Geschenkte Geschichten von Rosa-canina ================================================================================ Kapitel 1: Das Herz eines Waldes -------------------------------- Fern ab der Städte und Dörfer, weit hinter Wiesen und Weihern, gibt es einen Wald, der so dicht und undurchdringlich ist, dass nicht einmal die Sonnenstrahlen eines Sommertags ihn voll durchdringen und die Schatten in ihm vertreiben können. Moos wächst auf dem Waldboden, so dicht und weich, dass es jeden Schritt und jeden Laut am Boden dämpft. Pilze wachsen in großer Zahl auf umgestürzten Bäumen und neben großen Steinen. Trotz aller Stille am Boden hört man das beständige Rauschen der Bäume, singende Vögel und summende Insekten, das knarzen alter Bäume unter der Last ihrer Blätter. Kein Mensch traut sich in diesen Wald, der so groß und dicht ist, und dessen Geräusche es unmöglich machen, die Gefahren des Waldes zu erkennen. Und Gefahren sehen die Menschen überall in diesem Wald. Sie fürchten sie hinter jedem der dicken Baumstämme, inmitten der großen Steine und Felsen, unter knorrigen Wurzeln, womöglich sogar in jedem Pilz, der dort unschuldig wächst. Diese Furcht hält die Menschen fern, die sonst mit diesem Wald täten, was sie mit vielen anderen Wäldern schon getan haben. Sie trauen sich nicht, die Bäume zu fällen, Schneisen zu schlagen, das Wild zu bejagen. Ihnen graut vor dem, was sie im Dickicht des Waldes zu sehen meinen, und so siedeln sie nicht einmal in der Nähe des Waldes. In dieser Abgeschiedenheit hat ein Volk seinen letzten Zufluchtsort gefunden, das selbst die Grausamkeit der Menschen zu oft hatte erfahren müssen, denn die Menschen fürchten, was sie nicht kennen, und töten und vernichten, was sie fürchten, solange es ihnen schwächer erscheint. Jenes Volk, das sich in den Wald flüchtete, nennt sich Möck. In ihrer Sprache bedeutet dies „kleiner Mensch“, und sie sind den Menschen in ihrem Erscheinen sehr ähnlich, sie sind nur kleiner, ein erwachsener Möck wird höchstens so groß wie ein Menschenkind. Sie leben im Schutz des Waldes, in kleinen Hütten aus Holz und Stein, leben von Beeren, Wurzel und Pilzen, und nehmen nur, was sie zum Leben brauchen. Sie achten die Natur um sich herum, und mahnen ihre Kinder zu Respekt vor ihr. Die Menschen, welche Wälder roden, Flüsse vergiften, Berge aushöhlen, Tiere jagen, und alles bekämpfen und unterdrücken, was ihnen in ihrem Machtwahn im Wege steht, sind ihnen ein Graus, ja handeln sogar ihre unheimlichsten und mahnendsten Geschichten vom Hochmut dieser Art, und davon, dass sie deshalb eines Tages untergehen wird. Das Leben der Möck in der Abgeschiedenheit des Waldes jedoch ist friedlich, sie kennen den Wald und wissen, dass sie sich nicht fürchten müssen. Eines Tages spielte eine Gruppe Möck-Kinder auf einer Lichtung nahe ihres Dorfes. Sie rannten sich hinterher, nutzen die schrägen Steine am Rand der Lichtung als Rutschen, kullerten durch das weiche Moos, oder legten sich einfach in die Sonne, die durch das Blätterdach schien. Doch auch all das kann langweilig werden, und so machte ein Mädchen einen Vorschlag. „Hört zu, ich habe eine Idee!“, rief sie, „Einen von uns wählen wir aus, der bleibt hier auf der Lichtung und muss mit geschlossenen Augen laut bis zwanzig zählen, während die anderen sich verstecken. Wenn er bis zwanzig gezählt hat, darf er los gehen um zu suchen. Wer sich versteckt hat, darf jedoch sein Versteck ändern, so wird es schwieriger alle zu finden, und das Spiel dauert länger. Wer zu erst gefunden wird, muss als nächstes zählen.“ Die anderen Kinder waren begeistert, und das Mädchen, welches die Idee gehabt hatte, Fina war ihr Name, kniete sich auf der Lichtung nieder, hob die Hände vor die geschlossenen Augen, und begann laut zu zählen. „Eins“, zählte sie, „Zwei. Drei.“ Die Kinder sprangen leise los, und das Moos verschluckte jeden Laut ihrer kleinen Füße. Als Fina bei zwanzig geendet hatte, öffnete sie die Augen und blinzelte in das Licht. Um sie herum waren nur die allgegenwärtigen Vögel und Insekten zu hören, das Rauschen der Bäume. Sie lief los, blickte unter Wurzeln, zwischen Steine, in kleine Senken, und so fand sie schließlich das erste Kind, den Jungen namens Makk. Makk lief zurück zur Lichtung, wo er auf die anderen Kinder warten würde, und Fina setzte ihre Suche fort. Nicht lange, und sie fand die nächsten Kinder, die Zwillinge Loran und Ranka, die immer alles zu zweit taten, und sich so auch gemeinsam unter einer dicken Wurzel versteckt hatten. So hatte sie schon drei Kinder gefunden, und auch die weiteren drei fand sie bald. Als sie alle wieder auf der Lichtung versammelt waren, schloss Makk die Augen und begann zu zählen. Wieder sprangen die anderen Kinder los und versteckten sich, und nachdem er zu Ende gezählt hatte, begann Makk seine Suche. Doch schien er nicht das Glück zu haben, welches Fina hold gewesen war. Wohin auch immer er blickte, wo immer er suchte, er fand niemanden. Manches Mal meinte er, ein Rascheln, Tapsen oder Kichern hinter sich zu hören, doch wenn er sich umdrehte oder dem Laut nachlief, dann war dort niemand. Immer und immer wieder sprang Makk los, einem vermeintlichen Laut hinterher, einem Schatten folgend, oder auf ein scheinbar gutes Versteck zu, doch die anderen Kinder blieben gut versteckt. Erschöpft lehnte er sich gegen einen Baum, und als er den Blick hob stellte er fest, dass er in diesem Teil des Waldes noch nie gewesen war. Wohin er auch schaute, nichts kam ihm bekannt vor. Auch nicht die Gerüche, die ihm in die Nase zogen. Dort, wo er lebte, roch der Wald nach Moos und feuchter Erde, nach Pilzen und manchmal nach Blumen, doch der Geruch hier war weit würziger als das. Und als er so an zu Hause dachte, wurde sein Herz schwer und er lief los, in die Richtung, aus der er meinte gekommen zu sein. Doch je weiter er lief, desto dichter wurde der Wald, desto schattiger wurde es, und er meinte, die Nacht würde über ihm hereinbrechen. Er fürchtete sich nicht vor dem Wald, wusste er doch, dass er hier gut behütet war, dennoch behagte im der Gedanke nicht, die Nacht hier allein verbringen zu müssen. Und so lief er, und wollte die Namen seiner Freunde rufen, doch ihm war, als würde der Wald mehr schlucken, als nur das Geräusch seiner Schritte, als nähme das Dickicht seinem Ruf die Kraft. Um ihn herum wurde der Wald immer dichter, immer dunkler, immer kühler, doch er blieb nicht stehen, er konnte nicht. Seine Füße folgten nicht mehr seinem Befehl, er stolperte blindlings weiter, bis er auf ein Mal ins Leere trat, und bevor er merkte wie ihm geschah, rollte er schon einen Abhang hinunter. Als Gewirr aus Armen und Beinen kullerte er weit, weit hinab, doch das allgegenwärtige Moos dämpfte den Aufschlag und schützte ihn. Als er schließlich liegen blieb war ihm dennoch so, als könne er sich nicht mehr rühren. In seinem Kopf drehte sich alles, und so hielt er die Augen geschlossen und hoffte, das Gefühl möge bald vergehen. Und wie er da so lag bemerkte er, wie es um ihn herum immer heller wurde. Kurz dachte er daran, dass es womöglich Nacht gewesen war und nun Tag wurde, doch es wurde so schnell so viel heller, dass er den Gedanken schnell verwarf. Vorsichtig blinzelte er, um darauf eine gleißend helle Kugel über sich schweben zu sehen, und die Augen, geblendet von all der Helligkeit, schnell wieder zu schließen. „Wer bist du,“ hörte er eine Stimme sagen, „der du es wagst, diesen Teil des Waldes unerlaubt zu betreten?“ Er rappelte sich auf und stöhnte. Noch immer drehte sich alles, und als er die Augen erneut vorsichtig öffnete, sah er wieder die helle Kugel vor sich schweben. Er hob die Hand, um sich gegen das grelle Licht zu schützen, und wusste nicht, was er sagen sollte. „Ich frage dich nicht gerne zwei Mal.“, klang da wieder die Stimme. „Wer bist du, und was wünschst du hier?“ „Ich...“, begann er zaghaft, „Ich heiße Makk, und alles, was ich will, ist wieder nach Hause zu finden.“ Die Kugel vor ihm schwebte etwas höher, sank wieder ab, kam auf ihn zu, und wieder ertönte die Stimme. „Seit langer Zeit hat sich kein Mensch mehr in diesen Wald gewagt, ich habe sie das Fürchten vor ihm gelehrt, und so blieben sie fern. Und doch bist du hier, ein Eindringling in diesem Hain, der nur seinen eigenen Frieden zu wahren sucht.“ „Ich bin kein Mensch!“, widersprach Makk entschieden, „Ich bin ein Möck, und wir leben in diesem Wald. Unsere Ahnen sind selbst vor den Menschen geflohen, nie haben wir dem Wald geschadet, und nie schadete der Wald uns! Ich bitte dich, lass mich gehen, ich möchte zurück zu meinen Freunden, zu meinen Eltern!“ Das Licht schwebte auf und ab, und die Stimme schwieg. Makk besah sich das Tal, in dem er gelandet war. Rund um ihn, auf der dicken Moosdecke, wuchsen Blumen in den herrlichsten Farben, die einen waren groß und rot, andere klein und blau, wieder andere waren ganze Büschel gelber Blüten, kleine, sternförmige Blüten wuchsen dicht am Boden, andere Blumen rankten weit über die ganze Senke. Und in der Mitte der Senke befand sich eine Quelle, deren Wasser tief und blau und ruhig dalag. Nun fiel ihm auch auf, dass er nicht mehr die üblichen Geräusche des Waldes hörte, sondern leise, helle Töne, die er nicht zuordnen konnte. Er war wie Gesang, doch ohne eine Stimme, und er konnte auch nicht erkennen, von woher diese Musik kam. Wieder erklang die Stimme, und zum ersten Mal seit er hier in der Senke saß, fragte sich Makk, wer da zu ihm sprach. War es das Licht selbst? „Ein Möck also. Es ist lange her, dass ich euch Schutz gewährte, und beinah, so scheint es, habe ich euch vergessen. Es stimmt, was du sagst, ihr schadet dem Wald nicht, deshalb schützt der Wald die Euren. Doch auch ihr haltet euch von der Mitte des Waldes, dem Zentrum seiner Macht fern, ihr respektiert, dass ihr hier nicht sein sollt. Dieser Ort ist allein mir bestimmt, ich bin die Kraft, die den Wald gedeihen lässt, ich bin sein Hüter. Dass du dich hier her wagtest, stellt mich vor ein Problem. Niemand darf von mir erfahren, denn wenn meine Macht versiegt, erstirbt der Zauber, der den Wald vor den Menschen schützt, und sie werden beginnen, in ihn vorzudringen, ihn abzuholzen, jedes Lebewesen dieses Waldes bejagen, bis auch dieser Wald nicht mehr ist. Ich kann dich nicht gehen lassen, es ist zu gefährlich für mich und den Wald.“ Angst machte sich in Makks Herz breit, er fürchtete, all die, die er liebte, nie wieder zu sehen, und für immer hier gefangen zu sein. Was würden seine Eltern tun? Sie suchten bestimmt bereits nach ihm, und sie würden fürchterlich trauern, wenn sie ihn nicht fanden. Eine Träne rollte über seine Wange. „Sie suchen mich bestimmt schon.“, sagte es leise. Dann fiel ihm etwas auf. „Wenn sie mich nicht finden, werden sie immer tiefer in den Wald gehen um mich zu suchen. Und irgendwann werden sie hier ankommen, mich finden, und denken, du hättest Schuld an meinem Verschwinden. Und sie werden nicht einfach wieder gehen, sondern das tun, was du fürchtest: sie werden dich angreifen, werden versuchen, dich zu zerstören. Ich bitte dich, zu deinen eigenen Schutz, lass mich gehen, und ich verspreche dir, nie ein Wort über das zu verlieren, was ich hier gesehen habe!“ Ihm war, als würde das Licht flackern, als wäre es eine Kerzenflamme, die von einem Windhauch erfasst wurde. Es begann, wieder auf und ab zu tanzen, hin und her, mal näher kommen, dann wieder Abstand halten. Als würde es nachdenken, und dabei auf und ab spazieren. Schließlich sprach die Stimme wieder: „Ich sehe, du hast nicht unrecht, doch ich weiß nicht, ob ich deinem Versprechen Glauben schenken möchte. Ich werde dich und deine Absichten testen müssen, also höre gut zu. Von allen Blumen dieser Lichtung hat eine die Macht, dich nach Hause zu führen. Pflückst du sie und trägst sie auf deinem Weg bei dir, wird sie deinen Wunsch erkennen und zu leuchten beginnen. Dieses Leuchten wird stärker, wenn du dich deinem Ziel näherst. Finde diese Blume und pflücke sie, doch nur diese eine, denn alle anderen werden dich töten. Sind deine Absichten und dein Herz rein, so wirst du die Richtige erkennen. Hast du mich belogen, ist dein Tod nur gerecht. Und wenn du sie brichst, so sprich der Pflanze deinen Dank aus, da sie sich für dein Ziel opfert und du ihr damit Respekt schuldig bist.“ Makk sah sich um. Es schienen unendlich viele Blumen zu sein, und er hatte keinen Hinweis auf die Eine. All diese Blumen könnten die Richtige, aber auch sein Tod sein. Er stand auf und ging ein paar Schritte, um womöglich Blumen zu entdecken, die ihm bisher verborgen waren, doch keine schien besonders. Das Licht hatte davon gesprochen, dass die Blume leuchten würde um ihm den Weg zu zeigen, doch keine Pflanze schien heller als die anderen, und entmutigt ließ Makk sich wieder zu Boden sinken. Er musste wieder an zu Hause denken, an seine Freunde, mit denen er so gerne spielte, an die Eichhörnchen, die sie gerne beobachteten, an die Lichtung, auf der sie so gerne im Moos gelegen und ins Blätterdach geschaut hatten, an seine Mama, die ihm zum Einschlafen Lieder vorsang, an seinen Papa, der ihm beibrachte, wie man ein Feuer machte oder eine Mauer baute, an seine Oma, die leckeren Brei aus Beeren kochte. Und je länger er das dachte, desto mehr Tränen kamen ihm, liefen über seine Wangen und fielen auf den Boden, und plötzlich, durch den Tränenschleier, bemerkte er, dass eine Blume hell strahlte. Sie wuchs fast direkt neben ihm, er musste nur die Hand ausstrecken um sie zu berühren, und als seine Finger ihre Blätter streiften, fiel alle Traurigkeit von seinem Herzen ab. Da wusste er, dass es die richtige war, und er lachte auf, brach den Stiel der Blume vorsichtig ab und wisperte: „Oh vielen lieben Dank!“ „Sehr gut gemacht.“, lobte ihn da das Licht. „Und jetzt geh, doch vergiss dein Versprechen nicht, und achte in Zukunft auf deine Schritte, denn du weist nun, dass sie dich auch irreleiten können.“ Makk sprang auf, lachte, verneigte sich tief vor dem Licht, und versprach, nicht mehr unaufmerksam durch den Wald zu laufen. Dann drehte er sich um, und kletterte den Hand hinauf, die Blume fest in der Hand. Als er oben am Rand des Abhangs angekommen war, drehte er sich noch ein Mal um, doch das Licht, die Quelle und die Blumen waren verschwunden, in der Senke war nichts als Moos und Steine. Verdutzt rieb er sich die Augen, doch das Bild änderte sich nicht, und er glaubte fast, er habe geträumt. Doch dann merkte er, dass er die Blume noch immer in der Hand hielt, und dass aus ihr ein schwaches Licht schien. Er besah sie sich genauer; sie war glockenförmig, hatte weiße Blütenblätter, die so fein waren, dass sie fast durchsichtig wirkten, und in ihr leuchtete ihr Blütenpollen in einem schwachen, silbrigen Licht. Diese Blume war der Beweis, dass er sich das Licht und seine Mahnungen nicht erträumt hatte, und dass er sich schleunigst auf den Weg nach Hause machen musste. Doch wie würde die Blume ihn leiten? Das Licht hatte davon gesprochen, dass die Blüte stärker leuchten würde, je näher er dem Ziel kam, das er im Herzen trug. Und so dachte er an sein Dorf, und machte einen zögerlichen ersten Schritt. Das Leuchten der Blume veränderte sich nicht, und er tat einen weiteren, und bemerkte, wie das Leuchten schwächer wurde. War er also auf dem falschen Weg? Er machte einen Schritt zurück, und dann einen neuen Schritt in eine andere Richtung, und das Leuchten wurde wieder stärker. So würde die Blume ihn also leiten, sie würde dunkler wenn er falsch lag, und heller, wenn er sich auf dem rechten Weg befand. Mit neuem Mut lief er nun durch den Wald, gelenkt vom Licht der Glockenblume in seiner Hand, und er war so auf diese fixiert, dass er den Wald um sich kaum wahrnahm. Doch vielleicht war das gerade gut so, denn so könnte er, auch wenn er wollte, nicht wieder zur Senke des Hüters zurückkehren, und auch niemanden dort hin leiten. Der Hüter wäre also sicher. Nach einer Weile kam ihm der Wald wieder bekannt vor, und er traute sich seinen Weg fortzusetzen, ohne ständig auf die Blume zu schauen. Als er wusste, dass sein Dorf nicht mehr weit war, steckte er sie unter sein Hemd, damit niemand sie sehen, und ihn fragen konnte, wo er sie denn gefunden habe. Er lief in sein Dorf und zum Haus seiner Eltern, und als er die Tür öffnete, lief seine Mutter auf ihn zu und zog ihn in ihre Arme, und hielt ihn fest, und weinte, denn sie hatte sie riesige Sorgen um ihren Jungen gemacht. Auch die Großmutter weinte, und dann sagte sie: „Zur Feier deiner Rückkehr will ich dir einen leckeren Brei kochen. Du wirst doch bestimmt hungrig sein.“ Und wie hungrig er war! Nur der Vater schaute ihn tadelnd an, doch er hörte auch die Sorge der letzten Stunden und seine Erleichterung als er sagte: „Lauf nie wieder einfach in den Wald, hast du verstanden? Er schützt uns, doch auch wir kennen nicht jeden Winkel, und wenn einer von uns verloren geht kann es sein, dass er nicht mehr gefunden wird!“ Dann zog auch sein Papa ihn in die Arme und streichelte ihm über den Kopf, und er merkte, wie glücklich er war, wieder zu Hause zu sein. Am Abend, als er zu Bett ging, wollte er sich die Blume noch ein Mal ansehen, doch sie war verschwunden. Vielleicht war sie aus seinem Hemd gefallen, am nächsten Morgen würde er sehen, ob er sie im Haus oder im Dorf wieder finden konnte. Doch als er einschlief, erinnerte er sich schon nicht mehr, woher er die Blume überhaupt hatte. Kapitel 2: Die Lektion des Verlierens ------------------------------------- Es war einer dieser perfekten, faulen Tage, von dem man sich wünschte, er würde nicht enden, und jeder Tag könnte so sein. Der Himmel war strahlend blau und wolkenlos, es duftete nach Blumen, die Sonne wärmend und hell. Bienen und Käfer summten im hohen Gras und zwischen Feldblumen, und nur ganz weit entfernt war das tuckern eines Traktoren zu hören, sonst wirkte die Landschaft, als gäbe es keine Menschen. Keine Menschen, abgesehen von Elsbeth und Liselotte, die es sich am Rande eines Feldes, direkt neben einem klaren Bächlein, gemütlich gemacht hatten. Dort lagen sie nebeneinander, ließen sich die Sonne auf die Gesichter scheinen, und taten sonst nichts, bis der laue Wind von weit her das Läuten von Kirchturmglocken zu ihnen trug. „Ganze Stunde.“, stellte Elsbeth nach den ersten vier Schlägen fest. „Eins… Zwei… Drei… Drei Uhr. Wir sollten zurück. Sonst kommen wir noch zu spät zum Kaffee.“ Liselotte seufzte. „In Ordnung. Aber lass uns den weiten Weg nehmen. Am Wäldchen vorbei.“ Sie rappelten sich auf, klopften sich das Gras und den Staub von den Kleidern, sprangen über das Bächlein und gingen los. Einträchtig nebeneinander, wie beste Freundinnen das eben so tun. Dabei unterhielten sie sich, kicherten, beobachteten ein Mal, wie ein Reh mit seinem Kitz durch das Gras davon sprang. Nach nur kurzem Weg erreichten sie das besagte Wäldchen. Als sie durch die Zweig spähte, stutzte Liselotte: „Else, sag mal, hast du gewusst, das hier ein Haus steht?“ Die Freundin schaute sie verwundert an. „Nein. Wo denn? Zeig‘s mir!“ Liselotte deutete in den Wald. „Da, ganz da hinten. Man sieht es kaum, so zugewachsen ist es!“ Sie blickte wieder zu ihrer Freundin, deren Augen strahlten. „Komm Lotte!“ rief sie, „Das schauen wir uns an.“ Und schon war sie losgestürmt. Lotte blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, doch ganz geheuer war ihr dabei nicht. „Komm zurück! Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist… wir verspäten uns doch nur, und dann gibt es einen Riesenärger!“ Doch Else machte erst Halt, als sie schon kurz vor dem Haus stand. Als Haus mochte man es kaum mehr bezeichnen, es war eher eine Ruine, gänzlich in Wilden Wein und Efeu eingewachsen. Aus der Nähe war die Sache für Liselotte nur noch ungeheuerlicher, etwas an dem Haus machte ihr Angst, und der Blick, mit dem Elsbeth die Ruine betrachtete, gefiel ihr ebenso wenig. „Bitte!“, beschwor sie ihre Freundin, und zog am Ärmel ihrer Bluse. „Wir müssen heim! Wir können ja ein andermal wiederkommen.“ Doch nur widerstrebend lies Else sich mitziehen. Mit jedem Schritt, den sie von dem unheimlichen Haus weg kamen, verging das mulmige Gefühl in Lotte mehr, und als sie den Wald endlich verlassen hatten, atmete sie tief durch. Sie griff sich aus Erleichterung an die Brust doch… „Meine Kette!“ Ihre Hand fand die Kette nicht, die sie noch am Mittag getragen hatte. Else drehte sich zu ihr. „Du wirst sie doch nicht verloren haben? Komm, wir müssen den Weg zurück und schauen, ob wir sie wiederfinden!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und sprang den Weg zurück, den sie gekommen waren. Doch nirgends lag die Kette. Nicht auf der Stelle, an der sie am Bach gelegen hatten, wo sich die Abdrücke ihrer Körper noch im Gras abzeichneten, nicht auf dem Weg zum Wald, nicht auf dem Waldboden, und nicht auf der Strecke die sie gelaufen waren, nachdem sie den Wald wieder verlassen hatten. So genau sie auch suchten, die Kette blieb verschwunden. Entmutigt lies Lotte sich ins Gras sinken, aber Else war ruhelos. „Sie muss doch irgendwo sein. Ja! Vielleicht wohnt bei dem Haus ja doch jemand! Vielleicht gibt es ein Nebengebäude, und wer immer da wohnt hat uns gehört, nachgeschaut wer da ist, und dabei die Kette gefunden! Wir müssen da nochmal hin!“ Doch Lotte wollte ganz und gar nicht nochmal in die Nähe des Hauses. Bei der Sache war ihr nicht wohl, ein Nebengebäude hatte sie nicht gesehen, und wer sollte freiwillig so abgeschieden leben? Sie war elf, viel zu alt um an Geister zu glauben, doch das Haus und wer oder was auch immer dort sein könnte, machte ihr Angst. Else packte sie am Arm, zog sie hoch und auf den Wald zu, und immer näher an das Haus, zu dem Liselotte unter keinen Umständen gehen wollte. Elsbeth hielt auch nicht an, als sie schon am Haus angekommen waren, sie zog Lotte weiter hinter sich her, um das Haus herum, und suchte nach dem Gebäude, das sie dort vermutete. Dieses Gebäude gab es nicht. Statt dessen erkannten sie, dass ein ganzer Flügel des Hauses noch intakt war, die Tür und einige Fenster frei von Bewuchs, und manches an diesem Haus durchaus den Eindruck machte, als könnte dort jemand leben. Doch das ungute Gefühl blieb, denn, so dachte Lotte, wer immer so weit weg von allem lebte, wollte mit Sicherheit die Gesellschaft anderer nicht, und was sollte so jemand mit ihrer Kette tun? Warum sollte er sie aufgehoben und mit genommen haben? Sie war elf, zu alt um zuzugeben, dass sie an Geister glaubte. Und Else ging auf die Tür zu, deren Messinggriff sauber glänzte, und nahm den Griff, und drückte die Tür auf, die so leicht aufschwang, als wäre sie frisch geölt. „Komm schon, du Hasenfuß!“, wisperte sie, und zog Lotte weiter mit sich, hinein in das Haus, das zugewachsen mit Wildem Wein und Efeu fern ab des Dorfes stand, von dem sie bis vor kurzem nichts gewusst hatten, und dessen Bewohner sicher nicht von dieser Art Besuch begeistert war. „Hallo!“, rief Else in die Stille des Hauses, und ihre Stimme hallte von den Wänden und hohen Decken wieder. „Entschuldigen Sie, können Sie uns vielleicht helfen?“ Doch es blieb still, niemand antwortete, niemand kam, nirgendwo schien sich etwas zu rühren. Vorsichtig begann Lotte sie umzuschauen. Bis auf einen Teppich auf dem Fliesenboden und einen beschlagenen Spiegel an der Wand schien der Flur leer zu sein. Eine einfache Lampe hing an einer mit Stuck verzierten Decke, wer immer dieses Haus hatte bauen lassen, war sicher wohlhabend gewesen, aber schon lange fort. Spinnweben hingen in den Ecken, Staub und Blätter bedeckten den Boden, doch mitten durch den Flur war ein schmaler Streifen sauber. „Irgendjemand war hier.“, meinte Lotte und wies auf die Spur Sauberkeit. Else nickte, „aber er ist wohl jetzt nicht mehr hier.“ Sie ging vorsichtig weiter und Lotte folgt, wenn auch mit einem noch immer unguten Gefühl. Geister hinterlassen keine Spuren im Staub. Der Flur zog sich, von außen hatte das Haus kleiner gewirkt. Links und rechts des Flurs gingen Türen ab, und vorsichtig schob Else eine davon auf. Ein großer Raum erwartete sie dahinter, mit einem großen Tisch in der Mitte, Stühlen, die darum standen, einem Kamin an der Seite, doch alles verdeckt von einer dicken Schicht Staub und Spinnweben. Hinter einer anderen Tür befand sich etwas, das wohl einmal eine Küche gewesen war, doch auch hier gab es keine Anzeichen auf Benutzung. Konnte wirklich jemand in einem Haus leben, ohne die Küche zu benutzen? Andere Räume waren gänzlich leer. Und so blieben den beiden Freundinnen zwei Wege; nach draußen, oder die Treppe am Ende des Flurs nach oben. Lotte war sich nicht sicher, welche Furcht überwog, die vor dem, was sie oben erwarten würde, oder die Furcht vor dem Ärger mit ihrer Mutter, den sie sicher bekämen wenn sie so spät und ohne die Kette nach Hause kommen würden. Elsbeth hingegen schien entschlossen, die ging auf die Treppe zu, die sich breit und ausgetreten in die Höhe wand, und rief: „Entschuldigen Sie, aber wir suchen etwas. Vielleicht haben Sie es ja gefunden. Wir kommen jetzt hoch!“, und damit trat sie auf die unterste Treppenstufe, drehte sich zu Lotte um sie zu sich zu winken, und gemeinsam stiegen sie die knarzenden Stufen nach oben. Liselottes Herz raste. Wer immer oben war, hörte sie jetzt sicher, und war bestimmt nicht erfreut über die ungeladenen Gäste, die durch das Haus liefen, in jeden Raum blickten, und nun auch in private Räume vorzudringen drohte. Ihre Mutter hatte ihr immer eingebläut, dass sie als Gast in fremden Häusern niemals unerlaubt einen Raum betreten, oder gar ins Obergeschoss gehen durfte. „Dort haben die Menschen ihre Schlafzimmer und privaten Räume. Niemand sollte einfach in einen solchen Raum spazieren, das gehört sich nicht!“ Sie waren als drauf und dran, gegen heilige Regeln zu verstoßen, und das alles wegen einer dummen Kette, genau genommen wegen ihrer eigenen Dummheit, diese Kette zu verlieren. Also hielt sie sich dicht hinter Else und hoffte, dass wer immer hier lebte entweder nicht zu Hause war, oder ihnen ihr Eindringen nicht übel nehmen würde. Als sie am oberen Ende der Treppe angelangt waren änderte sich der Eindruck des Hauses schlagartig. Hatte es unten noch leer, verlassen und staubig gewirkt, so war es hier oben über alle Maßen voll, belebt, und irgendwie sauberer. Links und rechts des Flurs stapelten sich die Dinge, Kisten, Kästen, Schatullen, Schachteln, Dosen, Büchsen, in Regalen, auf Kommoden, auf dem Boden. Schränke standen dort, deren Türen sich nicht schließen ließen und aus denen Stoffe und Kleider hervorquollen. Auf dem Boden lag nicht ein Teppich, sondern gleich mehrere übereinander, An den Wänden hingen Haken, behangen mit Schmuckstücken, Besteck, Kochgeschirr, Schirmen, Mänteln, dazwischen hingen Bilder, Köpfe ausgestopfter Tiere, standen wieder Schränke. Hohe Regale ächzten unter der Last vieler, zu vieler, Bücher, weiterer Kisten und Kästchen, es lagen stapelweise Bücher auf dem Boden, standen Vasen und Gläser überall. Durch dicke Vorhänge vor den Fenstern fielen schmale Lichtstreifen in denen glitzernd der Staub tanzte doch auf den Gegenständen, die den Flur verstopften lag nicht ein kleines Körnchen. Staunend blickten die Mädchen sich um. Wer immer all dies angehäuft hatte… wenn er auch Liselottes Kette an sich genommen hätte würde dies die beiden nicht wundern, jedoch würde es auch schwer werden, sie unter all diesen Dingen wieder zu finden. Diesmal war es Lotte: „Ha- Hallo? Ist da wer? Ich heiße Liselotte, und das ist meine Freundin Elsbeth. Wir sind hier her gekommen, weil ich wohl im Wald meine Kette verloren habe, sie aber dort nicht wieder finden konnte. Haben Sie sie vielleicht gefunden?“ Es folgte wieder Stille, doch von hinter einer Tür, die zwischen einem Regal und einer Kommode kaum zu sehen gewesen war, hörten sie ein leises Klappern. Sie blickten sich an, Else griff nach Lottes Hand, und gemeinsam gingen sie, mit einem flauen Gefühl, auf die Tür zu. Lotte klopfte zaghaft. Einmal. Noch einmal. Es ertönte wieder ein leises Klappern. Else drückte die Türklinke. Der Raum den sie vor sich sahen, war genau so voll wie der Flur in dem sie standen. Ein Bettchen voller Puppen stand dort, ein Sofa voller Kissen und Decken, viele Teppiche und Dinge auf dem Boden und Dinge an den Wänden, und zu viele Gardinen vor den Fenstern. Alles war bunt und wollte überhaupt nicht zusammen passen, und inmitten dieses Chaos stand ein Schaukelstuhl, auf dem ein altes Weiblein hin und her wippte. Dabei stieß die Lehne immer wieder an ein Mobile, welches dann klapperte. Die Alte hatte die Augen geschlossen, doch etwas sagte Lotte, dass sie wach war, und die ganze Zeit gewusst hatte, wer da durch ihr Haus schlich. „Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung, aber wir dachten...“, begann Else, doch die Alte fiel ihr ins Wort. „Ich weiß, was ihr dachtet. Ihr dachtet, ihr könntet in mein Haus kommen, die Kette wieder finden und an euch nehmen, und damit eure Unachtsamkeit wieder ausgleichen. Nun ihr beiden; ganz so funktioniert das mit dem Verlieren nicht.“ Ihre Stimme war leise und krächzend, und obwohl auch eine gewissen Wärme darin lag, jagten die Worte Lotte Schauer über den Rücken. Sie und Else blickten sich an. „Wie meinen Sie das?“, ergriff Lotte das Wort. „Nun.“, die Alte öffnete die kleinen Äuglein, und Liselotte sah, dass ihre Iris einen ungewöhnlich schillernden Ton besaß. Etwas an dem Weiblein war seltsam. „Zum Verlieren gehört auch immer eine Lektion. Die Leute haben begonnen Dinge zu besitzen, nur um vor anderen gut da zu stehen. Dinge, an denen nicht ihr Herz hängt, nur ihre Prestige. Und sie kaufen nur des Kaufens wegen, wollen mit aller Gewalt ihr Geld los werden, wie es scheint. Sie besitzen zu viel, und so vieles, das sie sich angeeignet haben, gerät ihnen wieder in Vergessenheit, denn sie nehmen ihren Besitz nicht wahr. Sie kaufen etwas und verstauen es, und vergessen, dass sie es je besessen haben, und dann kaufen sie das gleiche Ding nochmal. Und was sie gestern noch mit Stolz ihren Freunden und denen, die sie für ihre Freunde halte, vorgeführt haben, ist heute schon nicht mehr interessant und es wird verstaut und vergessen. Es wird zum Staubfänger in ihren Regalen, und zur Platzverschwendung in ihren Schränken, und so kaufen sie mehr Schränke für mehr Dinge und brauchen mehr Platz für mehr Schränke. Und sie glauben, sie bräuchten immer mehr und mehr, und wissen nicht, was sie schon haben. Und mit dem Wissen um die Dinge geht ihnen auch der Wert der Dinge verloren, und sie profilieren sich mit Besitz und vergessen darüber, dass es wichtigeres als das gibt. Sie nehmen ihre Umwelt und ihre Mitmenschen nicht mehr wahr, in ihrem Wahn nach Mehr. Und deshalb braucht es die Lektion des Verlierens.“, sie erhob sich langsam aus ihrem Schaukelstuhl, Else und Lotte erkannten, wie klein sie doch war, kleiner als die beiden Mädchen. Um ihre Schultern lag ein buntes Tuch, das wirkte, als hätte sie es aus hunderten kleiner Flicken zusammengenäht, und ihr Gesicht und ihre Hände waren runzliger als die der ältesten Großmutter, die Lotte kannte. Mit leise tappenden Schritte bewegte sie sich über die dicken Teppiche auf die Mädchen zu, dabei hing ihr Rock über ihren Füßen und berührte den Boden, schleifte ein wenig hinter ihr her. Sie blieb vor den Freundinnen stehen und blickte sie an. „Warum wollt ihr die Kette wieder haben?“ „Weil sie mir gehört!“, rief Lotte aus, lauter, als sie beabsichtigt hatte. „Ich meine: meine Mutter hat sie mir zum Geburtstag geschenkt, und sie wird sicher sehr böse sein, wenn ich sie nicht mehr habe. Sie hat immer wieder gesagt, wie wertvoll diese Kette sei, und dass ich gut darauf aufpassen muss. Und jetzt ist sie mir vom Hals gefallen, und Mutter wird außer sich sein, wenn sie das erfährt.“ Sie blickte beschämt zu Boden. Weder hatte sie die Alte anschreien wollen, noch hatte sie sich bis zu diesem Moment wirkliche Gedanken darum gemacht, was das Verschwinden der Kette bedeuten würde. „Und du möchtest deine Mutter auf keinen Fall enttäuschen.“, schloss die Alte daraus. Lotte nickte. „Verzeihung, aber, was meinten Sie mit der Lektion des Verlierens?“, fragte Else vorsichtig. „Die Lektion des Verlierens ist es, mein Kind, dass man sich bewusst wird, was wirklich wichtig ist. All diese Dinge hier wurden Verloren, doch niemand hat sie je vermisst. Verlierst du etwas das du nur besitzt um vor anderen gut dazustehen, wirst du selbst den Verlust nicht einmal bemerken, es sind die anderen, denen er auffällt. Und es wird Menschen geben, die sich dann von dir abwenden, denn ohne dieses Ding bist du für sie nicht von Interesse. Also hast du kein Ding verloren, das ohnehin ohne Wert war, sondern Menschen, die falsch zu dir waren. Und du wirst lernen, dich vor solchen Menschen zu schützen. Verlierst du jedoch etwas und vermisst es sehr, suchst es, weißt du, woran dein Herz hängt. Und so wirst du merken, welche Dinge in deinem Besitz für dich von wahrem Wert sind, oder aber, was das Ding für dich besonders macht. So wie die Kette deiner Freundin. Es ist nicht die Kette, um die sie Angst hat, es ist die Liebe ihrer Mutter, die sie fürchtet zu verlieren.“, sie blickte zwischen Lotte und Else hin und her, schließlich blieb der Blick ihrer schillernden Augen auf Lotte hängen. „Wie alt bist du, Kind?“ Die Frage verwunderte Lotte. „Ich bin elf.“ Was hatte ihr Alter mit der Kette zu tun? „Elf. Wie unvernünftig von deiner Mutter.“ Sie schüttelte den Kopf. „Lasst mich vorbei.“ Als sie zwischen den beiden hindurch auf den Flur trat, sah Lotte etwas, das sie nicht so recht glauben wollte. Das Schultertuch der Alten verrutschte, und gab kurz den Blick auf die Spitze eines Flügels frei, fein und durchscheinend wie der einer Libelle. Sie blickte zur Seite, suchte Elses Blick um herauszufinden, ob sie es auch gesehen hatte, doch nichts deutete darauf hin. Spielten ihre Augen ihr einen Streich? Da kam auch schon die Alte zurück, in der Hand die Kette, die sie Liselotte hinhielt. „Ich will so nicht sein, du fürchtest den Zorn deiner Mutter zu recht, das spüre ich. Doch gib in Zukunft auf deinen Besitz mehr acht, und schätze den Wert der Dinge, die du hast.“ Dankbar schloss Lotte die Finger um die Kette, doch als sie den Mund aufmachte um etwas zu sagen, winkte die Alte ab. Damit ging diese zurück in ihr Zimmerlein, setzte sich wieder in den Schaukelstuhl und schloss die Augen. Lotte und Else sahen zu, dass sie nach Hause kamen. Kapitel 3: Die Bienenprinzessin ------------------------------- Die Bienenprinzessin Es war einmal ein Königreich voll Blüten, regiert von einer weisen und schönen Königin. Dies war die Königin der Bienen, und sie wurde von ihrem Volk geliebt, denn sie regierte gerecht und ließ Milde und Umsicht walten, wo immer sie konnte. Ihr Leben hatte sie ihrem Volk gewidmet, und so sollte es auch die Prinzessin, ihre einzige Tochter, tun. Als die Königin merkte, dass ihre Kräfte schwanden und sie nicht viel länger zu leben hätte, rief sie ihre Vertrauten zu sich. Sie beauftragte die, die ihr am nächsten standen damit, die Prinzessin zu schützen und zu einer guten Königin zu erziehen. Sie ließ sich von der Amme das kleine Mädchen noch ein letztes Mal an ihr Bett bringen, küsste das schlafende Kind auf die Stirn, und schlief für immer ein. Die Trauer um die Königin war groß und im ganzen Land trug man noch lange Zeit schwarz. Die Prinzessin wurde im Schloss von den besten Soldaten bewacht, und die Berater und Vertrauten der toten Königin taten ihr bestes, um das Land weiter zu regieren. Sobald das Mädchen das rechte Alter erreicht hätte, so beschlossen sie, würde man sie zur neuen Königin krönen. Unter den Vertrauten der Königin jedoch war eine Frau, die nicht war, wie sie zu sein vorgab. Sie war in dem Glauben erzogen worden, eine entfernte Verwandte der Königsfamilie zu sein, welcher der Thron zustünde, sollte die Königin ohne mündige Erbin versterben. Und so schmiedeten diese Frau und ihre Familie den Plan, die Prinzessin aus der Welt zu schaffen. Statt dessen wollten sie erwirken, dass das Land nun von einer der Ihren regiert würde. Als die Amme der Prinzessin eines Abends neben dem Bettchen des Kindes einschlief, schlich die Frau in die Kammer und nahm das Kind fort. Sie gab es an einen gedungenen Mörder, der es weit fort bringen und dann töten sollte. Die Prinzessin sollte nie wieder gefunden werden. Als die Amme am nächsten Morgen neben dem leeren Bett erwachte, war die Sorge zu Recht groß. Man konnte nicht glauben, dass das Kind verschwunden war, war es doch so gut bewacht. Das ganze Schloss und die umliegenden Ländereien wurden durchkämmt, doch nirgends gab es eine Spur des Kindes. Im Schloss begann man, sich gegenseitig zu verdächtigen. Jeder Soldat glaubte, die anderen hätten ihre Wacht nicht ernst genommen. Jeder Bedienstete dachte, einer der anderen hätte das Kind aus der Wiege geraubt. Die meisten Verdächtigungen jedoch trafen die Amme, die nicht gut genug auf das Kindlein aufgepasst hätte. Schließlich sahen die Vertreter der Königin keinen anderen Weg, als die Amme für ihr Verfehlen in den Kerker zu werfen, und mit ihr alle Soldaten, die in jener Nacht Wache gehalten hatten. Der gedungene Mörder hatte sich jedoch bis zum Morgen mit dem Kind in einem vergessenen Stall versteckt und nutzt das Durcheinander, um unerkannt aus dem Schloss zu entrinnen. Wie geheißen wollte er die Prinzessin weit fort bringen, und ritt mit dem Kind im Arm los. Niemand wusste, wohin genau er zu reiten plante, es hatte niemanden interessiert. Er kam durch einige Städte, viele Dörfer und noch mehr Wälder, und bevor das Volk erfahren hatte, dass die Prinzessin entführt sei, erreichte er das Nachbarreich. Dort machte er Rast in einer Schänke am Straßenrand, und als er betrunken war vergaß er, dass er das Kind bei sich hatte und töten sollte. Während er seinen Rausch ausschlief fand der Schankwirt das kleine Bündel und brachte es seiner Frau. Die Kunde über die verschwundene Prinzessin hatte dieses Reich noch nicht vernommen, und es hätte auch niemand geglaubt, dass es sich bei diesem Findelkind um eine Kind königlichen Blutes handeln könnte. Als der Mörder wieder zu sich kam und merkte, dass das Kind nicht mehr bei ihm war, war ihm das nur recht. Der Wirt und seine Frau jedoch nahmen sich dem Mädchen an und zogen es auf, als wäre es ihr eigenes Kind. Sie hatten es lieb und versuchten ihm das Leben so schön wie möglich zu machen, besaßen aber nicht viel und waren nicht reich, und so musste das Kind, als es älter wurde, den Eltern in allen Dingen zur Hand gehen. Im Reich ihrer Mutter hingegen wurde das Leben schlecht. Die neue falsche Königin besaß keine der Tugenden, unter denen das Land einst erblüht war. Sie regierte kalt und eisern und ließ jeden, der Zweifel an ihrer Herrschaft äußerte hinrichten. Aus einst blühenden Landschaften wurde trockene Ödnis, das Volk litt Hunger. Während dessen lebte die Königin im Überfluss, denn von allem was das Land abwarf nahm sie sich den größten Teil. Niemand wagte, es laut auszusprechen, doch im Stillen hegte man ein klein wenig Hoffnung, dass die Prinzessin eines Tages zurückkehren und das Land befreien würde. Das Mädchen wurde älter ohne je von ihrer Herkunft erfahren zu haben. Sie lebte ein einfaches, aber glückliches Leben und es zeigte sich, dass die ein Händchen für alles Blühende hatte. Als sie eines Tages im Garten der Schänke nach dem Rechten sah, erblickte sie auf der Straße eine Gruppe zerlumpter Gestalten, die teils ohne Schuhe, teils ohne rechte Kleidung, aber alle ohne Hoffnung in den Augen des Weges kamen. Sie sah Kinder mit vor Hunger riesigen Augen und Frauen, die von Männern gestützt wurden, die kaum mehr Kraft aufbieten konnten. Da der Garten unter ihrer Pflege große Überschüsse einbrachte, bat das Mädchen ihre Eltern, der Gruppe etwas zu Essen geben zu dürfen. So kam die Gruppe ins Gasthaus und erzählte bei ihrem Mahl von den Schrecken im Nachbarreich. Das Mädchen lauschte mit Schrecken und in den folgenden Tagen sah sie immer häufiger größere und kleinere Gruppen, die über die Straße kamen. Und immer wieder berichteten diese Gruppen von den selben Untaten. Doch auch dieses Königreich konnte so viele hungrige Mäuler nicht satt bekommen, und so ließ der König verkünden, dass niemand mehr über die Grenze gelassen werden sollte. Als eines Abends ein letzter alter Mann in die Gaststätte kam, sagte er kurz vor seinem Aufbruch „Ach wenn doch die Prinzessin zurück käme.“ Das Leid im Königreich der Bienen wurde mit der Zeit nur schlimmer, und letztlich schwand dort jegliche Hoffnung je wieder von einer rechtmäßigen und gerechten Königin regiert zu werden. Doch die Amme, welche noch immer im Kerker des Schlosses saß, spürte, dass die Prinzessin lebte. Und so fasste sie den Plan, das Kind suchen zu lassen. Die Jahre vergingen auch für das Mädchen im Gasthaus und sie wuchs zu einer klugen und hilfsbereiten jungen Frau heran. Von Zeit zu Zeit dachte sie noch an das, was der alte Mann gesagt hatte. Auch sie wollte glauben, dass die Prinzessin noch lebte. Eines Tages, als sie gerade ihrer Arbeit im Haus nachging, landete ein Vogel am Fenster und ließ einige Beeren neben sie fallen. Der Vogel kam von da ab jeden Tag und brachte ihr immer wieder Beeren und andere Geschenke. Sie wunderte sich über das Zutrauen des Tieres, hatte sie dieses Verhalten doch noch nie bei einem wilden Vogel gesehen. Eines anderen Morgens fand sie einen Schmetterling in ihrer Kammer. Er war schwach und die Farben seiner Flügel waren blass, doch er lebte und sie hatte Hoffnung, dass sie ihm helfen könnte. Sie brachte Blumen in die Kammer und hoffte er würde aus ihren Blüten trinken und so wieder zu neuer Kraft kommen. Am Abend saß der Schmetterling noch immer an ihrem Fenster, doch es schien als ginge es ihm besser. Und so ging es einige Tage, sie brachte dem Schmetterling Blumen und freute sich über den Besuch des Vogels, und als sie eines Abends die Geschenke des Vogels in ihre Kammer brachte und den Schmetterling beobachtete, da steckte sie sich gedankenverloren eine der Beeren in den Mund. In der Nacht schlief sie unruhig und immer wieder tauchten Bilder von einem Schloss, einer leeren Wiege, einer Frau in einem dunklen Raum, und einer trostlosen Landschaft vor ihr auf. Am nächsten Morgen fühlte sie sich seltsam, und als wieder der Vogel neben ihr am Fenster landete, da konnte sie verstehen, was er sang. „Sie ist es!“, rief er, „Sie ist es!“ Und der Schmetterling flatterte in den schönsten Farben, die sie je gesehen hatte, neben ihm und auch er wisperte „Sie ist es! Sie ist die Prinzessin der Bienen!“ Das Mädchen verstand nicht, wie sie die verlorene Prinzessin sein könnte, war sie doch festen Glaubens die Tochter des Wirts und seiner Frau zu sein. Doch wie diese die Veränderung in dem Mädchen sahen und die Unsicherheit in ihren Augen lasen, konnten sie nicht anders und erzählten, wie sie sie gefunden hatten. So sehr sie sich auch freute, dass sie die Prinzessin war, die dem Bienenvolk die Hoffnung zurückgeben konnte, so wenig wusste sie, wie sie es anstellen konnte, den Thron von der Verräterin zurückzufordern. Sie hatte keine Unterstützung und keine Soldaten, sie konnte noch nicht einmal über die Grenze gehen. Sie würde vor dem König vorsprechen müssen und auf seine Hoffnung bauen. Der Weg in die Hauptstadt war lang, und sie war noch nie weiter als bis zum Markt von zu Hause fort gewesen. Und doch machte sie sich auf den Weg, und wie sie durch die Dörfer kam traf sie dort das Geflohenen des Bienenvolk wieder, welche sich an das Mädchen aus dem Gasthaus erinnerte und ihr Hilfe anboten, wo sie nur konnten. Nach drei Tagen und drei Nächten stand sie schließlich vor dem Palast des Königs, die Wachen jedoch durften sie nicht passieren lassen. Der König, so sagten sie, würde erst in einer Woche wieder Hof halten, und bis dahin könne sie nicht auf eine Audienz hoffen. Ratlos ging die Prinzessin an einen Brunnen, an dem sie sich niedersetzte um auszuruhen. Sie hatte kaum genug Geld für ein Zimmer in einer Herberge, doch umzukehren kam nicht in Frage. Sie lies den Blick schweifen und sah eine Frau, die mühsam ihren Garten umgrub. Die Frau trug den Arm in einer Schlinge und versuchte doch, dem Boden etwas abzuringen. Kurzentschlossen ging die Prinzessin zu der Frau und bot ihre Hilfe an. Die Frau nahm dankbar an, musste ihr jedoch mitteilen, dass sie für diese Hilfe nicht bezahlen könnte. „Ich möchte kein Geld,“ erklärte das Mädchen, „aber wenn du mir für ein paar Tage einen Schlafplatz geben könntest, wäre mir sehr geholfen. Ich brauche nicht viel, nur ein Dach über dem Kopf, bis ich mit dem König sprechen kann.“ Als nach einer Woche der König wieder Hof hielt begab sich die Prinzessin früh zum Palast, sie wollte bald gehört werden, damit sie mit der Erlaubnis des Königs über die Grenze gehen könnte. Doch beinahe jeder Mut verließ sie, als sie schließlich vortreten durfte. Der König war kein schlechter Mann, doch ihr kamen Zweifel, dass er ihr Glauben schenken würde. „Mein König,“ traute sie sich zu sagen, „ich erbitte nicht viel. Lasst mich nur die Grenze zum Königreich der Bienen passieren. Ein kleines Vögelchen hat mir gesungen, dass ich dort Gutes tun könnte.“ Die Mine des Königs ließ keine Regung erahnen als er sagte: „Soso, zu den Bienen willst du.“ Dann schwieg er eine Weile. „Ich könnte dir einen Geleitbrief ausstellen, schließlich hätte ich nicht viel zu verlieren. Du jedoch riskierst deine Freiheit und dein Glück. Was für ein König wäre ich, wenn ich dich in dein Verderben schicken würde?“ Das Mädchen musste also unverrichteter Dinge wieder von dannen ziehen. Als sie am Abend wieder in der Hütte der Frau am Feuer saß, da klopfte jemand an die Tür. Draußen stand eine Fremde. „Ich kann dir helfen.“, sprach diese, „lass mich nur ein, damit ichs dir erklären kann.“ Einige Tage später erreichten zwei Gestalten in langen Mänteln die Grenze. Die Wachen ließen sie passieren und in den Tagen darauf kamen die beiden Wanderer durch viele Wälder, einige verlassene Dörfer, leere Städte und vorbei an vielen kargen Feldern. Und je näher sie dem Schloss der falschen Königin kamen, desto trostloser wurden die Landstriche, kaum ein Dorf war mehr bewohnt. Das Schloss selbst allerdings erstrahlte in einer ungeahnten Pracht, bezahlt mit dem Leid jener, die vergebens auf die Gnade der Königin gehofft hatten. Vor dem Tor warteten Unzählige, die ihre Abgaben zur Königin bringen sollten. Überall um das Schloss standen Wachen und überprüften jeden einzelnen von ihnen. Verkleidet als Bauern und mit dem Korb eines Jungen, der erschöpft am Straßenrand gesessen hatte, näherten sich die Prinzessin und ihr Begleiter dem Tor. Die Wachen durchwühlten die Äpfel im Korb, doch schöpften keinen Verdacht. Und als die Prinzessin den Schlosshof betrat, da begannen die Blumen die Köpfe zu heben und erstrahlten in ungekannten Farben. Vögel fanden sich auf den Mauern ein und stimmten gemeinsam ein Lied an. Gestört von dem Tumult im Hof trat die Königin auf ihren Balkon und erkannte in dem Mädchen die totgeglaubte Prinzessin. Bei der Begleitung der Bienenprinzessin handelte es sich um niemand geringeren als die Prinzessin des Nachbarreichs. Sie hatte ihren Vater um einen Geleitbrief bestohlen und sich dann aufgemacht, dem Mädchen, das da so mutig vorgetreten war, zu helfen. Sobald ihr Vater erfuhr, dass sie fortgegangen war, schickte er seine Soldaten aus, seine Tochter wohlbehalten zurückzubringen. Sie hatten die Spur der Prinzessinnen aufgenommen und gerade als die Königin ihre Wachen auf die beiden hetzen wollte, erreichten die Soldaten das Schloss. Als die falsche Königin sah, dass ihre Wachen der Armee, die sie auf Seiten der rechtmäßigen Prinzessin wähnte, deutlich unterlegen waren, und bemerkte, dass auch das Volk in der jungen Frau auf dem Hof die Ähnlichkeit zu ihrer alten Königin erkannte, wusste sie sich keinen Ausweg mehr. Sie stürzte sich vom Balkon und nahm sich so das Leben. Die Bienenprinzessin jedoch wurde noch am selben Tag zur neuen Königin gekrönt und unter ihr erblühte das Land wieder zu seiner alten Pracht. Und wenn sie nicht gestoben ist, so regiert sie noch heute das Reich der Bienen weise und gerecht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)