Spiel ohne Limit von Lady_of_D ================================================================================ Kapitel 69: ------------ Sobald sie das Seven Stars verlassen hatte, blies ihr kalte Luft ins Gesicht. Ein paar Regentropfen fielen vom Himmel, färbten die Gehwege in ein schmutziges Braun. Gerade brauchte sie die Kälte. Rin hatte ihre Jacke um die Schultern geworfen, dass sich die Nässe genüsslich auf ihren Armen ausbreiten konnte. Gänsehaut benetzte ihre bleiche Haut, winzige Tropfen klebten zwischen den zarten Härchen. Langsam setzte sie ihren Weg zur Kaiba Corporation fort. Die paar Meter zu Fuß taten gut. Sie brauchte jetzt dringend einen freien Kopf. Die letzten Stunden hatten ihr doch mehr abverlangt, als sie jemals erwartet hätte. Crawford war in vielerlei Hinsicht gerissen. Seine Taktik, Rin psychisch unter Druck zu setzen, hatte gut funktioniert. So aufgewühlt war sie schon lange nicht mehr gewesen. Ja, wegen Kaiba und ihren eigenen wirren Gefühlen, die sie gekonnt zu überspielen wusste. Aber nicht auf diese Weise. Nicht mit so viel Berechenbarkeit, so viel Kalkül, die der Chef von Industrial Illusions zum Einsatz gebracht hatte. Es hatte an ihrem Ego gekratzt, hatte an den Stellen wehgetan, die sie noch lange bluten lassen würden. Ein guter Schachzug von ihm, wie sie zähneknirschend zugeben musste. Gerade in den Endrunden ein genialer Streich des wohl größten Spieleerfinders, dessen eigenen Duellanten allesamt hinausgeflogen waren. Ausgerechnet Industrial Illusions - die Firma mit der größten Auswahl an talentierten Spieler, dem höchstmöglich verfügbarem Budget und der größten internationalen Relevanz - war kurz vor der heißen Phase ausgeschieden. Mit Vivian Wongs Niederlage, war Crawford's letzter verbliebener Duellant aus dem Rennen geworfen worden. Für Rin kaum auszumalen, was dies für den Erfinder von DuelMonsters bedeutete - geschweige denn für dessen Firma und deren Ansehen. Im Vergleich zu I² war die Kaiba Corporation ein kleiner, wenn auch ansehnlicher Fisch im großen Becken namens Spielewelt - und ausgerechnet Seto Kaibas Firma kämpfte gerade mit zwei seiner Spieler um eines der drei Final-Tickets dieser Saison. Wie das in den Augen des silberhaarigen Firmenchefs aussehen musste, konnte sich Rin sehr gut vorstellen. In den letzten Jahren hatte es immer einer seiner Profispieler geschafft, in die entscheidenden Endrunden zu kommen. Nur dieses Jahr hatte Kaiba Corps. Neuzugang sämtliche Aussichten zunichte gemacht. Jeden von Crawfords Zweit- und Drittlegisten hatte Rin während der Battle-City-Turniere gnadenlos zu Boden gestampft. Wie persönlich das Pegasus J. Crawford nahm, konnte Rin nicht bemessen. Aber so langsam bekam sie eine Ahnung davon. Sie schlang die Arme um ihren Körper. Die Kälte tat jetzt nicht mehr so gut. Ihr wollte jedoch nicht einfallen, die Jacke überzuziehen. Die junge Frau war dafür einfach nicht bei der Sache. Ihre Umgebung erschien ihr wie ein bleicher Schatten, auf dem sie irgendwie zu balancieren versuchte. Pausenlos schwirrten ihr Crawfords Worte durch den Kopf: Pegasus J. Crawford hatte Seto Kaiba bereits ein Angebot unterbreitet. Natürlich hatte Crawford nicht hinterm Berg damit gehalten. Hatte es ihr schön unter die Nase gerieben, damit er wie ein gezielter Schuss mit der Armbrust traf. So boshaft war noch nie jemand zu ihr gewesen. Rin kam sich unglaublich naiv vor. Dass sie wirklich geglaubt hatte, Crawford akzeptierte ihre Absage. Ihre Hände rieben an den Oberarmen, vertrieben nur mäßig die Gänsehaut. Würde Seto Kaiba sie wirklich an Crawford verkaufen? Sie wie ein lebloses Ding weiterreichen, sobald der Preis stimmte, sobald Crawford etwas hatte, das Kaibas Interesse weckte? Was könnte der junge Firmenchef von Industrial Illusions Firmenleiter wollen, das er sich selbst nicht beschaffen konnte? Sie schüttelte sich. Manchmal vergaß Rin, dass in DuelMonsters andere Regeln galten. Dass Spieler wie Futter behandelt wurden, die für die ganz großen Tiere da oben bestimmt waren. Wenn man die Welt sehen, wenn man zu den erfolgreichsten Spielern der Welt zählen wollte, musste man den Weg durch die Straßen nehmen, in denen man sich und seine Prinzipien verkaufte. Für Ruhm, Ehre und Macht musste man zu allem bereit sein - sich anbiedern wie die Hure zu ihrem Freier. Etwas anderes war es nicht. Derjenige, der zahlen konnte, bekam das ganze Paket geboten - inklusive der eigenen Würde. So war die Welt von DuelMonsters nun einmal. Egal, ob man für die großen Firmen spielte oder als Duellant einer Sponsorengruppe angehörte - am Anfang wurde man immer herumgereicht. Ob es einem gefiel oder nicht. Es gab keinen freien Willen, nicht solange man nicht an der Spitze der Weltrangliste stand, und diese war ein langer Weg, der nicht selten in eine Sackgasse führte. Rin hatte sich nach ihrem Schulabschluss mehr als einmal informiert, wie es in der Branche zuging. Die Zeit, die sie in der Kaiba Corporation verbracht hatte, war so schnell und intensiv an ihr vorbei gerauscht, dass sie nur nicht länger darüber nachgedacht hatte. Es war zu einfach gewesen, sich an die derzeitigen Annehmlichkeiten zu gewöhnen. Wie dumm bist du eigentlich, Rin?! Der Regen wurde stärker. Aus der Tasche den Regenschirm geholt, spannte sie ihn über ihren Kopf auf und betrachtete die einzelnen Ranken, die sich nach und nach zu bilden begannen. Sie fragte sich ernsthaft, welches Angebot den jungen Firmenchef dazu veranlassen könnte, Rin von ihren vertraglichen Pflichten zu entlassen. Crawford kann nicht wissen, dass ich mit Kaiba an seinem geheimen Projekt arbeite. Sicher ist er überzeugt davon, dass nach dem Release der neu überarbeiteten DuelDisc erstmal nichts weiter kommt Rin hielt inne. Vielleicht hat Crawford gelogen. Vielleicht gibt es gar kein Angebot. Die Möglichkeit stand durchaus im Raum. Wenn er Rin aus der Fassung bringen wollte, würde er wohl auf solch miese Tricks zurückgreifen. Aber was hätte der Erfinder von DuelMonsters davon? Rin hatte nach seiner Ansprache noch weniger der Sinn nach einem Firmenwechsel gestanden. Auf der anderen Straßenseite winkte ihr Makoto zu. Die braunhaarige Kassiererin war gerade dabei, die Schilder von den Straßen hinein zu tragen, als der Regen zu dicken Tropfen hernieder prasselte. Die junge Frau winkte zurück. Heute war ihr wenig nach einem Plausch mit ihrer Lieblingskassiererin zumute. Zwar war Makoto eine gute Zuhörerin, aber gerade wollte sie alles andere als über ihr Essen mit Crawford reden. Nur ihr Magen sagte ihr etwas anderes. Rin hielt sich den Bauch, verzog das Gesicht. Nach ihrem Gespräch mit dem Chef von Industrial Illusions hatte sie keinen Bissen herunter bekommen. Zwar hatte sich Crawford mit den Worten, Rin solle ruhig sitzen bleiben und ihr Mittag genießen, verabschiedet, doch die junge Frau konnte nicht mehr ans Essen denken. Sie hatte nur noch eines gewollt: nämlich so schnell wie möglich hier raus zu kommen. Etwas schneller lief Rin weiter. Wenn Crawford das einzige Problem wäre… Die Informationen, die ihr der Chef von Industrial Illusions über Dartz und seine Duellanten erzählt hatte, beschäftigte sie genauso sehr. Auf ein Duell wie neulich gegen von Schroeder und seinen Komplizen hatte sie keine Lust. Wie sollte sie denn Lumina erklären, dass Rin neuerdings nicht mehr um den Sieg, sondern vermutlich um ihr Leben spielte? Ganz zu schweigen, dass sie nicht vorhatte, sich ihr Gehirn oder ähnliches bei einem Duell (oder auch sonst wo) wegpusten zu lassen. Dieser Dartz hat sie doch nicht mehr alle! Benutzt seine Spieler, um irgendwelche hirnrissigen Ideale durchzusetzen Neben der Drehtür blieb sie stehen und klappte den Regenschirm zusammen. Es half alles nichts. Ob es ihr gefiel oder nicht - sie musste sich damit abfinden, dass die DuelMonsters-Welt abartig sein konnte. Und sie würde jetzt sicher nicht wegen ein paar abgedrehten Typen den Schwanz einziehen. Ihre Rechnung mit Hii Yuta stand noch offen. Diesmal würde sie sich nicht so abziehen lassen - das hatte sie sich geschworen und daran führte kein Weg vorbei. Durch die Drehtür gelaufen, steuerte sie geradewegs die Trainingsanlagen der Kaiba Corporation an. Wenn etwas ihre Gedanken ordnen konnte, dann ein ordentliches Duell. Ein technischer Mitarbeiter machte sich gerade an dem Pult zu schaffen, als Rin den Raum betrat. Er tauschte eines der unteren Kabel aus, stopfte sich das Alte in die Hosentasche und fummelte noch ein wenig an den Knöpfen, bis das Ganze zu passen schien. Kaiba hatte erst neulich erwähnt, dass er die Duellsimulationen an die neue Technik nach und nach heranführen wollte. Scheinbar ging der letzte Test doch schneller über die Bühne als der junge Firmenchef zu Anfang geglaubt hatte. Rin erinnerte sich noch, wie grummelig Kaiba gewesen war, als die ersten Anläufe nicht auf Anhieb geklappt hatten. Wenn er gekonnt hätte, hätte er die eingeführte Software hochkant aus dem Firmengebäude gejagt. So stellte sich Rin Seto Kaiba vor, wenn dieser einen Angestellten feuerte. Trotzdem hatte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen können. Mit einem stummen Nicken verabschiedete sich der Mitarbeiter von Rin. Diese ließ die Finger knacken, bevor sie sich selbst dem Pult näherte, auf verschiedenste Knöpfe herum drückte und das Trainingsprogramm startete. Sie brauchte jetzt dringend etwas Ablenkung - ein hartes Duell war da genau das Richtige. Die Schwierigkeitsstufe auf ein Maximum hoch geschraubt ging es auch schon los. Dann wollen wir doch mal sehen, was diese Hübschen hier so drauf haben Rin betrachte die drei obersten Karten ihres Decks. Sie begann zu mischen Zeit für ein Duell ~ "Cyberdose aufgedeckt - aktiviere Flipp", auf der Seite der KI zersprang das einäugige Monster in tausende von Scherben. Sobald es auf dem Friedhof gelandet war, riss es sämtliche Karten aus dem Spielfeld mit sich in den Tod. "Alle Spieler decken die obersten fünf Karten ihres Decks auf", erklärte ihr die KI ganz nach den Regeln des Spiels, "Monster der Stufe vier oder niedriger werden auf die Spielfeldseite beschworen. Beginne mit Beschwörung: Mekanischer Archunterweltler wird in den Verteidigungsmodus gesetzt." Ein vier Sterne Monster mit starker Defensive wurde auf der gegnerischen Seite beschworen. Cyberdoses Effekt ließ auch Rins Monsterzone aufleuchten. Reese, die Eisherrin, sowie der Klingenritter betraten das Spielfeld. Nicht das Schlechteste, was hätte passieren können. Wären da nicht die restlichen Karten, die der Computer gezogen hatte. "Ich lege eine Karte verdeckt und beende meinen Zug", Rin sah auf die andere Seite des Feldes. "Zugwechsel. Ziehe eine Karte - strategische Neuberechnung: Opfere Mekanischer Archunterweltler um Geringerer Unterweltler zu beschwören." Eine vierarmige Chimäre breitete sich auf der gegnerischen Seite des Feldes aus. Mit 2100 Atk das derzeit stärkste Monster. Rin kniff die Augen zusammen. "Aktivere Feldzauberkarte: Siegel von Orichalcos." Auf Kommando explodierten nacheinander die Monster auf der gegnerischen Spielfeldseite. Grünes Licht kündigte Orichalcos an - ein Ring, sowie mehrere Zeichen und Muster breiteten sich in der gesamten Halle aus. "Spiele Monsterreanimation" Der Geringere Unterweltler kehrte mit einem zusätzlichen Powerschub von 500 Angriffspunkten zurück auf das Feld. "Aktiviere dritte Zauberkarte: schwarzes Loch." Ein schwarzer Wirbel sog Rins komplette Verteidigung auf. Zurück blieb eine wehrlose Gegnerin, auf die sich der Computer stürzte. Die junge Frau brachte sich in Position. Das Monster erhielt den Befehl zum Angriff, ließ seine vier Arme kreisen, dass sie eine rote Welle dunkler Energie entsandten. Mit voller Wucht traf die Attacke ihren Gegner direkt, dass Rin die Hände vors Gesicht hielt. Ein direkter Treffer durch einen derartigen Angriff konnte lange Zeit in den Augen brennen. Nichts, das sie sich freiwillig antat. Nur langsam ließ Rin die Arme sinken. Über die Hälfte ihrer Lebenspunkte hatte der Unterweltler mit sich gerissen - es war die vierte Runde des dritten Spiels. Bisher lagen Rin und die KI gleich auf - das letzte Spiel entschied über Sieg oder Niederlage. Nachdem das Monster zurück in die Grundangriffsstellung gegangen war, beendete der Computer seinen Zug, dass Rin wieder an der Reihe war. Sie zog eine Karte. "Wenn du vorhast, deine Falle gegen Orichalcos einzusetzen, sage ich dir: es ist reine Zeitverschwendung." Durch die Trainingshalle schallte die Stimme Seto Kaibas, dass Rin ihren Zug pausieren ließ und den Kopf nach hinten drehte. Hinter der Glasscheibe, direkt neben der unscheinbaren Tür, welche die Halle von dem Kontrollraum trennte, lehnte der Chef der Kaiba Corporation am Reglerpult. Die Arme vor der Brust verschränkt blickte er zu Rin, die seine Anwesenheit noch nicht einzuordnen wusste. Schließlich erwiderte sie seinen eisigen Blick, den er durch seine Haltung noch zusätzlich betonte, dass Rin nicht weiter darüber nachdenken wollte, warum es den jungen Firmenchef hierher verschlagen hatte. Sicher nicht, um der jungen Frau beim Trainieren zuzusehen. Was kommt als nächstes?! Kaiba verteilt Tipps, wie ich gegen Yuta bestehe? Weil er in seiner Pause nichts Besseres zu tun hat, als ein kleines Pläuschchen mit mir abzuhalten…? Rin blickte über ihre Schulter zu der verdeckten Karte. "Ich weiß, dass ich Orichalcos mehr als einmal zerstören muss, um sie vom Feld zu bekommen." "Und selbst dann solltest du es dir abschminken", entgegnete er trocken, "im Kampf solltest du dich nicht sinnlos mit irgendwelchen Zauberkarten rumschlagen, die du eh nicht vom Feld bekommen kannst." Er drückte auf zwei Knöpfe, dass das Simulationsduell sich vorzeitig abschaltete. "Das habe ich auch nicht vor", erwiderte Rin, die seine Reaktion als eine stumme Aufforderung verstand, sich dem jungen Firmenchef zu nähern. Oder warum hatte er ihr laufendes Duell einfach so abgebrochen, wenn er nicht mit der jungen Frau reden wollte? Ihr schwante nichts Gutes. Trotzdem tat sie so, als wüsste sie von nichts und sprach weiter: "Wenn ich Hii Yuta besiegen will, dann mit Orichalcos. Mit dieser Zauberkarte werde ich schon irgendwie fertig." "Ganz schön selbstsicher", zu ihrer Überraschung war es Kaiba, welcher aus der Tür schritt und zu der jungen Frau dazustieß. "Wenn mein Plan aufgeht", Rin schmunzelte, "dann wartet auf Paradius' Aufziehäffchen eine nette kleine Überraschung." "Du probierst eine neue Strategie?" "Sagen wir, ich versuche dem Bild einer sündigen Firma, die die Weltherrschaft durch ihre Technik an sich reißen will, gerecht zu werden. Ich denke, anders kann man es diesen Verrückten nicht beibringen." "Du hast immer einen Plan, oder?" Seinen Tonfall wusste sie nicht ganz einzuordnen. Ebenso wenig seinen Gesichtsausdruck, mit dem er Rin von oben bis unten einmal durch scannte. "Nicht immer", antwortete Rin etwas leiser. Das Lächeln war ebenfalls aus ihrem Gesicht verschwunden. Seine Miene blieb wie die eines Eisklotzes. Er war immer etwas gefühlskalt, aber so hatte er sie noch nie angesehen. "Hat sich wenigstens das Essen gelohnt?" Rin hielt den Atem an. "Ich hatte keinen Hunger", antwortete sie. Kaiba blinzelte. "Du versuchst es nicht einmal abzustreiten?" "Warum sollte ich", entgegnete die junge Frau und beobachtete, wie langsam das Eis in seinen Augen zu schmelzen begann, "du weißt, dass ich mich mit Crawford getroffen habe. Lügen würde nichts bringen… und ist nicht meine Art." "Was hat er dir gesagt? Hat er dir erst Honig ums Maul geschmiert oder ist er gleich mit der Tür ins Haus gefallen?" "Von beidem etwas." "Und deine Antwort?" "Dass ich nicht vorhabe, die Kaiba Corporation zu verlassen." Schweigen. Kaiba musterte die junge Frau, als sähe er sie zum ersten Mal. Dann blitzte etwas in seinen Augen auf. Er kam soweit an Rin heran, dass er direkt auf sie herabblickte. Leicht neigte er den Kopf, dass seine Lippen nur knapp über ihrem Ohr lagen. Seine Stimme war lediglich ein Raunen: "Solange der Vertrag besteht, gehörst du mir. Und ich werde dich nirgendwohin gehen lassen, merk' dir das." Damit richtete er sich auf und lief Richtung Ausgang. Rin blieb wie angewurzelt stehen. Sag' etwas, verdammt! Das durfte sie so nicht im Raum stehen lassen. Sie gehörte ihm nicht - sie gehörte niemandem! Doch ihre Lippen bewegten sich kein Stück. Sie hasste sich. Hasste es, dass seine Worte einen kleinen Teil von ihr erregten, dass sie sich etwas darauf einbildeten… Wie dumm kann man denn sein?! Rin wollte ihn für diesen Spruch eine scheuern, doch am liebsten wollte sie sich erstmal selbst eine verpassen. Was war bloß in sie gefahren, dass sie nichts darauf erwidern konnte. Sonst riss sie doch neuerdings wegen allem ihr Maul auf! "Scheiße", fauchte Rin und beendete ihr Training. Die DuelDisc ausgeschaltet stampfte sie aus der Halle Richtung Fahrstuhl. Kaum hatte dieser angehalten und seine Türen geöffnet, stürmte sie ins Innere und drückte mit voller Wucht auf den Knopf, der rauf ins Erdgeschoss führte. Mehrere Flüche sandte sie an sich und den jungen Firmenchef, bis der Lift zum Stehen kam. Mit hochrotem Gesicht mischte sie sich unter die Menge, welche sich ganz auf den Feierabend konzentrierte. Hunderte von Mitarbeiter, die sich sonst nur kurz vor Arbeitsbeginn hier einfanden, steuerten den Ausgang des Firmengebäudes an. Frauen tratschten vergnügt, die Männer hatten es bloß eilig nach Hause zu kommen. Die meisten waren mit ihren Smartphones beschäftigt und bemerkten die junge Frau nicht einmal, die als einzige die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen hatte. Zu all dem Gefühlschaos mischte jetzt auch noch der Hunger richtig mit, dass sie einen tiefen Atemzug tat und kurzerhand zur Kantine marschierte. Für eine Laune wie diese gab es nur eines, das ihren Gemütszustand runterfahren ließ. Direkt neben der Glastür blieb sie stehen und kramte aus der Hosentasche ihr Kleingeld heraus. Dann stellte sie sich nur zwei Schritte weiter vor den Automaten und drückte die Nummer sieben, dass ein grüner Pappbecher raus ploppte. Der Deckel wurde aufgerissen und heißes Wasser in den Becher gegossen. Sofort drang der Duft verschiedenster künstlicher Zusätze in ihre Nase. "Pause oder Feierabend?", neben ihr lehnte Mokuba Kaiba an der Glasscheibe und musterte die fertigen Ramen. "Weder noch", entgegnete Rin, die sich bemühte, nichts von ihren Gefühlen nach außen durchschimmern zu lassen. "Dann sind wir schon zu zweit", sagte der Jüngere der Kaiba Brüder mit einem entnervten Seufzen. Er hielt ihr ein Buch vor die Nase. "Hausaufgaben?", blinzelte Rin, die jede Art der Ablenkung begrüßte. "Leider", ein zweiter Seufzer drang aus seiner Kehle, "ausgerechnet Physik. Das Fach ist einfach nur ächzend." "Was ist das Thema?", Rin hielt ihm den dampfenden Becher hin. Wie ein rettendes Seil nahm der Jüngere die Suppe entgegen. In kurzen Sätzen erläuterte er die ausstehende Aufgabe, während Rin derweil ein zweites Mal den Automaten mit Geld fütterte. "Gib' schon her", entgegnete schließlich die junge Frau und griff sich Stift und Papier, die Mokuba beide unter seinem rechten Arm klemmen hatte. Nach einem schwachen Protest verbeugte er sich vor Rin. "Und ich halte dich nicht beim Training auf?", fragte der Schwarzhaarige, während er den erstbesten Sitzplatz ansteuerte. Rin folgte ihm und setzte sich mit Blick in Richtung Fensterscheibe. Noch immer regnete es wie aus Eimern und wie Rin die Gewitter ihrer Heimatstadt einschätzte, würde es vor Mitternacht auch nicht aufhören. "Mach' dir keine Gedanken", erwiderte sie und versuchte ein halbwegs glaubwürdiges Lächeln hinzubekommen, "die Ablenkung kann ich gut gebrauchen. Es dauert auch nicht lang." "Wenn du meinst", er beobachtete Rin, wie diese die Stäbchen in die eine Hand nahm, den Stift in die andere legte und sich sofort ans Werk machte. Das Buch aufgeklappt, sah sie nur flüchtig zu der Rechenaufgabe hinauf. Die linke Hand rauschte nur so über die Zeilen, während auf der anderen Seite eine große Portion Ramen aus der Suppe gezogen wurde. "Meinst du nicht, du solltest-", mitten im Satz brach er ab, als Rin bereits den Mund voller Nudeln hatte - ungeachtet des heißen Dampfes, der noch immer aus der Brühe trat. Mit einem stummen Lächeln schüttelte er den Kopf. "Du bist der Wahnsinn, Rin", murmelte er. "Das nennt sich Streber", entgegnete Rin, nachdem die letzte Nudel ihre Kehle heruntergerutscht war. Mokuba lächelte schwach. "Ich soll dir übrigens schöne Grüße von Maki bestellen." "Warum das?", fragte Rin, wobei sie kein einziges Mal das Blatt aus den Augen ließ. Den ersten Teil der Aufgabe hatte sie bereits erledigt. "Er hat mir erzählt, dass du ihn vor Seto verteidigt hast." Der Name ließ ihren Magen krampfhaft zusammenziehen. "Eigentlich hat ja Maki mich gerettet." "Ich hab von deiner kleinen...Party gehört", Mokuba unterdrückte sein breites Grinsen hinter einer dicken Portion Ramen. "Wie hast du das bloß angestellt? Man hat dir die halbe Flasche Whisky überhaupt nicht angemerkt." "Du weißt es?!", Rin hatte den Kugelschreiber beiseitegelegt. Ihr wurde schlagartig übel. Wenn Mokuba davon weiß- "Schon gut", fuchtelte der Jüngere der Kaiba Brüder mit den Händen, "Maki hat es mir im Vertrauen erzählt. Wir beide kennen uns schon eine Ewigkeit. Er ist mir quasi noch etwas schuldig…Wenn es ein Problem oder Ähnliches gibt, kommt er erstmal zu mir. Ich habe ihm gesagt, dass wir meinen Bruder da nicht hineinziehen sollten. Er schien ja davon nichts mitbekommen zu haben, also warum schlafende Hunde wecken." "Danke", nuschelte Rin und klappte das Lehrbuch zu. "Überhaupt nichts zu danken", nickte er ihr aufmunternd zu, "und du brauchst dir keine Sorgen machen, dass Maki etwas zu meinem Bruder sagen könnte. Wie gesagt, er ist dir echt dankbar, dass du ihn am Freitag verteidigt hast. Nach dem Mist, den Nagawa verzapft hatte, war Seto drauf und dran, auch Maki zu degradieren." "Nagawa wurde degradiert?" Sie riss die Augen auf. "Viel weiß ich nicht, aber scheinbar soll Nagawa Fehler begangen haben, die als Chef der Social Media Abteilung unverzeihlich sind." Er meint doch nicht etwa die verpatzten E-Mails?! Unmöglich. Das würde ja heißen, Kaiba hätte ihn meinetwegen- "Und jetzt?", das mulmige Gefühl konnte sie nicht so ganz abstellen. "Seto hat Nagawas Stelle neu besetzen lassen und Nagawa filtert jetzt nur noch die Kommentare aus den Social Media Plattformen. Wenn du mich fragst, die pure Folter." "Da hast du recht", Rin presste die Lippen zusammen, "dein Bruder hat ja ziemlich schnell Ersatz gefunden." "Das war nicht sein erster Ausrutscher in der Richtung. Außerdem hat mein Bruder immer einen Plan B…" Er hielt inne und schaute in den Becher. "Und du?" Mit den Stäbchen stocherte er in der Brühe herum. Mokuba wirkte geradezu geknickt. "Hast du auch schon was in der Hinterhand?" Darum also druckste er so rum. "Dein Bruder hat mit dir geredet, oder?" Rins Blick verfinsterte sich. "Ich hab's bloß durch Zufall erfahren", entgegnete der Jüngere leise, "Crawford will dich abwerben, richtig? Nach deinem Duell gegen Kaeji hatten er und mein Bruder ein kurzes Gespräch. Seto hat mich weggeschickt, aber ich weiß, dass es um dich ging und da zurzeit viele Interesse daran haben, dich aufzukaufen, war mir klar, worüber Crawford mit ihm reden wollte." Seit einer Woche wusste Kaiba bereits, dass Crawford sie abwerben wollte? Rin drückte die Stäbchen in ihrer Hand, dass sie mit einem Knacksen in der Mitte zerbrachen. Währenddessen hatte Mokuba aufgehört, in der Suppe herum zu stochern und blickte nun erstmals hinauf. "Danach war mein Bruder ziemlich mies drauf. Ich meine, er hat nie eine Bombenstimmung, aber er hat noch Stunden danach kein Wort mit mir gesprochen. Das macht er sonst nur, wenn er sich von jemandem auf den Schlips getreten fühlt. Aber wer kann es ihm verübeln-", seine Stimme brach ab, er verzog wütend das Gesicht, "dass er überhaupt auf die Idee kommt, Seto würde ihm seine Spieler auf dem Silbertablett servieren. Als ob mein Bruder jemals vergessen würde, was er uns angetan hat-" Die freie Hand knallte auf den Küchentisch, dass Rin kurzerhand ihren eigenen Ärger vergaß. So wütend hatte sie den schwarzhaarigen Wuschel noch nie erlebt. Das Gefühlschaos war die junge Frau von dem sonst so aufgeweckten Teeanger nicht gewohnt. "Entschuldige", murmelte der Jüngere und sah zur Seite. "Alles okay?", fragte sie, wobei ihr die Verwunderung noch immer ins Gesicht geschrieben stand. Sie wusste, wie blöd diese Frage war. "Mach' dir keinen Kopf, ehrlich. Es ist alles gut." "Mokuba", Rins Stimme war fest und eindringlich. Diesmal wollte sie den jungen Kaiba nicht vom Haken lassen. Viel zu oft hatte er Andeutungen gemacht, die immer im Sande verlaufen waren. Aber etwas sagte ihr, dass sie nicht locker lassen sollte - diesmal nicht. Dafür hatte sich der Schwarzhaarige einfach noch nicht fangen können. Normalerweise kehrte er schnell wieder zu seiner guten Laune zurück. "Du willst es mir doch erzählen - und das schon länger, hab ich nicht recht?" Sie sah ihn durchdringend an, ohne einmal zu blinzeln. Das half auch immer, wenn Lumina etwas bedrückte. "Spuck' schon aus, was los ist. Wenn du willst, hör' ich auch nur zu. Ich bin ganz gut darin." Er sah sie lange schweigend an. Sein Blick wurde weicher, schließlich sah sie die Resignation in seinen Augen. "Versprichst du mir, dass du bleibst?" Sein flehender Ton war herzzerreißend. Das hätte sie dem jüngeren Kaiba gar nicht zugetraut. Es beunruhigte sie ein wenig. "Ich habe nicht vor, die Firma zu wechseln", entgegnete sie - ihre Entscheidung klang so sicher, wie noch vor Stunden gegenüber Crawford. Ein gutes Gefühl, wie sie fand. "Ich weiß", Mokuba sah jetzt wieder zur Seite, "wir sind auch keine Heiligen…aber wenn Pegasus J. Crawford etwas haben will, schreckt er vor nichts zurück…damals zum Beispiel...da war er verrückt nach Setos DuelDisc, er sagte, er wolle das System unbedingt für sein DuelMonsters Spiel haben…natürlich war das nicht alles", seine Augen wurden immer leerer, "er wollte sich die ganze Firma an den Nagel reißen. Hat dafür sogar mich entführen lassen, damit ich ihnen den Schlüssel zur Firma aushändige-" "Was?!", rutschte es aus Rin heraus. Erzählte ihr Mokuba gerade einen dieser skandinavischen Thriller oder war dies wirklich die Realität? Sein Blick sagte ihr, dass es eindeutig zweiteres war. Ihr verschlug es die Sprache. "Das ist schon Ewigkeiten her. Zu der Zeit hat sich niemand für die Kaiba Corporation interessiert, weil das große Turnier alles in den Schatten gestellt hat." "Welches Turnier meinst du?" "Das Königreich der Duellanten." Rin sah auf einmal die virtuelle Session vor sich. Als sie nicht wusste, wo sie war und Kaiba sie in letzter Sekunde vor dem Abgrund gerettet hatte. Das war gar nicht Lumina…der schwarzhaarige Wuschel…Mokuba- Sie sah zu dem Jüngeren, der gequält auf den Holztisch starrte. "Sie haben geglaubt, ich würde ihnen einfach so den Schlüssel geben. Dass sie sich die Firma unter den Nagel reißen könnten…hinter allem steckte der Vorstand der Kaiba Corporation - und Pegasus Crawford hat die Fäden gezogen. Sie haben meinen Bruder verraten, weil er gegen Yugi verloren hat und die Umsatzzahlen von Kaiba Corp. kurzfristig in den Keller gingen…diese Feiglinge haben es ausgenutzt, dass mein Bruder im Koma lag…" Was hat Mokuba gerade gesagt Der schwarzhaarige Wuschel redete, ohne einmal Luft zu holen, dass Rin überhaupt nicht mehr mitkam. Es war zu viel für sie. Ihr Kopf begann sich zu drehen. Kaiba? Im Koma? Fragen über Fragen schwirrten in ihrem Kopf. Dabei brachte sie keinen Ton heraus. Ein Teil von ihr wollte nicht weiter zuhören. Dies war eindeutig nicht für sie bestimmt. Allein schon das Gesicht des jungen Firmenchefs, wenn er davon Wind bekäme. Aber sie hatte den Jüngeren dazu ermutigt und konnte ihn jetzt nicht unterbrechen. Sie spürte, wie es ihn belastete. Er rang mit sich, die Worte überschlugen sich nur so. Gut für Rin, die das meiste nicht mehr verstehen konnte. "Ich weiß auch nicht, warum ich die Tage so viel über die Vergangenheit nachdenken muss", er hielt sich den Kopf, "Seto fällt es so verdammt leicht, die Vergangenheit zu begraben und ich dachte echt, ich hätte damit abgeschlossen." Ein gequältes Lächeln kam über seine Lippen. "Ich will einfach nicht, dass so jemand wie Crawford dich uns wegnimmt. Wer weiß, was für kranke Pläne er mit dir hat." Stille. Im Hintergrund drang lediglich das leise Klopfen der einzelnen Regentropfen zu ihnen durch. Der Regen war schwächer geworden, ließ die Straßen nicht mehr wie eine Wasserbahn erscheinen. Schließlich richtete sich Rin auf. Sie schob Mokuba das Blatt direkt vor seine Nase. "Hier", ihre Stimme war weich, sie lächelte, obwohl ihr danach war, den Jüngeren in den Arm zu nehmen. Vielleicht hätte es Mokuba gut getan. Andererseits glaubte sie nicht, dass Mitleid das war, was der Jüngere der Kaiba Brüder wirklich brauchte. "Mach dir wegen mir keine Sorgen, Mokuba. Du solltest deinen Geist nicht ständig mit all diesem Weltherrschafts-Wahnsinn belasten. Ich verspreche dir, ich werde auf mich aufpassen", sie fasste sich an die Brust, "im Gegenzug erwarte ich, dass du nicht länger um den heißen Brei redest, wenn dir was auf der Seele brennt." "Ich will dich da einfach nicht mit hineinziehen", entgegnete Mokuba und zwang sich zu einem Lächeln. Dabei wirkte er wie ein bedröppelter Pudel. "Zu spät", sagte Rin und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, "ich bin eure Duellantin, schon vergessen? Jeder, der sich mit der Kaiba Corporation anlegt, hat es automatisch mit mir zu tun." Ihre Augen bekamen dieses Lodern. Fasziniert schaute der Schwarzhaarige in Rins Seelenspiegel, die jedes ausgesprochene Wort zu einem in Stein gemeißelten Standpunkt verwandelten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)