Late-Night Tea von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 1: Chapter 1 - 1 ------------------------ Bis jetzt war der Abend ganz nach Jervis‘ Geschmack verlaufen. Nicht, dass seine Ansprüche sonderlich hoch gewesen wären was das anging, es genügte ihm vollkommen, auf dem alten Sessel in seiner aktuellen Unterkunft zu sitzen, neben sich eine Kanne mit Tee und eine Tasse, in einer Hand ein Buch dessen Inhalt er im schummrigen Licht der Stehlampe studieren konnte – nicht unbedingt ausschließlich etwas aus der Feder von Lewis Carroll, aber doch zumindest in dieser Richtung. Am heutigen Abend allerdings war es Alice hinter den Spiegeln, in dessen Worten er sich verloren hatte und dessen Zeichnungen er begeistert studierte, und er war derart vertieft in dieser skurril-verdrehten Welt, dass er die Schritte draußen auf dem Flur und das darauf folgende schwache Klopfen zunächst überhaupt nicht wahrnahm. „Das Walross und der Zimmermann spazierten hier am Strand“, rezitierte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht, bevor er einen weiteren Schluck aus seiner Teetasse nahm. Das Getränk schmeckte süß, so, wie er es mochte, Zucker und Honig überdeckten den ansonsten recht bitteren Geschmack dieser Sorte. Gedankenverloren stellte Jervis die Tasse wieder ab, sprach bereits weiter mit einer Betonung, als stünde er vor einem Publikum welchem er die vollkommene Genialität dieses literarischen Werkes zu vermitteln versuchte: „Und weinten herzlich über den entsetzlich vielen Sand: „Oh weh und ach, so-…“ In diesem Augenblick hörte er das Klopfen. Automatisch wandte er den Blick zur Tür, und Anspannung erfasste seinen Körper, verdrängte das wohlige Gefühl das er bisher in dieser gemütlichen Atmosphäre empfunden hatte und brachte sein Herz dazu, schneller zu schlagen. Wer, in der Welt, konnte das sein? Während Jervis sich aus dem Sessel erhob, sich dabei umblickend nach etwas, das er als Waffe benutzen könnte, falls diese Person dort draußen versuchen würde, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen, versuchte er gedanklich zu evaluieren, um wen es sich bei eben dieser Person handeln könnte. Nach seiner Flucht aus Arkham hatte er kaum mit jemandem gesprochen, schon gar nicht mit Leuten, die sich im Nachhinein daran würden erinnern können. Hatte sich einfach darum gekümmert, genügend Geld für eine temporären Unterkunft zu erlangen, in der er sich in Ruhe überlegen könnte, wie es weitergehen sollte. Also bitte, wer hätte einen Grund dafür, am späten Abend an seiner Tür zu klopfen? „Spielt keine Rolle“, murmelte er, griff dabei nach dem Messer das auf der Fläche dessen lag, was man mit viel gutem Willen als eine Küchenzeile bezeichnen konnte, um sich dann wieder der Tür zuzuwenden. Ein weiteres Klopfen. „Verlangst Einlass in mein Haus? Ungeladen, oh Graus! Lass mich sehen… vielleicht lasse ich dich ein, vielleicht weide ich dich aus!“ Das Messer noch fester umklammernd streckte er seine freie Hand nach der Klinke aus, stellte sich automatisch auf die Zehenspitzen, obwohl es keinen Türspion gab durch den er hätte erkennen können, wer da draußen stand und seinen entspannten Abend störte. Macht der Gewohnheit. Er würde die Tür bloß ein kleines Stückchen öffnen, fragen, was sein Besucher von ihm wollte, und wenn er Glück hatte, dann hatte sich bloß ein betrunkener Nachbar in der Tür geirrt und wunderte sich jetzt, dass sein Schlüssel nicht mehr ins Schloss passte. Und falls dem nicht so war, falls dort draußen jemand war, der ein Problem mit Jervis hatte, dann würde dieser jemand eben die Klinge des Messer zu spüren bekommen! Jervis war durchaus bewusst, dass das Ganze kein sonderlich ausgefeilter Plan war. Doch glaubte er nicht wirklich, dass dort jemand wartete, der es auf ihn abgesehen hatte – die Fledermaus zumindest klopfte für gewöhnlich nicht an Türen. Mit dezent erhobener Stimme, aus der erfreulicherweise keinerlei Unsicherheit herauszuhören war, antwortete Jervis auf das soeben ertönende nächste Klopfen: „Ja, bitte, wer ist da?“ Einen Augenblick lang herrschte Stille. Wenn Jervis ehrlich war, so hatte er nicht wirklich eine Antwort erwartet, und umso mehr überraschte es ihn, als er, ein wenig gedämpft durch die dünne Wohnungstür, eine Stimme vernehmen konnte: „Guten Abend, Jervis.“ Dass Jervis die Stimme kannte war ihm sofort bewusst, doch dauerte es einige Sekunden, bis er in der Lage war, sie zuzuordnen. Als ihm dies schließlich gelungen war zog er in einer Mischung aus Überraschung und Argwohn die Augenbrauen hoch, überlegend, was er seinem überraschenden Besucher entgegnen sollte, während seine Hand noch immer auf dem Türknauf ruhte, bereit, ihn herumzudrehen und der Person dort draußen Einlass zu gewähren. Wäre das gut? Wäre es klug? Er konnte es nicht sagen – eigentlich hatte er sich vorgenommen, dieses Mal besonders vorsichtig zu sein, sich nicht mehr als notwendig mit anderen Personen abzugeben, schien es doch so, als stiegen die Chancen darauf, erwischt und zurück ins Arkham Asylum verfrachtet zu werden beachtlich, wenn er mit anderen zusammenarbeitete. Doch konnte er seinen alten Bekannten dort draußen doch nicht einfach wegschicken, zumal er mit Sicherheit einen guten Grund dafür hatte hier dermaßen überraschend aufzutauchen… Jervis war nicht bewusst gewesen, wie lange er schweigend dagestanden und die Tür angestarrt hatte ohne irgendetwas zu tun, und erst der erneute Klang der Stimme riss ihn aus seinen paranoid angehauchten Überlegungen: „Mr. Tetch? Ich weiß, es ist spät! Ich will auch gar nicht lange stören…“ „…Oh, ja. Sicher. Verzeihung.“ Noch bevor ihm wirklich bewusst war, dass er seine Entscheidung getroffen hatte, drehte er den Türknauf herum und öffnete mit einem Klicken das Schloss. Zog die Tür auf, nur einen kleinen Spalt zunächst, so, wie er es sich vorgenommen hatte, um sich zu vergewissern dass er den Klang der Stimme auch wirklich der richtigen Person zugeordnet hatte. Es war dunkel draußen auf dem Flur. Kaum mehr als Silhouetten waren auszumachen, die sich in dunklem Schwarz vom nicht ganz so dunklen Schwarz des Hintergrundes abhoben – welch seltsame Formulierung, wie skurril – aber das war ausreichend, damit er sich sicher sein konnte dass seine Annahme korrekt gewesen war. Langsam öffnete er die Tür ein wenig weiter, dabei jedoch weiterhin das Messer mit festem Griff umklammernd. Sein Blick ruhte auf dem Besucher, darauf bedacht, nicht die kleinste Bewegung zu übersehen, ihm keinerlei Möglichkeit zu geben, ihn anzugreifen. Nicht, dass Jervis ein Grund eingefallen wäre, weshalb das passieren sollte. Aber war das eben das Risiko wenn man sich mit Leuten umgab, die ebenso wenig zurechnungsfähig waren wie er selbst. Die Gestalt da vor ihm machte allerdings zumindest momentan nicht den Eindruck, als hätte sie etwas derartiges im Sinn. Ein wenig gebückt stand sie da, eine Hand auf die Seite gepresst, die andere wie zu einer grüßenden Geste erhoben, wobei die ganze Pose irgendwie ungesund und verkrampft wirkte. Erst auf den zweiten Blick nahm Jervis das Blut wahr, das aus Schnittwunden an Fingern und Armen floss und teilweise zu Boden tropfte. Fragend blickte er seinen Gegenüber an. „Schlechten Tag gehabt, Crane?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)