Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 21: Feindschaften ------------------------- Nervös wickle ich eine Haarsträhne um meinen Finger. Den gesamten gestrigen Abend habe ich zusammen mit Cece damit verbracht, Formulierungen für das letzte Interview einzustudieren. Vorbereitet fühle ich mich dennoch nicht. Wieder einmal stehen wir im Wartebereich vor Caesar Flickermans Studio, dieses Mal alle Mentoren gemeinsam. Roan hat uns in vergleichsweise schlichte schwarze Entwürfe gehüllt, die trotzdem kein Vergleich zu unserer herkömmlichen Trauerkleidung sind. Weder Arme noch Reiche in Distrikt vier würden derart pompöse Outfits zu einer Beerdigung anziehen. Ich glaube sogar, dass niemand daheim überhaupt Kleidung besitzt, die ähnlich hochwertig ist. Zu Trauerfeiern tragen wir einfach die besten Stücke, die unsere Garderobe hergibt. Manche Familien aus der Stadt färben ihre Sachen extra für den Anlass schwarz ein, aber das ist selten. Färbemittel sind teuer. Unser Aufzug steht in großem Kontrast dazu. Amber und ich haben sogar jede einen Hut mit kleinem Schleier in den Haaren festgesteckt bekommen, der laut Cece vornehm wirken soll. Mich stört er nur. Dahinter verstecken kann man sich nicht, denn der Stoff reicht kaum bis zur Nasenspitze. Er teilt bloß mein Sichtfeld in irritierende kleine Karos und ich muss dem Drang widerstehen, ihn fortzuwischen. Niemand in Distrikt vier würde sowas tragen wollen. Cece aber schlägt dem Fass den Boden aus. Zu ihrem überdimensionierten Hut, dessen Krempe so breit ist wie ein Rettungsring, trägt sie ein dramatisches bodenlanges Kleid, das dank unzähliger dunkler Glitzersteinchen bei jeder Bewegung funkelt. Mit einem riesigen Fächer versucht sie, sich eine Abkühlung zu verschaffen. Die Luft im Fernsehstudio ist zum Schneiden dick – und das liegt nicht nur daran, dass draußen Hochsommer herrscht. Seit Cece eine der Sendeleiterinnen zur Schnecke gemacht hat, weil wir auf unseren Auftritt warten müssen, treffen sie böse Blicke der Angestellten. „Das ist doch nicht zu fassen“, murmelt Cece schon wieder. „Das sind jetzt zwanzig Minuten. So lange hab ich mein ganzes Leben noch nicht warten müssen. Das bringt den ganzen Terminplan durcheinander!“ Mindestens ebenso genervt rollt Amber mit den Augen. „Was für ein Terminplan, Cece? Falls du es vergessen hast, wir sind nur hier, weil wir keine Termine mehr haben. Für uns sind die Spiele vorbei.“ Unsere Betreuerin lässt ein entrüstetes Keuchen hören. „Es gibt genug zu organisieren! Nur weil wir dieses Jahr ausgeschieden sind, heißt das nicht, dass wir jetzt auf der faulen Haut liegen können. Nächstes Jahr ist ein Jubeljubiläum! Da kann man nie früh genug mit den Vorbereitungen anfangen. Gerade, wenn man es nächstes Jahr besser machen will.“ Amber entgegnet nichts mehr, doch als Cece ihr den Rücken zuwendet, rollt sie noch einmal demonstrativ mit den Augen. Ich unterdrücke ein kleines Zucken der Mundwinkel. Zum Glück bestreiten wir diesen Auftritt gemeinsam. Wenn die anderen nicht wären, hätte Cece mich wahrscheinlich längst in den Wahnsinn getrieben. Erlöst werden wir kurz darauf von der Sendeleiterin, indem sie uns zum Bühnenaufgang winkt. Die Sendung vor unserer ist mit knapp dreiundzwanzig Minuten Verzug endlich beendet. Das bringt das Lächeln auf Ceces Gesicht zurück. Lange währt ihre gute Laune allerdings nicht. Aus Richtung des Studios kommt uns ausgerechnet Haymitch Abernathy entgegen, dessen Krawatte schlampig gebunden um seinen Hals baumelt. Abgesehen davon sieht er so gefasst aus wie selten. Sogar seine Haare sind gekämmt. Bei unserem Anblick verdunkelt sich sein Blick. „Mussten wir etwa wegen ihm warten?“, stößt Cece empört hervor. „Ja, Schätzchen, wegen mir“, fährt er ihr genervt über den Mund. „Ich hoffe, dir ist kein Fingernagel abgebrochen während der Wartezeit. Nächstes Mal lasse ich Flickerman wissen, dass er vorher dich um Erlaubnis fragen soll, wenn er die Interviews verschiebt.“ Cece schüttelt schon den Kopf und setzt zu einer Erwiderung an, aber Trexler wirft ihr einen warnenden Blick zu, der sie ausnahmsweise verstummen lässt. Haymitch mustert uns kurz. Er scheint nicht ganz zu wissen, ob er sich freuen soll, dass seine Tribute noch leben, oder ob er sich für ihr Überleben entschuldigen soll. Er räuspert sich und entscheidet sich dann für Letzteres, wobei er die Augen auf seine Manschetten geheftet hält. „Mein Beileid wegen eurer Tributin. So hätte es nicht laufen sollen.“ Mit einer Hand fährt er sich über das glattrasierte Kinn. „Am Ende sind wir alle eben doch Feinde, wenn’s ums Überleben geht.“ Genau das hat er schon bei der Wagenparade gesagt. Wir sind alle Feinde. Früher habe ich dasselbe gedacht, schließlich erinnern Tribute wie Cato immer wieder daran, dass jeder sich selbst am nächsten ist. Brutalität siegt über Mitgefühl. Aber ich habe nicht das Gefühl, Haymitch wegen allem, was geschehen ist, zu hassen. Wenn, dann sind die Spiele schuld an Cordelias Tod. Genauso, wie sie mich gezwungen haben, gegen Shine oder Victoria zu kämpfen. Ich will, dass er das weiß. „Bitte, lass uns keine Feinde sein, Haymitch. Kein Bündnis hält ewig, so sind die Hungerspiele. Früher oder später da – passiert es. Das habe ich selber erfahren. Wenn Peeta oder Katniss es schaffen ...“, meine Stimme zittert bei den letzten Worten, „dann war es wenigstens nicht umsonst. Lass uns wenigstens helfen.“ Er betrachtet mich überrascht und kratzt sich verlegen an der Wange. „Mhhh. Trinket hat mir schon gesagt, dass ihr uns eure Gelder gebt. Das kann ich nie wettmachen. Ich hoffe, ihr werdet es nicht bereuen.“ In Haymitchs grauen Augen spiegelt sich Trauer. „Vielen Dank für euer Vertrauen.“ Finnick klopft ihm auf die Schulter. „Schon gut. Wir haben das einstimmig entschieden, weil wir wissen, was Distrikt zwölf ein Sieg bedeuten würde. Versprich uns nur, es weise einzusetzen.“ Der ältere Mentor nickt knapp. „Ich denke, das kann ich tun.“ Er winkt uns und dann verschwindet er in Richtung Ausgang. Wir dagegen werden von einer ungeduldig schnaufenden Cece daran erinnert, dass Caesar Flickerman auf uns wartet. Mit der Gestaltung der Bühne hat sich das Kapitol wirklich alle Mühe gegeben. Innerhalb kürzester Zeit haben Avoxe das schlichte Studio in einen Ort des Andenkens verwandelt. Schwarze Stoffbahnen hängen hinter uns herab, davor die überlebensgroßen Porträts von Edy und Cordelia, die sie nach der Ankunft vor wenigen Tagen aufgenommen haben. Umrahmt wird das alles von einem Meer an weißen Rosen. Ihr penetranter Duft vernebelt das ganze Studio. Prompt entweicht mir ein Niesen. Nur schwerlich widerstehe ich dem Drang, die Blumen zu packen und im Meer verschwinden zu lassen, wie ich es zuhause zweifellos getan hätte. Stattdessen nehme ich auf meinem Sessel platz, der ebenfalls von Rosenblüten umgeben ist. Finnick sieht genauso unglücklich über das Blumenmeer aus. Ich registriere, wie er bei dem Anblick kaum merklich zusammenzuckt und mit spitzen Fingern ein Blütenblatt von seinem Sitzplatz pflückt. Aber selbst Cece rümpft angesichts des Rosendufts die gepuderte Nase. Einzig Caesar Flickerman scheint unbeeindruckt – oder er hat bereits zu viel Zeit umgeben von diesem Geruch verbracht. Vielleicht riecht er mit seiner etwas zu oft operierten Nase auch nichts mehr. Wer weiß das schon. Bei unserem Anblick lächelt er jedenfalls breit und klatscht in die Hände. „Distrikt vier! Ach, welch hinreißende Erscheinung. Und welch trauriger Anlass.“ Sein Lächeln straft ihn Lügen, als er vermeintlich wehleidig die Finger über dem Herzen verschränkt. „Sind alle bereit?“ Ich fühle mich so unvorbereitet wie immer, nicke aber nur, wie die anderen. Je eher wir es hinter uns bringen, desto besser. Wenigstens ist das Interview keine Liveaufnahme, sodass wir Patzer nicht fürchten müssen. Zumindest habe ich aus diesem Grund Cece die Spritze mit dem furchtbaren Medikament ausgeredet. Caesar gibt sich größte Mühe, fröhliche Stimmung zu verbreiten. Trotz des traurigen Anlasses klebt ihm sein strahlendes Lächeln fest im Gesicht. Selbst unter dem schwarzen Schleier hindurch blitzen mir seine weißen Zähne entgegen. „Ich muss sagen, das Ausscheiden von Distrikt vier hat mir das Herz gebrochen. Ihr gehört jedes Jahr zu meinen Favoriten und soll ich euch auch sagen warum? Eure Tribute bezaubern uns nicht nur jedes Jahr mit ihren fantastischen Auftritten, sondern sie sind auch immer wieder so faszinierende Persönlichkeiten! Ich denke, ich spreche für das ganze Kapitol, wenn ich sage, dass Cordelia uns alle mit ihrem Mut und ihrer ehrlichen Natürlichkeit verzaubert hat.“ Auf einer Leinwand werden während Caesars Rede Momente von der Wagenparade eingespielt. Wohl zum letzten Mal sehe ich das Lächeln der Tribute. Mir ist, als würde eine eiserne Faust mein Herz umklammern. „Und Edy, der arme Kleine. Seine Entschlossenheit bei unserem Interview hat mich wirklich hoffen lassen, dass er es schafft.“ Anfangs fällt es mir leichter, über die Tribute zu sprechen. In den ersten Aufnahmen sehen sie so glücklich aus, dass es einfach ist, ihr Schicksal kurzzeitig zu vergessen. Es hilft zudem, dass Caesar vor allem von ihren Outfits und dem Leben in Distrikt vier redet. Aber schließlich kommen wir doch zu den Hungerspielen. Der Großteil des Blutbads bleibt uns diesmal erspart, wobei wir jeden erfolgreichen Mord von Cordelia Revue passieren lassen. In Gedanken bin ich allerdings längst bei Edy. Es reicht, die Aufnahme von ihm, wie er ins Füllhorn schleicht, zu sehen. Irgendwann im Dunkel der Kapitollabore habe ich vergessen, wie oft sein Tod für mich abgespielt wurde. Es kommt mir vor wie ein einzelner, unendlich langer Moment, der sich bis in die Gegenwart ausdehnt. Seit ich bei der Eröffnungsfeier schreiend zusammengesunken bin, dauert er an. Aus dem tiefsten Bewusstsein legt sich mir der schale Geschmack von Gummi auf die Zunge und Feuer zieht seine Bahnen durch meine Adern. Ich vervollständige die Aufnahme vor dem inneren Auge, während ich die Hände fest gegen die Armlehnen des Sessels presse. „Stimmt das, liebe Annie?“ Beim Klang meines Namens zucke ich zusammen. Es ist, als hätte Tia den Knopf auf ihrer Fernbedienung gedrückt, der alles anhält. Ich tauche aus dem tosenden Sturm auf und starre Caesar Flickerman peinlich berührt an. Er hat sich zu mir vorgelehnt und mustert mich aus dunklen Augen. Offenbar hat er eine Frage gestellt, die ich nicht mitbekommen habe. „Was denkst du darüber?“ Gespannt sieht er zu mir. Obwohl sie nicht direkt neben mir sitzt, höre ich Cece angespannt die Luft einsaugen. Schließlich habe ich ihr erst vor der Sendung versprochen, mich unter Kontrolle zu haben. Wenn ich das jetzt vermassle, wird das auch auf sie zurückfallen. An die Kellerlabore darf ich gar nicht denken. „Entschuldige vielmals, Caesar“, sage ich in einem aufgesetzt fröhlichen Tonfall, den ich mir bei unserer Betreuerin abgeschaut habe. „Ich ... hatte nur die Augen die ganze Zeit auf dem, äh, Bildschirm. Kann ich die Frage noch einmal hören ... bitte?“ Ich bemühe mich um ein höfliches Lächeln. Enttäuschung flackert in den Augen des Moderators auf, aber er lehnt sich zurück und gibt den Kameramännern ein Handzeichen. „Natürlich. Wir nehmen die Stelle nochmal von vorne auf.“ Ich sorge dafür, dass meine Hände sich nicht mehr wie Klauen in das Sesselpolster krallen. Dieses Mal achte ich peinlich genau auf jedes Wort von Caesar Flickerman. „Ich habe wirklich gedacht, dass Edy einen Plan hatte. Ihr überlasst schließlich nichts dem Zufall. Eure Tribute sind ausgezeichnet ausgebildet und haben immer den Sieg vor Augen“, führt Caesar aus. „Sein Ausscheiden war in jedem Fall ein Schock. Die Zuschauer sehen das sicherlich genauso. Wir alle hatten fest damit gerechnet, dass er in das Bündnis mit Distrikt eins und zwei aufgenommen wird. Ich habe nur Behauptungen gehört, aber stimmt es, dass es zwischen Cato und Edy eine Fehde gab, liebe Annie?“ Die Gerüchte kann ich mir nur allzu lebhaft vorstellen. Wahrscheinlich hat mehr als eine Person hinter den Kulissen unseren Zusammenstoß mit Cato beobachtet und sogleich die Neuigkeiten im Kapitol verbreitet. Caesar ist nur zu höflich, um es direkt auszusprechen. Ein Zufall, dass ausgerechnet mir diese Frage gestellt wird, ist es sicherlich nicht. Zum Glück hat Cece in ihrer Vorbereitung auf das Interview so gut wie jede Fragestellung vorhergesehen und so bin ich gewarnt, dass die Ohrfeige für Cato auf keinen Fall zur Sprache kommen darf. „Tja, äh, Caesar, leider können wir die Tribute nicht auf alle Eventualitäten einstellen. Die Arena hat ihren eigenen Willen, könnte man sagen.“ Irgendwie so hat Cece die Sätze für mich aufgeschrieben. Ich hoffe, dass sie den Moderator halbwegs zufriedenstellen. „Und leider hat Cato sich entschieden ... Edy nicht zu vertrauen. Ein Fehler, so hat er sich um einen wertvollen Verbündeten, ähm – gebracht.“ Die Sätze klingen furchtbar steif und langweilig, das ist selbst mir bewusst. Für jeden in Distrikt vier, vor allem für Edys Eltern, müssen sie purer Hohn sein. Doch meine Kraft reicht gerade einmal dafür, Ceces Anweisungen zu befolgen. Immerhin steht das, was ich wirklich fühle – oder ein Teil dessen – auf den Trauerkarten, die wir den Familien mitbringen werden. Vielleicht werden sie es so verstehen. So einfach lässt Caesar mich jedoch nicht vom Haken. Er beugt sich mit einem Funkeln in den Augen weiter vor. „Stimmt es denn, dass Edy und Cordelia einen Plan hatten, das Bündnis zu hintergehen? Das würde doch erklären, warum sie mit Cato ... zusammengestoßen sind?“ Ich beiße mir auf die Unterlippe. Anscheinend gibt es nichts, was er nicht weiß. Nervös krame ich in meinem Kopf nach der Antwort. „Nun, ähm. Sie hätten das Bündnis verlassen, nicht hintergangen. Sie wollten nicht mit den –“, ich kann mich gerade noch bremsen, bevor ich Karrieros sage. Das Wort benutzt niemand im Kapitol. Offiziell gibt es schließlich keine Karrieretribute. „– mit den Tributen aus Eins und Zwei kämpfen.“ „Also wollten sie fliehen!“, ruft Caesar mit etwas zu viel Begeisterung aus. „Sie wollten einen, ah, anderen Weg einschlagen“, stammle ich mir zurecht. Ich erinnere mich dunkel, dass Cece solche „Ausweichsätze“ vorbereitet hatte. Unglücklich zucke ich mit den Schultern, in der Hoffnung, von jemandem aus dieser Situation zu befreit werden. Flickerman legt indes eine Hand auf mein Knie und strahlt mich mit unnatürlich weißen Zähnen an. „Annie, willst du etwa darauf anspielen, dass ihr euch mit dem Feind verbrüdern wolltet?“ Er zwinkert in die Kameras. „Die Rede ist natürlich von Distrikt zwölf. Das Gerücht geht nämlich auch um, seit Peeta in der Arena ein Brot aus eurem Distrikt geschickt bekommen hat.“ Ich habe das Gefühl, dass mich seine Augen durchbohren wie ein eisig kalter Speer. Mit dieser ausweichenden Antwort bin ich geradezu in seine Falle getappt. Ein hilfloses Kichern bahnt sich den Weg meine Kehle hinauf. Ich zupfe an dem nutzlosen Schleier herum, um ihn tiefer ins Gesicht zu ziehen. Sofern Cece mir eine Erwiderung darauf bereitgelegt hat, fällt sie mir nicht mehr ein. „Distrikt zwölf ist nicht direkt unser Feind ...“, gebe ich wenig einfallsreich zum Besten. „Aha!“ Caesar Flickermans triumphierender Aufschrei lässt mich schon wieder zusammenzucken. „Also, was war der Plan? Habt ihr mit Haymitch Abernathy gemeinsame Sache gemacht?“ Ich nicke. „Warum setzt ausgerechnet ein wohletablierter Distrikt wie eurer auf die Außenseiter?“ „Ah, nun ... zusammen hätten sie eine Chance gegen die Kar– ähm, Favoriten gehabt.“ „Aber sie gehörten doch zu den Favoriten! Hattet ihr keine Angst vor der Gefahr für eure Tribute?“ Mit zugeschnürtem Hals schüttle ich den Kopf. „Das Bündnis ... am Ende, also, na ja, da zerbricht es meist ... und deswegen – ein frühzeitiger Ausweg ...“ Aber Caesar hört mir gar nicht zu, sondern bestürmt mich mit weiteren Fragen. „Seid ihr nicht enttäuscht, dass Abernathy sich jetzt mit all den Sponsorengeldern aus dem Staub macht? Ohne eure Unterstützung wäre Distrikt zwölf vielleicht ausgeschieden. Cordelia hätte die Tribute töten können, in der Nacht am Baum. Dann hätte sie bei den favorisierten Tributen aus Eins und Zwei bleiben können. Vielleicht würde sie dann noch leben?“ Unter dem Bombardement von seinen Fragen schrumpfe ich immer weiter im Sessel zusammen. Ceces sorgfältiger Plan zerfällt in meinem Kopf in seine Bestandteile, denn angesichts der zunehmenden Panik macht sich dort Leere breit. Übrig bleibt vor allem Wut. Darüber, dass unsere Tribute tot sind und wir trotzdem noch in diesem Spiel gefangen sind. Und darüber, wie Flickerman von Distrikt zwölf redet, als hätten dessen Tribute unmöglich den Sieg verdient. Und wie er uns Mentoren darstellt – unfähig das Leben ihrer Schützlinge zu retten. Meine Hände entwickeln ein Eigenleben und ballen sich fest zusammen. Ich sehe von Caesar fort, in die Düsternis des Studios mit den großen Kameras, die jede unserer Regung einfangen. Ich straffe trotzig die Schultern und starre mitten in die Linse. „Aber diese Tribute sind nicht unser Feind.“ Die Worte richten sich mehr an den alle daheim, die Menschen, die nie verstehen werden, was genau wir Mentoren im fernen Kapitol entscheiden. Doch sie verdienen es, das zu wissen. „Peeta hat Cordelia gegenüber nichts als Mitgefühl bewiesen und deswegen werde ich an ihn glauben. Bis zuletzt. Er hat es verdient, egal wer sein Mentor oder Distrikt ist. Weil er ein – ein guter Mensch ist!“ Das Studio und die Kameras verschwimmen vor meinen Augen bis zur Unkenntlichkeit, aber das macht es leichter. Nur schemenhaft erkenne ich Caesar Flickerman, der endlich seine Hand von meinem Knie gleiten lässt und sich mit einem Hüsteln zurücklehnt. Jemand ruft laut „Schnitt!“. „Kein Problem, Annie, wir nehmen das nochmal neu auf. Ich frage einfach – Floogs, du magst doch bestimmt erzählen“, sprudelt es übereilt aus dem Moderator hervor. „Ja, mein Lieber, auf drei, in Ordnung?“ Irgendwer reicht mir ein Taschentuch. Ich tupfe die Augenwinkel trocken und die Kameras richten sich auf Floogs. Niemand sagt ein Wort zu meiner kleinen Rede, aber ich sehe es in Finnicks aufgewühltem Blick. Was immer da gerade aus mir hervorgebrochen ist, war zu viel Wahrheit für das Kapitol. Ich starre in die Ferne, während Flickerman und Floogs das Gespräch über Distrikt zwölf wieder aufnehmen. Was macht das Mentorinnendasein nur mit mir? Dieser Wandel bereitet mir Angst.   ***     Die kommenden Tage ziehen endlos zäh an mir vorbei, wie ein Gummiband, das sich dehnt und dehnt, ohne je zurückzuschnellen. Oft vergesse ich mitten am Tag, was ich tue, und finde mich starr vor einem Fenster sitzend wieder, den Blick ins Nichts gerichtet. Es vergehen Minuten, bisweilen aber auch Stunden, und plötzlich sehe ich die letzten Sonnenstrahlen hinter den hohen Türmen des Kapitols versinken. Ich ertappe meine Finger des Öfteren dabei, wie sie von ganz alleine anfangen, sich zu bewegen, mit Sachen herumspielen, oder lange Haarsträhnen verknoten. Egal wie sehr ich es zu unterdrücken versuche, sie schleichen sich immer wieder ans Werk, als würde jemand Fremdes meine Glieder kontrollieren. Finnicks Pinguin ist ein treuer Begleiter in diesen Tagen und wenn ich das Gefühl habe, den Halt zu verlieren, umklammere ich ihn fest. Das kleine schwarz-weiße Plüschtier ist eine stetige Erinnerung daran, dass ich nicht alleine bin. Im Fernsehen laufen die Spiele weiter, aber sie plätschern nur an mir vorbei, eine Abfolge an immer gleichen Bildern. Wald, Wiese, der See, Caesar Flickerman im Studio – und von vorne. Katniss, die über Nacht erst beinahe zur Favoritin geworden ist, liegt jetzt ohnmächtig im Lager von Rue aus Distrikt elf. Fieberkrämpfe schütteln sie stundenlang. Mehr als einmal ruft sie, gefangen in Halluzinationen, Namen. Prim, immer wieder Prim. Aber sie schreit auch nach Peeta, ein oder zwei Mal. Ihn hat es noch schlimmer getroffen. Glaube ich. Cato hat sich ihm entgegengestellt, nachdem er zurückgelaufen ist, um Katniss zu warnen. Sein Schwert hat Peeta das Bein aufgeschlitzt, den halben Oberschenkel. Im Schlamm eines Flusses liegend hat dieser keine Kraft mehr, gegen seine Fieberträume anzukämpfen, aber seine Lippen formen trotzdem hilflos einen Namen, einen einzigen. Katniss. Alle schmelzen dahin, angesichts des tragischen Liebespaars, wie sie offiziell von Caesar Flickerman getauft werden. Ich höre Cece von ihnen schwärmen und selbst die anderen Mentoren verfolgen mit unglaublichem Interesse jede winzige Bewegung der beiden Jugendlichen. Die Spiele zerren an meinen Nerven wie die blutrünstigen Piranhas damals im Finale an Shine. Wann immer die Arena im Fernsehen eingeblendet wird, stehe ich auf und verlasse das Zimmer. Es ist sowieso egal, ob ich zusehe. Die Tribute werden dennoch leben – und sterben. Ich bekomme mit, dass Finnick des Öfteren das Appartement verlässt, frage ihn aber nicht danach. Das Wissen darum wäre keine Erleichterung. Stattdessen suche ich mir abgelegene Ecken, in denen mich niemand findet, vor allem nicht Cece. Ihre aufgesetzte Freundlichkeit und das ständige Gerede von dem Jubeljubiläum nächstes Jahr nehmen mir noch den Verstand. Ich will nicht einmal daran denken, mit welchen neuen fiesen Bedingungen wir uns dann auseinandersetzen müssen. Nur beim gemeinsamen Abendessen, zu dem Cece uns immer noch zwingt, erfahre ich von den anderen, was am Tag geschehen ist. So kommt es dazu, dass ich erst am dritten Abend Katniss Erwachen mitbekomme, obwohl sie schon seit der vorangegangenen Nacht wieder auf den Beinen ist. Lange kann ich mich aber auch darüber nicht freuen. Das bedeutet nur, dass die Schonzeit der Spielmacher für sie vorbei ist. Ich flüchte vor meinen Gedanken und vom Esstisch, als sich mal wieder eine Unterhaltung über die Strategie der verbleibenden Distrikte ausbreitet. Es bemerkt keiner, dass ich zusammen mit den Avoxen, die den Tisch abräumen, davonschleiche. Im Gang hinter der Küche, der eigentlich nur für die Bediensteten gedacht ist, lehne ich mich mit der Stirn voran an ein Fenster und sinniere darüber nach, ob sich die Hungerspiele in den kommenden Jahren wohl je verändern werden. Lange bleibe ich mir selbst nicht überlassen. Sanfte Schritte durchbrechen meine konzentrierte Gedankenschleife. Vermutlich ist es doch jemandem aufgefallen, dass ich mal wieder abgehauen bin. Es wäre schön, wenn Finnick käme, aber der ist seit dem Morgen nicht mehr aufgetaucht. Einen langen Seufzer ausstoßend, drehe ich den Kopf in Richtung des ungebetenen Eindringlings. Es gibt viele Menschen, mit denen ich gerechnet hätte, und sie gehört definitiv nicht dazu. Für einen Augenblick mustere ich Dr. Gaul sprachlos. Sie hier, in unserem Appartement zu sehen, ist so falsch wie eine Forelle auf dem Trockenen. Anstelle ihres weißen Laborkittels trägt die Ärztin ein pinkes Kostüm, das mit ihren Haaren wetteifert, und flache silberne Schuhe. In diesem Aufzug sieht sie aus wie die kleine Schwester von der Eskorte aus Distrikt zwölf. Sie bleibt in einigen Schritten Entfernung stehen und schenkt mir ein zaghaftes Lächeln, als sei ich ein schreckhaftes Wildtier, das sie nicht verscheuchen will. Sobald ihr klar wird, dass ich nichts sagen werde, grüßt sie zuerst. „Hallo Annie. Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich schaue einmal hier vorbei, um zu sehen, wie es dir ergeht. Tia wäre ja selbst gekommen, aber sie ist zur Zeit sehr beschäftigt. Von daher ...“, sie zuckt mit den Schultern, „musst du mit mir vorlieb nehmen.“ Ich nicke kaum merklich. Dr. Gaul ist zumindest nicht meine Foltermeisterin. Die düsteren Schreie der Schnattertölpel habe ich allerdings nicht vergessen. Wer weiß, welche Hässlichkeiten sich unter der Oberfläche noch befinden. In den unendlichen Tiefen lauern die schrecklichsten Ungeheuer. „Und jetzt?“, frage ich matt. Ob sie wohl gehört hat, was nach Cordelias Tod geschehen ist? Oder ist es wegen des Ausbruchs beim letzten Interview? Werde ich wieder eingesperrt und gequält? Müde sinkt mein Kopf zurück gegen die Fensterscheibe. Soll sie mich doch holen. Was immer passiert, ich werde es ertragen. Hauptsache, die anderen sind nicht wegen mir in Gefahr. Doch Dr. Gaul macht keine Anstalten, sich auf mich zu stürzen. Sie bleibt stehen, immer noch lächelnd. „Darf ich mich zu dir setzen?“ Ich brumme so etwas wie Einverständnis, ziehe aber die Beine enger an den Körper. Sie setzt sich eine Armlänge entfernt von mir auf den Boden. „Interessante Aussicht“, stellt sie bewundernd fest und lehnt sich vor, um in alle Richtungen zu schauen. „Aus diesem Blickwinkel habe ich das Kapitol auch noch nie gesehen.“ „Warum nicht?“, stolpert mir die Frage aus dem Mund. In der Spiegelung auf der Schreibe erkenne ich, wie Dr. Gaul die Lippen zu einem dünnen Strich verzieht. „Unten im Labor gibt es keinen Ausblick“, erwidert sie. „Vor lauter Arbeit vergisst man manchmal, wie es hier draußen ist. Und so hoch oben.“ Eilig lehnt sie sich wieder zurück, als ihr Blick die Straße vier Stockwerke tiefer streift. Vielleicht bilde ich es mir ein, doch es scheint, dass ihre Stimme eine wehmütige Färbung bekommen hat. „Aber genug davon!“, setzt sie energisch hinzu. „Wie ist es dir ergangen in den letzten Tagen?“ Die unausgesprochenen Worte „Was ist mit Cordelia?“ hängen in der Luft zwischen uns wie eine unüberwindliche Mauer. Möglichst unbeteiligt zucke ich mit den Schultern. „Alles in Ordnung. Die Spiele sind für uns vorbei. Wir warten bloß auf die Rückfahrt.“ Ich schiebe die Hände unter meine angezogenen Oberschenkel, um ihr leichtes Zittern vor Dr. Gaul zu verbergen. Egal, was ich versuche, es will einfach nicht aufhören. Eine kleine Dosis Morfix sorgt dafür, dass es weniger wird. Aber das nehme ich nicht mehr, seit dem Morgen nach dem letzten Interview. Ich hatte eine schreckliche Halluzination, die mich glauben ließ, mein ganzes Zimmer sei mit surrenden Jägerwespen gefüllt. Das Zittern erträgt sich leichter. Aber Dr. Gaul sieht mich ohnehin nicht an. Ihr Blick hat sich an der langsam untergehenden Sonne festgesaugt. „Und der Tod von Cordelia?“, stellt sie doch die heikle Frage. Schon bei der Erwähnung schrumpft mein Herz auf die Größe einer ausgedörrten Traube. Ich befeuchte die Lippen mit der Zunge. „Es ist passiert. Es war ... anstrengend. Aber jetzt ist sie tot und alles ist vorbei.“ „Verstehe.“ Dr. Gaul rutscht auf dem harten Boden herum und versucht, ihren hochgerutschten Rock glattzustreichen. „Da wäre noch etwas.“ Die junge Ärztin senkt den Blick in den Schoß und dreht schon wieder diesen schlichten Ring an ihrem Zeigefinger. „Wegen der Labore ...“ Ich habe das Gefühl, mein verschrumpeltes Herz stülpt sich nach innen. Fast schmecke ich das muffige Gummi auf der Zunge wieder, spüre die Fesseln an den Handgelenken. Der Versuch, einen tiefen Atemzug zu nehmen, scheitert kläglich an dem Stechen, das mir durch die Brust schießt. Schon wieder schleichen sich meine Finger an ihr Werk und beginnen den Saum meiner Stoffhose zu malträtieren. Ich spüre kalte blaue Augen auf mir, leblos und doch voller Hunger, begleitet von dem schneidenden Gelächter der Schnattertölpel. Der Blick der Ärztin wandert den Gang entlang und schließlich die Wände hoch zur Decke. Sie presst die Lippen fest aufeinander und dreht den Kopf ein Stück näher. „Das Kapitol duldet keine Einmischung.“ Das dumme Herz in meiner Brust stolpert, nur um dann seinen Takt zu beschleunigen. Das ist es. Ich bin ihnen ausgeliefert. Bevor sie noch etwas sagen kann, nicke ich heftig. „Ich weiß. Ich – ich habe nichts gesehen.“ Dr. Gauls Blick fällt wieder auf den Ring an ihrem Finger, den sie genauso gedankenverloren dreht, wie ich den Hosensaum zerpflücke. „Annie ...“, setzt sie an, etwas zu sagen, aber die Worte werden ihr von einem hohen Piepen abgeschnitten, das unser gesamtes Appartement durchdringt. Auch wenn beide Tribute tot sind – die Warnungen haben nie aufgehört. Ich presse die Hände auf die Ohren, um das Geräusch zu vertreiben. Davon will ich nichts mehr wissen. Vielleicht kommen gleich die Friedenswächter mit der Spritze um die Ecke. Angst schlägt über mir zusammen wie Wogen eiskalten Meeres. Das Kapitol wird mich in das Labor zurückzwingen und dann gibt es kein Entkommen vor den Spielen, nie wieder. Verwirrt sieht Dr. Gaul mich an und rüttelt schließlich an meiner Schulter. Ihr Mund öffnet und schließt sich, aber ich drücke die Handflächen bloß fester an den Kopf. Doch dann fühle ich etwas Unerwartetes: Sie streicht mir über den Rücken, wie es sonst nur Finnick darf. Mein Blick schnellt zu ihr herum und ertappt zieht sie sich zurück. „Ist das nicht die Sirene für die Spiele?“, fragt sie, nachdem ich zögerlich die Hände lockere. Ich nicke. „Aber es ist alles egal, Cordelia und Edy sind tot! Für die anderen kann ich nichts tun!“ Mir bricht die Stimme angesichts des dicken Kloßes, der sich in meiner Kehle ausgebreitet hat. „Jemand wird sterben, was ändert es, wenn ich zusehe?“ Die Ärztin sieht wieder aus dem Fenster auf die goldenen Strahlen der frühen Abendsonne, die das Kapitol in voller Unschuld erstrahlen lassen. „Die Spiele sind Pflicht.“ Es klingt nicht, als wäre sie sich da sicher, sondern mehr wie eine Frage. „Wir sollten gehen“, setzt sie fester hinzu. Alles in mir sträubt sich dagegen. Nur der Fakt, dass Dr. Gaul noch keine Spritze gezückt hat, sorgt dafür, dass ich mit wackligen Knien aufstehe. Sie ist das Kapitol, das darf ich nicht vergessen. Jede Weigerung wird mein Martyrium nur schlimmer machen.   Im Wohnzimmer sind bereits alle bis auf Finnick vor der Leinwand versammelt. Amber wirft mir einen eigenartigen Blick zu, als ich mit Dr. Gaul im Schlepptau auftauche, dreht sich dann aber kommentarlos zu der Übertragung aus der Arena. Die Szene erscheint chaotisch. Wir sehen viele einzelne Einstellungen, jede die Sicht eines anderen Tributs. Irritiert flackern meine Augen über die unterschiedlichen Bilder, auf der Suche nach einem bekannten Gesicht oder einem Anhaltspunkt, was hier gerade geschieht. Es braucht drei Anläufe, bis mein Kopf es endlich schafft, die Einzelteile zusammenzusetzen. Da ist zum einen Katniss, die mit dem silbernen Bogen in der Hand in einem Gebüsch liegt. Wann hat sie die Waffe bekommen? Ich erinnere mich nur, dass Glimmer ihn zuletzt hatte. Dann fällt mir wieder ein, dass die Tributin aus Eins genauso gestorben ist, wie Cordelia. Egal. Während meine Finger sich mit einem losen Faden beschäftigen, konzentriere ich mich auf die restlichen Bilder. Das, was von den Karrieros übrig ist – Marvel, Cato und Clove – steht im Wald und schreit einander aus Leibeskräften an. Sie übertönen sich mit vor Wut verzerrten Stimmen, sodass ich kein Wort verstehe. Der kleine Tribut aus Drei indes ist am Füllhorn zurückgeblieben, wo er ganz alleine einen Speer umklammert, der fast doppelt so groß ist, wie er selbst. Unruhig gleitet sein Blick von links nach rechts. Und dann ist da noch Rue, die versucht, einen Haufen junger grüner Äste und allerhand schlecht brennbare Materialien zu entzünden. Mit ihren kleinen Händen schützt sie das Glutnest und pustet hinein. Immer wieder hebt sie den Kopf und starrt ängstlich in den Wald. „Tust du nur so blöd oder bist du wirklich so dämlich?“, schreit Cato in diesem Moment so laut, dass ich zusammenzucke. Augenblicklich vergrößert das Kapitol uns die Ansicht der streitenden Karrieros. Der Tribut aus Distrikt zwei hat sein Schwert festumklammert und steht bedrohlich dicht vor Marvel. „Niemand kann unser Lager überfallen“, hält dieser gegen Cato an. „Wenn es jemand versucht, ist er tot. Dafür haben wir schließlich die Minen, oder?“ Seine Stimme zittert kaum merklich und er tritt einen Schritt zurück, aus der Reichweite seines Verbündeten. „Aber wenn sie sich geteilt haben, damit einer die falsche Fährte legt ... dann können wir denjenigen jetzt erwischen und ausschalten.“ „Wenn, wenn ... das ist mir zu viel Glücksspiel!“ Genervt spuckt der blonde Karriero auf den Erdboden. „Ich will die kleine Everdeen, nicht irgendein anderes Gör! Und etwas sagt mir, dass sie uns an der Nase herumführt, solange wir hier riesigen Rauchwolken folgen. Sie ist die Einzige, die so viel Nerven hat.“ Clove grinst gehässig und tritt hinter ihn. „Ich sage, wir krallen uns erst das kleine Vögelchen im Lager und dann kümmern wir uns um den oder die Idiotin, die diese Feuer entzündet. Dann bekommt ihr beide, was ihr wollt. Vielleicht ist es ja Loverboy.“ Sie balanciert ein Messer auf ihrer Fingerspitze, das sie am Ende des Satzes in die Luft wirft und am Griff wieder auffängt. „Wenn ihr zwei Volltrottel euch noch länger so anschreit, erwischen wir jedenfalls niemanden.“ Cato sieht aus, als hätte er dazu eine gesalzene Erwiderung auf den Lippen, verkneift sie sich nach einem Blick in Richtung Marvel allerdings. Clove ist alles, was zwischen ihm und einem Duell mit seinem Konkurrenten steht. Wenn sie stirbt, das wird mir schnell klar, hält ihn nichts mehr zurück. Andererseits könnte sie ihm auch vorher helfen, Marvel auszuschalten. Er sollte es sich nicht verscherzen mit ihr. Ich gehe vorsichtig um die Sitzgruppe im Wohnzimmer herum, zu einem einsamen Sessel. Meine Beine zittern so sehr, wie nach einem Tag harter Arbeit auf einem schwankenden Schiffsdeck. Dr. Gaul folgt mir wie ein Schatten und stellt sich stumm hinter mich, die Augen ebenso unverwandt auf die Leinwand gerichtet. Sobald man erst einmal die Hungerspiele sieht, ist es unmöglich, den Blick abzuwenden. Marvel indes atmet flach aus und schließt die Hand fester um seinen Speer. „Clove hat recht. Lass uns gehen.“ Angesichts seiner Resignation ist ihm wohl auch die Erkenntnis gekommen, dass er ihr nächstes Opfer werden könnte. „Wehe wir kommen zu spät ...!“, kündigt Cato drohend an und täuscht mit seinem Schwert eine harsche Schnittbewegung an. Nur ein kurzes Flattern der Augenlider verrät uns Marvels Angst. Die klägliche Karrierotruppe macht sich auf den Weg in Richtung ihres Lagers, hinter ihnen eine schwelende Rauchsäule, die sich deutlich vom frühen Abendhimmel abhebt. Die Spielmacher scheinen sich über das ganze Drama zu freuen, denn kaum rennen die Drei stumm durch das Unterholz, halten die Kameras wieder auf Katniss, die nicht länger im Gebüsch hockt. Und nun wird mir klar, wo sie sich befindet: Am Füllhorn, nur Meter entfernt von den Vorräten der Karrieros. Die Ironie dieser absurden Situation bringt ein trockenes Auflachen aus meiner Kehle hervor. Es scheint, dass sie endlich das bekommen, was sie verdienen. Katniss steht aufrecht da, den glänzenden Bogen fest in der Hand. Bei ihr sieht es ganz anders aus als bei Glimmer. Mit wenigen Griffen legt sie einen Pfeil an, spannt die Sehne und zielt. Fast geräuschlos streift das Geschoss ein Netz mit Äpfeln und reißt ein Loch hinein. Auf Katniss Gesicht ist keine Regung zu erkennen. Sie greift nach einem zweiten Pfeil, legt an, spannt und schießt. Dieses Mal fällt ein Apfel aus dem Sack. Der dritte Pfeil ist bereits abgeschossen, da wird mir klar, was sie vorhat. Ich erinnere mich wieder, wie der Junge aus Distrikt drei und Peeta die Minen rund um die vierundzwanzig Plattformen ausgegraben haben. Wie in Zeitlupe kullern die Äpfel aus dem kaputten Netz auf die umgegrabene Erde rund um das Lager. Meine Hände sind auf halbem Weg zum Kopf, da zerreißt die erste Explosion das angespannte Schweigen im Appartement. Ich stöhne. In mir drinnen erscheint wieder der rutschige Felsen, auf dem Pons Leben unter tosendem Krachen ein Ende fand. Mit den Knien zuerst lande ich auf dem weichen Teppichboden. Unerbittlich dringt das Donnern weiterer Detonationen durch meine schweißnassen Hände auf den Ohren. Eine heiße Woge aus Adrenalin brandet durch mich und vernebelt jeden Sinn. Kühle Fingerspitzen legen sich mir auf die Schultern. Ich höre wilde Stimme, alle reden durcheinander. Noch immer kracht es in der Arena. „Lass mich“, fauche ich angesichts der Person, die neben mir kniet und leise redet. Wenn es nicht Finnick ist, will ich nichts davon wissen. Niemand außer ihm versteht die Panik, versteht mich! „Annie“, höre ich eine Stimme sagen, „Annie, bleib hier.“ Es ist Dr. Gaul. „Alles ist in Ordnung. Ich kann dir helfen.“ Ihre Anwesenheit habe ich völlig vergessen. Im Gegensatz zu den vielen hektischen Rufen um mich herum sind ihre Worte vollkommen ruhig. Ich versuche, den Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. Warum ausgerechnet sie? „So ist es gut“, vernehme ich Dr. Gauls sanfte Stimme. „Atme tief ein und aus. Die Explosionen können dir nichts anhaben.“ „Was – was ist mit ... mit Katniss?“, stelle ich meine dringendste Frage. „Alles gut. Sie lebt. Sie ist in Sicherheit.“ Ich spüre, wie das Adrenalin genauso schnell entschwindet, wie es gekommen ist. Mit einem seichten Kribbeln gleitet es durch meine Fingerspitzen und zurück bleibt nur Leere. Auf einmal höre ich alles ganz deutlich, jedes Geräusch aus der Arena und die Stimmen der Mentoren um mich herum. Dr. Gauls Hände auf meinen Schultern sind leicht wie Federn. „Das waren nur die Vorräte“, sagt sie beschwichtigend. Egal, was ich von ihr gehalten habe, in diesem Moment klammere ich mich verzweifelt an ihre Stimme. Aber dann nähern sich laute Schritte und Dr. Gaul schreit empört auf. „Weg von ihr!“ „Ich wollte nur helfen!“ „Fass sie nicht an!“ „Aber ...“ „Lass sie einfach in Ruhe! Ihr habt genug Schaden angerichtet!“ Finnick ist wieder da. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)