Déjà-vu ~ So fern und doch so nah von irish_shamrock (FW 2o2o für Idris) ================================================================================ Kapitel 1: Déjà-vu ~ So fern und doch so nah -------------------------------------------- Déjà-vu So fern und doch so nah Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend, besah sich Coope die Kartons zu ihren Füßen. Die saubere Handschrift ihrer Mutter sollte den Möbelpackern die Richtung weisen: Küche, Badezimmer, Schlafzimmer – Es war ein Wunder, dass Nells Silver so viel Vertrauen in ihre Tochter setzte, um diese allein in die Welt hinauszuschicken. »Sie auf die Menschheit loszulassen trifft es eher«, hatte Julie gemeint und den verstimmten Blick ihrer Mutter ignoriert, sobald Nells die Worte der Ältesten vernahm. Julie-Ann Silver, die Arme vor der Brust verschränkt und im Türrahmen lehnend, begutachtete die Fülle an Kisten, in die das Leben ihrer kleinen Schwester verstaut worden war. Coope hob den Blick und streckte Julie die Zunge heraus. »Ich werde dir trotzdem fehlen, ob es dir gefällt, oder nicht!« Schnaubend warf sich Julie das blonde, lange Haar über die Schulter und schlug den Weg in Richtung Diele ein. Vermutlich ergab sie sich der leisen Hoffnung, dass einer der jungen Helfer vielleicht ihrem Geschmack entsprach und sich auf einen kleinen Flirt einließe. Mit dem Hauch der leisen Genugtuung stellte Coope fest, dass kein gutaussehender Kerl beim Schleppen half. Es waren auch nur Thomas und Steven, Nells Kollegen, die sich bereiterklärten, der Mutter einen Gefallen zu tun und dem Küken unter die Arme zu greifen. Nach und nach waren die Kisten in dem kleinen Transporter verstaut und Coope bemerkte, dass die Stimmung allmählich kippte. Es würde schlimmer werden. Noch riss sich Nells zusammen, doch sobald sie vor der Tür des kleinen Apartments standen, würden die Dämme dieser tapferen Frau brechen. Und ihre ebenso. Das Leben der Silvers war keines, von dem gern erzählt wurde. Aus den gescheiterten Beziehungen Nells' gingen zwei Mädchen hervor und eine zerbrochene Ehe. Doch Nells Silver ließ sich nicht unterkriegen, auch wenn ihr in den letzten Jahren viele Brocken in den Weg gelegt worden waren, die sie in mühevoller Kleinstarbeit zu Kieseln hatte brechen können: Jobverlust, Trennungen, Geldsorgen – Doch es ging weiter, irgendwie. Und erst im vergangenen Monat war es ihr gelungen, die Grenze der zehnjährigen Betriebszugehörigkeit zu überschreiten. Nells war angekommen, wieder einmal. Wie lang ihr dieses Glück noch hold war, konnte sie nicht bestimmen. Wirtschaft und Politik machten es der Bevölkerung nie einfach, doch Nells blieb ruhig und bescheiden. Und diese Eigenschaften wollte sie auch ihren Kindern mitgeben. Sie hatte es versucht, auch wenn sie nicht selten Zweifel überkamen. Sie hatte sich so viel mehr für ihre Mädchen gewünscht als dieses kleine, enge Haus. Einen Hund, einen großen Garten, einen Vater, vielleicht? »Mom?« Nells schreckte auf, als die Stimme des Kükens an ihre Ohren drang. »Wir können los.« Es fiel ihr schwer, die Mundwinkel zu heben und sich ein Lächeln abzuringen, das positiv, bejahend und frisch war. Thomas und Steven warteten im Transporter und Julie-Ann würde für einen Tag allein das Haus hüten. »Keine Partys!«, wies Nells ihre Große zurecht. Julie verdrehte die Augen. »Hier finden nie Partys statt, Mom.« Auch wenn zwischen den Schwestern nicht selten eine gewisse Anspannung zu bemerken war, wischte sich Julie-Ann fahrig die Augen, sobald ihre Mutter, mit Coope im Schlepptau, den Motor des alten, roten VW Jetta startete und langsam aus der Ausfahrt rollte. Die fünfstündige Fahrt nach Osten würde ihnen eine Menge Zeit zum Nachdenken bieten, als der kleine Tross zu seiner Reise aufbrach. ∞ ✰ ∞ Punxsutawney, Pennsylvania. Ihre Heimat, die durch den Film und der Tradition des Groundhog Day traurige Berühmtheit erlangte, und der sie nun den Rücken kehrte. Coope seufzte leise, wandte den Blick von der Landschaft ab, die an ihnen vorbeizog und drehte an der Klimaanlage herum. Die warme Luft, die ihr ins Gesicht schlug, war ihr nur in der ersten halben Stunde ihrer Reise angenehm. Jetzt bescherte sie ihr Kopfweh und Übelkeit. »Was ist los, Coopsy? Hast du es dir anders überlegt?« Nells richtete für einen flüchtigen Augenblick den Fokus auf ihre Tochter. »Du bist ganz blass.« Coope schnaubte und schüttelte knapp den Kopf. »Mir ist nur ein bisschen übel.« »Sollen wir anhalten? Wir können eine Pause machen. Steven und Thomas werden den Weg auch ohne uns finden.« Sorge zierte das Gesicht der Frau, ein Ausdruck, den Coope nur zu gut kannte, auch wenn sie nur das Profil ihrer Mutter sah. »Nein, Mom, es ist alles okay, okay? Es ist die Heizung. Du drehst sie immer voll auf!«, klagte Coope und verschränkte die Arme vor der Brust. »Okay.« Kurz nahm Nells die Hände vom Lenkrad, um jene beschwichtigend zu heben. Das hastige Ausatmen Coopes ließ sie jedoch grinsen und rasch die Finger wieder um das abgegriffene Steuer schlingen. »Lass diese makaberen Scherze, Mom!«, zischte Coope und schürzte die Lippen. »Vielleicht sollte ich dich wieder auf den Rücksitz verpflanzen, so wie früher?!«, drohte Nells halbherzig. Ein grummelnder Laut erklang. Seit Coope im Alter von elf Jahren die erforderliche Körpergröße erreichte und somit die Grenze überschritt, nicht mehr in einen Kindersitz, geschweige denn auf die Rückbank verfrachtet zu werden, war zwischen ihr und Julie regelmäßig ein Kampf entbrannt, wer vorn, als Beifahrer, Platz nehmen durfte. Meist ging Julie siegreich aus dem Streit hervor, doch nur, da sie einen Vorsprung von vier Lebensjahren vorweisen konnte. Dass Coope ihre Schwester nunmehr um einen halben Kopf überragte, stand nicht zur Debatte, sobald der wöchentliche Einkauf erledigt werden musste. Quälend hatte sie ihre Beine einklappen müssen und sich auf den Rücksitz verzogen. Als es Julie erlaubt war, endlich ihren Führerschein zu machen, platzte Nells beinahe vor Stolz. Doch ihre Älteste mit Sir Conrad fahren zu lassen, stand für sie nicht zur Diskussion. Coope brauchte drei Anläufe, bis man ihr gestattete, sich auf vier Rädern durch die Stadt zu bewegen. Allerdings machte Nells bei ihr ebenso wenig eine Ausnahme. So blieben den Mädchen weiterhin nur die Optionen, mit dem Fahrrad, Bus oder zu Fuß an ihre Ziele zu gelangen. Julie verfügte über genug Verbindungen, um dorthin zu gelangen, wo sie wollte. Angefangen von ihren Freundinnen, mit schnellen Reifen, bis hin zu ihrem ersten Freund, der nicht nur ein teures Auto, sondern auch ein schneidiges Motorrad besaß. Coope hatte nicht so viel Glück. Sie begnügte sich mit den täglichen Busfahrten, wenn die Highschool nach ihr rief. Ein Leidensgenosse auf ihrem Weg blieb Armie. Er war nicht nur über Jahre hinweg ihr bester Freund, auch zeigte er sich verständnisvoll, auch wenn Coope ihm nicht selten mit ihren Sorgen und Nöten auf die Nerven zu fallen drohte. Sie kannten einander seit der Mittelschule, und auch wenn Armie knapp zwei Jahre älter war als sie, traf man sie selten ohne den anderen an. »Hast du etwas von Armie gehört?« Noch immer den Highway im Blick, richtete Nells ihre Worte an das jüngste Kind, als habe Coope sie an ihren Erinnerungen teilhaben lassen. »Nein«, knurrte Coope, streckte die Finger nach dem Radio aus und drehte den Knopf nach rechts. Leise erklangen Gitarren und Nells schnaubte lachend. »Das ist das Lied von deinem Vater und mir.« »Erzeuger«, zischte Coope und ließ sich wieder in den Sitz sinken. »Wie du meinst, Coopsy.« Nicht weniger leise summte Nells die ihr vertraute Melodie, da keine der Silver-Frauen über das Privileg einer Gesangsstimme verfügte. Mit der Melodie der Eagles in den Ohren, trieb Nells den alten Sir Conrad voran und ihr kleines, großes Mädchen in die Arme einer fremden Stadt. ∞ ✰ ∞ Coope wusste um den Anflug einer Panikattacke Nells, sobald die Interstate 80 zur Interstate 280 wurde und sie den Essex Freeway entlangfuhren. Vorbei an Orange, New Jersey, in Richtung Jersey City. Anspannung nagte an Nells. Sie war eine hervorragende Autofahrerin, doch große Städte waren ihr ein wahrer Graus, trotz der Führung des Navigationssystems. In New Port schickte man sie durch den Holland Tunnel, der sie sicher nach Manhattan brachte. Zu Nells Erleichterung hatte Coope ihr versichert, dass die kleine Wohnung, die sie vor vier Monaten ausfindig machen konnte, am westlichen Rand des Tribeca-Viertels lag. Es wäre leichter, in einem Schuhkarton zu hausen, als im Big Apple an eine bezahlbare Unterkunft zu gelangen. Es waren viele Telefonate vonnöten, um den vielen Vermittlern zu verdeutlichen, dass Coope eine Anstellung bei einer renommierten Firma ergattert hatte und die Miete pünktlich würde zahlen können. Das Gros der Vermieter versagte ihr selbst die Besichtigungen, da ihnen nur gutsituiertes Klientel in die Häuser kam, deren finanzielle Sicherheit gewährleistet wurde. Mit Mrs. Poppins hatte Coope wohl einen wahren Glücksgriff getan, denn diese war vor vierzig Jahren selbst aus einer kleinen Stadt im Süden nach New York City gekommen, um wie alle hier das große Glück zu finden. Es war ein Kampf, doch Mrs. Poppins musste etwas in dem Wesen Coopes bemerkt haben, das ihr imponierte und sie dem Mädchen letztendlich eine kleine Wohnung bescherte. »Der Immobilienmarkt ist selbst in den weniger teuren Gegenden ein Schlachtfeld«, hatte Mrs. Poppins gemeint und nach einem ausführlichen Gespräch mit Nells dieser versichert, dass ihre Tochter eine gute Bleibe gefunden habe. So zockelten der kleine Transporter, angeführt von Sir Conrad, durch die Straßen New Yorks. Vor dem Haus, das nicht mehr als vier Etagen besaß, wartete bereits eine Dame auf sie. Sowie Nells den Wagen in die Parklücke rollen ließ, schnellten Coopes Mundwinkel gen Himmel, auch wenn dieser, an diesem Tage, mit grauen Wolken aufbot. »Mrs. Poppins?«, fragte Coope, sobald sie sich des Sicherheitsgurtes entledigt, die Tür geöffnet und ihre Füße den harten Asphalt berührten. Die Frau vor ihr hielt bereits ein kleines Pappschild empor, auf dem C. Silver zu lesen war. »Du bist Coope?« Die grauen Augen der Dame musterten das Mädchen vor sich, ehe sich leichte Falten auf das ungewöhnlich glatte Gesicht der Frau zeigten, doch die geschminkten, pinken Lippen zierte ein Lächeln. »Mrs. Poppins? Ich bin Nells Silver.« Nells trat neben ihre Tochter und streckte der Frau die Hand entgegen. Allerdings hob Mrs. Poppins flink die Arme, huschte auf Nells zu und drückte diese rasch an sich, ohne sie zur Gänze in eine Umarmung zu ziehen. »Wie schön, dass ihr endlich da seid. Ich habe immer wieder die Barcley Street rauf und wieder herunter geschaut, um euch heranzuwinken.« Wortkarg, wie die bisherigen, angehenden Vermieter, war Sherley Poppins nicht. Das blonde, toupierte Haar erinnerte Coope an die hellgelbe Zuckerwatte, die es immer während des Groundhog Day gab. Nells ließ die stürmische Begrüßung über sich ergehen und auch Coope ergab sich jener freundlichen Geste. Nur ihre beiden Helfer wurden mit einem bloßen Kopfnicken zur Kenntnis genommen. Mrs. Poppins wandte sich dem Hauseingang zu und gebot der Gruppe mit einem Wink, ihr zu folgen. »Vielen Dank für die Fotos. Die meisten Leute, mit denen wir sprachen, hielten nichts davon, dass wir uns einen Eindruck machen wollen«, sagte Nells und besah sich mit Argusaugen den Hausflur. »Die meisten Leute, meine Liebe«, Mrs. Poppins blieb auf dem oberen Treppenabsatz stehen und wandte sich zu den Frauen um, »sind Idioten.« Nells schnaubte lachend und auch Coope gab ein leises Grunzen von sich, ehe sie die nächsten Stufen erklommen. Die Hände in die Hüften gestemmt, marschierte Nells die kleine Behausung ihrer Jüngsten ab. Alles war so, wie Mrs. Poppins auf den Bildern festgehalten hatte: Helle Wände, geflieste Nasszelle sowie die kleine Kochnische, die Böden mit Teppich ausgelegt. Nichts für die Dauer, doch für die ersten Monate, wenn nicht sogar Jahre, würde es wohl genügen. Da die Familie keinerlei Reichtümer beherbergte, hoffte Nells, dass diese große Stadt ihrem Kind nicht allzu viel Schaden zufügte, Coope abzudriften drohte oder Schlimmeres geschah. Auch wenn sie ihre Mädchen zur Selbstständigkeit erzogen hatte, konnten die falschen Menschen, der falsche Ort oder gar der falsche Zeitpunkt alles in Trümmern legen. »Mom? Mom!« Nells fuhr zusammen. Coope bedachte ihre Mutter mit zusammengezogenen Brauen, ehe sie die Augen verdrehte. »Mom, wirklich. Es wird toll. Das hoffe ich.« »Red' keinen Unsinn, Kind. Dieses Haus ist ein ruhiges Haus. Und so lang du keine wilden Partys feierst«, hob Mrs. Poppins an. Nells lachte laut auf und kassierte einen wütenden Blick ihrer Tochter. »Nells?« Es war Thomas, der sich an die Frau wandte. »Können wir dann die Sachen hochbringen?« Eifrig nickte Nells und eilte ihren Kollegen nach. »Dann«, Coope zwang sich ein kleines Lächeln auf die Lippen, als sie den Blick Mrs. Poppins bemerkte, »werde ich rasch helfen.« Mit flinken Schritten war auch sie der kleinen Wohnung entschlüpft. Viel gab es nicht, das seinen Weg in das neue Leben gefunden hatte. Die Kartons mit Kleidung und den Habseligkeiten Coopes waren schnell in die neue Bleibe getragen. Nur das Bettgestell stellte die Möbelpacker vor eine Herausforderung, da der Hausflur schmal und die Stufen steil waren. Sorge zierte Nells Gesicht, je näher das Ende der Aktion rückte. »Machen Sie sich keine Sorgen«, erklärte Mrs. Poppins und tätschelte ihr den Arm. »Ich werde gut auf Ihre Kleine aufpassen.« Nells Mundwinkel hoben sich zu einem verzweifelten Lächeln, dann nickte sie der Dame verstehend und dankend zu und trat aus dem Schatten des Flurs in das helle Licht des Nachmittags, um sich von ihrer Tochter zu verabschieden. »Halte dein Geld zusammen, keine unnötigen Ausgaben. Zahl' deine Miete pünktlich. Wehe, es kommen Klagen!« Sie trat an Coope heran und glättete ihr die zerknitterte Bluse. »Und du bist dir wirklich sicher, dass du nicht doch zwei, drei Tage bleiben möchtest?«, prüfend schaute Coope ihrer Mutter ins Gesicht. »Ich meine, nur … bis ich mich eingelebt habe?« Nells neigte den Kopf und ergab sich für einen kurzen Moment der Bitte, doch dann schüttelte sie den Kopf. Die Worte Coopes sollten ein Entgegenkommen sein, ein Angebot, denn das Mädchen wusste, wie schwer es ihr fiel, loszulassen. Wortlos zog Nells ihr Kind in ihre Arme. »Und melde dich, wenn irgendetwas ist. Sofort! Hast du mich verstanden? Auch wenn 300 Meilen nicht gerade ein Katzensprung sind. Ich bin da, so schnell ich kann, ich ...«, flüsterte sie dennoch eindringlich. »Mom? Mom, wirklich. Es ist okay.« Wieder zwang Coope ein Lächeln auf ihre Lippen. Kurz gestattete sie ihre Mutter, ihr die verirrten Strähnen des dunkelbraunen Haares aus dem Gesicht zu streichen. Nells presste die Lippen fest zusammen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Mom, nicht!«, beschwor sie Coope. »Nicht weinen!« Doch da brachen sich die Bäche Bahn. »Hey, du hast immer noch Julie und die wird dich ganz schön auf Trab halten«, schniefte Coope und spürte das bebende Lachen ihrer Mutter, als diese sie fester an sich zog. »Melde dich!«, sagte Nells und ließ von ihr ab. Fahrig wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Schweigend nickte Coope die Bitte ab, verabschiedete sich bei den hilfsbereiten Kollegen und winkte ihrer Mutter, bis diese mit Sir Conrad an der nächsten Straßenecke abbog. Beklommen senkte sie den Kopf, atmete tief ein und hob den Blick, um sich zum ersten Mal der Umgebung gewahr zu werden. »Na komm, Kleines, ich zeige dir alles.« Dankend nahm Coope das Angebot Mrs. Poppins' an. ∞ ✰ ∞ In den ersten Wochen fiel es ihr schwer, sich mit allem vertraut zu machen. Angefangen bei der ersten, eigenen Wohnung, die einem Schuhkarton nicht unähnlich war. Weiterführend mit den Geräuschen, die dieses Haus, dieses Viertel, die ganze Stadt mit sich brachten. Das U-Bahnsystem stellte Coope zu Beginn ihres neuen Lebens vor genügend Herausforderungen. Ihr war noch immer ganz flau im Magen, wenn sie die Stufen zur Penn Station hinabstieg, um den Heimweg anzutreten. Ratternd und quietschend hielten die Wagons der Linie A, um sie von Greenwich Village über SoHo zur Chamber Street zubringen. Doch die Routine, so hoffte sie, würde die Angst und Unsicherheit irgendwann niederringen. Zu Coopes großem Glück nahmen sich, an ihrem ersten Arbeitstag bei ColorsOfNY, die ersten, vereinzelten Kollegen ihrer an. Neben Coope gab es noch zwei weitere junge Frauen, die jedoch in andere Abteilungen untergebracht wurden. So schwand der erste Hoffnungsschimmer, in dieser Firma neue Bekanntschaften zu schließen, auch wenn das Gros der Belegschaft aus einem aufblühenden, dynamischen Team bestand. Doch für sie wäre es eine Erleichterung, ein paar Leidensgenossinnen um sich zu wissen. Ihr Start war etwas holperig, doch Nia Knewley versicherte ihr, dass es ihr, vor drei Jahren, nicht anders ergangen war. »Ich war so aufgeregt, dass ich der Chefin beinahe auf die Schuhe gekotzt hätte«, erzählte sie und Coope verschluckte sich an ihrem Double Chocolate Chip Frappuccino. »Du willst mich verkohlen?« Skepsis zierte Coopes Gesicht und Nia verneinte kopfschüttelnd. »Wir sind eigentlich ein ganz nettes Völkchen«, sagte Nia. »Es wird dir hier bei uns sicher gefallen.« Ein gedehntes Seufzen war zu vernehmen, als Coope ihrer Mutter von all dem berichtete, was ihr in den letzten Tagen widerfahren war. Sie war sich bewusst, dass Nells es nicht guthieß, dass das Küken das heimelige Nest verließ. Allein. Ohne Hilfe. In der Fremde. »Meine Kollegen sind wirklich nett, Mom«, verteidigte Coope ihre Entscheidung und erlag der Erinnerung daran, als das Schreiben der ColorsOfNY bei ihnen eintraf. Der positiven Rückmeldung der Agentur konnte Nells jedoch nur wenig abgewinnen. Sie war bemüht, Coope ihren Verdruss nicht zu zeigen, doch das Mädchen war in einem Alter, in dem es wohl an der Zeit schien, flügge zu werden. »Wie macht sich Julie?« Auch wenn zwischen den Töchtern meist ein gewisser Konkurrenzkampf schwelte, so war es stets Coope, die sich nach ihrer Schwester erkundigte. Nells seufzte abermals. »Sie will jetzt etwas Soziales machen.« »Hm«, mehr hatte Coope nicht zu den Vorhaben Julie-Anns zu sagen, denn diese war, was ihren Lebensweg anbetraf, so sprunghaft, wie ein Gummiball, den man die Stufen des Lincoln Memorial hinabrollen ließ. »Isst du auch genug?«, warf Nells rasch ein und wechselte so das Thema über den verzweifelten Versucht Julies, den richtigen Job für sich zu finden. »Kein Fast Food! Davon bekommst du Pickel.« Coope verdrehte die Augen, schob die Chipstüte mit dem Fuß vor sich her, ehe sie, mit dem Hörer in der Hand, durch die kleine Bleibe marschierte. Viel gab es nicht abzuschreiten. Und so fand sie sich nach fünf langen Schritten im Wohnzimmer wieder. »Nein, Mom. Ja, Mom, ich weiß.« Wie aufs Wort strich sie sich den fransigen Pony aus der Stirn. »Wenn du Geld brauchst, dann ...«, hob Nells an. »Mom, ich habe doch erst vor drei Tagen mein Gehalt bekommen«, bemerkte Coope und spürte das nagende Gefühl einer leeren Geldbörse. »Und denk daran, Mrs. Poppins die Miete sofort zuzahlen!«, ereiferte sich Nells zum wiederholten Male. »Mom, wir mussten immer sparsam sein.« Coope verdrehte seufzend die Augen. Nells brummte verstimmt. »Ich will nur nicht, dass du auf der Straße sitzen musst. Dann komm lieber zurück. Und wir suchen dir hier etwas. In der Nähe. Ich habe gehört, dass ...« »Mom! Bitte. Lass es mich doch versuchen. Wenn ich nach einem halben Jahr, oder vielleicht erst in einem Jahr, der Meinung bin, dass diese Stadt, dieser Job, nichts für mich sind, dann ...« Ihr schwanden die Worte. Viel zu oft hatte sie diese Diskussion bereits ausfechten müssen. Erschöpft ließ sich Coope auf das Sofa sinken, dessen Metallfedern ihr unangenehm zu Leibe rückten. »Ich möchte doch nur, dass es dir gut geht, Coopsy«, murmelte Nells, doch Coope verstand jede Silbe, die von den Lippen ihrer Mutter wich. Sie hob den Blick und starrte auf die vergilbte Tapete der gegenüberliegenden Wand. Vor ihr hatte ein älterer Herr diese Wohnung bewohnt. Ein Starkraucher und die Überbleibsel dieser Sucht fraßen sich in Teppich und Stein. Der Mann lebe jetzt in Florida, hatte ihr Mrs. Poppins erzählt. »Bist du noch dran?«, fragte Nells besorgt. »Ja, Mom, ich bin noch dran«, sagte Coope leise. »Okay, mein Schatz. Ich wollte dir kein schlechtes Gewissen machen«, schob Nells eilig nach. Wieder rollte Coope mit den Augen. »Ich weiß Mom, natürlich nicht.« »Melde dich, wenn etwas ist oder du irgendetwas brachst, ja?« Coope konnte sich vorstellen, wie Nells bei jenen Worten an ihrem Daumennagel nagte. Das tat sie immer, wenn sie sich sorgte. »Ich hab dich lieb, Mom.« Coope vernahm einen schnaubenden Laut am anderen Ende der Leitung. »Ich weiß, Coopsy. Ich dich auch. Und Julie auch. Und Granny Fran und Grandpa Ron.« Nun stieß Coope ein Lachen aus. »Wirklich, Coopsy.« »Ich weiß, Mom.« Ein kleines Kichern erklang. »Ich melde mich nächste Woche wieder, ja?« »Bye, Coopsy«, hauchte Nells und Coope hörte sehr wohl die dicken Tränen heraus, die Nells in die Knie zu zwingen versuchte. »Bye, Mom.« Dann glitt ihr Daumen über die Taste und das Telefon verstummte. Laut schnaufend warf sich Coope in die Rückenlehne. ∞ ✰ ∞ Mit jedem Schritt mutiger werdend, erkundete die junge Frau im Laufe der nächsten Monate das Viertel und wagte sich immer weiter vor. New York City war seit frühester Kindheit ihr Ziel, ihr Traum, der mit der Annahme ihrer Bewerbung in Erfüllung ging. In Ermangelung sauberer Kleidung ließ sich Coope einst von Mrs. Poppins den Weg zu einem der vielen Waschsalons zeigen. Zufrieden seufzend kam Coope vor der gläsernen Front der Reinigung zum Stehen. Den Wäschesack fest umklammert, trat sie über die Schwelle und wurde grinsend von Humberto Martinez begrüßt. Immer einen Spruch auf den Lippen, hatte Humberto versucht, Coope aus der Reserve zu locken. Sie erinnere ihn an seinen Sohn, jedoch nur, da beide im selben Alter waren. Rodrigo, dieser Nichtsnutz, wie Humberto gern schimpfte, wurde von Freunden und der Familie stets Ringo gerufen, da er als Dreijähriger ein Plastikschlagzeug bekam und wild auf diesem herumgetrommelt habe. Humberto war jedoch mehr daran gelegen, seinen Sohn an ein nettes Mädchen zu heften und so sah sich Coope bei jedem Besuch dem Drängen des Mannes ausgesetzt, sie möge doch über ihren Schatten springen, und ein weiteres Mal mit Ringo ausgehen. Dass sie sich tatsächlich zu einem Date hatte hinreißen lassen, war nicht allein dem stetigen Bitten Humbertos geschuldet. Rodrigo tat ihr unheimlich leid, da er sich den spitzen Bemerkungen seines Vaters immer wieder widersetzen musste. Ringo war ein waschechter New Yorker, doch als Kind eines mexikanischen Einwanderers und einer Amerikanerin mit englischen Wurzeln, spielte ihm das Leben ganz und gar nicht in die Hände. Doch er war groß und beweglich, und konnte, gemäß eigener Aussage, flitzen wie der Wind. Seine Schnelligkeit kam ihm im Sport zugute. So rissen sich die Schulmannschaften um ihn, wollten ihn im Baseball-Team, oder beim Basketball sehen. Sein Talent blieb nicht unbemerkt und so ergatterte er ein Stipendium, auch wenn die übrigen schulischen Leistungen keinesfalls die eines Einserschülers waren. Viel gemeinsam hatten sie nicht, sie mochten weder dieselben Filme, noch hörten sie ähnliche Musik, bis Ringo das ermüdende Gespräch auf seinen Lieblingssport lenkte. Hellhörig geworden bejahte Coope und erklärte ihre Begeisterung für Baseball. Doch es blieb bei der ersten und einzigen Affinität zu jenem Sport. Ringo versprach ihr, sie zu einem Spiel ins Yankee Stadium mitnehmen zu wollen und Humberto lauschte bereits den Hochzeitsglocken. Doch es blieb bei einem knappen Kuss und der Erkenntnis, nur gute Freunde zu sein, die gelegentlich miteinander ausgingen oder einander aufzogen, wenn die Lieblingsmannschaft verlor. So vergingen die Monate und das erste Weihnachtsfest, das Coope im heimischen Pennsylvania verbrachte, klopfte schneller an die Tür, als ihr lieb war. Sorgsam hatte sie ihren Lieben den alltäglichen Arbeitsablauf erklärt und das wütende Schnauben ihrer Mutter zu ignorieren versucht, da sich Nells alles andere als zufrieden mit der Ausbildung ihres Kindes zeigte. »Es wird besser, Mom«, sagte Coope knapp und bemerkte, wie New York City im Klange bereits abfärbte. »Pfeifst du auch die Taxis heran?«, fragte Grandpa Ronald mit regem Interesse. Coope lachte kopfschüttelnd und berichtete, dass ihre Wege gut mit der U-Bahn zu erreichen seien. Dann lag der Fokus, wie so oft, auf ihrer Schwester. Wie von Nells berichtet, versuchte sich Julie-Ann an sozialen Projekten, hatte erst in einer Kindertagesstätte gejobbt, doch seit wenigen Wochen erlag sie dem Traum, Krankenschwester werden zu wollen. Auch wenn eine solche Arbeit nicht für Coope infrage kam, so hörte sie ihrer Schwester aufmerksam zu, hakte nach und hoffte, dass Julie endlich etwas für sich fand, das ihr Freude bereitete. Der Jahreswechsel scheuchte Coope wieder in die große Stadt zurück. New York City versank im Schnee und Matsch. Doch auch wenn es vor wenigen Wochen noch wie im Bienenstock zuging, da Anzeigen, Plakate und Präsentationen gefertigt werden wollten, und man ihr versicherte, dass es ruhiger in der Agentur werde, versprach der Frühling nicht weniger Aufträge. Endlich band man auch Coope ins Geschehen ein. Nia hatte ihr geraten, durchzuhalten, da die ersten Monate einer Feuertaufe glichen. Die Obersten wussten um das Talent der jungen, aufstrebenden Menschen, doch ihnen etwas in den Schoß legen war ferner jeglicher Vorstellung. Im Frühsommer verlangte ein Großprojekt ihre Meinung. Nia, als erste Ansprechpartnerin im Team, zeigte sich erfreut und lobte Coope für die Tipps, die sie den anderen Teilnehmern unterbreitete. Ein Slogan musste gefunden und eine Entscheidung für Farbe und Schrift getroffen werden. Mit hochroten Wangen versuchte Coope, in ausschweifender Gestik, ihre Favoriten zu untermauern und zu ihrer eigenen Verblüffung nahm man sich ihrer Vorschläge an. Ob diese jedoch von der Obrigkeit abgesegnet wurden, stand noch zur Debatte, für Coope jedoch war ein großer Schritt in die richtige Richtung getan. ∞ ✰ ∞ Sie lebte sich ein, in dieser großen, leuchtenden Stadt, die immerwährend pulsierte und flimmerte. Noch immer blieb Coope sparsam, wusch ihre Wäsche in Humbertos Salon und verzichtete auf allzu teure Ausgaben. Irgendwann jedoch war sie es leid, das fahle Antlitz im fleckigen Spiegel über dem gelben Waschbecken anstarren zu müssen. So ließ sie sich von Sherley, die ihr kurz nach ihrem Einzug dieses lästige Mrs. Poppins verbot, jenen Figaro empfehlen, den sie selbst zwei Mal im Monat aufsuchte. Monsieur Jacques war so wenig Franzose, wie sie, doch er imitierte jene klangvolle Sprache mit einer solchen Hingabe, dass Coope ihm diesen kleinen Fauxpas, stetig über die Touristen zu fluchen, rasch verzieh. Aus der mittelbraunen, schulterlangen Mähne, die Coope immer als Knoten im Nacken spazieren führte, wurde ein wuscheliger Bob. Bestärkt durch das Gefühl, wieder wie eine passabel aussehende Kreatur durch die Straßen zu wandeln, entschied sich Coope für einen Abstecher bei Macy's. Auch wenn ihr Budget nur für ein neues T-Shirt reichte, da Monsieur Jacques etwas zu tief in ihr Portemonnaie gegriffen hatte, empfand Coope die Ausbeute für diesen Tag mehr als gerechtfertigt. Eine Nachricht von Ringo erinnerte sie daran, sich zu sputen, da dieser auf das wöchentliche Treffen beharrte, sollten sie einander nicht bereits im Waschsalon begegnet sein. Mit einem zufriedenen Lächeln registrierte Coope, dass Rodrigo ein paar Mal blinzeln musste, um sie als seine Freundin zu erkennen. »Du weißt, dass ich selten Komplimente ausspreche, vor allem dann, wenn es um dich geht, aber …«, hob Rodrigo an, ehe er statt weiterzusprechen einen anerkennenden Pfiff ausstieß und um Coope herumscharwenzelte, wie ein Kater auf der Suche nach Streicheleinheiten. »Ich verzeihe dir deine ungehobelte Art, sich auszudrücken und nehme es als gegeben hin, dass dir meine Aufmachung zusagt und du nicht mehr vor Scham im Boden versinken musst, wenn wir bei Joe's Pizza essen gehen«, sagte Coope und zuckte die Schultern. »O, warte! Nein, nein, nein!« Erst hob sie abwehrend beide Hände in die Höhe, dann verwies Coope mit einem Fingerzeig auf ihn. »Lass dir nicht einfallen, jetzt doch noch umzuschwenken. Wir bleiben Freunde, okay?!« Ringo lachte schallend. »Du hast mich durchschaut. Aus diesem Grund passen wir auch nicht zusammen. Ich bin ein offenes Buch für dich, Coopsy.« Coope grummelte unfeine Worte in seine Richtung, ließ sich dann jedoch zu einem netten Abend überreden, der in einem Bier vor dem Fernseher in Rodrigos Partyraum endete. »Ist einfach kein Rankommen«, nuschelte Ringo in sein Bier. Coope war nicht entgangen, dass sein Blick den gesamten Abend vom Fernseher auf sie übersprang. »Wenn du das Spiel meinst, nein. Die Indians haben heute einen guten Lauf«, erklärte Coope und versuchte das unangenehme Gefühl zu verbergen, das Rodrigo in ihr auslöste. »Hör auf, mich so anzustarren!« Ihre gezischten Worte ließen ihn schmunzeln. »Wie starre ich dich denn an?« »Wie etwas, das du dir auf eine labberige Scheibe Toast legen willst, nur damit er besser schmeckt«, knirschte Coope. Ringo lachte auf. »Toller Vergleich. Vielleicht solltest du Dichterin werden, statt bei einer Agentur zu versauern und ständig nur Kaffee zu kochen. Aua, hey!« Rodrigo keuchte auf, als ihr spitzer Ellenbogen ausfuhr und ihn in die Rippen traf. »Ich habe mir diese Frisur nicht grundlos schneiden lassen«, erklärte sie und langte nach der Pizzaverpackung. Fettig und triefend tummelten sich zwei Teigkanten in der Mitte der Pappschachtel. Schnell, bevor Ringo ihr zuvorkam, langten ihre Finger nach den Rinden. Übertrieben unfein nagte Coope an den knackenden Pizzarändern. Die Lippen noch immer amüsiert verbogen, wartete Rodrigo geduldig, dass sie weitersprach. Mit verdrießlicher Miene vertilgte Coope den letzten Happen und stieß einen murrenden Laut aus, als Ringos Knie ihr Bein anstieß. »Sie wollten nur meine Meinung hören«, murmelte sie. »Oh!«, spie Ringo aus. »Im Ernst? Wirklich?« »Hey«, rief Coope empört, »das ist wichtig für mich. Ich muss nicht nur Kaffee kochen.« »So habe ich das auch gar nicht gemeint.« Nun war es an ihm, abwehrend die Hände zu heben. »Hey, ich … ich freue mich für dich. Ganz ehrlich. Wirklich. Nach all den Monaten wurde das auch verdammt noch mal Zeit. Und du hast dich durchgebissen, also spricht das für eine gewisse Verbissenheit. Oder Dummheit.« Coope schnaubte, halb lachend, halb erzürnt. Doch sie nahm ihm seine Worte nicht übel. Ringo verfügte selten über Feingefühl, und noch weniger, wenn es um die Belange der Weiblichkeit ging. Allerdings gab er sich große Mühe, die Taktlosigkeit etwas zu mildern, solang Coope in seiner Nähe war. »Und die neue Frisur ist gewissermaßen so etwas wie eine Belohnung?«, hakte Ringo nach. Coope verzog das Gesicht zu einer schmollenden Schnute, nickte dann jedoch wahrheitsgemäß. »Ich wollte mir auch einmal etwas gönnen. Und aus den Augen konnte ich auch nicht mehr schauen«, sagte sie und zupfte an den Strähnen. Rodrigo ließ ein Zucken der Schultern erkennen. Dass sie sich das Geld für Pizzen und Bier teilten stand außer Frage. Und Nells hatte ihren Kindern stets eingebläut, sich an Ausgaben zu beteiligen. Wurden sie eingeladen oder ihr Gegenüber beharrte auf die Übernahme der Kosten, dann durften sie diese gern annehmen, jedoch sollten sie sich versichern, dass es dem Geber auch wirklich ernst war. »Sollst du doch auch. Und du glaubst ja gar nicht, wie Dad davon schwärmt, und mir damit immer eins auszuwischen versucht, dass du fast schon asketisch lebst.« Er verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Asketisch? Du meinst arm?«, fragte Coope mit einem milden, um Verzeihung bittenden Lächeln. Es war ihr ganz und gar nicht genehm, als Gesprächsthema bei Familie Martinez herhalten zu müssen, auch wenn Humberto seinen Sohn so zum Umdenken bewegen wollte. Ein Grinsen umspielte seine Lippen, ehe sich Ringo ausgiebig streckte und ihr einen Arm um die Schulter legte, um Coope dann zu sich zu ziehen. Seine Finger wuschelten ihr durch die neue Frisur, was ihm einen laustarken Protest einbrachte. »Mach' dir keinen Kopf, Coopsy. Irgendwann kommt der große Durchbruch und dann kannst du dir auf der Upper West oder Upper East ein schickes Appartement leisten«, prophezeite Ringo. Ein Grummeln erklang. Offenbar war sie mit seinen Worten nicht einverstanden. »Ja, natürlich. Oder ich muss reich heiraten.« »Du kannst mich heiraten, wenn ich erst einmal Stammspieler bei den Yankees bin«, warf sich Ringo in die Brust. Nun war es an ihm, eine pikierte Grimasse zu ziehen, als ihr schnaubendes Lachen seine Träume zerplatzen ließ. »Du meinst, so eine Ehe wie: Du bist der Top-Spieler und ich gebe dein Geld aus, aber sonst haben wir nichts, das uns verbindet, bis auf unermesslichen Reichtum?« Ihr Kichern ließ selbst Rodrigo belustigt schnaufen. »Du hast ja recht. Also, halbe-halbe?«, hakte er nach. »Na klar«, seufzte sie und langte nach der alten, abgegriffenen Tasche, um darin nach ihrer Geldbörse zu kramen. ∞ ✰ ∞ Seine Worte ließen Coope auch dann noch grübeln, als er längst den Heimweg antrat und sie die letzten Stufen zu ihrer Wohnung erklomm. Natürlich hatte sie die Spitzen bemerkt, die Rodrigo immer vorbrachte, wenn sie einander trafen. Und es war nicht das erste Mal, dass er versuchte, mit Sticheleien auf sich aufmerksam zu machen. Auch wenn beide die Ansicht vertraten, nur Freunde zublieben, so erschien ihm ein unverhoffter Ausrutscher nicht unmöglich. Doch Coope blieb eisern. Es wäre zu leicht, sich in eine Beziehung zu flüchten, und nur die Kirschen vom Sahnehäubchen zu naschen, statt etwas Ernstes daraus erwachsen zu lassen. Etwas, das beide nicht wollten, etwas, das nicht echt war, sondern nur Fassade, um den Eltern zu beweisen, nicht gänzlich aus dem Raster zu fallen, nur weil es sich als Single nicht schlechter lebte. Mit einem gedehnten Seufzen entsann sie sich dem Gespräch mit Nells, als diese ihr vorwarf, einzig und allein nach New York City gehen zu wollen, da ihr bester Freund einen Narren an dieser Stadt gefressen habe. Diese Debatte zischte selbst dann noch durch das Haus, als der große Tag längst an die Türe klopfte. Coope musste sich zusammennehmen und die Tränen der Wut und Unverständnis hinabzwingen. Es wäre einfacher und um ein Vielfaches leichter, jemanden zu kennen, ohne sich allein durchschlagen zu müssen. Auch wenn Coope bestritt, dass Armie etwas mit ihrem Wunsch zu tun habe, so suchte Nells einen Schuldigen, dem sie den Weggang ihrer Tochter zuschreiben konnte. Warum ihr jener Streit nunmehr in den Sinn kam? Vielleicht waren es Rodrigos Annäherungsversuche, die sie zu solchen Gedanken bewegten. Coope schalt sich für diese dummen, kindlichen Neigungen. Seit ihrem Einzug waren so viele Monate ins Land gegangen, doch von Armie fehlte jede Spur. Nicht selten ertappte sie sich dabei, in den vielen Gesichtern jenes erblicken zu wollen, das ihr in all den Jahren so lieb geworden war. In Rodrigo fand sie einen Freund, doch mit Armie hatte sie doch so viel mehr geteilt, als die Liebe zum Baseball oder fettigem Fast Food. Er fehlte ihr, doch als er vor mehr als drei Jahren nach New York ging, war der Kontakt versiegt. Für Nells ein gefundenes Fressen, ihrem Kind den Fortgang auszureden. In Pennsylvania bot man ihr viel, doch nicht das, was sie sich erträumte. Die nächsten Tage boten mit schönstem Wetter auf. Der Sommer hielt allmählich Einzug und die Temperaturen kratzten an den Höchstmarken. Die Kollegen ächzten unter der Hitze, deren Rekord jedoch noch lang nicht erreicht schien. Die ersten Ventilatoren sorgten für Abkühlung, doch zum Ärgernis der Belegschaft streikte die Technik und weigerte sich vehement, Ordnung wallten zu lassen. Flinke Finger glitten über Tastaturen, eifriges Klicken und Tippen an den großen Bildschirmen war jedoch aussichtslos. Alles blieb dunkel, nichts regte sich. Ein Ausfall, der dem Unternehmen nicht wenige hundert bis tausend Dollar kostete, sollten die Probleme nicht schnellstens behoben werden. Telefonate wurden geführt, Flüche wehten durch die Flure. Begonnene Projekte und Arbeiten lagen plötzlich brach, die Computer fuhren nicht mehr hoch und Panik wallte zwischen den Kollegen auf. Spekulationen über eine Spionageattacke machten die Runde, andere sprachen von einem Stromausfall. Doch die CONY-Agentur wäre nicht als aufstrebender Stern bekannt, wenn diese Art des Notstandes nicht rasch behoben werden könne. Miss Ruben-Belcher, die erst vor wenigen Wochen ihren Platz als Juniorchefin des Unternehmens gesichert hatte, sprach hastig und drängend in den Hörer in ihrer Hand. Ein Techniker versicherte seine Hilfe und in nicht weniger als zwei Stunde waren die Rechner wieder einsatzfähig. Erleichtertes Raunen strömte durch die Gänge, sobald die Computer piepsend und blinkend zum Leben erwachten. Coope war damit beauftragt worden, die Herren des Notdienstes in die Räumlichkeiten zu geleiten, damit sich diese ihrer Arbeit widmen konnten. Zu ihrer Verblüffung fiel ihr einer der drei Männer ganz besonders ins Auge und auch der junge Techniker neigte den Kopf und schien zu grübeln, wen er vor sich hatte. Er hatte sich verändert. Ließ sich einen Dreitagebart stehen und trug eine Brille auf der Nase, die seinem Äußeren einen noch nerdigeren Touch verlieh. Ihr wurde mit einem Male ganz flau im Magen. Ähnlich der Aufregung am Tage des Umzugs, grollte nun ein Gewitter auf sie zu. Nun war es an ihr, den jungen Mann blinzelnd zu betrachten, doch sobald sich die bekannten Grübchen in seine Wangen bohrten war sich Coope sicher, wer in diesem Augenblick vor ihr stand. Wut und Freude tänzelten um einander, ähnlich zweier Boxer im Ring. Sie grub ihre Zähne in die Unterlippe in der Hoffnung, so das Beben einzudämmen, bevor sich die ersten Tränen aus den Augenwinkeln stahlen. »Coope? Ich … ich hätte dich beinahe nicht erkannt.« Sein Lachen strafte die Unsicherheit Lüge. Er wägte ab, ob es sich bei seinem Gegenüber tatsächlich um jenes Mädchen handelte, das er vor Jahren sang und klanglos allein zurückgelassen hatte. Keine Briefe, nicht einmal Anrufe geschweige denn SMS oder eine andere Variante der Kontaktaufnahme ließ er ihr zukommen. Warum also schien dieser Augenblick plötzlich so schwankend und unwirklich? Statt auf ihn zuzugehen, ihn zu umarmen oder gar anzuschreien, verharrte Coope auf dem langen Flur, mit den hellgrauen Wänden und dunklem Teppichboden. Sie wagte es kaum zu atmen aus Angst, Armie könne nicht rascher die Beine in die Hand nehmen. Hart schluckte Coope an dem Kloß, der sich in ihrem Hals verbarrikadiert hatte. Die Finger waren ihr klamm und eisig und nur das leise Surren der Neonröhre über ihr durchbrach die Stille, die auf Armies Worte hin durch ihren Kopf geisterte. Dann wandte Armie den Kopf, lauschte und nickte das Gehörte ab, das ihr jedoch völlig entging. Sie bemerkte eine Bewegung, die als ein Schritt in ihre Richtung zu erkennen war, doch dann verschwand der junge Mann so schnell, wie er in ihr kleines, kümmerliches Leben gestolpert war. Die Gedanken überschlugen sich. Erst, als Nia an sie herantrat, rührte sie sich. »Was ist los? Du bist ganz blass. Hast du einen Geist gesehen? Es dauert noch ein paar Stunden, wie es aussieht. Es sei denn, diese Technikfreaks finden die Fehlerquelle schneller. Coope?« Ihr schoben sich die dunklen Augenbrauen zusammen, als Nia mit sorgenvoller Miene das kleine Häufchen betrachtete, das noch immer auf dem Gang verharrte. »Das, ähm ...«, begann Coope und bemerkte das Zittern in ihrer Stimme. »Ja, der Typ sieht ganz toll aus, aber ich glaube, dass du jetzt erst einmal Koffein für deinen Kreislauf benötigst, bis du in der Lage bist, mit ihm zu flirten!« Ohne ein Wort des Protestes ließ sich Coope von ihrer Kollegin in die Teeküche ziehen und auf den ersten Stuhl verpflanzen, der in greifbarer Nähe stand. Sie konnte sich kaum auf die Arbeit konzentrieren, sobald die Technik wieder funktionstüchtig und die Reparaturen abgeschlossen waren. Er stand vor ihr, leibhaftig. Kein Trugbild. Er hatte sie sogar beim Namen genannt. Doch sowie die Wartungsarbeiten beendet waren, war von den Technikern nichts mehr zu sehen. Ob ihr die Hitze allmählich zusetzte? Oder waren es die bloßen Gedanken und Erinnerungen der letzten Tage, die sie nicht zur Ruhe hatten kommen lassen? Als der langersehnte Feierabend endlich eine Verschnaufpause garantierte, musste sie all ihre Kräfte zusammenhalten, um den Weg nach Tribeca in Angriff zu nehmen. Mit hängenden Schultern schlurfte sie durch die kleine Eingangshalle der Agentur und erschrak, als eine Gestalt vor ihr aufragte. Sein Gesicht zierte ein beklommener Ausdruck, während er ihr einen Becher Kaffee entgegenhielt. Coope blinzelte, versuchte das, was ihr die eigenen Augen weiszumachen versuchten, als Schabernack abzutun. In den Glasfronten der Häuser spiegelte sich die Sonne, Menschen zogen mit eiligen Schritten an ihnen vorbei. Das Hupen der Taxen und das Gemurmel der Touristen und Einheimischen verstummte. Wortlos reichte er ihr den Becher und den sie schweigend entgegennahm. So war es immer, wenn sie wütend auf ihn war. Dieses Ritual war für beide der einfachste Weg, einander entgegenzukommen. »Du!«, quoll es ihr zwischen den Lippen hervor. Das Getränk in ihren Fingern geriet gefährlich ins Schlingern, da ihr die Hände zitterten. Sorgsam trat er einen Schritt zurück, bevor ihn der zwar nicht mehr heiße, aber immer noch Flecken verursachende Kaffee traf, sollte Coope dem aufkeimenden Drängen nachgeben, ihn damit bewerfen zu wollen. »Drei Jahre!«, spie sie aus. Ihr waren die Worte wie Säure im Mund. »Drei Jahre. Du warst weg. Von jetzt auf gleich!« »Ich weiß, dass du wütend bist.« Armie senkte den Blick, doch das, was er als entschuldigende Geste auffuhr, fand bei ihr keinen Anklang. So sehr sie sich ihn an ihrer Seite gewünscht hätte, überwog die Enttäuschung über sein Verhalten. Er hatte sie verletzt, und nicht einmal die Chance genutzt, sich zu erklären. Der Kloß in ihrer Kehle schwoll mit jeder Silbe, die er vorbrachte. Sie spürte die dicken heißen Tränen kaum, die ihr die blassen Wangen hinabrollten. »Wütend? Ja ...«, schluchzte sie. »Und verdammt und unheimlich … erschöpft und frustriert.« Armie presste die Lippen fest aufeinander. Das Aufeinandertreffen mit dem Mädchen aus Highschool-Tagen stellte ihn vor eine große Herausforderung. Doch er kannte Coope und wusste, dass jede Reaktion, egal, wie diese ausfiele, falsch sein musste. Ein kleiner Anflug von Reue mischte sich unter die Untätigkeit. Er gab ihr Zeit, sich zu sammeln, zu ordnen, was durcheinandergeraten war. »Danke, für den Kaffee«, murmelte sie und stand reglos, wie mit dem Beton verwachsen, da. »Ich – ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Sein angstvolles Schlucken entging ihr nicht, doch dass er nicht mehr vorzubringen hatte, schürte die Wut mit jeder Sekunde, die verstrich. »Seltsam«, spie Coope aus und rüstete auf. »Wo du doch sonst immer eine passende Antwort parat hattest.« »Ich habe doch nicht damit gerechnet, dir hier zu begegnen«, gab er zurück und wirkte so hilflos, wie sie sich fühlte. Coope schüttelte den Kopf. All das, was er vorbrachte, ergab keinerlei Sinn. Und vielleicht musste sie sich eingestehen, dass die Hoffnung, die sie hegte, mit diesem Zusammentreffen erlosch. »Du hast dich nicht gemeldet. Gar nicht mehr«, zischte sie. »Du warst weg. Hast weder geschrieben noch angerufen. Gar nichts mehr.« Niedergeschlagen seufzte Armie auf. »Ich weiß, Coope. Es tut mir leid.« »Selbst deine Mutter konnte mir nicht sagen, wie es dir geht.« Verständnislosigkeit zierte ihr nunmehr gerötetes Gesicht. Die Aufregung, der Schock und die Starre zogen langsam ab. »Warum? Sag mir einfach, warum? Dann können wir wieder getrennte Wege gehen.« Armies Blick glitt die belebte Avenue entlang. Die Passanten beachteten sie kaum, doch dass Coope sich in diese Situation hineinsteigerte, behagte ihm nicht. »Nicht hier, Coope. Ich – Lass uns woanders hingehen, ja?« Er machte einen Satz auf sie zu, streckte die Hände nach ihr aus, doch Coope wich zurück. »Bitte.« Sein drängendes Flehen quittierte sie mit verstimmter Miene, nickte jedoch. Armie tat gut daran, den Weg durch die Fülle an Menschen in Richtung Central Park einzuschlagen. Hier war es weitläufig genug, um neugierigen Ohren zu entkommen und doch waren noch ausreichend Passanten zur Stelle, sollte die Situation eskalieren. Sie wollte ihm keine Szene machen, war ihm mit entflammten Wangen gefolgt. Doch das Gefühl, dumm und infam gehandelt zu haben, ließ sich, zu ihrem Verdruss, nicht abschütteln. Er erspähte eine freie Bank und hielt geradewegs darauf zu. Armie ließ sich auf das Holz sinken und knetete die Hände im Schoß. Und wie Coope wusste, war dies eine unschöne Angewohnheit, die ihn stets überkam, wenn er sich unwohl fühlte. Und diese Erkenntnis milderte ihren Frust, wenn auch nicht genug. Kurz zog sie in Erwägung, einfach stehenzubleiben, doch dann gab sie schließlich nach. Es tat gut, nach all dem Trubel, für einen kleinen Augenblick die Erschöpfung siegen zu lassen. Tief sog Coope die sommerliche Luft in ihre Lungen und wartete darauf, dass er etwas vorbrachte, das ihre Zweifel und Ängste zerstreute. »Es tut mir leid, Coope«, hob Armie an, mied ihren Blick und starrte stattdessen auf einen Punkt des Kies bedeckten Weges. »Ich – ich wollte neu anfangen. Punxsutawney mit all seiner Kleingeistigkeit hinter mir lassen.« Zögernd erlaubte er sich dennoch einen flüchtigen Blick auf das Mädchen neben sich. Coope hatte die Arme verschränkt, die Knöchel der Beine gekreuzt und ihre Augen auf den Rasen gegenüber gerichtet. Abermals seufzte Armie auf. »Ich weiß, dass es egoistisch war. Doch ich wollte es allein schaffen.« Coope schnaubte und wandte den Kopf. »Dann war ich dir also eine Last. Die kleingeistige Coope Silver aus dem kleingeistigen Punxsutawney.« »Coope«, brummte er, doch sie hob abwehrend die Hände. »Weißt du, vielleicht … habe ich das hier gebraucht. Ja, und vielleicht habe ich dich gebraucht«, erklärte Coope und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. »Ich war dir nicht wichtig genug.« Armie schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen. »Nein, wirklich. Es ist … in Ordnung. Und du hättest auch in absehbarer Zukunft auf die Freundschaft zu mir verzichtet.« Ein wirres Lachen brach aus ihr heraus, ehe der Ernst sie wieder erfasste. »Bist du denn jetzt jemand? Konntest du dich entfalten? Dich beweisen?« »Jetzt werd' nicht ungerecht!«, knurrte Armie, den Mund zu einem dünnen Strich gepresst. »Sag's mir!«, forderte sie. Tief rang er nach Luft und ließ den Rücken gegen die hölzerne Lehne sinken. Er blieb ihr eine Antwort schuldig. »Ich war dir kein guter Freund«, sagte er nach einer Weile. Abermals vernahm er nur ein Schnauben. »Hey, erinnerst du dich noch an deinen dreizehnten Geburtstag?« »Nein«, knurrte sie, wohl wissend, dass Armie absichtlich ablenkte um diesem prekären Augenblick zu entkommen. »Doch, das tust du!« Zum ersten Mal, seit ihrem Zusammentreffen, hörte sie ihn lachen. »Du hast Waffeln backen wollen und dann die Schüssel mit dem Teig ganz allein gegessen. Und dann wolltest du mir zu meinem Geburtstag auch einen Teig schenken und hast Zucker mit Salz verwechselt. Deine Mom ist ausgeflippt, als dir dein Fehler auffiel und du versucht hast, die Zutaten so aufzuwiegen, dass doch noch ein annehmbarer Teig entsteht. Wie lange habt ihr Waffeln essen müssen?« »Sechs Wochen lang«, knurrte sie und konnte nicht verhindern, dass ein Grinsen an ihren Mundwinkeln zupfte. »Und dann habt ihr auch noch das ganze Viertel damit versorgt«, giggelte er. »Eine Tonne Waffeln für die gesamte Stadt.« »So viele waren das auch wieder nicht!« Empört verzog Coope die Lippen zu einer pikierten Schnute. Doch allzu lang erlaubte sie sich nicht, in Erinnerungen zu schwelgen. Ihr Handy vibrierte und verlangte nach Aufmerksamkeit. Seufzend fischte Coope nach dem Mobiltelefon in der plötzlich immer größer werdenden Tasche, die neben ihr auf den Holzlatten der Bank verharrte. Endlich gelang es ihr, das brummende Etwas in die Finger zu bekommen. Ein Seufzen entwich ihren Lippen, sobald das Telefon ans Tageslicht gelangte. Das Display zeigte einen jungen Mann, der frech in die Kamera grinste und Coope im Schwitzkasten hielt. Ihr Lachen schien dem des Mannes in nichts nachzustehen. »Das ist Ringo«, sagte sie knapp und bemerkte, wie Armies Hals allmählich immer länger wurde. »Dein Freund?« Coope konnte nicht sagen, ob Neugierde, Eifersucht oder Uninteresse in seiner kleinen Frage mitschwang. »Ein Freund«, erklärte Coope. Sie sollte sich nicht vor Armie rechtfertigen müssen, denn er tat es auch nicht. »Er wird irgendwann Profi-Baseballspieler.« Mit einem Wisch war der Anruf abgewiesen. Warum musste Ringo ausgerechnet jetzt anrufen? Er würde sich eine Standpauke abholen können, die sich gewaschen hatte. »Baseball? Dann ist er genau an die Richtige geraten.« Coope kannte ihn lang genug um zu erkennen, dass das Lächeln auf seinen Lippen erzwungen daherkam. Ein unfeines Grunzen drang an die Luft. »Ganz und gar nicht«, widersprach sie. ∞ ✰ ∞ Lang lag sie noch wach und starrte an die Zimmerdecke, deren braune Wasserflecken sich mit der Zeit zu liebgewordenen Mustern verwoben hatten. Rodrigo hatte sich nicht abschütteln lassen, so sah sich Coope nach weiteren, vier Anrufen in der Pflicht, ihn von seinem Leid zu erlösen. Er berichtete ihr, dass drei Universitäten an ihm interessiert seien und er müsse entscheiden, welches ihm ehesten läge. Sie hörte ihm zu, doch ihre Aufmerksamkeit driftete ab und landete bei Armie, der noch immer auf der Bank saß und dem Versuch erlag, nicht zu lauschen. Coope vertröstete Ringo auf den Abend und entschied, dass sie Armies Angebot für ein Treffen auf neutralem Boden, auf die nächste Woche vertagen würde. Ringo empfing sie auf halber Strecke von Waschsalon zu ihrem Wohnhaus. »Du siehst ziemlich fertig aus«, sagte er und neigte den Kopf. Coope verdrehte die Augen. »Bin ich auch.« »Dann willst du also nicht mir feiern?«, fragte Ringo und hielt einen Beutel vom Whole Foods Market in die Höhe. »Ist da etwa Bio drin?« Coope rümpfte die Nase. »Bist du verrückt?«, schnaubte Ringo lachend. »Nein, das ist nur die Tüte, damit nicht jeder mitbekommt, dass sich das schlimme Zeug im Beutel befindet, der in der Tüte steckt.« »Kriminell«, lachte Coope und bedeutete ihm mit einem Nicken, ihr in das kleine Heiligtum zu folgen, das sie Wohnung nannte. »Okay, was ist los?«, verlangte Rodrigo zu wissen. »Wir zwei kennen uns zwar noch nicht so lang, aber so ein Gesicht ziehst du nur, wenn deine Mutter angerufen hat.« »Hey!«, rief sie aus und warf eines der kleinen Sofakissen nach ihm. Ringo flüchtete in die kleine Kochnische und bugsierte die Habe auf den kleinen Tisch. Coope schlurfte zu ihm in die Küche um die erstandene Ware zu begutachten. »Ich habe jemanden wiedergesehen«, verkündete sie halbherzig. »Du klingst richtig begeistert«, schnaubte er und Coope sah sich in der Not, ihm vom Nachmittag zu berichten. Wie von ihr erwartet, zeigte sich Ringo nicht erfreut. Er hörte ihr zu, schwieg sich jedoch aus. »Und, ihr … ihr trefft euch wieder?«, hakte er nach. Coope zuckte mit den Schultern. »Es geht mich nichts an und ich will dir nicht in deine Angelegenheiten grätschen. Allerdings empfinde ich seine Motive als fragwürdig. Du bist ihm drei Jahre lang am … nun ja, also sein Interesse war nicht sonderlich … groß.« »Ich weiß«, murmelte sie leise seufzend. »Hey«, Ringo stieß sie sanft mit dem Ellenbogen an, »vielleicht wird es ja ganz, ganz großartig und ihr zwei teilt eure Erinnerungen und lasst sie neu aufleben?« Skeptisch wanderte ihre Augenbraue empor. »Es wurmt mich genauso wie dich.« »Dann triff dich nicht mit ihm«, nun war es an ihm, die Schultern zu heben. »Du bist mir keine große Hilfe«, klagte Coope. »Wenn du Hilfe erwartest, dann rede mit deiner Mutter«, kicherte er. »Bist du verrückt?!«, murrte Coope und schlich ins Wohnzimmer zurück. Ihre Gedanken kreisten um die Worte und all die Dinge, die Ringo und Armie zu ihr sagten. Armie sei nach New York City gezogen, um sich zu finden und neu zu erfinden. Cousin und Cousine lebten noch immer in dieser Stadt, in der Bronx. Ihn hatte es nach SoHo verschlagen und Coope ertappte sich dabei, wie sie im Geiste die letzten Monate durchforstete, und ob er ihr nicht doch aufgefallen war. Dass Armie in unmittelbarer Nähe wohnte, ließ der Ironie nur wenig Spielraum. Er habe sich zum IT-Techniker ausbilden lassen. Dass er schon immer eine Affinität zur Technik besaß, sprach für seinen Lebensweg. Warum er aus dem Wege gegangen war, blieb jedoch ungesagt. Er schäme sich, hatte er ihr versichert und ein kleiner, leiser Funken der Genugtuung flammte in ihr auf. Doch New York hatte auch auf ihn abgefärbt, mit Coolness und einer gewissen Arroganz gemischt mit Leichtlebigkeit. Kontakte kamen und gingen und auch wenn er es nicht direkt aussprach, so zeigte die Distanz, wer in seinem Leben einen Platz fand. Coope seufzte. Und Ringo? Sie kannte seine impulsive, rüde Art. Dass er sich zusammennahm, ihr zuliebe, und ihr nicht offen gestand, wie sehr ihn diese Situation verwirrte und wütend machte, rechnete sie ihm hoch an. Vielleicht würde sie einfach die nächsten Wochen abwarten. Und vielleicht würde sie auch ihrer Mutter berichten, was ihr widerfahren war. Doch jetzt, in diesem Moment, würde sie sich nicht der Zerrissenheit ergeben. Sie hatte gefunden, wonach sie suchte. Wenn auch über Umwege. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)