige Tropfen stechen ihn in die nackten Arme. „Du kannst nicht ewig weglaufen“, sagt er bestimmt und packt sie an den Schultern. „Bitte, hör mir dieses Mal zu. Danach kannst du mich gerne hassen, so viel du willst.“ Er weiß nicht, ob es Tränen sind, die über ihre Wangen laufen oder doch nur der Regen, aber die Flammen in ihren Augen ersterben flackernd. Plötzlich ist sie wieder nur ein Mädchen, gerade einmal neunzehn Jahre alt und mit einer Last auf den Schultern, die viel zu groß für eine Person ist. „Ich kann doch nur töten. Das ist alles, was ich je gelernt habe.“ Ihre Worte treffen ihn ins Mark. Lange Zeit hat er geglaubt, dass er genauso ist. „Das stimmt nicht. Komm mit nach oben ins Dorf, ins Warme. Und dann reden wir.“   Annie sitzt ruhig an dem Esstisch in seiner Küche, eine dampfende Tasse Tee vor sich, als Finnick gemeinsam mit der klatschnassen Riven hereinkommt. Stumm mustert sie die Spur aus Wassertropfen, die er und sein überraschender Gast auf dem Holzboden hinterlassen, ehe sie zwei weitere Tassen aus einem der Schränke holt und Kräutertee einfüllt. Riven bleibt im Türrahmen stehen, die Arme fest um ihre Mitte geschlungen. Ihre Augen sind wachsam auf Annie geheftet. Falls sie überrascht ist, dass Annie in Finnicks Haus und nicht in ihrem eigenen ist, dann lässt sie es sich nicht anmerken. Dabei trägt Annie sogar einen von Finnicks Pullovern aus weichem Kaschmir, die ihm selber viel zu warm sind. Andererseits ist es wohl ohnehin offensichtlich, denkt Finnick resigniert. Snow wird nicht der Einzige sein, der es trotz aller Vorsicht gemerkt hat und hier in Distrikt Vier wissen es vermutlich noch mehr Personen, die sie beide in den letzten Jahren beobachten konnten. „Ihr solltet trockene Kleider anziehen, bevor ihr euch erkältet“, sagt Annie nüchtern. „Ich habe noch etwas oben, das du haben kannst, Riven. Es müsste dir passen.“ Sie stellt keine Fragen, wundert sich nicht, warum er plötzlich Riven mit nach Hause bringt. Vermutlich ahnt sie längst, was der Anlass ist. Seit sie endlich Abstand zwischen sich und das Kapitol gebracht hat, gibt es wieder mehr gute Tage für sie, an denen sie ihre scharfe Beobachtungsgabe unter Beweis stellt. Bisweilen hat Finnick fast den Eindruck, dass es ihr besser als je zuvor geht, auch wenn das trügerisch ist. Der Schmerz ist nur eine Schicht tiefer gewandert; dorthin, wo selbst er ihn manchmal nicht mehr sieht. Die Folgen ihrer Behandlung im Kapitol. Zusammen mit der wortlosen Riven verschwindet Annie in Richtung Treppe. Zum ersten Mal seit ihrem Sieg scheint Riven ihr nicht nur mit Herablassung zu begegnen. Der Trotz funkelt immer noch in ihren Augen, als sie in Annies Kleidern in die Küche zurückkehrt, aber es ist die Art stillen Selbsterhaltungstriebs, den sie braucht, um nicht völlig zusammenzubrechen, angesichts der Dinge, sie erlebt – und getan – hat. Finnick selber hat sich ebenfalls ein paar trockene Sachen aus dem überflüssigen Ankleidezimmer im Erdgeschoss geschnappt, die das Vorbereitungsteam jedes Jahr in Hülle und Fülle zu ihm schickt. Jetzt ist er für die anstehende Unterhaltung overdressed, aber sie sind ganz andere Extreme aus dem Kapitol gewöhnt. Annie folgt Riven wie ein stiller Schatten und lässt sich neben Finnick nieder, ihre Hände erneut fest um ihren Lieblingsbecher mit den bunten Punkten geschlungen. Nur er weiß, welche Rettungsanker diese Kleinigkeiten für sie sind. Sie lindern ihre Nervosität, wenn sie sich mit ihnen umgibt, genauso wie ihre Anwesenheit Bestärkung für ihn ist. „Ich werde bleiben“, stellt Annie beherrscht klar und sieht ihm direkt in die Augen. Ein Blick, der keinen Widerspruch duldet. Glücklich ist er darüber nicht, denn dieses Gespräch wird schmerzhaft, das weiß er. Aber Annie scheint wild entschlossen und wenn er eines gelernt hat, dann, dass sie einen eisernen Willen hat. Riven lässt sich nur zögerlich ihnen gegenüber nieder, die Arme weiterhin um ihre Körpermitte geschlungen. Es sieht nicht danach aus, dass sie von alleine anfängt zu reden, also beginnt Finnick mit einer schonungslosen Wahrheit. Lieber reißt er das Pflaster in einem Ruck ab, als die Umstände länger zu beschönigen. „Es bringt nichts, zu ignorieren, was geschehen ist, Riven. Du darfst nicht vergessen, ich – wir – sind ebenso Sieger wie du. Wir haben dasselbe durchgemacht wie du, mehr sogar noch, mit jedem Jahr Mentoring. Cordelia und Edy sind tot, weil wir sie nicht retten konnten. Und ja, es tut uns leid, dass es so passiert ist. Aber das Leben geht weiter, auch ohne sie. Du darfst sauer und auch traurig sein, aber lass das nicht an denen aus, die nichts dafür können.“ „Ach, und das ändert was?“ Ohne ein Schwert in der Hand ist Riven bedeutend weniger aggressiv, wenn auch weiterhin angriffslustig. Zumindest ein Anfang. Annie pustet nachdenklich auf ihren Tee, den Blick in sich gekehrt. Sie sieht Riven nicht einmal an, als sie zu sprechen beginnt. „Es ändert nichts. Der Ausgang dieser Sache ist unveränderlich. Wir haben sie verloren. Aber darum geht es hier auch gar nicht oder?“ Ihr Blick wandert zum Fenster hinüber, von dem die Regentropfen abperlen. „Es geht nur darum, wie wir damit leben. Ob die Toten uns verfolgen. Ob sie unser Leben bestimmen oder wir uns von ihnen verabschieden.“ Ein trauriges kleines Lachen entringt sich ihrer Kehle und Finnick legt eine Hand auf ihre an der warmen Tasse. Aber sie scheint mit ihrem Kopf nicht länger in der Küche zu verharren, so wie ihre Augen in die Ferne gerichtet sind. Auf Rivens Gesicht zeichnet sich Unwohlsein ab, angesichts von Annies Wandel. Sie lehnt sich in ihrem Stuhl weit vom Tisch zurück, die dünnen Augenbrauen kritisch zusammengezogen. „Ich sehe sich manchmal immer noch, weißt du?“ Annie schüttelt den Kopf und ihr Blick schwankt zwischen Wirklichkeit und ferner Erinnerung. „Aber ich muss weitermachen. Sonst wäre es alles umsonst, der Tod von ihnen allen. Auch Cordelias und Edys. Also finden wir etwas, das unserem Leben wieder Sinn gibt.“ Finnick lächelt sie an, gleichwohl sie das in ihrem gedankenverlorenen Zustand gar nicht merkt. „Annie hat recht. Wir können immer noch etwas finden, das unser Leben wert ist. Nicht von heute auf morgen und es gibt Tage, an denen fällt selbst das Aufstehen schwer, auch nach Jahren noch. Du bist nicht bloß gut im Töten, Riven. Keiner von uns. Wir haben nur getan, was wir mussten. Damit müssen wir leben, ebenso wie mit allen weiteren Toten, die auf unserem Weg warten. Das Los eines Siegers.“ Riven lehnt sich noch ein Stück zurück, bis die Vorderbeine ihres Stuhls sich knapp vom Boden heben und sie in gefährliche Schieflage bringen. „Schön und gut“, erklärt sie mit verschränkten Armen, „aber ich habe mich bereits damit abgefunden, dass Elia tot ist. Ich habe sie begraben, eine Handvoll Salz auf ihr Grab geworfen und sie dafür verflucht, dass sie sich hat töten lassen. Ich muss nicht wissen, wie ich das hinter mir lassen kann! Ich will wissen, wie ich verhindern kann, dass es jemals wieder passiert! Denn ich werde nicht zulassen, dass sich diese Niederlagen für unseren Distrikt fortsetzen. Ich will Sieger und Siegerinnen schaffen! Im Gegensatz zu euch akzeptiere ich nicht einfach, dass unsere Tribute schwach sind, nicht fähig, im Kampf zu gewinnen und –“ Ein Zucken läuft durch Annies Körper, als sie ruckartig ihren Blick von dem regenverhangenen Himmel losreißt. Ihre Augen heften sich mit brennender Intensität auf Riven. Die Knöchel an der gepunkteten Teetasse sind weiß vor Anspannung. „Nein, du hast dich nicht damit abgefunden, das kannst du gar nicht“, bricht es so energisch aus ihr hervor, dass die Beine von Rivens Stuhl mit einem Krachen zurück auf den Boden treffen. „Du willst, dass es weitere Siege für Distrikt Vier gibt, nur damit du nie wieder trauern musst. Du kannst dir genauso wenig wie ich eingestehen, dass du dem Tod niemals entkommen wirst, selbst wenn du das Spiel des Kapitols brav mitspielst!“ Annies Stimme schwingt sich mit jedem Satz in neue Höhen und schließlich springt sie auf die Füße, wobei sie gegen den Tisch stößt und Finnicks Tasse umwirft, deren Inhalt sich unaufhaltsam über das Holz ergießt. Heißer Tee tropft auf seine Hose, doch das ist ihm egal. Bestürzt legt er eine Hand auf Annies Schulter. Er murmelt ihr besänftigende Worte zu, von denen er sich nicht sicher ist, ob sie durch ihre plötzliche Wut dringen. „Riven Sanders“, ruft Annie trotz seiner Bemühungen wütend, „hör auf, die Schuld bei anderen zu suchen! Cordelia und Edy waren nicht schwach. Sie waren einige der stärksten Tribute, die ich je gekannt habe, und du wirst ihr Ansehen nicht beschmutzen mit deinen Worten!“ Für einen Moment erfüllt nur Annies angestrengtes Keuchen und das Prasseln des Regens die Küche. Stetig tropft Tee von der Tischkante. Keiner von ihnen wagt es, zu sprechen. Finnick steht ebenfalls, die Arme sanft um Annie geschlungen. Beruhigend wiegt er sie hin und her, bis die ersten Tränen sein Hemd durchnässen. Riven ist bleich unter dem feuerroten Haar. Sie presst die Hände gegen ihre Oberarme, aber sie kann nicht verbergen, dass sie zittern. Mit einer Arroganz, die einzig der Sieg ihr gebracht hat, hebt sie stolz das Kinn. „Warum haben sie dann nicht gewonnen?“, verlangt sie fordernd zu wissen. „Warum sind Cordelia und Edy tot, wenn sie doch so stark waren?“ „Weil das die Hungerspiele sind, Riven“, sagt Finnick hart. „Muss ich dir das wirklich noch erklären? Erinnerst du dich noch, wie es ist, wenn zweiundzwanzig andere dir nach dem Leben trachten? Wie es sich anfühlt, wenn du deinen Verbündeten nicht weiter traust, als du ihnen ein Messer hinterherwerfen kannst? Die stetige Todesangst, die vielen Momente, in denen es so knapp war? Du hattest Glück, selbst wenn du es nicht einsehen willst. Glück hat dir dein Leben gerettet und es gleichzeitig verdammt.“ Annie in seinen Armen nimmt einen tiefen Atemzug. Tränenspuren glitzern auf ihren Wangen, doch ihre Stimme ist überraschend fest, als sie sich erneut an Riven richtet. „Glaubst du wirklich, dass der Sieg ihnen einen Gefallen getan hätte? Ist es nicht eher eine Strafe, am Ende übrig zu sein? Ich weiß, du willst dieses neue Leben lieben, aber ... die toten Tribute jedes Jahr sind unsere Realität, das habe ich selber erst in diesem Jahr richtig begriffen. Denn wenn ich könnte, hätte ich sie zurückgebracht, das musst du mir glauben. Das Kapitol hat mich sogar dafür gefoltert, dass ich nicht loslassen konnte. Mit Stromstößen, mit Drogen, mit den Aufnahmen von Edys Tod. Immer und immer und immer wieder. Sie erzählen, ich wäre verrückt, aber sind nicht sie es, die verrückt sind, weil sie uns zwingen, dankbar für den Sieg und die Spiele zu sein?“ Finnick sieht, wie Riven schluckt. Ihre Schultern wandern immer höher und ihr Kinn sinkt langsam herab, während ihr Blick auf die Tischplatte fällt. „Wenigstens wäre ich dann nicht mehr alleine, wenn sie gewonnen hätte“, flüstert sie bitter. „Wenn Elia ihr Versprechen mir gegenüber eingelöst hätte, dann wären wir zusammen gewesen. Das ist alles, was ich mir gewünscht habe. Auch wenn es sie gebrochen hätte. Gemeinsam wären wir vielleicht wieder ganz oder?“ Hoffnungssuchend sieht sie zu Finnick auf, wie er Annie eng an sich gedrückt hält. Es dauert, bis er eine Antwort darauf findet. „Das, was wir verloren haben, wird nie wieder zu uns zurückfinden, egal wie viel Mühe wir uns geben, die zerbrochenen Teile wieder zusammenzusetzen. Aber es ist mitunter einfacher, wenn man nicht alleine ist, ja. Und du bist nicht alleine, Riven. Wir sind alle für dich da, wenn du uns nur lässt. Erlaube dir, zu trauern. Erlaube dir, mit uns darüber zu reden. Wir verstehen dich besser, als du denken magst. Jeder von uns Überlebenden hat eine wichtige Person an die Spiele verloren.“ Ein trockenes Schluchzen verlässt Riven und sie vergräbt das Gesicht in den Händen, ihr letzter Widerstand gebrochen. Annie sinkt zurück auf ihren Stuhl, ihrer ganzen Körperspannung beraubt. Ihre Finger schlingen sich wieder um die Teetasse und Finnick holt endlich einen Lappen, um den tropfenden Tee aufzufangen. Riven braucht lange, um ihre Sprache wiederzufinden. Eine Weile betrachtet sie durch ihre Finger bloß die Maserung des Tisches und die Pfütze, die Finnick fortwischt. Dann lässt sie die Hände in den Schoß sinken und seufzt. „Ich habe nie verstanden, was es heißt, dass der Tod vor allem für jene schlimm ist, die zurückbleiben“, flüstert Riven leise. „Meine Mutter hat das zu mir gesagt, bevor ich in die Arena gegangen bin. Aber erst jetzt, wo Elia nicht mehr da ist ... Ich habe so damit gerechnet, dass sie zurückkommt. Ich dachte wirklich, dass sie es doch irgendwie schafft. Immerhin habe ich es auch geschafft.“ Ihre hellen Augen sind leer, als sie eine einsame Träne fortwischt. „Aber ich hatte wirklich nur Glück, nicht wahr?“ „Ja.“ Finnick zuckt entschuldigend mit den Schultern. Diesen Fakt muss sie verstehen, auch wenn es wehtut. Das war ihm ja von Anfang an klar. Riven atmet tief ein und aus, den Blick auf ihre Hände gerichtet. „Dann ... Erzählt mir mehr von Elia. Bevor ... sie gegangen ist. Wie ihre letzten Tage vor den Spielen waren. Ob sie – ob sie vielleicht glücklich war?“ Finnick und Annie reden an diesem Nachmittag lange mit Riven. Sie erzählen von den Tagen im Trainingscenter, die sie mit Edy und Cordelia verbracht haben. Von den hoffnungsvollen Momenten wie den traurigen. Der Nachtischdiebstahl bringt das Lächeln auf Rivens Züge zurück. Es ist nicht länger dasselbe hochnäsige, selbstgefällige Lächeln einer Siegerin, sondern ein von Verlust gezeichnetes Zucken der Mundwinkel, aber es ist ein Anfang. Endlich begreift Riven Sanders, Überlebende der dreiundsiebzigsten Hungerspiele, welchen Preis sie gezahlt hat.   ***   Die Begegnung mit Riven hat sie beide mehr erschüttert, als sie zuerst bemerken. Doch nachdem Annie in der folgenden Nacht das erste Mal seit Tagen wieder einen Albtraum hat, aus dem sie schreiend aufwacht, weiß Finnick, dass sie eine Auszeit brauchen. Nach der Rückkehr aus dem Kapitol vor Wochen haben sie nicht einmal Zeit dafür gefunden. Immer gab es etwas mit Mags zu erledigen und Cece hat ständig angerufen, um Pläne für das Jubeljubiläum zu besprechen, sodass aus ihrem üblichen Ausflug zu dem geheimen Haus nichts geworden ist. Inzwischen ist die Rückkehr nach Emerald Isle in ihrem kleinen Boot nicht mehr ungefährlich, aber Finnick will nicht warten, bis das Wetter besser wird. Und Annie ist alles recht, um der Enge im Distrikt zu entfliehen. Also wagen sie es eines frühen Morgens wieder, als die Wellen klein sind und der Regen eine Pause einlegt. Das Meerwasser ist noch angenehm mild – irgendeine Strömung, wie Finnick sich erinnert, die das warme Wasser in ihre Bucht treibt. Aber selbst auf der Insel lässt sie das drohende Jubeljubiläum nicht los. „Wer wird nächstes Jahr Mentorin?“ Annie läuft neben ihm über den Strand und sammelt fleißig Muscheln für eines ihrer Bastelprojekte, als sie diese Frage aus heiterem Himmel stellt. Überrascht sieht Finnick auf und trifft auf den Blick aus ihren blau-grünen Augen, der ihm jedes Mal aufs Neue den Atem raubt. „Ihr könnt das Riven nicht zumuten. Ich will nicht, dass ihr diese Bürde auferlegt wird. Und Mags ...“ „Mach dir darüber keine Sorgen“, unterbricht er sie schnell. „Bitte.“ Sie legt die Stirn in Falten und den Kopf schief. „Ich mache mir keine Sorgen, Fin. Ich möchte es nur wissen. Je eher ich es weiß, desto eher bin ich darauf vorbereitet. Snow will es doch so, nicht wahr?“ „Scheiß auf Snow“, flucht er, „du wirst nicht zurückgehen!“ Sie legt ihre Hände auf seine Schultern. „Ich kann Riven das nicht antun. Sie hat mehr Zeit verdient. Ich werde das übernehmen, Fin. Es wird wehtun, aber ... ich kann das.“ Warum ist sie bloß so stur, obwohl es sie selbst verletzt? „Es ist gefährlich, Annie. Das Kapitol ... sie haben ein Auge auf uns. Wenn ich dich um mich habe – glaubst du, ich kann einfach wegsehen? Ich muss vorsichtig sein. Jetzt mehr denn je. Es wäre einfacher, wenn du hier bleibst.“ „Ich habe Riven nicht geholfen, den Tod von Cordelia zu akzeptieren, nur damit ich ihr jetzt das Messer in den Rücken ramme“, hält Annie dagegen. „Fin.“ Sie greift versöhnlich nach seiner Hand und streicht mit dem Daumen darüber. „Wir können das, okay? Wir haben doch schon so viel überlebt.“ Er stimmt ihr schweren Herzens zu, auch wenn es ihm lieber wäre, sie für die kommenden Spiele ganz weit weg zu wissen. Seine Sorgen dazu vervielfachen sich in der Nacht, als er sich wieder in den Raum im Obergeschoss schleicht, um endlich zu erfahren, was im Rest von Panem nach dem unerwarteten Doppelsieg geschehen ist. Beetee sieht müde aus, wie immer. Seine Drahtbrille liegt ihm auf der Nasenspitze und seine dunklen Locken sind unordentlich, als hätte er sie schon hundertmal in Verzweiflung gerauft. „Finnick, endlich!“ Er schiebt seine Brille hoch, nur damit sie gleich wieder herunterrutscht. „Beetee, es freut mich auch, dich zu sehen“, begrüßt Finnick ihn. „Was liegt an? Gibt es irgendwas Neues bei euch?“ Sein Gegenüber wringt aufgeregt die Hände. „Du machst dir ja keine Vorstellungen“, murmelt er. „Habt ihr irgendwelche Nachrichtenkanäle geschaut?“ Überrascht zieht Finnick eine Augenbraue hoch. „Schon, aber da lief das Übliche. Nichts, was irgendwie von Belang wäre, nicht wahr?“ Inzwischen ist er gut darin, nach den kleinen Anzeichen in den kargen Nachrichten Ausschau zu halten, die mehr verraten, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Doch in den vergangenen Wochen ist es ruhig geblieben. Nur die Werbung für die Siegertour im Winter ist angelaufen, ein prächtiger Zusammenschnitt der besten Szenen aus den letzten Spielen. Das Finale mit den Beeren ist nicht Teil des Ganzen, was wenig überraschend ist. „Schön, dann enthalten sie euch auch Informationen vor.“ Beetee flucht leise, wie es sonst gar nicht seine Art ist. „Was meinst du damit?“ „Etwas geht vor sich, hinter den Kulissen, aber die Distrikte werden natürlich im Dunklen gelassen. Ich weiß es nur, weil ich mich routinemäßig in das Nachrichtennetzwerk des Kapitols gehackt habe und über einen winzig kleinen Bericht gestolpert bin. Nicht einmal im Kapitol hat man es an die große Glocke gehängt.“ „Und ... das wäre was?“ „Seneca Crane ist tot.“ Die Nachricht verfehlt ihre Wirkung nicht. Dass der oberste Spielmacher tot ist, kann kein Zufall sein; nicht im Kapitol. „Wer ist sein Nachfolger?“, stellt Finnick die alles entscheidende Frage. Diesmal überrascht Beetee ihn mit einem Lächeln, das sich auf seinen müden Zügen ausbreitet. „Plutarch Heavensbee.“ Finnick wird der Mund trocken. Das ist gut, der Mann ist Distrikt Dreizehn verbunden, doch es fällt ihm schwer, Freude darüber auszudrücken. Plötzlich kommt so viel Bewegung in ihre Rebellion, dass es ihm das Herz zusammenzieht. Er will nicht behaupten, dass es zu überstürzt geschieht, aber genau so fühlt es sich an. Wie ein rasanter Tanz, bei dem die Musik immer schneller und schneller wird, bis er nicht mehr mithalten kann. „Haben wir einen Plan?“ Beetees Blick fällt auf etwas neben dem Holoprojektor. Er weicht Finnick aus, schiebt die Brille nervös wieder höher. „Vielleicht. Ich ... weiß nicht wirklich viel von den Beweggründen hinter der Grenze. Sie halten sich bedeckt. Aber die Entwicklungen der letzten Wochen haben zweifellos Aufsehen erregt. Finnick, etwas wird geschehen, ich weiß nur noch nicht, was.“ Ein anderer Gedanke kommt Finnick, an den kräftigen Thresh und sein unrühmliches Ende unter den Händen von Cato. An den Aufstand von Chaff, der brutal niedergeschlagen wurde. „Was ist mit Elf?“ „Ich schicke dir einen Artikel. Lies ihn schnell, er vernichtet sich nach zwei Stunden automatisch. Reine Vorsichtsmaßnahme. Wir sollten bald wieder miteinander reden, wenn es möglich ist. Aber sei vorsichtig. Jetzt noch mehr als vorher.“ „In Ordnung.“ Finnick nickt und starrt dann einen Moment lang durch das bläuliche Licht der Holoprojektion hindurch, in Gedanken verloren. Beetee beendet schließlich die Verbindung und lässt ihn im Dunkel zurück, mit einer unbestimmten Angst vor den nächsten Spielen. Das Kapitol ist nicht einfältig. Wenn sie schon Seneca Crane aus dem Weg geräumt haben, sind sie auf dem Kriegspfad. Und die anhaltenden Aufstände in Distrikt Elf, von denen in Beetees Artikel die Rede sind, bedeuten nur weiteres Öl im Feuer, das Distrikt Zwölf entfacht hat. Er erinnert sich an Dr. Gaia Gauls Worte an ihn, an die Kontrolle, die dem Kapitol entgleitet. Wenn sie nicht aufpassen, werden sie sich alle verbrennen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)