Foundations von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 1: Herbst ----------------- 1. Sie trafen sich in Moskau wieder. Max war zweiundzwanzig, lebte nach einer harten Zeit von Kaffee und Entschlossenheit und hatte nicht damit gerechnet, so bald in einen der ehemaligen Neoborgs zu laufen - nicht hier, in einer Stadt mit fast zwölf Millionen Einwohnern. Vielleicht war das der Grund, warum er nicht zuerst Yuriy sah, sondern Yuriy ihn. „Max Mizuhara“, sagte er in einem Tonfall, der keine Frage war und seinerseits in Max die Frage aufwarf, ob er sich wirklich so wenig verändert hatte, dass man ihn so schnell wiedererkannte. Dann wiederum war auch Yuriy immer noch sehr er selbst - älter, ohne die bis zur Besinnungslosigkeit hochgegelten Haare, die stattdessen in einen feurigen Pferdeschwanz zusammenflossen, und gekleidet in ein Farbspektrum, das den Augen nicht so wehtat. Aber die Augen waren immer noch die gleichen, und auch das scharf geschnittene Gesicht. Nur das feine Lächeln darauf, bar jeden Spotts, war ebenfalls neu. Ohne es zu wollen fragte Max sich, ob Yuriy sich an den Kuss vor vier Jahren erinnerte. Max scheuchte den Gedanken so schnell weg, wie er gekommen war. Er blinzelte von der Bank, auf der er saß, zu Yuriys immer noch schlaksiger Gestalt hoch. Es war nicht schwierig, dann mit ehrlicher Freude zu lächeln und sich zu erheben, um Yuriy die Hand zu schütteln. „Yuriy! Hi! Wow, ich habe nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen.“ Da war er nun doch, der feine Spott in Yuriys Lächeln, aber er war nicht beißend. „Ich lebe in dieser Stadt. Was tust du hier? Noch dazu auf der Lomonossow-Universität?“ „Ich lebe auch hier“, lachte Max, „zumindest für das nächste Jahr. Meine Mutter unterrichtet zwei Semester lang einen Kurs auf der Fakultät für Materialwissenschaften, vielleicht sogar länger. Ich warte gerade auf sie, wir wollten gemeinsam zu Mittag essen.“ „Ah. Und was tust du genau?“ Einen Moment lang war Max überrascht, dass Yuriy so absolut desinteressiert an der Anwesenheit seiner Mutter war, bei der es sich immerhin nach wie vor um eine der international führenden Wissenschaftlerinnen für Beybladetechnik handelte. Dann fing er sich wieder und antwortete mit einem ausweichenden Lächeln: „Ich kümmere mich um Charlie - meine kleine Schwester. Sie wollte unbedingt mit Mama mit, aber irgendwer muss schließlich auf sie aufpassen, wenn Mama unterrichtet oder vorbereitet.“ Yuriy blickte ein wenig überrascht drein. „Ich wusste nicht, dass du eine Schwester hast.“ „Oh ja! Sie ist jetzt zwölf und, wie du dir vorstellen kannst, wenig begeistert davon, hier auf eine fremde Schule zu gehen, aber das hat sie sich selbst eingebrockt. Immerhin ist es eine American School, also wird sie sich sprachtechnisch zurechtfinden und sie findet eigentlich schnell Freunde.“ Max hatte das Gefühl, dass er einen nervösen Wortschwall von sich gab, der Yuriy vermutlich gar nicht interessierte. Der jedoch schmunzelte nur ein wenig und musterte ihn einen Moment lang, ehe er sagte: „Das ist alles, was du tust?“ Es war nicht sehr einfach, sich einzureden, dass da keine Verurteilung in Yuriys Tonfall lag, egal wie neutral sein Gesichtsausdruck war. Max verzog die Lippen zu einem strahlenden Lächeln und sagte wesentlich motivierter, als er sich fühlte: „Ich mache ein Gap Year!“ „Ein Gap Year“, wiederholte Yuriy langsam, ohne die Augen von Max zu nehmen. Sein intensiver Blick schien bis in seine Knochen einzudringen, erinnerte ihn an einen einzigen, kurzen Moment vor vier Jahren im Regen, in Amerika, in einem anderen Leben. Max grub die Hände in die Taschen seines Mantel und atmete langsam aus. Dann zwang er sich, Yuriys Blick fest zu erwidern. Es gab nichts, wofür er sich schämen musste. Es war aber auch unmöglich, zu sagen, was in Yuriys Kopf vorging. Er schien einen Moment lang nachzudenken, ehe er sich sichtlich zu einer Entscheidung durchrang und sagte: „Meine Schwester ist im gleichen Alter wie deine.“ „Du hast eine Schwester?“, fragte Max nun seinerseits verdutzt. Er wusste nicht, warum ihn diese Tatsache gerade bei Yuriy so erstaunte. Vielleicht, weil alle Mitglieder von Team Neoborg immer so gewirkt hatten, als ob sie einander die einzige Familie waren, die existierte. Yuriy nickte, ohne weiter zu elaborieren. Stattdessen fragte er: „Was machst du morgen?“ „Morgen?“, wiederholte Max verdattert. Yuriy grinste kurz und scharf, als ob er sich erst in letzter Sekunde dazu entschied, freundlich zu sein anstatt ihn zu verspotten. „Ich sehe, mein Englisch ist verständlich für dich. Also?“ „Nun, äh, ich wollte mit Charlie nach der Schule ins Museum-“ „Welches?“ „Äh, das zoologische M-“ Yuriy schnalzte auf eine Art mit der Zunge, die Max das Wort abschnitt, dann schüttelte er den Kopf. „Wir gehen in ein anderes Museum, ein besseres.“ „Wir?“, wiederholte Max mit wachsendem Amüsement. Yuriy wedelte mit der Hand, aber seine Mundwinkel zuckten, als ob er sich selbst nur schwer ein Lachen verkniff. „Russische Museen sind nicht besonders englischfreundlich, lapatschka, also erbarme ich mich und übersetze euch, ja? Aber wir gehen in ein besseres Museum. Ich nehme Sina - das ist meine Schwester, Sinaida - mit. Sie kann Englisch, auch wenn sie faul ist, aber da ist deine Schwester eine gute Übung. Ab wann könnt ihr?“ „Nun, ihre letzte Stunde endet um zwei, also-“ „Ist das die Schule in der Beregovaja?“ „Ulitsa Beregovaja? Ja.“ Yuriy nickte fachmännisch. „Findest du zur Shchukinskaja? Die U-Bahn-Station, ja? Und von dort einfach zur Kitaj-Gorod?“ Max nickte ebenfalls. Irgendwie fühlte es sich an, als ob er zu einem Abenteuer ins Ungewisse aufbrach und das beschwor zum ersten Mal seit Längerem ein Prickeln der Begeisterung in ihm herauf. „Verrätst du mir, wo wir hingehen?“ „Nein“, sagte Yuriy und schenkte ihm ein weiteres scharfes, aber keineswegs schneidendes Lächeln. „Gib mir dein Handy.“ Max tat wie geheißen, ohne auch nur einen Moment lang darüber nachzudenken. Ihre Finger streiften sich; er zuckte unwillkürlich, blickte auf in Yuriys blaue Augen, die ihn mit unergründlichem Blick musterten, ehe ihm ein Lächeln geschenkt wurde. Dann sah er dabei zu, wie Yuriys lange Finger rasch eine Nummer in sein iPhone tippten, ehe er das vermutlich älteste Handy der Welt aus der Manteltasche zog und einen Anruf von Max‘ Handy abwürgte, den er selbst getätigt hatte. Erst dann reichte er ihm das iPhone mit einem befriedigten Gesichtsausdruck wieder zurück. Diesmal berührten sich ihre Hände nicht. „Wieso ist dein Handy älter als ich?“, wollte Max prompt wissen. „Ich kann damit telefonieren und SMS schreiben, das reicht“, sagte Yuriy, ohne mit der Wimper zu zucken. „Wir haben jetzt jedenfalls unsere Nummern. Morgen um - nu schto, sagen wir, 14:45 bei der Station Kitaj-Gorod, ja? Wir holen euch vom Metrogleis ab.“ „Okay!“, sagte Max mit ehrlichem Enthusiasmus. Yuriy erwiderte sein Lächeln mit etwas, das fast weich wirkte. Max hatte gerade noch Zeit, sich selbst innerlich für lächerlich zu schelten, weil sein Herz automatisch etwas schneller zu schlagen schien, da hatte Yuriy ihm bereits zum Abschied zugenickt und war mit raschen Schritten den Korridor weitergegangen, eine aufrechte Gestalt im schwarzen Mantel mit wippendem Pferdeschwanz. Erst beim Studieren seiner Rückenansicht fiel Max der abgegriffene Rucksack auf, den er über die Schulter geschlungen hatte. „Max?“ Max blinzelte, als ob er aus einem sehr seltsamen Traum erwachte. Seine Mutter stand hinter ihm und neigte ein wenig den Kopf, um ihn forschend zu betrachten. „Ist alles okay?“, fragte sie. „Ja“, sagte Max und lächelte rasch. Es fiel ihm wesentlich leichter als in den vergangenen Wochen. 2. Kitaj-Gorod war keine der schöneren Stationen in Moskau, aber sie war auch nicht unbedingt hässlich. Als Knotenpunkt zwischen zwei U-Bahn-Linien war sie ständig gut besucht und Max ging sicher, dass Charlotte nahe bei ihm war, während er Ausschau nach Yuriy hielt. Dem hatte er nur wenige Minuten zuvor gesimst, dass sie angekommen waren, aber es war keine Antwort mehr gekommen. „Ich hab‘ Hunger“, sagte Charlie mit einem so schweren Seufzer, als ob sie von ihm zum Schafott geführt wurde. „Ich bin mir sicher, dass es dort, wo wir hingehen, etwas zu essen gibt“, versicherte Max ihr und hoffte insgeheim, dass dies tatsächlich der Fall sein würde. Er atmete erleichtert aus, als in der Menge ein roter Schopf Haare erschien wie eine Fackel. Wenig später trat Yuriy auf sie zu, an seiner Hand ein kleines Mädchen mit spitzen Gesichtszügen, großen dunklen Augen und den gleichen feuerroten Haaren wie den seinen. Gekleidet in einen allerliebsten dunkelblauen Mantel mit einer Fuchsfamilie am Saum musterte sie Max und Charlotte ohne Scheu, aber auch ohne Yuriy dabei loszulassen. Yuriy hob kurz die freie Hand zur Begrüßung und reichte sie dann mit feierlichem Ernst Charlotte. „Du musst Charlie sein. Ich bin Yuriy.“ Charlotte kicherte gleichermaßen verlegen wie begeistert und schüttelte seine Hand, dann schob sie sich ein wenig mehr an Max. „Hallo.“ „Das ist Sina“, sagte Yuriy und deutete auf das Mädchen neben sich, die daraufhin enthusiastisch winkte. „Sie spricht auch Englisch, aber du musst manchmal vielleicht ein bisschen langsamer sprechen, okay?“ „Okay“, stimmte Charlotte rasch zu, die ein sehr umgängliches, entgegenkommendes Wesen besaß und Sina neugierig zulächelte. „Ich mag dein Kleid“, sagte die prompt mit einem Akzent so dick wie die Wände eines Bunkers und schien sehr zufrieden über diese Leistung zu sein. „Dankeschön! Ich mag deinen Mantel, Füchse sind cool“, sagte Charlie prompt begeistert. Sina und Yuriy tauschten ein Grinsen aus, das auf einen Insiderwitz hindeutete, bevor Sina kurzerhand Charlies Hand ergriff und sagte: „Komm! Was ist dein Lieblingstier?“ „Erfahre ich jetzt endlich, wo wir hingehen?“, erkundigte Max sich schmunzelnd und hielt sich an Yuriys anderer Seite, während sie sich einen Weg durch den Strom an Menschen bahnten und die beiden Mädchen an Yuriys Hand gingen wie zwei sehr motivierte, schnatternde Entenküken, die ihrer Mutter folgten. „Zur Kaluschsko-Rischskaja-Linie“, erwiderte Yuriy prompt und grinste, als Max daraufhin ein lachendes „Hey!“ von sich gab. „Wir steigen bei WDNCh aus. Das ist dein einziger Tipp.“ „Du hältst sehr viel von mir, wenn du denkst, dass ich jetzt schon das Metro-System hier so gut kenne.“ Yuriy schenkte ihm ein pfeilschnelles Lächeln zu. „Ich halte in der Tat sehr viel von dir.“ Er schob sie alle in die Metro, bevor Max eine Gelegenheit hatte, darauf zu antworten. Flirtete der Mann mit ihm oder nicht? Erinnerte er sich doch an den Kuss von damals, obwohl Max nach der unendlichen Funkenstille davon ausgegangen war, dass Yuriy sich entweder nicht mehr daran erinnern konnte oder nicht mehr daran erinnern wollte? Warum war das Leben so verdammt kompliziert? Es war wesentlich einfacher, sich darauf zu konzentrieren, wie Yuriy zwei Plätze nebeneinander in der dicht gefüllten Metro für die beiden Mädchen organisierte und dann den gleichen Rucksack, den Max schon in der Universität an ihm gesehen hatte, von der Schulter nahm. Während die U-Bahn anfuhr, öffnete Yuriy routiniert den Rucksack, nahm eine Banane heraus und reichte sie Sina, dann sah er Charlie an und fragte: „Möchtest du auch eine? Es gibt auch noch Äpfel.“ „Ja, bitte!“, sagte Charlie prompt und nahm erfreut die Banane entgegen, die ihr gereicht wurde. „Ich sollte nicht überrascht sein, dass du vorbereitet bist, aber irgendwie bin ich es doch“, stellte Max fest. Yuriy sah ihn an und zuckte mit den Achseln. „Kinder sind wie Boris - immer hungrig, und schnell schlecht gelaunt, wenn sie hungrig sind. Man weiß irgendwann, welche Schlachten es wert sind, geschlagen zu werden und welche nicht.“ „Ach, Boris“, fiel es Max ein, „was macht der Rest deines ehemaligen Teams eigentlich?“ „Sergei macht eine Ausbildung zum Tätowierer und liegt da in den letzten Zügen, er wird dann wohl im Laden seines Ausbilders übernomme werden. Ivan arbeitet in einem Trödelladen, aber die Besitzerin ist schon so alt, dass er ihn praktisch alleine führt. Boris ist Boxer, macht bei Wettkämpfen mit und bildet selber Leute aus.“ Yuriy hielt einen Moment lang inne und reichte Sina eine Flasche Wasser, um dann die leeren Bananenschalen einzusammeln. „Gilt Kai als ehemaliges Teammitglied? Der ist so beschäftigt mit Takao und Hiromi, dass ich mich frage, wieviel er bei Hiwatari Enterprises wirklich zusammenbringt, aber da weißt du wahrscheinlich sogar mehr als ich. Wir hören uns momentan nicht oft.“ Da war eine Note der Unzufriedenheit über diese Tatsache herauszulesen. „Jaaa, die sind süß zusammen, aber es ist momentan schwer, einen von ihnen alleine zu treffen“, sagte Max ehrlich und hielt sich instinktiv an Yuriys Arm fest, als die U-Bahn eine besonders schlingernde Bewegung machte. Ihre Blicke trafen sich. Yuriy sah als Erstes weg, indem er sich stattdessen dem Rucksack widmete und ihn wieder schloss. Max wusste nicht, ob er erleichtert oder enttäuscht war und lenkte sich ab, indem er fragte: „Und du? Ich hab‘ gestern gar nicht richtig danach gefragt.“ „Ich mache die Buchhaltung in einer Buchhandlung. Und ich studiere.“ „Was denn genau?“ „Astrophysik.“ Max starrte ihn an. „Astrophysik? Wieso?“ „Ich will wissen, wie man eine Rakete baut, damit ich Sina auf den Mond schießen kann, wenn sie mich nervt“, sagte Yuriy mit einem undurchdringlichen Pokerface und laut genug, dass seine Schwester ihn auch verstand. Sie antwortete mit einem Schwall russischer Worte, die klangen wie ein Eiskratzer auf einer gefrorenen Autoscheibe und von Yuriy nur mit einem amüsierten Grinsen beantwortet wurden, woraufhin sie ihm die Zunge herausstreckte. „Such‘ dir bessere Freunde“, empfahl sie Max dann, „den da schieße ich nämlich zuerst auf den Mond!“ „Wer zuerst oben ist, lisa“, sagte Yuriy noch amüsierter als zuvor, woraufhin sie nur so hart mit den Augen rollte, dass Max einen Moment lang die ernsthafte Sorge hatte, dass sie steckenbleiben würden. „Die nächste müssen wir raus.“ Sie wurden von Yuriy durch die schönen grünen Bögen der WDNCh-Station gelotst, deren filigrane, vergoldete Lüftungsgitter Max auf ihrem Weg hinauf an die Oberfläche voller Staunen begutachtete. Er blickte erst davon auf, als Yuriy seinen Ärmel berührte und fragte: „Du wolltest doch Architektur studieren. Hast du es gemacht?“ Er hatte sich noch an dieses kleine Detail aus dieser einen, nicht mehr wirklich nüchternen Unterhaltung vor vier Jahren erinnert? Da war ein seltsamer Knoten in Max‘ Brust, der ihn einen Moment lang an der Antwort hinderte, bis er schließlich nickte und rau erwiderte: „Ich habe vor ein paar Wochen meinen Abschluss gemacht.“ „Glückwunsch“, sagte Yuriy ehrlich, „deswegen das Gap Year?“ Als Max nickte, weil es die einfachste Antwort auf diese Frage war, fuhr Yuriy fort: „Ich glaube, dir wird gefallen, wo wir hingehen.“ „Du machst es wirklich unnötig spannend.“ „Ich mache gar nichts unnötig.“ Max setzte gerade zu einer Erwiderung an, als sie mit den Mädchen ins Sonnenlicht traten und sein Blick auf einen quadratischen Flachbau mit einem silberglänzenden, parabelförmig gebogenen Turm fiel, der sich nach oben hin verjüngte. Auf der Spitze thronte eine Rakete, die sich in den Himmel zu erheben schien, als ob der ganze Turm nur ihre Abgasspur war. Die Haare auf seinem Arm stellten sich auf, als Yuriy die Lippen nah zu seinem Ohr neigte, so nahe, dass sein Atem seine Haut streifte, und murmelte: „Das Kosmonautenmuseum. Die Außenwände des Turms wurden mit Titanplatten verkleidet, damit er silbern glänzt. Gefällt es dir?“ „Das ist so cool“, atmete Max aus und drehte den Kopf, sodass er Yuriy anlächeln konnte. Einen Moment lang waren sich ihre Gesichter so nah, dass Max jede einzelne von Yuriys erstaunlich dunklen, dichten Wimpern zählen konnte. Er war sich sehr sicher, dass Yuriy sehen musste, wie heftig sein Herz in seiner Brust donnerte. Aber Yuriy sagte nichts, sah ihn nur mit diesem seltsam weichen, seltsam rätselhaften Blick an und richtete sich wieder auf, als Sina ungeduldig an seiner Hand zog. „Der Turm ist langweilig, ich will Charlie endlich die Hunde zeigen, und das Astronautenessen!“, rief sie und preschte dann vorwärts durch den Park, der das Museum umgab, sodass ihnen nichts anderes übrig blieb, als den Mädchen rasch zu folgen, wenn sie sie nicht verlieren wollten. Bevor Yuriy ihm komplett entgleiten konnte, hielt Max ihn am Ärmel zurück. Als Yuriy ihn fragend ansah, sagte er ehrlich: „Danke. Das ist eine ziemlich coole Überraschung, ich wusste nicht mal von diesem Museum.“ Yuriy lächelte und tätschelte seine Schulter. „Danke mir nicht zu früh“, sagte er dann mit einem beunruhigend motivierten Funkeln in den Augen, „du hast meinen Vortrag zur Funktionsweise von Raketenschüben noch nicht gehört. Aber keine Sorge, diesen Missstand haben wir bald behoben.“ Kapitel 2: Winter ----------------- 3. Max lernte schnell, dass der Herbst in Russland nicht besonders lange dauerte. Bereits Ende Oktober, wenige Wochen nach ihrem Besuch des Kosmonautenmuseums, begann es zu schneien und hörte dann so schnell nicht mehr auf. Max stellte fest, dass die Kälte ihm nicht gut tat. Sie machte nicht nur die Stadt lethargisch, sondern auch ihn, schien seinen Herzschlag zu verlangsamen, bis er zwar aufrecht weiterging, aber nicht wusste, ob er träumte oder wach war. Der Schnee nahm Moskau die harten Kanten und hübschte es auf, obwohl sie nicht darum gebeten hatte. Es war erstaunlich, dass so viel davon in einer Stadt dieser Größe liegen blieb. Max blieb auch liegen, und zwar in seinem Bett. Obwohl es so viel schneller dunkel wurde stand er erst kurz vor dem Zeitpunkt auf, an dem er das Haus verlassen musste, um Charlie von der Schule abzuholen. Es ging ihm gut. Er war nur müde. Am vierten Tag mit Schnee rief Yuriy ihn an. Max hatte kaum Zeit, tief Luft zu holen, den Anruf anzunehmen und eine möglichst muntere Begrüßung von sich zu geben, da sagte Yuriy seinerseits vollkommen ohne Begrüßung schon: „Was machst du heute?“ „Noch nichts“, sagte Max wahrheitsgemäß. „Dann pack‘ Charlie ein und wir treffen uns um fünf beim Gorki-Park. Ah, warte-“ Max lauschte, wie am anderen Ende der Leitung eine weitere, gedämpfte Stimme im Hintergrund war, der Yuriy etwas erwiderte, ehe er wieder ans Handy kam. „Die Jungs und Mathilda kommen auch mit.“ „Mathilda?“, echote Max verblüfft. „Doch nicht etwa Barthez-Mathilda?“ Yuriy lachte ihn aus, aber es klang nicht bösartig. „Doch. Sie ist Serjoschas Freundin. Zieh‘ dich warm an, wir bleiben eine ganze Weile draußen.“ Max hatte es mittlerweile aufgegeben, Yuriy nach Plänen zu fragen. Sie hatten sich seit dem Kosmonautenmuseum noch mehrmals gesehen, immer mit den beiden Mädchen im Schlepptau, die fasziniert voneinander waren, und bei keinem dieser Treffen hatte Yuriy vorher damit herausgerückt, was sie machen würden. Allerdings war Max auch kein einziges Mal enttäuscht worden. Er wusste nicht, ob er heute die Energie aufbrachte, für so viele Menschen zu lächeln, aber da war etwas an Yuriy und seinem Tonfall, der ihn dazu brachte, zuzusagen. Zum Gorki-Park waren es nur ein paar Stationen mit der Metro, aber das bedeutete bei der Größe der Stadt dennoch eine gute Dreiviertelstunde Wegzeit. Max überlegte, das Auto seiner Mutter auszuborgen, aber der Moskauer Stadtverkehr war ihm immer noch nicht ganz geheuer und mit seiner Schwester im Schlepptau riskierte er lieber nichts. Die Moskwa glitzerte unter ihnen, als Max und Charlie bei der Park-Kultury-Station ausgestiegen waren und die Brücke ans andere Ufer überquerten. Charlie riss die Augen weit auf vor Staunen angesichts des Lichtermeers, in das der Park sich verwandelt hatte: Glitzer überall, schillernde Lichtkugeln in den Ästen der Bäume, Schnee überall dort, wo er die in Eisbahnen verwandelten Gehwege nicht behinderte, die ersten leichtfüßigen Noten eines Lieds ohne Worten. Der Schneefall selbst war abgeschwächt, sodass nur einige kleine Flöckchen vom Himmel segelten. „Oi, Amerikanskij!“, schallte es plötzlich herüber und Max lachte unwillkürlich, als er die dick eingepackte Meute um Yuriy herum am Ende der Brücke erblickte: Boris mit Mütze und Schal, Sergei mit Uschanka am Kopf, Ivan mit dicker Daunenjacke und die zierliche Mathilda so fest eingewickelt, dass sie durch die ganze Polsterung vermutlich einen Sturz auf dem vierten Stock eines Gebäudes überlebt hätte. Der Anblick war deswegen so amüsant, weil dazwischen Yuriy leuchtete - im dicken blauen Rollkragenpullover, dessen Kragen bis über sein Kinn schwappte, aber ohne Mütze und in dem gleichen leichten Mantel wie vor einigen Wochen. Ein kleinerer Schatten löste sich aus der Gruppe und rannte auf sie zu: Die strahlende Sinaida, ebenfalls dick eingepackt und offensichtlich höchst motiviert. Sie sagte ein rasches Hallo zu Max, das sich auf halber Strecke von Russisch zu Englisch verwandelte, dann fasste sie Charlie an den Händen und zog sie emsig schnatternd so rasch mit sich, dass Max Mühe hatte, ihnen zu folgen. Bei der Gruppe angekommen wurde er von Boris mit einem Schlag auf die Schulter begrüßt, der ihm beinahe die Luft aus den Lungen haute. „Wurde Zeit, dass Yura dich mitbringt!“, verkündete er, während Sergei und Ivan ihn mit den in Russland üblichen Wangenküssen begrüßten, bevor er von Mathilda umarmt wurde. Yuriy wirkte amüsiert über das Gebahren seines ehemaligen Teams. Er roch nach Frischluft und Tannennadeln, als ihre Wangen sich streiften. Max widerstand nur schwer dem Drang, ihn festzuhalten und die Nase in seiner Halsbeuge zu verbergen. „Wir gehen Eislaufen?“, fragte er, als er wieder das Gefühl hatte, seiner Stimme vertrauen zu können. „Wir gehen immer Eislaufen“, sagte Ivan. „Sobald die Bahnen offen sind - zack. Das ist unser Ding.“ „Genauer genommen ist es Yuras Ding, aber er nervt so lange, bis wir mitkommen“, ergänzte Boris. „Ich zwinge euch zu nichts“, sagte Yuriy mit hochgezogener Augenbraue, aber er streichelte dabei versonnen die schwarze Sporttasche, die er über die Schulter geschlungen hatte. „Es braucht zwei Mann, um Yuriy wieder vom Eis zu holen. Der dritte ist für Sina“, sagte Mathilda vertraulich an Max gewandt. Ihr Haar war länger geworden und das Lächeln fester, aber sie strahlte immer noch die gleiche ruhige Herzlichkeit aus, die Max schon zu Zeiten ihrer aktiven Bladerkarriere an ihr gemocht hatte. „Den Junglauch tragen wir einfach runter vom Eis!“, rief Boris und griff sich zielsicher die vorbeilaufende Sina, um sie unter lautem Kreischen der Begeisterung in die Höhe zu werfen wie einen Sack Mehl, ehe er sie sicher wieder auffing. Mathilda hakte sich bei Max unter. „Du brauchst auch noch Eislaufschuhe, oder? Ich sollte mir endlich eigene besorgen, aber ehrlich gesagt gehe ich nicht so oft. Und hier kann man sie für relativ wenig Rubel leihen.“ „Ich geh‘ mit euch zum Stand“, sagte Yuriy. Er warf ein paar russische Rufe in Sinas und Boris‘ Richtung, von denen Max nur lisa und tam verstand und die sowohl von Boris als auch Sina mit zustimmenden Lauten beantwortet wurden. Ivan klopfte Max auf die Schulter, als ob sie sich schon seit Jahren richtig gut kannten. „Geh’ ruhig, wir haben deine Kleine solange auch im Auge. Wir treffen uns dann bei der Statue, Yura weiß schon, welche gemeint ist.“ Max lächelte und es fühlte sich nicht einmal wie eine Maske an. „Danke, das ist lieb.“ Er winkte Charlie noch zu, die sich mittlerweile an Boris’ anderen Arm gehängt hatte, der mit beiden Mädchen als Gewichten posierte und sich dabei von Sergei ablichten ließ. Dann zogen sie los und Yuriys Schulter streifte beim Gehen immer wieder auf seltsam beruhigende Weise jene von Max. „Ich wusste nicht, dass du auch hier lebst“, sagte Max an Mathilda gewandt, um sich davon abzulenken. Mathildas Wangen waren bereits rosig von der Kälte gewesen, aber jetzt wurden sie noch eine Spur rosiger. „Erst seit ein paar Monaten so wirklich, seit das mit Sergei und mir wirklich ernst ist. Es war nicht so einfach mit dem Studentenvisum und der Arbeitsgenehmigung, das hat gedauert.“ „Was studierst du denn?“ „Prothesenbau. Russland hat sich tatsächlich wirklich angeboten, hier haben sie auf dem Feld in den letzten Jahren einige interessante Sachen gemacht.“ „Wow“, sagte Max bewundernd, „und das auf einer Fremdsprache? Du bist fantastisch, das muss doppelt schwer sein!“ Mathilda lächelte erfreut. „Geht so. Ich lerne schon seit ein paar Jahren Russisch und die Jungs sind harte Lehrer.“ „In Russland Lehrer bricht dich wie Ast oder macht dich stark wie sibirisch Winter“, sagte Yuriy mit betont starkem Akzent, woraufhin Mathilda lachte. Max hingegen dachte an die erschreckend gleichgültigen blauen Augen, die sich erst mit der Niederlage gegen Takao mit Leben gefüllt und zwei Jahre später so stark damit gebrannt hatten. Vor vier Jahren hatte Yuriy gewirkt, als ob das Feuer des Lebens ihn vielleicht überwältigen würde. Jetzt schien er in sich zu ruhen, während Max damit beschäftigt war, beim Versuch, sich vor dem Abrutschen zu bewahren, nicht einzuschlafen. Verkehrte Welt. „Kannst du eislaufen?“, erkundigte Yuriy sich, als sie den Leihstand erreicht hatten und Mathilda tapfer auf Russisch mit dem Mann hinter der Theke kommunizierte. Max nickte. „Ich war schon länger nicht mehr, aber ich würde sagen, durchschnittlich gut. Es legt mich zumindest nicht hin.“ Nachdem Yuriy genickt und dem Verleiher ein paar rasche, russische Worte hingeworfen hatte, fragte Max: „Du kannst es gut, nehme ich an?“ „Ich würde sagen, ja“, erwiderte Yuriy ohne falsche Bescheidenheit. „Sina ist Eiskunstläuferin, nächstes Jahr will sie sogar bei den Juniorweltmeisterschaften anfangen. Nachdem wir angefangen haben, mehr Kontakt miteinander zu haben, habe ich auch wieder mehr damit begonnen.“ Er lächelte flüchtig, aber erstaunlich weich. „Das Eis war eben immer meine erste Liebe.“ Max lächelte ebenfalls und holte das Amulett aus dem Jackenkragen, in dem Genbus Bitchip eingefasst war wie damals, als er ihn das erste Mal erhalten hatte. „So wie meine das Wasser.“ Yuriy streckte eine Hand aus, die nur in einem fingerlosen Handschuh steckte, und berührte einen flüchtigen Moment lang das Glas des Amuletts. Ihre Blicke trafen sich. Einen verrückten Herzschlag lang dachte Max, dass Yuriy ihn küssen wollte, dann wurde dessen Blick forschend. „Es geht dir nicht gut“, stellte er fest, die Stimme leise genug, dass Mathildas warmes Lachen erfolgreich über seine Worte hinwegwusch. Im ersten Augenblick war Max versucht, einfach lächelnd abzuwinken. Und auch jetzt saß das Lächeln bereits wieder auf seinem Gesicht wie ein schmerzhafter Krampf, während die Worte in seiner Kehle stockten. Aber Yuriys Gesicht war so ruhig, so abwartend, so reglos, ohne dabei eine Front zu sein, an der Max abprallen würde. Wo Takao oder sein Vater ihn mit Fragen bestürmen und seine Mutter einen klinischen Vortrag über die Wichtigkeit von therapeutischer Hilfe halten würde, schien Yuriy zufrieden damit zu sein, auf seine Reaktion zu warten. Er schaute ihn einfach nur an und sagte nichts weiter, dann drehte er den Kopf und nahm die Schlittschuhe entgegen, die ein zweiter Verleiher ihm über den Tresen reichte. Mathilda war immer noch mit verhaltener Lebhaftigkeit in ihr Gespräch vertieft, ihre Worte stockend, aber klar. Max blickte auf Yuriys lichtkugelleuchtendes Haar, in dem sich einzelne Schneeflocken verfangen hatten, ohne dass es ihn zu stören schien. Ohne darüber nachzudenken streckte er eine Hand aus und strich eine Strähne davon hinter Yuriys Ohr. Yuriy hielt ihn nicht davon ab. Er lächelte nur ein Lächeln, das mehr in seinen Augen saß, dann steckte er behutsam das Amulett zurück in Max‘ Jackenkragen, zupfte diesen mit kundigen Fingern zurecht und sah ihn dann wieder an. Seine hellen, klaren Augen ließen Max wieder seine Sprache finden. „Danke, dass du mich heute angerufen hast.“ Mehr sagte er nicht, aber Yuriy schien zu verstehen. Er nickte, atmete tief ein, als ob er etwas sagen wollte. Dann ließ er es doch bleiben und zupfte stattdessen auf eine seltsam hilflos-schützende Art Max‘ Mütze zurecht. Mathilda beendete ihr Gespräch und drückte das eigene Paar Schuhe gegen ihre Brust. Sie wechselte einen Blick zwischen ihnen, ehe sie erst Max, dann Yuriy ein warmes Lächeln schenkte. „Na los“, sagte sie mit einem freundlichen Nachdruck, der die seltsame Spannung zwischen Yuriy und Max nicht unbedingt zerriss, aber deutlich leichtlebiger machte. „Ab aufs Eis, bevor Boris und Ivan die beiden Mädchen endgültig korrumpieren.“ 4. Über Neujahr kamen Kai, Takao, Hiromi und, am überraschendsten von allen, Rei zu Besuch. Max erfuhr erst davon, als sie beim Apartment der Mizuharas Sturm klingelten und dann alle ins Wohnzimmer kullerten, Takao und Hiromi enthusiastisch lärmend, Kai mit einer festen, stillen Umarmung und Rei mit einem warmen Lächeln. Sie brachten Sonnenlicht, Mochi und eine Flut von Japanisch und Englisch mit und scheuchten Max von den Skizzen auf, die er von Moskaus Sieben Schwestern begonnen hatte - jene sieben Gebäude im stalinistischen Klassizismus, die architektonische Weltberühmtheit erhalten hatten. Yuriy hatte ihn zu allen sieben davon begleitet und Kaffee mit ihm in jenen, die zu einem Hotel gemacht worden waren, getrunken. Es waren nette, vorweihnachtliche Nachmittage gewesen, die sie tatsächlich einmal ohne ihre Schwestern verbracht hatten, die beide nicht unbedingt für Gebäude zu interessieren waren. „Bosche“, rief Boris bei der Nachricht aus, „ich habe gesehen, was Kinomiya verdrückt - Vanja! Ruf den Schlachter an, wir brauchen noch eine Kuh!“ „Noch eine? Wo ist die erste?“, konnte Max Sergei lachend im Hintergrund der Leitung sagen hören, woraufhin Boris augenscheinlich das Handy senkte, weil Max eine Weile lang nur ein gedämpftes russisches Wortgefecht mitbekam. „Ich wusste nichts davon“, gab Max, der sich immer noch warm vor Freude über diesen Besuch fühlte, zu, als Boris endlich wieder an die Leitung kam. „Aber ich wollte Bescheid geben, weil wir - naja, ich werde jetzt wohl woanders mit ihnen Neujahr feiern, ich kann euch immerhin nicht noch vier Leute in die Bude schleppen.“ Boris antwortete mit einer Reihe an kräftigen russischen Flüchen, die Max unwillkürlich schmunzeln ließen, dann sagte er: „Du bringst die alle mit, towarysch, und wenn wir sie stapeln müssen. Es kriegen schon alle was zu essen. Notfalls werfen wir Kai raus, um Platz zu schaffen.“ „Notfalls kochen wir Boris, um Takao zu füttern“, sagte Kai prompt kampflustig von seinem Platz auf dem Sofa hinter Max, woraufhin Hiromi amüsiert die Augen verdrehte und Rei begütigend seinen Arm tätschelte, während Takao sich empört beschwerte, dass er nun einmal nach wie vor aktiver Sportler war und viel essen musste. „Okay“, sagte Max und stellte zur Vermeidung von weiteren Auflagen zu einem Duell den Lautsprecher wieder aus, „ich-“, da wurde Boris hörbar das Handy abgenommen und Yuriy meldete sich. „Max?“ „Yuriy“, sagte Max ein wenig erleichtert, seine Stimme zu hören, „hast du-“ „Ja. Nimm sie ruhig mit, ist alles machbar. Könnt ihr Kartoffelsalat mitbringen? Kai weiß, wie er sich gehört, auch wenn er sich dumm stellen wird. Lass dich nicht verarschen, er kennt die richtigen Schritte.“ „Klar, machen wir. Bist du sicher, dass es kein Problem ist, wenn alle mitkommen?“ „Nein. Hauptsache, ich sehe dich“, sagte Yuriy, dann legte er grußlos auf. Max starrte sein iPhone an und fragte sich, ob er an einem sehr seltsamen Tinnitus litt. Glücklicherweise brach kurz darauf hektische Betriebsamkeit aus und Kai musste dazu gezwungen werden, den Kartoffelsalat zu machen. Eine Weile war es wie vor einigen Jahren, als sie noch Teenager auf der Reise von Turnier zu Turnier gewesen waren, und Max‘ Herz war voller Sonne. Eine Weile vergaß er darauf, dass jedes Aufstehen im Moment ein Kampf gegen sich selbst für ihn war und er sich oft seltsam abmühen musste, nicht zu weinen, weil es so wehtat, zu lächeln. Heute war alles echt, und er fühlte die Momente tatsächlich in Farben statt in Sepiatönen. Es war nicht der erste Tag, an dem dies zutraf, besonders seit Yuriy ihn mehr oder weniger unter seine Fittichen geschoben hatte. Aber es war ein beginnender Abschluss eines harten Jahres, der Max optimistisch stimmte. Als Judy, Charlie und Max’ vor einigen Tagen angereister Vater am frühen Abend heimkamen, die Arme voller Einkäufe für das Neujahrsessen, hatte Max fast ein schlechtes Gewissen, sie alleine zu lassen. Aber Papa versicherte ihm, dass es vollkommen in Ordnung war, wenn er mit seinen Freunden feiern wollte und Mama war beschäftigt damit, Charlie in die Dinnervorbereitungen einzuführen, also fiel es Max dann doch recht leicht, das Apartment zu verlassen. Es war eine gute Stunde Fahrt durch die Stadt bis zu dem Gebäude, in dem die Neoborgs gemeinsam, wenn auch in unterschiedlichen Wohnungen lebten. Sergei und Mathilda wohnten zusammen, Yuriy hatte seine alleinige Behausung und feiern würden sie in der Wohnung von Boris und Ivan. Tatsächlich war Max noch bei keinen von ihnen daheim gewesen, nicht einmal bei Yuriy, und er konnte nicht leugnen, dass er durchaus gespannt darauf war. Das Wohnhaus war ein ästhetisch nicht besonders wertvoller Plattenbau, aber darauf kam es auch nicht unbedingt an. Kai drückte zielstrebig die Klingel, auf der unleserliches Gekrakel wohl die Namen von Boris und Ivan darstellen sollte. Es dauerte nur ein paar Wimpernschläge lang, dann krachte die altersschwache Gegensprechanlage mit ein paar freundschaftlichen, russischen Beschimpfungen und der Türsummer erklang, sodass sie lärmend ins Haus stolpern konnten. Im zweiten Stock flog eine Tür auf; Musik schwappte über ihre Schwelle, etwas mit einem Bass wie dem Herzschlag eines Sprinters und der rauchigen Stimme einer Sängerin, und Ivan rief gut gelaunt das Stiegenhaus hinunter: „Na kommt schon, die Bowle gibt‘s wahrscheinlich nicht mehr lange!“ „Das ist wahrscheinlich sowieso nur wieder Wodka mit ein paar Alibibeeren aus dem Tiefkühler drin!“, rief Kai zurück, woraufhin es wohlmeinende Beleidigungen hinunterhagelte. Irgendwo flog noch eine Tür auf und eine Frau schrie sehr viel weniger wohlmeinend etwas auf Russisch, dem Ivan ruppig antwortete, während die Gruppe rasch ihren Weg in den zweiten Stock bahnte. Max sah, wie Kai die Finger mit Takaos verschränkte und lächelte sachte. Da war immer etwas Weiches an Kai gewesen, aber in den letzten zwei Jahren hatte er endlich gelernt, es zuzulassen und das tat ihm unendlich gut. Ivan breitete in einer Willkommensgeste die Arme aus, als sie ihn erreicht hatten. Um seinen Hals hingen gefühlt vierzig verschiedene Halsketten und er trug eine Krone auf dem Kopf. „Da seid ihr ja endlich! Rein mit euch, bevor die Baba Jaga von oben wieder zu schimpfen beginnt.“ Die Wohnung, in die sie geschoben wurden, war gut geheizt und durchzogen von angenehmem Mandarinengeruch. Die Diele war klein, weshalb sich rasch ein Turm aus Jacken und Stiefeln auftürmte, als die Neuankömmlinge sich ausgezogen hatten. Max winkte Sergei zu, der in der Küche stand und mit Mathildas Assistenz hochkonzentriert in diversen Töpfen und Schüsseln rührte. Überhaupt sah die Küche so sehr aus, als ob eine Bombe darin eingeschlagen hatte, dass von der Küche an sich nur wenig zu sehen war. „Julia!“, rief Hiromi dann hocherfreut aus und fiel der Spanierin aus dem Hals, die strahlend aus einer der vier verbliebenen Türen geschossen war. „Was machst du denn hier?“ „Tilda besuchen. Ich bleibe ein paar Tage, dann geht‘s weiter nach Kairo zu Mariam“, lachte Julia und drückte dann rasch jeden der Neuankömmlinge an sich. „Wow, Julia, du siehst fantastisch aus“, sagte Max ehrlich, denn das tat sie wirklich. Julia hatte immer schon eine Figur zum Niederknien besessen, aber heute trug sie ein rotes Kleid mit weißem Fellbesatz am tiefen Ausschnitt, das an jeder anderen Frau kitschig gewirkt hätte. Die Spanierin zwinkerte ihm zu und drehte sich kokett einmal um die eigene Achse. „Du weißt, was eine Frau hören will, Max.“ Max schmunzelte. Er hatte seine Jahre am College definitiv gut genutzt, um so einige Erfahrungen mit Männern wie mit Frauen zu sammeln. Sein Interesse an Sex war in den letzten Monaten nur sowas von nonexistent gewesen, dass er überrascht war, ein Flackern davon bei der Betrachtung von Julia zu spüren. Ehe er den Gedanken weiter verfolgen konnte, erschien Boris in dem gleichen Türrahmen, aus dem Julia gekommen war grinsend und in einem der scheußlichsten, glitzerndsten Pullover, die Max jemals in seinem Leben gesehen hatte. Noch scheußlicher war vielleicht nur die ebenfalls glitzernde Hose, die er dabei trug. „Hiwatari!“, dröhnte er, „Yura hat sich schon die Augen ausgeweint, weil du ihn nicht anrufst, was zum Fick ist los mit dir?“ „Der Fick, mein Freund, denn er ist sehr regelmäßig im Herz und in der Hose“, erwiderte Kai mit Grabesstimme, „nicht, dass du nachvollziehen könntest, wie das ist.“ Einen Moment lang war Max nicht sicher, ob eine Schlägerei in der Diele entstehen würde, dann begann Boris zu lachen und rauschte in seiner glitzernden Glorie hinüber, um Kai eine Kopfnuss zu verpassen, ehe es nicht nur für Kai, sondern für alle Anwesenden Wangenküsse und, in Hiromis Fall, auch einen Schwall Komplimente hagelte. Max duckte sich rechtzeitig unter der allgemeinen Beküssung hindurch und schlüpfte ins Wohnzimmer, wo er Yuriy fand, gekleidet in ein weißes Hemd mit zu den Ellbogen aufgerollten Ärmeln und einer dunkelblauen Hose. Er hatte ihm den Rücken zugewandt und schien gerade im Begriff, Schüsseln auf dem bis zum Bersten beladenen Tisch zurechtzurücken, als ob es sich dabei um eine lebenswichtige Aufgabe handelte. Irgendjemand hatte ihm die Haare zu einem Fischgrätenzopf geflochten und kleine Glitzersteine hineingewoben, womit Max das erste Mal so richtig sah, wie lang sie schon waren. Es sah ein bisschen lächerlich aus, aber auch ein bisschen herzwärmend, und Max lächelte ohne Anstrengung. „Wer hat dir diese Frisur gemacht?“, fragte er, woraufhin Yuriy sich umdrehte und ihn anlächelte. „Boris. Er kann das richtig gut, aber er würde es nie zugeben“, sagte er, ließ das Besteck los und kam zu ihm, um seine Wangen zu küssen. Da lag eine zarte Röte auf seinen hohen Wangenknochen und dem Nasenrücken und Max nahm zwischen Tannennadeln und Frischluft auch den Geruch von Wein wahr, was vielleicht der Grund war, warum Yuriys Lippen länger auf seiner Wange verweilten, als sie mussten. Als er zurückweichen wollte, hielt Max ihn instinktiv fest. Sie sahen sich an, dann glitten Yuriys kühle Fingerspitzen über seine Schläfe. Es waren nur ein paar Sekunden, aber in diesen Sekunden war Max absolut im Hier und Jetzt und fühlte jede einzelne Zelle seines lebenden, atmenden Körpers. Yuriy ließ ihn los und Leute schwappten lachend, gestikulierend, plaudernd in den Raum, der bald sehr voll wurde, aber die Farben blieben - und Yuriy setzte sich direkt neben ihn, obwohl er auch neben Kai hätte sitzen können, den er sehr lange umarmte, um ihm dann leise Worte ins Ohr zu murmeln, die von Kai nur mit einem stillen, ernsten Nicken beantwortet wurden, womit alles gesagt zu sein schien. Aber Yuriy blieb neben Max, während sie Karten spielten, aßen und der Alkohol zu fließen begann (es stellte sich heraus, dass Kai mit der Bowle absolut recht gehabt hatte, auch wenn in einer halbherzigen Geste des Commitments auch Orangensaft hineingekippt worden war). Yuriy trank nicht sehr viel, höchstens ein Glas oder zwei, aber es reichte scheinbar, um ihn dazu zu bringen, immer wieder geistesabwesend Max‘ Handrücken, Schulter, Wange und Haare zu berühren. Doch er umarmte auch Boris, der auf seiner anderen Seite saß, lehnte die Wange an seine Schulter und fuhr ihm durch die kurzen Haare, also ermahnte Max sein dummes Herz, vielleicht nicht allzu viel darauf zu geben. Als es nicht mehr weit bis zum neuen Jahr war, entschuldigte Max sich für etwas Frischluft aus dem Wohnzimmer und schlängelte sich vorbei an Kai, der eine Hand mit Takaos verschränkt hatte, während er Hiromi innig küsste; vorbei auch an Rei, der sich herzlich lachend an Boris lehnte und von ihm angesehen wurde wie etwas Altbekanntes und doch Neugelerntes; und vorbei an Ivan, der mit großen Handgesten deutlich angetrunken etwas auf Russisch beschrieb, dem Mathilda und Sergei lächelnd lauschten, um immer wieder scherzhafte Einwürfe zu machen. Julia hatte sich in eine Ecke des Wohnzimmers gestellt, um auf raschem Spanisch zu telefonieren, vielleicht mit ihrem Bruder. Sie lächelte Max warm zu, als der aus dem Wohnzimmer ging und in die Küche flüchtete, wo er das Fenster öffnete, das zur Straße hinausging. Er hielt sich nicht damit auf, das Licht anzudrehen. Über Moskau waren schon die ersten vereinzelten Feuerwerkskörper von Schießwütigen zu sehen, und es hatte auch wieder begonnen, ganz leicht zu schneien. Max lehnte sich hinaus und atmete tief durch. Er war nicht betrunken, nicht richtig, aber er war auch nicht mehr nüchtern. Einen Moment lang fühlte es ich wie ein Traum an, als Yuriy sich zu ihm gesellte, dann wurde er jedoch gefragt: „Willst du alleine sein?“ „Nicht, wenn du es bist, der fragt“, sagte Max wahrheitsgemäß. Yuriy summte zur Antwort und sah ebenfalls hinaus. Er bekam sehr wohl mit, dass Max ihn von der Seite her ansah, Max erkannte es an dem Lächeln, das in seinen Mundwinkeln saß, aber er sagte nichts dazu. Er sagte auch nichts, als Max eine Hand ausstreckte und das tat, was er schon den ganzen Abend lang tun wollte, nämlich Yuriys Fischgräte zu berühren und mit den Fingern über die Steinchen darin zu fahren, die in seinen Feuerhaaren saßen wie kleine Sterne. „Wir werden später unsere Wünsche fürs neue Jahr auf kleine Zettel schreiben, die dann verbrennen und in Champagner werfen, um sie zu trinken“, sagte Yuriy, machte eine Pause und fügte hinzu: „Nur dass wir keinen Champagner haben, weil wir keine gottverdammten Kapitalistenschweine sind, deswegen wird genommen, was da ist.“ Max lachte auf. „Ich weiß nicht, ob es gesund ist, verkohltes Papier zu trinken.“ „Ach, mein Gott“, sagte Yuriy und wandte sich halb zu ihm, „wie sagt die Jugend heutzutage? YOLO.“ „Oh Gott, ich kann nicht glauben, dass du gerade YOLO gesagt hast.“ „Dreh‘ den Swag auf, Max“, sagte Yuriy ohne die Miene zu verziehen, woraufhin Max noch lauter lachte, bis er sich Tränen aus den Augenwinkeln wischen musste. Als er aufblickte, war Yuriy näher gekommen und lächelte ihn an, die Augen hell und weit. „Ich mag‘ es, wenn du lachst. Ehrlich lachst.“ Max atmete aus. Sein Lachen bebte noch in seiner Brust nach, als er endlich fragte, was ihm schon seit Wochen auf der Zunge brannte. „Warum hast du mich damals auf diesem Charityevent geküsst und dich dann nie wieder gemeldet?“ Yuriy lächelte nicht mehr, aber er sah ihn still und aufmerksam an. Gerade, als Max sich mit dem Gedanken anfreundete, dass er vielleicht keine Antwort mehr bekommen würde, sagte er schließlich: „Deine Freude war immer schon ansteckend, solnyschko. Ich wollte dich damals schon, aber es ging mir nicht gut. Das wäre nicht fair gewesen. Damals lag noch viel im Argen.“ „Und jetzt?“, wisperte Max, ohne den Blick von ihm zu nehmen. „Ich bin zufrieden“, sagte Yuriy sachte. „Aber glücklich?“ Yuriy sagte einen Moment lang nichts. Dann: „Mit Glück tue ich mir schwer. Ich weiß nicht, ob Glück und Zufriedenheit nicht das gleiche bezeichnen, wenn man es runterbricht.“ Er glitt mit den Fingerspitzen über Max` Haaransatz und hinterließ eine prickelnde Spur auf seiner Haut. „Weißt du es?“ „Ich weiß momentan an den meisten Tagen nicht viel über beides“, gab Max sehr leise zu. „Mmmh. Manchmal ist es einfach so.“ Sie verweilten einen Moment lang so. Max warf einen Blick auf seine Uhr; fünf Minuten bis Mitternacht. Er sah auf und begegnete Yuriys Augen, dann fragte er: „Was wirst du dir wünschen?“ „Gesundheit“, sagte Yuriy und strich Max weiterhin durch die Haare. „Für alles andere sorge ich selbst. Du?“ „Ich will mich wieder verlieben“, sagte Max, weil es einfach war, Yuriy hier und jetzt Dinge zu sagen. „Nicht in jemanden, aber in etwas, das nur mir gehört und das mir hilft mit dem ganzen Glücklichsein.“ „Das verstehe ich“, sagte Yuriy und Max glaubte ihm. Er rührte sich nicht, als Max über seine entblößten Unterarme strich, über die feinen Härchen darauf bis zu den aufgerollten Hemdsärmeln, bis zu Yuriys Hals, bis zu dem Hemdkragen, den er beiseiteschob, um ein Schlüsselbein freizulegen. Während seine Hände sich bewegten, sah Yuriy nicht von seinem Gesicht fort, der Blick so intensiv, als ob Max alles war. „Ich will dich wieder küssen“, sagte Max leise, „aber ich will nicht, dass du dich dann nicht wieder meldest.“ „Es ist anders jetzt“, sagte Yuriy genauso leise. „Gut“, sagte Max, schob die Hand in Yuriys Nacken und legte die Lippen auf seine in genau dem Augenblick, in dem vom Wohnzimmer aus lautes Geschrei, Korkenknallen und unmittelbar darauffolgendes Geschirrscheppern erklang, und der Kuss war unaufgeregt und süß, zumindest bis Boris und Hiromi in die Küche gestolpert kamen und Licht, Blutstropfen und Gefluche durchsetzt mit lautem Gelächter die Stille, Dunkelheit und Empfindsamkeit ablösten. Aber auch das war okay, denn es war alles davon live, live und in Farbe. Kapitel 3: Frühling ------------------- 5. Der Moskauer Frühling ließ sich bis April bitten, aber dann war er kurz und launenhaft wie eine Sommerliebe. Gegen Beginn des Monats handelte Sina sich die Windpocken ein und wurde dazu verdonnert, daheim zu bleiben. Für ein aktives Kind wie das Mädchen war das ein schwerer Schicksalsschlag, über den sie sich auch ausführlich bei jedem beklagte, der ansatzweise zuhörte. Charlie, die ihre Freundin nicht leiden sehen wollte, bearbeitete Max so lange, bis der sich erbarmte und Yuriy anrief, um zu fragen, ob sie zu Besuch kommen konnte. „Sie hatte die Windpocken schon“, fügte er hinzu. „Es sollte also nichts passieren. Und ganz ehrlich, ich weiß nicht, wie es dir geht, aber Charlie bearbeitet mich die ganze Zeit wie einen Kartoffelacker und es nervt.“ „Die reinste Schwesternmafia ist das“, stimmte Yuriy zu. Irgendwo an seinem Ende der Leitung raschelte Papier und Max stellte sich vor, wie er in seiner winzigen Kammer im hinteren Bereich der Buchhandlung saß und sich durch Abrechnungen wühlte. Max hatte ihn erst einmal bei der Arbeit besucht (und was sagte es über sie aus, dass er Yuriys Arbeitsplatz kannte, aber noch immer nicht seine Wohnung?), aber er hatte die Buchhandlung in guter Erinnerung: Ein prachtvoller Bau, der einmal ein Adelsanwesen gewesen, dann von den Sowjets halb zerlegt und schließlich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion liebevoll wieder hergerichtet worden war. Die Leiterin der dreistöckigen Buchhandlung war eine flinke, winzige Frau mit durchdringenden schwarzen Augen, die immer zu lachen schienen. Sie hatte erkannt, dass es am Besten war, Yuriy in einer Kammer zu parken und Zahlenmagie weben zu lassen, ohne ihn dabei zu stören. Max konnte durchaus verstehen, warum Yuriy gerne dort arbeitete. „Gut”, sagte Yuriy und zog damit wieder Max’ Aufmerksamkeit auf sich, „ich frage mal. Kann mir vorstellen, dass Sina ihren Eltern genauso auf die Nerven geht.“ Tatsächlich war ein Treffen schnell ausgemacht und so fanden Max und Charlie sich einen Tag später in Yuriys Begleitung auf dem Weg zu Sinaida. Sie wohnte am Rand der Stadt, wo kleine Häuser mit kleinen Gärten laut Yuriys Aussage schon wieder halbwegs erschwinglich waren, in einer Straße, die leicht bergauf führte und Reihen an dicht geparkten Autos neben den Rinnsteinen aufwies. Zwei Kinder fochten lauthals rufend ein Beybattle an der Straßenecke aus und machten nur minimal Platz für einen Pensionisten, der mit seinem Dackel daran vorbeizukommen versuchte. Max sah ihnen einen Moment lang lächelnd zu, bis sie vor einem der Zäune stehen blieben, über deren abblätternde Farbstellen man mit einer einzelnen Schicht gemalt hatte. Dahinter lag ein Vorgarten, der diese Bezeichnung eigentlich gar nicht verdient hatte, weil er eher aus zwei schmalen Grasstreifen und einem griesgrämigen Gartenzwerg bestand. Der Name auf dem Schild, dessen Klingel Yuriy drückte, war nicht Iwanov, aber damit hatte Max gerechnet. Die Male, an denen Yuriy über seine Mutter gesprochen hatte, ließen sich an einer Hand abzählen und über seinen Vater hatte er noch kein einziges Wort verloren. Trotzdem wusste er von Sina, dass sie und Yuriy sich eigentlich nur die Mutter teilten und dass Sina bis vor etwas mehr als zwei Jahren noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie einen Bruder besaß. Sie mussten nicht lange warten, bis ihnen geöffnet wurde. Eine Frau trat heraus, die immer noch schön war, auch wenn das Leben tiefe Spuren ihre Züge gegraben hatte. In ihr dickes, rotes Haar hatte sich bereits Grau geschlichen und als sie den Kopf bewegte, glänzte in ihrem Haarabsatz eine dünne, silbrige Narbe wie ein Spinnenfaden. Sie sah überhaupt nicht aus wie Yuriy, aber den Ausdruck in ihren dunklen Augen teilte sie sich mit ihm: Die Wachsamkeit von jemandem, der selbst im Frühling nicht den Winter vergessen konnte. Aber sie lächelte herzlich bei ihrem Anblick, und dieses Lächeln ließ sie gleich mehrere Jahre jünger aussehen. „Yura“, sagte sie warm und trat beiseite, nachdem Yuriy das Zauntor geöffnet hatte und sie die zwei Stiegen überwunden hatten, die zur Haustür hinaufführten. Max trat mit Charlie im Schlepptau hinter Yuriy in einen sauberen Flur, dessen Kleiderhaken mit Jacken überquollen. Auf der Kommode, die gleichzeitig ein Schuhkasten sein mochte, standen frische, gelbe Tulpen in einer weiß-blau gemusterten Vase. Max stellte fest, dass er keine Ahnung hatte, ob sie für die Dauer von Charlies Besuch hier bleiben würden und richtete seinen Blick fragend an Yuriy. Er stellte fest, dass Yuriy und seine Mutter sich nicht berührten - keine Wangenküsse, keine Umarmung, nicht einmal ein Handschlag, auch wenn Yuriys Mutter so dreinsah, als ob sie am Liebsten die Arme um ihn geschlungen hätte. Aber Yuriys Gesicht wirkte vollkommen undurchdringlich, so sehr, dass Max sich mehrere Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt fühlte. „Natascha“, sagte Yuriy rau und wies mit der Hand auf Max und Charlie, „eto Max c swojej sestre, Charlie.“ An Max gewandt sagte er auf Englisch: „Das ist meine Mutter, Natalija Michailowna. Sie spricht kein Englisch, aber ich kann übersetzen.“ „Otschin prijatna“, sagte Max artig mit seinem charmantesten Lächeln an Natalija Michailowna gewandt, die ihm daraufhin ein weiteres warmes Lächeln schenkte und seine Hand drückte. „Wsaimna“, sagte sie, was, wie Max sich dunkel erinnerte, etwas wie „ebenfalls“ bedeutete. Charlie zupfte an Yuriys Mantel und wisperte gut hörbar: „Frag sie, ob ich jetzt zu Sina kann!“ Yuriys Mundwinkel zuckten amüsiert. Er nickte und richtete ein paar rasche Worte an seine Mutter, die daraufhin ebenfalls nickte und die Treppe hinaufdeutetete. „Sie ist oben“, übersetzte Yuriy für Charlie, „die letzte Tür rein. Schuhe ausziehen, bitte.“ „Okay!“, sagte Charlie motiviert, schob die Stiefel brav unter die Ankleidebank und reichte Max ihren Mantel, ehe sie die Treppen hinauftrappelte. Während Max pflichtbewusst ihren Mantel auf einen der Haken hängte, hörte er, wie Natalija Michailowna leise etwas fragte, woraufhin Yuriy nur eine kurze, knappe Antwort gab. Sie seufzte tief, sagte außer einem „Choroscho“ aber nichts weiter. Als Max sich umdrehte, berührte Yuriy seinen Arm. „Lass uns gehen“, sagte er, „wir holen Charlie später wieder ab.“ Max wechselte einen Blick zwischen Natalija Michailowna und Yuriy, dann fragte er: „Willst du Sina nicht noch Hallo sagen?“ „Später“, sagte Yuriy knapp. Max beschloss, dass manche Schlachten nicht geschlagen werden mussten und nickte nur. „Okay. Ähm, do svidanija, Natalija Michailowna, spasiba sa …“ Er hielt inne, nachdem seine nicht gerade umfangreichen Russischkenntnisse hier den Geist aufgaben und sah zu Yuriy: „Was heißt ‚Danke, dass Charlie zu Besuch kommen kann’?“ Yuriy übersetzte, zumindest hoffte Max es, und immerhin fand er sich gleich darauf von Natalija Michailowna gedrückt, ehe sie sie hinaus entließ. Ihr Blick glitt über Yuriy, als ob sie durch eine unüberbrückbare Glaswand von ihm getrennt war, gegen die sie am Liebsten beide Hände pressen wollte. Aber sie sagte nichts mehr, stand nur im Türrahmen, als sie die Treppen hinabgingen und schloss langsam die Tür, als sie am Zaun angekommen waren. Erst dann schien eine gewisse Anspannung von Yuriy abzufallen. Er steckte die Hände in die Manteltaschen, stellte den Kragen auf und vergrub das Gesicht halb dahinter. Max betrachtete sein Profil von der Seite her, während sie gingen, auf ein Ziel zu, das vielleicht nicht einmal Yuriy kannte. „Deine Mutter wirkt nett“, sagte Max schließlich, als klar wurde, dass Yuriy von sich aus nichts sagen, das Herunterschlucken der Fragen auf Max‘ Zunge aber auch nicht viel bringen würde. Yuriy machte ein undefinierbares Geräusch, das alles zwischen radikaler Akzeptanz und vollkommener Ablehnung sein konnte. Max erkannte, dass er härtere Geschütze auffahren musste und sagte daher weiterhin so diplomatisch wie möglich: „Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass du nicht so gut auf sie zu sprechen bist.“ „Wie kommst du denn darauf?“, sagte Yuriy trocken schnaubend. „Ach, war nur so eine Idee“, sagte Max mit sanftem Humor, „vielleicht sendest du auch einfach nur die falschen Signale, wenn du aus dem Haus deiner Mutter abhaust, als wäre der Teufel hinter dir her.“ „So ist es nicht“, sagte Yuriy nach einer unendlich langen Pause angespannt. Sie waren in einem kleinen Park gelandet, der nicht viel mehr als ein paar Gehwege mit neugierig starrenden Babuschkas und Beyarenen war, von denen zwei besetzt waren von einem Rudel Kinder, das sich in Matches zu überbieten versuchte. Auf einer Mauer saßen ein paar junge Männer und rauchten, angeregt in ein Gespräch vertieft, während eine Wodkaflasche im Kreis umging. „Wie dann?“, fragte Max nach einer kleinen Pause. Als Yuriy nichts sagte, sondern nur den Kiefer verhärtete, fügte er hinzu: „Ich verstehe es, wenn Familien kompliziert sind. Meine Mutter ist manchmal auch nicht einfach.“ „Oh, bitte“, entfuhr es Yuriy und Max blinzelte aufgrund der unerwarteten Schärfe in seinen Worten, scharf genug, um ihn in Stücke zu schneiden. Er wusste, dass Yuriy unangenehm werden konnte, es war aber bisher nie in seine Richtung dirigiert worden. Nun hatte er das Gefühl, in den Genuss einer vollen Breitseite zu kommen, wenn er nicht Yuriys Geduldsfaden zusammenhielt, der ihm zu reißen drohte. Und tatsächlich blieb Yuriy stehen und funkelte ihn an, die Stimme leise und kalt, als er sagte: „Deine Eltern leben zeitweise getrennt, weil deine Mutter neben dem Kinderwerfen noch eine Karriere hat, aber beide lieben dich. Das ist nicht einmal ansatzweise vergleichbar mit meinen Familienstrukturen, Max. Du hast keine Ahnung von komplizierten Familien.“ Max hob die Augenbrauen. Er war so verblüfft über diese plötzliche Attacke, die sich anfühlte wie ein Schwarm wütender Erdwespen, nachdem man unabsichtlich auf ihr ungesehenes Nest getreten war, dass er erst gar nicht wusste, was er sagen sollte. Aber er hatte das deutliche Gefühl, dass Yuriys Wut sich nicht auf ihn im Speziellen richtete, also sagte er nach einem Moment so ruhig wie möglich: „Also findest du, dass ich auf hohem Niveau jammere?“ „Manchmal schon“, sagte Yuriy brutal mit heftigen Augen, auch wenn die Heftigkeit nicht seine Stimme durchtränkte. „Dann ist deine Mutter eben manchmal enttäuscht von dir, weil du kein kaltblütiger Akademiker bist, und widmet einen Großteil ihrer Zeit ihren Forschungen. Was soll‘s? Du warst in deinem ganzen Leben noch keinen einzigen Tag hungrig und du hast dich von deiner Mutter noch nie so dermaßen betrogen gefühlt, dass es dir manchmal lieber wäre, Vollwaise zu sein.“ „Du hast keine Ahnung, wie stark oder schwach ich mich von meiner Mutter betrogen fühle und deine Gefühle und Erlebnisse machen meine deswegen nicht weniger legitim“, sagte Max und konnte eine gewisse Anspannung diesmal nicht aus seiner Stimme halten. „Hast du mich die ganze Zeit als Mensch nicht ernstgenommen? So fühlt sich diese Tirade nämlich gerade für mich an.“ Yuriy fluchte laut und lange auf Russisch, wie es sonst eigentlich nur Boris tat, dann fuhr er sich durch die Haare. Max konnte sehen, wie er sich dazu zwang, möglichst tief ein-, dann wieder auszuatmen. „Jetzt hast du es geschafft“, sagte Yuriy rau, „ich brauche eine verdammte Zigarette.“ „Das hast du schon ganz allein geschafft.“ Einen Moment lang starrten sie sich schweigend an. Dann gab Yuriy einen Laut von sich, der klang wie eine zerreißende Basssaite, ehe er zu der Gruppe junger Männer stapfte, ein paar Worte mit ihnen wechselte und daraufhin tatsächlich eine Zigarette erschnorrte. Max schüttelte den Kopf, entspannte bewusst seinen Unterkiefer und drückte die Schultern herunter, ehe er sich abwandte und den Parkweg weiter entlang ging, fort von den Augen der Babuschkas. Das Sirren und Klacken der aneinanderstoßenden Beyblades in den Arenen war beinahe ein wohltuendes Geräusch in seinen Ohren. Er ließ die Augen wandern und konzentrierte sich auf seine Atmung, bis sein unwillkürlicher Ärger zumindest zu kopfloser Frustration abgeflaut war. Da war eine Bank, etwas ungünstig am anderen Ende einer kleinen Wiese direkt am Zaun gelegen, aber deutlich weiter weg von den anderen Parkbesuchern, und so steuerte Max sie an und ließ sich darauf fallen. Plötzlich heimwehbefallen zog er sein Handy heraus und scrollte durch Instagram, um die Posts seiner Freunde zu liken, die über die ganze Welt verstreut waren. Er blickte nicht auf, als sich jemand neben ihn setzte, aber der Geruch von Rauch und Tannennadeln erreichte seine Nase. Eine Weile lang sagte keiner von ihnen etwas. Diesmal hatte Max nicht das Bedürfnis danach, als Erster das Wort zu ergreifen. „Du musst wissen, ich bin ein pathologisches Arschloch“, sagte Yuriy schließlich mit einem Tonfall, der fast wie schlechtes Gewissen klang. Nun blickte Max doch auf und lächelte schwach. „Ich weiß, dass das nicht stimmt.“ Yuriy rieb sich über das Gesicht und nahm einen Zug von der Zigarette, die schon halb aufgeraucht war. „Ich nehme dich ernst.“ „Ich weiß“, sagte Max, obwohl er manchmal nicht ganz sicher war. Aber das lag nicht unbedingt an Yuriy an sich. Der stieß mit von ihm abgewandtem Kopf Rauch aus, ehe er sich zu ihm drehte und ihn ansah. „Mir fällt manchmal gar nicht auf, wie wenig ich eigentlich von dir weiß“, sagte Max nach einem Moment leise, nachdem er beobachtet hatte, wie Yuriy sichtlich nach den richtigen Worten suchte. „Und manchmal werde ich sehr stark daran erinnert.“ „Du weißt alles, was nötig ist“, erwiderte Yuriy fest, „alles, was ich selbst aus mir gemacht habe. Alles, was ich jetzt bin. Jetzt bin ich die beste Version von mir selbst, die ich je war. Viele Dinge, die früher passiert sind, waren einfach schlechte Karten.“ Max lächelte. „Anhänger der Zufallstheorie, hm?“ Yuriy hob die Schultern auf eine Art, die alles und nichts bedeuten konnte. Max steckte sein Handy weg, dann beobachtete er ein paar Vögel am Himmel, während Yuriy die letzten Züge der Zigarette verrauchte und dann den übriggebliebenen Stummel unter seinem Stiefel zerdrückte. „Ich will dich einfach nur verstehen“, sagte Max schließlich, „weil ich … weil ich dich eben wirklich gern habe. Ich will wissen, was dir wehtut, alleine schon, damit ich vermeiden kann, dir auch wehzutun.“ Da war eine Reihe an Emotionen, die sich auf Yuriys Gesicht abwechselten, aber so flüchtig wie Schatten, ungreifbar wie Geister, sodass Max keine Chance hatte, sie zu deuten. Was er aber sehr wohl deuten konnte, war die Art und Weise, wie Yuriys glasscherbenscharfes Gesicht schließlich weich wurde. Es war die gleiche Weichheit wie im Dunkeln zu Neujahr, die gleiche Weichheit wie am winterlichen Eis, die gleiche Weichheit wie jedes Mal kurz bevor sie sich küssten. „Ich verrate dir jetzt zwei meiner Geheimnisse“, sagte er leise, ohne den Blick von Max‘ Gesicht zu nehmen. „Bist du bereit?“ Max nickte. Er wusste nicht recht, ob er atmete oder nicht, aber er wusste, dass er unbedingt eine Hand in Yuriys schieben wollte und war erleichtert, als der es nicht nur zuließ, sondern auch seine Finger drückte. „Gut“, sagte Yuriy weiterhin leise. „Erstens: Ich glaube, man muss Leuten manche Fehler nicht verzeihen, egal wie leid sie ihnen tun. Meine Mutter hat so einen Fehler gemacht. Ich verstehe mittlerweile, warum sie ihn gemacht hat. Das macht ihn aber nicht wieder gut. Ich werde sie nie wieder so lieben, wie ich es einmal getan habe, aber ich gebe mein Bestes und das ist in Ordnung so. Liebe ist nie etwas Garantiertes, sondern immer eine Entscheidung.“ Er hob eine Hand und strich eine Strähne aus Max‘ Gesicht, und seine Berührung war sehr sanft. „Liebe ist eine Entscheidung“, wiederholte Max und drückte jene von Yuriys Händen, die er immer noch umschlungen hielt. Jetzt verstand er einiges schon besser. „Es ist deine Sache, Yuriy. Wenn du so, wie es ist, gut mit deiner Mutter zurechtkommst, dann ist mir das nur Recht.“ „Es ist, wie es ist“, sagte Yuriy achselzuckend. Max dachte an seine eigene Mutter und seufzte tief. Dann fragte er: „Was ist das zweite Geheimnis?“ Yuriy sah ihn an. Dann sagte er: „Ich habe dich auch wirklich gern. Und ich will wissen, wenn dir jemand wehtut, damit ich ihn jagen und ausweiden kann.“ Max konnte nicht anders als zu lachen. „Und wenn derjenige Yuriy Iwanov heißt?“ „Der sowieso“, sagte Yuriy ohne die Miene zu verziehen, „den kenne ich. Der ist ein pathologisches Arschloch, der verdient manchmal aufs Maul.“ Max lachte noch lauter und schüttelte den Kopf. „Ich werde dich warnen, wenn du Grenzen überschreitest, keine Sorge. Man mag es nicht glauben, aber auch ich habe sie.“ „Gut“, sagte Yuriy und meinte es spürbar auch so. 6. Max verbrachte die lauen Tage des Frühlings mit Vorliebe auf der Terrasse ihres Apartments, wo er Notizbücher mit Skizzen füllte, wenn er nicht mit Charlie und beziehungsweise Yuriy unterwegs war. Erst waren es Skizzen von Moskauer Gebäuden - die sieben Schwestern, der Kreml, das Kosmonautenmuseum, eine interessante Fassade hier, ein interessanter Innenhof da -, doch nach und nach schlichen sich andere Dinge mit hinein: Ein Raumplan von Sergeis und Mathildas Wohnung, Yuriys Lieblingsbank im WDNCh-Park, der Rote Platz im Winter. Und mehr und mehr auch eigene Ideen: Ein optimierter Plan von Charlies Schule, Überlegungen zu einem günstigen, aber ansehnlichen Wohnbau, Raumpläne dazu, Gedankenspiele zu nachhaltiger Architektur und Solarpunk-Skizzen. Die langsam zurückkehrende Kreativität war ebenso erleichternd wie erfreulich. An einem der besonders schönen Tage rief er schließlich Yuriy an. Es dauerte ein wenig, bis abgehoben wurde, aber Max kam gleich zur Sache: „Yura! Hast du Lust, mit mir in den Zarizyno-Park zu gehen? Ich war noch nicht dort und jetzt habe ich so viele Artikel über den chaotischen Schlossbau gelesen, dass ich mir das ansehen will.“ Einen Moment lang war es still. Dann sagte Yuriy: „Ich bin bis vier auf der Arbeit, aber ich kann danach.“ Etwas in Yuriys Tonfall ließ ihn davon absehen, einen Witz darüber zu machen, dass er es auch schon länger ohne ihn ausgehalten hatte. „Alles okay?“, fragte er stattdessen vorsichtig. Erneut war es einen Moment still, dann konnte er Yuriy ausatmen hören, ehe er etwas angespannt sagte: „Ich habe keinen so guten Tag heute.“ „Du weißt, dass du nicht kommen musst, nicht wahr? Oder wir verschieben einfach, das ist kein Problem.“ Yuriy summte. „Aber ich möchte dich sehen“, sagte er schließlich auf diese unaufgeregte, ehrliche Art, die jedes Mal Max‘ Wangen warm werden ließen. „Wenn du damit umgehen kannst, dass ich brummig bin.“ „Yura, ich war jahrelang in einem Team mit Kai. So brummig kannst du gar nicht sein, dass ich das nicht aushalte.“ Das entlockte Yuriy immerhin ein amüsiertes Schnauben. „Sagen wir … Bosche, wie lange brauche ich von hier … sagen wir, gegen Fünf beim Haupteingang?“ „Geht klar!“ „Ich bringe meine Notizen für die Prüfung nächste Woche mit“, kündigte Yuriy geradezu drohend an, dann legte er grußlos wie immer auf. Aber mittlerweile war Max daran gewohnt und es hielt ihn nicht davon ab, versonnen lächelnd auf den dunklen Display seines Handys zu starren, sodass er sogar die Anwesenheit seiner Mutter verträumte, bis diese sich räusperte. „Oh, Mama!“ Max lächelte verlegen und ließ das Handy sinken. Judy hatte heute einen freien Tag und verbrachte ihn daheim in Jogginghose und T-Shirt mit Notizenvorbereitung zu ihrer nächsten Kurseinheit. Jetzt musterte sie ihn forschend auf seinem Platz im Schneidersitz auf der Terrassenbank, eine Decke über dem Schoß, das aufgeschlagene Notizbuch und ein volles Glas Limonade vor sich, während der Frühlingswind ihnen beiden die blonden Haare zauste. „Frag‘ ihn doch, ob er und seine Schwester am Sonntag zum Essen kommen möchten“, sagte sie unvermittelt, was Max immerhin offenbarte, dass sie erstens schon recht lange hier stehen musste und zweitens besser informiert über die Kontakte ihrer Kinder war, als Max ihr zugetraut hatte. „Wie heißt er noch einmal? Yuriy Iwanov, nicht wahr? Ich erinnere mich aus deinen aktiven Bladerzeiten.“ Max nickte. „Der Teamleader von Neoborg.“ „Ich weiß. Man vergisst ihn nicht so schnell.“ Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und schob sich ein Kissen ins Kreuz, das sie vermutlich wieder plagte. „Er studiert auch an der Lomonossow-Universität“, sagte Max, weil er wusste, dass sie so etwas interessierte. „Astrophysik.“ Judy hob beeindruckt die Augenbrauen. „Nun gut, er wirkte immer wie ein kluger Kopf. Und war sehr hart im Nehmen. Für das, was diese Jungs durchgemacht haben, ist er ein starker Mensch.“ Max widerstand dem Drang, die Schultern hochzuziehen. Er war sich recht sicher, dass er einen unausgesprochenen Vorwurf an seine eigene Schwäche hörte, wo gar keiner war. Aber das war vielleicht die Krux mit seiner Mutter: Er konnte nie ganz sicher sein, weil sie so anders dachte und fühlte als er, und um sie darauf anzusprechen hatten bisher ständig Zeit und Mut gefehlt. Als er ihren Blick auf sich fühlte, bemühte er sich um eine lockere Haltung und ein unverbindliches Lächeln. „Das stimmt.“ Judy musterte ihn still, dann seufzte sie - wieder so ein Laut, der bewirkte, dass Max sich anspannte - und streckte eine Hand aus, um ihm über die Haare zu streichen. Seine Mutter war nicht besonders liebevoll im herkömmlichen Sinn, aber sie hatte ihre Momente und er wusste, dass sie ihn liebte. Auch wenn er sie vielleicht enttäuschte. „Vergiss‘ nicht, dass du um vierzehn Uhr die Online-Sitzung mit deiner Therapeutin hast“, sagte sie dann und erhob sich. Er konnte sehen, dass sie bereits wieder mit den Gedanken bei ihrer Unterrichtsvorbereitung war und sich mehr und mehr von ihm und der Situation entfernte. Dann sah sie ihn doch noch einmal an und wiederholte: „Frag ihn, ob er zum Essen kommen will.“ „Hast du vor, zu kochen?“, fragte Max und grinste verschmitzter, als er sich fühlte. „Dann muss ich dir nämlich sagen, dass er es nicht verdient hat, in so jungen Jahren von uns zu gehen.“ „Ich stehe über diesen haltlosen Vorwürfen, was meine Kochkünste angeht“, sagte Judy, aber sie schmunzelte dabei und etwas löste sich in Max‘ Brust. „Keine Sorge, ich bestelle was.“ Max verbrachte eine geschlagene Stunde damit, Skizzen und Fotos von Schloss Zarizyno zu machen. Er hatte keine Lust darauf, bei dem schönen Wetter das Museum im Inneren zu besuchen, um sich auch die Innenarchitektur zu geben; dafür würde sich bestimmt eine andere Gelegenheit finden. Yuriy, der ihn pünktlich um Fünf beim Haupteingang erwartet hatte, war nicht undankbar, ihn eine Weile sich selbst zu überlassen. Von der Stelle aus, an der Max halblegal auf einer Mauer hockte und einen möglichst günstigen Fotowinkel suchte, konnte er Yuriys Haarschopf dort leuchten sehen, wo der Russe sich auf einer Decke in der Wiese niedergelassen hatte: Mit dem Sternschauerrucksack neben sich, den Max ihm im Februar zum fünfundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte, und den Mantelkragen aufgestellt, aber mit einer Sonnenbrille auf der Nase, die tief in ein Buch gesteckt wurde, das nach Physik aussah. Tatsächlich hatte er bei der Begrüßung und dem Finden eines geeigneten Platzes herrischer und ungeduldiger als sonst gewirkt, aber er hatte sich auch sichtlich bemüht, es nicht an Max auszulassen. Obwohl der Park an diesem sonnigen Frühlingstag gut besucht war, hatten sie es geschafft, ein recht ruhiges und nur spärlich besetztes Fleckchen zu finden, was durchaus dazu beigetragen hatte, Yuriys Laune ein wenig zu heben. Max sah ihn eine Weile aus der Ferne an. Dann hob er den Fotoapparat und schoss ein letztes Bild vom Schloss, ehe er von der Mauer hüpfte und zu ihm zurückkehrte. Yuriy blickte zu ihm auf und Max musste beinahe lachen, weil er in seinem schwarzen Mantel, der runden Sonnenbrille und den offenen Haaren etwas von Crowley aus Good Omens hatte. Die Stunde gesellige Einsamkeit schien ihm gut getan zu haben, denn er schenkte Max ein kleines Lächeln, als er zur Seite rutschte, um ihm auf der Decke Platz zu machen. „Gute Fotos gemacht?“, fragte er. Max nickte und deutete auf das Lehrbuch in Yuriys Hand, für das er seinen Daumen als temporäres Lesezeichen verwendete. „Bist du weitergekommen? Tut mir Leid, dass ich dich nicht wirklich abfragen kann, aber so gut kann ich Russisch dann doch noch nicht lesen.“ „Kommt noch. Und ist kein Problem, ich frage morgen Boris und lerne heute noch.“ Yuriy legte das richtige Lesezeichen ins Buch, klappte es zu und streckte sich ein wenig. Ihre Hände berührten sich und Yuriys Finger blieben sachte auf seinen ruhen. „Geht‘s dir besser?“, fragte Max und rollte sich halb auf die Seite, um ihn besser ansehen zu können. „Es geht“, sagte Yuriy kurz, aber nicht unfreundlich. „Willst du darüber reden?“ Yuriy schien ernsthaft darüber nachzudenken. Dann nahm er mit einem tiefen Seufzer die Brille ab und rieb sich flüchtig die Augen. Max stellte fest, dass er müde wirkte, und tatsächlich bekannte Yuriy nach einem Moment: „Ich schlafe momentan nicht sehr viel und stehe permanent unter Strom. Das ist extrem beschissen, aber erfahrungsgemäß funktioniert nichts anderes, als es auszusitzen. Ich hab‘ immer wieder solche Wochen.“ „Wie lange geht das schon?“ „Hm. Zwei Wochen? Drei?“ Max biss sich auf die Innenseite seiner Wange und fragte sich, ob das vielleicht in ihre Auseinandersetzung wegen Yuriys Mutter vor einigen Tagen hineingespielt hatte. Kein Wunder, dass seine Nerven blank lagen, wenn er seit Tagen nicht richtig schlief. „Also kann man nicht helfen?“ Yuriy sah einen Moment lang hart und mit ausdrucksloser Frustration durch ihn hindurch, von der Max nach jahrelanger Erfahrung im Umgang mit Leuten wie Kai zumindest eindeutig sagen konnte, dass sie nicht an ihn gerichtet war. Dann wurde sein Blick fokussierter und sein Gesicht etwas weicher. Er berührte Max‘ Handgelenk und schüttelte den Kopf. „Das ist allein mein Job, und vielleicht ein bisschen der meiner Therapeutin. Es wird schon wieder. Braucht nur Zeit und ich bin eigentlich nicht besonders geduldig.“ „Das wäre mir nie aufgefallen“, sagte Max mit sanftem Spott, der ihm ein weiteres kleines Lächeln einbrachte. Er entschied sich dafür, das Thema zu wechseln und sagte: „Meine Mutter lässt übrigens fragen, ob du und Sina am Sonntag zum Essen kommen wollt.“ Yuriy hob erstaunt eine Augenbraue. „Deine Mutter hat das gefragt?“ Max nickte. „Ich denke, weil Charlie und Sina sich so gut verstehen.“ „Sollte sie dann nicht eher Sina und unsere Mutter einladen?“, fragte Yuriy. Max zögerte einen Moment. Hier kamen sie in ein Gebiet, das er und Yuriy bisher noch nicht wirklich besprochen hatten, weshalb er nicht wusste, was ihn ab hier erwartete. Dennoch entschied er sich, wahrheitsgemäß zu erwidern: „Ich denke, sie geht davon aus, dass wir zusammen sind und will dich kennenlernen.“ Yuriy betrachtete ihn so lange und forschend, dass Max spürte, wie er aus Nervosität strahlend zu lächeln begann. Dann fragte Yuriy leise und konzentriert: „Sie geht davon aus?“ „Sie hat mich nicht direkt gefragt.“ „Und warum sagst du es ihr nicht?“ „Ich wusste nicht, ob es dir recht ist.“ Die Falte wurde tiefer. „Natürlich ist es mir recht.“ „Naja, du hast mich deiner Mutter auch nicht als deinen Liebhaber vorgestellt“, merkte Max an, denn dafür hatte sein Russisch gerade noch gereicht. Gleichzeitig fragte er sich, ob der Begriff „Liebhaber“ überhaupt der richtige war angesichts der Tatsache, dass sie noch immer keinen Sex gehabt hatten. Aber seine Libido hatte gerade erst wieder begonnen, zu ihm zurückzukehren und Yuriy hatte bisher auch nicht wirklich gewirkt, als ob er ihr gelegentliches Herumgemache sonderlichen vertiefen wollte. Yuriy hob eine Augenbraue. „Das ist was anderes. Erstens: Wir haben nicht das gleiche Näheverhältnis wie du und deine Mutter, und das weißt du mittlerweile auch. Zweitens: Das hier ist immer noch Russland, keine Ahnung, wie sie reagieren würde. Aber deine Mutter ist Amerikanerin.“ „Stimmt, es war ihr bisher immer ziemlich egal, mit wem ich antanze“, gab Max zu, dann räusperte er sich. „Okay. Also sind wir …?“ „Du willst unbedingt, dass ich es ausspreche, hm?“, stellte Yuriy fest. Als Max mit glänzenden Augen nickte, zuckten seine Mundwinkel, bevor er sich geradezu resigniert über das Gesicht strich und die Hand dann auf Max’ legte. „Okay. Ja, du kannst ihr sagen, dass du moj molodoj tschelowjek bist. Wieso grinst du jetzt so blöd? Ich dachte, wir sind schon längst zusammen!“ „Du grinst genauso blöd“, schoss Max zurück und sah zu, wie Yuriy mit einem protestierenden Geräusch der Empörung die Nase zurück in sein Buch steckte, um sein Lächeln zu verbergen. Er konnte nicht anders, als rasch und ungesehen einen Kuss auf Yuriys Wange zu drücken und sich dann auf den Rücken zu rollen, um unter den noch schwachen Strahlen der Sonne die Augen zu schließen. „Also kommst du zum Essen?“, fragte er. „Ja“, seufzte Yuriy hinter seinem Buch hervor, „ich komme wohl zum Essen.“ Kapitel 4: Sommer ----------------- 7. Mit dem Mai kam der Sommer, und der Sommer kam in einem Wirbelwind aus Hitze und Farben. Max erkannte, was für ein dummes Klischee die Annahme war, dass es in Russland nie warm wurde. Auf manche Teile mochte das vielleicht zutreffen, auf Moskau aber sicher nicht. Und es zeigte sich im Sommer so sehr von seiner besten Seite, dass es in Max die Dinge verstärkte, die er schon bei seinem ersten Besuch in Moskau vor vielen Jahren während der Weltmeisterschaft geliebt hatte. Ja, die Stadt, vielleicht das ganze Land, machte Menschen so hart wie Schilfgras. Aber wie Schilfgras beugten sie sich auch zu einem, wenn man sich zwischen sie begab. Den Moskauern steckte wie ihren Gebäuden Geschichte in den Knochen, so tief und so profund, wie es in keiner einzigen amerikanischen Stadt, die Max bisher besucht hatte, jemals der Fall war. Man schälte Schicht um Schicht von ihnen ab und zum Vorschein kamen immer neue Fresken und Stahlkerne, die man längst vergessen hatte. Ein Winter würde wieder kommen und die Straßen und Gassen mit Schnee bedecken. Aber es war so schwer für Max, jetzt im Sommer daran zu denken, in diesem Sommer, wo er das Gefühl hatte, dass Moskau ihm die Erinnerung ans Atmen wiedergebracht hatte. Es ging ihm gut. Er war wach, er war am Leben. Der Sommer machte auch etwas mit Yuriy, oder vielleicht war es nicht der Sommer, sondern etwas anderes. Max erlebte ihn in ausgeblichenen T-Shirts und einer dicken Schicht Sonnencreme, die Haare hochgebunden und immer ein bisschen rot im Nacken, weil er dort zu schmieren vergaß. Max erlebte ihn im ständigen Kampf mit Boris, der ihm Hüte auf den Kopf setzte, und er erlebte ihn missgelaunt über die Hitze, die seine Nase glänzen ließ und ihn dazu zwang, viel zu trinken, um nicht umzufallen. Er beschwerte sich über die Hitze, über die Sonne und über Max, wenn der die Fingerspitzen voller Faszination über die heraustretenden Sommersprossen gleiten ließ, die sich unter dem Licht wie Sterne über Nase, Schultern und Arme ergossen. Ausweichen tat er dennoch keinem der drei Dinge, auch wenn er begann, Max manchmal prüfend von der Seite zu mustern. Wenn Max fragte, ob etwas nicht in Ordnung war, wechselte er das Thema oder ließ einen Strom an Formeln über seine Zunge gleiten, bis Max vollkommen darauf konzentriert war, ihm zu folgen und seine Frage vergaß. Der Gedanke, dass er den nächsten Sommer vielleicht wieder ganz woanders verbringen würde, war ein seltsamer. Ihm war klar, dass er langsam ein paar konkretere Pläne für die nahe Zukunft machen und dafür mit einigen Leuten sprechen sollte - seine Mutter zum Beispiel, und natürlich Yuriy. Aber gleichzeitig hatte er gerade erst wieder Gefallen am Moment gefunden und wollte noch ein paar Wochen ohne Konkretisierung leben. Die Stadt machte es ihm leicht. Kyrillisch war ihm nicht mehr fremd, genau wie der Singsang des Russischen, der ihn täglich begleitete. Er hatte das Metronetz durchschaut und sogar schon Busse gemeistert, und der Sommer trieb die Partyevents nach Moskau, von denen an jedem Abend irgendein anderes stattfand. Max entdeckte seine Liebe zum Fortgehen und Tanzen wieder, genau wie seine Liebe zu Menschen, die er nur flüchtig kannte. Meistens war er mit Mathilda, Sergei, Boris und Ivan unterwegs. Manchmal kam auch Yuriy mit, manchmal war irgendjemand nicht dabei, aber so oder so stellten sich die ehemaligen Borgs, besonders Boris und Ivan, als ungemein feierlustig heraus. Während Ivan mit jedem Mädchen flirtete, was Zeug hielt und damit oft erfolgreich war, pickte Boris an den meisten Abenden treffsicher ein Ziel heraus und kam mit seiner charmanten Raubeinigkeit an ungezählt viele Telefonnummern nach heißen Minuten in irgendeiner dunklen Ecke, wenn es sich anbot. Max konnte es den Mädchen nicht verübeln. Und er fand seine eigene Freude am Flirten ebenfalls wieder. Er hatte immer schon gerne mit Leuten geschäkert, weil es auf beiden Seiten gute Energie brachte, und wenn man dabei tanzen konnte, war es sogar noch besser. Die russischen Mädchen fanden großes Gefallen an ihm: Sie nannten ihn lachend Amerikanskij, zupften kokett an seinen blonden Haaren und warfen beim Tanzen die Arme um seinen Hals. Unter anderen Umständen hätte er einige davon sicher mit heimgenommen. So, wie die Dinge standen, lachte und tanzte er mit ihnen, trank und schäkerte, und dann ging er zurück zu Yuriy und seinen blauen Augen oder sammelte Boris ein, bevor der dumme Dinge anstellen konnte. Es war witzig zu sehen, dass Yuriy zwar behauptete, nicht eifersüchtig zu sein und es dennoch war. Wenn er dabei war, konnte Max seinen glühenden Blick auf sich spüren, wann immer er mit einem Mädchen auf der Tanzfläche war, und er konnte sicher sein, früher oder später in einem passenden Moment verborgen von den Blicken anderer um den Verstand geküsst zu werden. Außerdem hatte Max seit dem Abend vor etwa zwei Wochen, an dem sie das erste Mal miteinander im Bett gelandet waren (Gott sei Dank hatte Judy den festesten Schlaf der Welt und Charlie anderweitig übernachtet), schon erfahren dürfen, dass Yuriy gerne dunkle Flecken in seine Haut biss, wo sie schwer zu verdecken waren. Nicht, dass Max sich sonderlich beschwerte. Genauso wenig wie er sich über Yuriys Blick beschwerte, der ihn selbst auf der größten Party immer und immer wieder fand und festhielt. Sie waren auch jetzt auf genau so einer Party - eine Homeparty diesmal, von irgendeiner Studienkollegin von Mathilda, was bedeutete, dass das Publikum recht international war und man sich ein bisschen mehr gehen lassen konnte. Max hatte vielleicht ein bisschen zu sehr mit einem blauhaarigen Mädchen geflirtet, das ihn ein wenig an Mariam erinnert hatte, denn Yuriy hatte ihn bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit in die Abstellkammer hinter der Küche gezerrt, dort ein knutschendes Pärchen hinausgeworfen und die Tür von innen abgesperrt. Dass sich irgendwer vielleicht aufregen konnte, war Max spätestens ab dem Zeitpunkt egal, an dem sie sich auf der winzigen Couch in der Ecke ineinander verkeilt hatten und Yuriys Lippen heiß auf seinen lagen. Seine Finger gruben sich in Yuriys sternsprossenübersähte Schultern und zogen ihn näher an sich, was gar nicht nötig war, weil Yuriys Hände, sein Mund und sein Geruch überall zu sein schienen, bis es Max beinahe schwindelig machte. Da war etwas Drängendes in der Art, in der Yuriy ihn ansah und berührte, beinahe so, als ob er versuchte, ihn mit aller Macht festzuhalten. Es war berauschend, von jemandem wie Yuriy so angesehen zu werden, wie er Max ansah. Es war berauschend, es war zu viel, es überlief ihn heißkalt, weil er sich plötzlich vorstellen konnte, nicht nur einen Sommer so zu verbringen, sondern viele. Zwischen Yuriys Küssen sah er es plötzlich genau vor sich: Wie das Grau sich ins Rot mischen und sein Blick dennoch der gleiche bleiben würde. Wie sie Hochzeiten feiern und über Wandfarben streiten würden, gemeinsam wohnen und sich vielleicht einen Hund zulegen würden. Vielleicht lag es am Alkohol. Aber er hatte das plötzliche, nicht aufhaltbare Bedürfnis, den Kuss zu lösen und Yuriy anzusehen, während ihm das Herz bis zum Hals schlug. Yuriy erwiderte seinen Blick mit deutlicher Überraschung und verharrte regungslos, die Hände weiterhin auf Max. Sie waren sich so nahe, dass Max sehen konnte, wie Yuriys Halsschlagader unter seiner Haut bebte. Englisch reichte nicht aus. Also sagte Max mit einer Heftigkeit, die ihn selbst überraschte: „Dai suki da yo.“ Er wusste, dass Yuriy durch seinen Umgang mit Kai und ihm selbst genug Japanischkenntnisse besaß, um augenblicklich zu verstehen. Er sah ihn reglos an, dann ließ er unvermittelt in einem Stoß den Atem entweichen und fragte: „Hast du eine Ahnung, wieso du bisher noch nicht in meiner Wohnung warst?“ Max blinzelte vollkommen überrumpelt. Dunkel beschlich ihn die Ahnung, dass er nicht nüchtern genug für eine Unterhaltung mit Yuriy war, denn diese Unterhaltungen lebten öfter rein davon, dass er zwischen den Zeilen lesen konnte, was Yuriy ihm eigentlich sagen wollte. „Äh … naja, ich bin davon ausgegangen, dass es sich schon irgendwann ergeben wird.“ Yuriy biss die Zähne aufeinander und sah fast wütend aus, als er Max losließ. Verwirrt setzte Max sich auf. Da war ein Knoten in seinem Hals, der ihm mitteilte, dass das eindeutig nicht die Reaktion war, die er sich erhofft hatte. Dann sah Yuriy ihn an und fragte sehr leise und klar: „Was machst du, wenn der Sommer vorbei ist, Max?“ Max öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Da war etwas Schweres, Ernstes in dem Blick, mit dem Yuriy ihn nun maß. Er steckte eine blonde Strähne hinter Max‘ Ohr, aber die Geste war ein wenig zu heftig, um sanft zu sein. „Sag‘ solche Dinge nicht zu mir, wenn du mir nicht versprechen kannst, zu bleiben“, sagte er. Max fühlte sich plötzlich sehr viel nüchterner, als er wollte. Er war wie vor den Kopf geschlagen, als Yuriy ihn losließ und von der Couch kletterte, um die Türe wieder aufzusperren. Dann kam er ebenfalls wieder auf die Beine. „Yuriy“, begann er und versuchte nach ihm zu greifen, aber Yuriy wich ihm so elegant aus, dass es sich beinahe nicht einmal wie eine Zurückweisung angefühlt hätte, wenn er nicht gleichzeitig sehr eindeutig den Kopf abgewandt hätte. „Lass uns die anderen suchen“, sagte er und glitt aus hinaus in das Basswummern und die flackernden Lichter der Party, während Max im Türrahmen stand und ihm nachstarrte, bis sein rotes Haar von der Menge verschluckt wurden. 8. Moskaus Hitze schraubte sich in die Höhe, bis sie beinahe unerträglich wurde, aber Max stellte sich ihr mit einer Entschiedenheit, die er vor einigen Monaten noch verloren geglaubt hatte. Die Situation zwischen ihm und Yuriy bereitete ihm Kopfschmerzen, nachdem sie mit jeder Woche, die verging, irgendwie schlimmer wurde. Während Max sich so weit öffnete, wie es nur irgendwie ging, begann Yuriy sich vollkommen zu verschließen und hinter einer Mauer aus Sarkasmus zu verschanzen. Max war nicht dämlich. Er nahm keine Sekunde an, dass Yuriy versuchte, ihn fortzustoßen, weil er nicht zumindest ähnlich empfand wie Max. Es war reiner Selbstschutz, und Max hatte zu viel Zeit mit Kai verbracht, um diese Muster nicht zu erkennen. Das machte es nicht unbedingt leichter, damit umzugehen. Aber es machte ihm auch bewusst, dass das Liebesgeständnis auf der Party eindeutig nicht nur vom Alkohol gekommen war, und es ließ ihn endlich recherchieren und planen. Gott, es war vollkommen vertrackt und es machte ihm mehr Angst, als er erwartet hatte. Es gab ein paar Optionen, die er im Auge hatte, aber es würde auch darauf ankommen, was Yuriy dazu sagte und was er wollte. Max ließ den Kopf auf die Tastatur seines Computers sinken und seufzte tief. Seine Mutter fand ihn in dieser Haltung und er gab noch einen Seufzer von sich, als er ihre Hand auf seiner Schulter spürte. „Pass auf mit deinen Seufzern, sonst pustest du uns noch das Dach vom Haus“, sagte sie schmunzelnd. Max seufzte daraufhin erneut, verkniff sich ein Lächeln und hob den Kopf. „Weißt du schon was wegen deiner Vertragsverlängerung?“ Judy nickte und setzte sich neben ihn. „Darüber wollte ich sowieso mit dir sprechen. Sie wurde mir angeboten, aber ich denke, ich werde nicht akzeptieren. Die Universität in Tokio hat mir ein Angebot mit besserem Gehalt gemacht und Charlotte könnte dann bei eurem Vater bleiben. Pendeln wäre angenehmer für uns alle.“ Sie musterte ihn. „Kommst du mit uns zurück?“ „Ich entscheide noch“, sagte Max und rieb sich über das Gesicht. „Es gäbe bessere Studiengänge für Green Building Development in Europa und den Staaten, aber …“ Er lächelte ein wenig. „Moskau hat so etwas, das einen nicht loslässt.“ „So nennt man das heutzutage also“, stellte Judy fest. „Mama!“ Sie hob die Schultern. „Max, ich verstehe das. Falls es dir aufgefallen ist, habe ich mich auch in einen Mann aus einem anderen Land verliebt. Es macht die Sache logistisch etwas vertrackter, aber es ist machbar, solange man an einem Strang zieht.“ Sie strich ihm über das Haar. „Ich sage dir nur, überlege alles gut und nimm dir Zeit dafür. Und stell deine eigenen Träume nie für die Liebe hinten an. Wenn das Fundament einer Beziehung passt, lässt sich beides vereinen. Wenn nicht, dann ist es immer besser, auf sich selbst zu schauen.“ „Das ist hart.“ „Das ist Erfahrung“, sagte Judy sachte und erhob sich wieder. „Du weißt, dass ich dich in jeder deiner Entscheidungen unterstütze, soweit ich kann.“ „Selbst wenn es eine ist, die du nicht getroffen hättest?“, entschlüpfte es Max. Seine Mutter sah ihn forschend an, dann nickte sie leicht. „Es ist dein Leben, Maxie. Du triffst deine eigenen Entscheidungen.“ Max folgte seinem Impuls und umarmte sie. Einen Moment lang war seine Mutter steif in seiner Umarmung, dann entspannte sie sich und legte die Arme um ihn. Sie verharrten eine Weile so, ehe sie sich wieder von ihm löste. „Sag‘ mir, wenn du etwas brauchst“, sagte sie. „Werde ich“, versprach Max und meinte es auch so. Als Max am Tag seines Geburtstags erwachte, hatte ein Gewitter die Hitze über Moskau zerrissen. Eine Weile blieb er liegen und lauschte mit geschlossenen Augen dem Regen, der gegen sein Fenster trommelte. Er dachte an Moskau, das von Wasser überströmt wurde, an all die Straßen, die er in den vergangenen Monaten durchstreift hatte. Was auch immer passierte, er hatte eine Spanne seines Lebens in dieser Stadt gelassen. Er hatte tausend Schritte in ihr hinterlassen, tausend Schritte und tausend Blicke, und vielleicht auch sein Herz. Egal, was passierte, welche Wege er auch als nächstes einschlagen mochte: Das war eine unumstößliche, unumkehrbare Wahrheit. Irgendwie tat es gut, daran zu denken. Während es regnete, zog er sich an und frühstückte mit seiner Mutter und Charlie. Die ersten Glückwünsche zu seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag trudelten ein und er telefonierte mit Kai, der sich in einer Zeitzone aufhielt, deren Zeitverschiebung tolerierbar war. Als er schließlich das Haus verließ, spürte er eine Art von Balance, die er lange nicht mehr gehabt hatte. Er steckte die Hände in die Taschen seiner Regenjacke und wanderte durch die nassen Straßen, die sich für ihn öffneten. Hier war Moskau mit seinen Millionen an Einwohnern. Hier war er, nur ein Herz und ein Geist, aber bereit, beides hier über Stein und Fundament zu gießen. Das Gebäude, in dem Yuriy wohnte, war immer noch nicht schöner geworden. Aber Max träumte nun mit offenen Augen davon, Häuser wie dieses grün zu machen und eine schönere, nachhaltigere Zukunft für diese Stadt zu formen, die sich schon so oft wieder aus der Asche erhoben hatte. Er drückte Yuriys Klingel und wartete. Als Yuriys Stimmte ein knappes „Schto?“ durch die Anlage schickte, sagte er nur: „Lass mich rein. Ich möchte mit dir reden.“ Einen Moment lang war es still. Dann erklang der Summer und Max war zur Tür hinein, rannte die Stiegen hinauf, vorbei an der Wohnung von Sergei und Mathilda, vorbei an der Wohnung von Boris und Ivan, bis hinauf unter das Dach. Er blieb erst stehen, als er ganz oben ankam, wo Yuriy bereits draußen vor der geschlossenen Wohnungstür stand, den Schlüssel in der Hand, und auf ihn wartete. „Alles Gute zum Geburtstag“, sagte er, ehe Max den Mund öffnen konnte. „Ich wollte dich nachher anrufen.“ „Ich will nicht, dass du mich anrufst“, sagte Max. Da war etwas Verletztes, Verwundetes in Yuriys Augen, bis Max hinzufügte: „Ich will, dass ich dir ins Gesicht sehen kann, wenn wir miteinander reden. Und es gibt einiges zu bereden.“ Yuriy atmete aus und musterte ihn mit wachsamem Blick. „Ja?“ Max nickte und bekräftigte: „Ja. Kannst du dich erinnern, als du mich gefragt hast, ob ich weiß, warum du mich nicht in deine Wohnung lässt?“ Yuriy nickte langsam. „Nun, ich weiß es.“ Er atmete tief ein. „Kannst du dich erinnern, als du mich gefragt hast, was ich nach dem Sommer tun will?“ „Natürlich“, sagte Yuriy leise. „Schau.“ Max suchte einen Moment lang nach den richtigen Worten, dann gab er auf und ließ sein Herz sprechen. „Ich will dich. Ich will mit dir zusammen sein. Ich weiß nicht, ob wir es schaffen können. Ich weiß nicht mal, ob ich dauerhaft hierbleiben will. Aber was ich weiß, ist: Ich will es nicht kampflos beenden. Ich will es versuchen, mit dir. Ich will darüber reden. Es geht nur, wenn wir gemeinsam überlegen. Willst du das auch?“ Was er nicht aussprach war: ‚Ist das genug?‘ Aber er war sich fast sicher, dass Yuriy verstand. Dieser sagte erst nichts. Aber sein Gesichtsausdruck wurde weich und er sah Max auf eine andere Art an als noch einen Moment zuvor - mit glänzenderen Augen, mit mehr Licht in ihnen. Er zögerte eine Sekunde lang, dann trat er vor, zog Max an sich und vergrub die Nase an seiner Halsbeuge, um tief durchzuatmen, während Max eng die Arme um ihn schlang. Sie verharrten eine lange Weile so, mitten im Flur, während der Sommerregen weiter ungehemmt gegen die Fensterscheiben des Gangs hämmerte. Erst dann ließ Yuriy ihn wieder los, nur um sich umzudrehen, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und die Tür weit aufzustoßen. „Komm rein“, sagte er. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)