Der eine zählt des anderen Tassen von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 1: Endlich Urlaub! -------------------------- Das erste Mal sah sie ihn in einem Konzert, das sie in der kleinen Kirche der Hallig besuchte. Ein wenig ausspannen und genießen, das hatte sie wollen. Deswegen war sie hierher auf dieses Eiland gekommen, extra am Ende der Saison, um zu vermeiden, dass allzu viele Gäste ihren Weg kreuzten. Aber da hatte man ihr gleich gesagt, dass diese Angst unbegründet sei. Wer hierherkäme, wolle die Ruhe genießen, wolle allein sein. Abschalten, herunterfahren. Die Natur erleben. Und da man auf der Hallig im Grunde nicht mehr tun konnte, als mit nackten Füßen durch das weiche Wollgras auf dem Sommerdeich zu laufen und dabei die Augen zu schließen und sich der noch immer wärmenden Sonne, dem leichten Wind und dem Möwengekreisch hinzugeben, war es klar, dass nicht viele hierherfanden. Jedenfalls nicht jene, die einen Abenteuer-Urlaub bevorzugten. Denn, wie hatte es ein Besucher im Gästebuch der Hallig so treffend formuliert? Am Morgen stünde nur eine Entscheidung an, nämlich die, wohin man sich wende – ob nach links oder nach rechts – um die Hallig zu ergründen. Ja, genau das wollte sie für ganze drei Wochen tun – mit sich allein sein und wann immer sie Lust hatte, einfach stehenbleiben, tief Luft holen, die Augen schließen, lächeln. Ach, wie gut das tat! Und wenn sie auf einem ihrer Spaziergänge einem Strandkorb begegnete, ließ sie sich in ihm nieder, nahm ihr Buch hervor und las eben … Sie hatte sich extra einen dicken Schmöker mitgenommen – auch das eine bewusste Entscheidung, weil sie sich hier die Zeit nehmen wollte, endlich einmal wieder in einer Geschichte zu versinken, ohne, dass sie groß nachdenken musste. Sie hatte sich für einen Sommerroman entschieden, der im Südwesten der USA spielte. Sie hatte ihn schon seit langem lesen wollen – doch die Zeit, die liebe Zeit … Aber wenn sie da so im Strandkorb saß, geschützt vor dem bisweilen aufkommenden Wind, dann meinte sie – ungeachtet der Tatsache, dass sie sich an der Nordsee befand – die Hitze des im Buch beschriebenen Sommers zu spüren und so ging sie mit der Heldin die lange, von Maisfeldern gesäumte Straße entlang, atmete den Staub ein, ja, spürte ihn förmlich auf ihrer Haut kleben und war zugleich froh, hier an der Nordsee zu sitzen und zu wissen, dass sie um 15 Uhr, wenn die Flut heran war, ins Wasser würde gehen können, um sich abzukühlen. Und wieder lächelte sie, legte das Buch kurz beiseite und sah hinaus aufs Wattenmeer, bemerkte Vögel weit draußen, die sich in Scharen zusammenfanden, wusste auch um die Priele, die sich bei Flut als erstes wieder mit Wasser füllten und als äußerst gefährlich galten. Am Abend dann lockte das Kulturprogramm – einmal das Bernsteinschleifen im Wattenmeerhaus, einmal ein Lichtbildervortrag über den Klimawandel, zu dem sie sich viele Notizen machte. Und dann eben auch das Barockkonzert, zu dem doch so einige gekommen waren. Vor allem Touristen, Gesichter, die sie auf ihren Rundgängen oder bei der Erkundung der hiesigen Flora und Fauna bereits gesehen hatte. Und wenn man sich traf, grüßte man mit einem knappen Moin, was ihr auch sehr gefiel. Bloß kein Wort zu viel, denn in ihrem Job musste sie immer sprechen. Nun aber hockte sie in einer der Bänke der kleinen Halligkirche, lauschte der Orgelmusik, die ihr in die Ohren träufelte, lehnte sich dazu ans harte Holz, schloss die Augen, versuchte sich die einzelnen Töne vorzustellen, bis sie plötzlich, herausgerissen aus ihrem Dämmer, die Augen wieder öffnete. Ein Ruck war durch sie gegangen, ein einziger, kleiner, und sie sah sich erstaunten Gesichtern gegenüber, die, so erfasste sie es sogleich, nicht sie fixierten, sondern die Orgel in ihrem Rücken. Ihre Musik hatte zarten, hohen Klängen Platz gemacht, und so wandte auch sie den Kopf und erkannte einen Geiger, den sie, wohl angezogen von seiner Kunst, einige Momente beobachtete. Da er jedoch recht steif hinter seinem Notenständer stand und auf sie eher den Eindruck machte, als wolle er seine Geige zersägen statt sie zu streicheln, wandte sie sich wieder um, schloss erneut die Augen und ließ die Musik, die er dem Instrument dennoch zu entlocken fähig war, auf sich wirken. Ihn, den leicht ungelenk Wirkenden, hatte sie alsbald wieder vergessen, denn sein Bild störte die Harmonie der Töne. Sie war zum Entspannen gekommen, und nicht, um sich diesen Genuss durch irgendetwas zerstören zu lassen. Also legte sie den linken Arm auf die Lehne, streckte die Beine aus und versuchte sich wieder daran, die einzelnen Töne beim Werden und Schweben zu beobachten. Das machte sie gern – auch daheim, wenn sie sich am Sonntagmorgen Konzerte anhörte. Doch hier war es etwas Anderes – herausgerissen aus ihrem alltäglichen Trott, konnte sie sich der Musik in dieser kleinen Halligkirche viel mehr öffnen als daheim im Sessel oder auch in der Philharmonie oder im Konzerthaus, wohin sie ab und an entweder allein oder mit Freundinnen und Kolleginnen ging. Sie lächelte wieder. Das Geigenspiel war gar zu schön. Diese kleinen, zarten Töne umschmeichelten ihr Ohr, ließen sie tief Luft holen. Wie gut das tat … Insgesamt war es ein schöner Abend gewesen. Und als sie sich auf den Heimweg begab, sie in die untergehende Sonne sah, meinte sie sich selbst ganz leis sagen hören, dass sie es keinen Moment bereute, hierher, auf die Hallig gekommen zu sein. Entgegen ihrer eigenen Befürchtungen und denen ihrer Freundinnen und Kolleginnen. So frei und friedlich wie sie sich fühlte. Es war ein Geschenk, das sie bereit war, anzunehmen. Kapitel 2: Es empfiehlt sich ... -------------------------------- Am nächsten Tag war sie von diesem Konzert noch immer so gepackt, dass sie entgegen ihrer eigenen Vorgabe, hier im Urlaub alles sein zu lassen, noch einmal an der Kirche vorbeiging, um zu sehen, wie der Geiger hieß. Doch der Aushang, der das Konzert angekündigt hatte, war bereits verschwunden. An seiner Stelle befand sich nun der Hinweis auf eine Meditationsgruppe, die sich allmontäglich, also heute, treffe und auch für Urlauber offenstehe. Sie blieb einen Moment stehen, fixierte diese Einladung und überlegte, ob es irgendetwas brächte, zu versuchen, den Namen des Geigers auf andere Weise herauszubekommen. Vielleicht sollte sie beim Gemeindevorstand nachfragen? Schließlich entschied sie sich dagegen. Was sollte das bringen? Letztlich nur die Konzentration auf Gedanken und Dinge, denen sie doch hier, auf der Hallig, gerade entkommen wollte. Und überhaupt hatte sie in ihrem nun 45jährigen Leben schon so einige Musiker erlebt, deren Namen sie sich notiert hatte – gerade in der Annahme, sie würde sie wieder einmal hören können. Und ja, bei dem einen oder anderen war ihr das sogar gelungen. Doch der Zauber des sogenannten ersten Mals war immer geschwunden und hatte einem: Ja, er oder sie kann es eben!, Platz gemacht. Kunst blieb Kunst – sie äußerte sich in vielerlei, aber vor allem im Hier und Jetzt. Mit diesen Gedanken wandte sie sich ab und nahm den Umstand, des Namens nicht mächtig zu sein, als Zeichen, die Kunst auf sich zukommen zu lassen, wann immer sie sich dazu gemüßigt fühlte, und nicht nach ihr zu suchen, ihr gar hinterher zu laufen. Und so machte sie sich auf den Weg, hinunter von der Kirchwarft, blieb erneut kurz stehen und ließ ihren Blick hinüber zu den benachbarten Warften gleiten, die sich, die eine näher, die andere ferner, deutlich als kleine Hügel abzeichneten – gerade so, wie es Siedlungshügel im Alten Orient taten. Und zwischen ihnen nichts als flaches Land. Das wohl berühmteste Tor von Babylon, das der Ischtar geweihte, konnten herannahende Truppen bereits aus 30km Entfernung sehen – ein einnehmender, gar einschüchtern wollender Anblick. Doch hier nun auf der Hallig wollte nichts einschüchtern. Die Warften, 10 – ursprünglich 11 – an der Zahl und das weite, weite Land, das sich bis zum Horizont ausspannte und dem Betrachter, der es wagte, den Blick in den Himmel zu heben, von der unfassbaren Größe dieses so kleinen Eilands flüsterte. Das Gefühl der Grenzenlosigkeit hatte sie an den ersten beiden Tagen geradezu unruhig werden lassen. Ja, wann immer sie auf den Deich der heimischen Warft hinausgetreten war, starrte ihr eine schier unendliche Weite entgegen. Und sie, nirgends Halt finden könnend, taumelte und ließ ihren Blick unter Herzrasen den nächsten Baum hochjagen, um sich an ihn zu klammern. Mittlerweile hatte sich das fade Gefühl in ihrem Magen gelegt und sie konnte sich der Hallig Schritt um Schritt nähern. Da die Sonne – wie an den vorangegangenen Tagen auch – vom fast wolkenlosen Himmel schien, das jedoch nicht so warm, verspürte sie kaum Verlangen, sich direkt an die Nordsee zu begeben. Viel lieber wollte sie heute die übrigen Warften erkunden, denn so vermutete sie, besaß jede von ihnen ihr ganz eigenes Flair. Es gab größere, kleinere – und eben auch eine, die, das erfuhr sie erst von ihrem Gastvater, nach einer Sturmflut in den 60ziger Jahren so stark beschädigt worden war, dass man sie einfach ihrem Schicksal überlassen hatte. Zu dieser wollte sie heute, sie erkunden. Sie war gespannt und lenkte ihre Schritte auf die asphaltierte Straße, auf der ihr einige Fußgänger, jedoch noch mehr Radfahrer entgegenkamen. Kaum Autos. Und das lag daran, dass es einzig den Bewohnern der Hallig vorbehalten war, mit Autos zu fahren – und wenn, dann besaßen diese Wagen einen Elektromotor, sodass sie im Grunde immer wieder tief Atem holen konnte. Und es auch tat. Sie liebte diese würzige, nach Meer schmeckende Luft, die so frisch war, da von Westen her immer ein Wind wehte. Die Warft, die einst bewohnt, nun menschenleer war, begrüßte sie als ein weites, aus Wiesen und Prielen bestehendes Feld. Kuhfladen verrieten ihr überdies, dass hier vor nicht allzu langer Zeit noch Rinder gegrast hatten, Rinder, die von ihren Besitzern nun weitergetrieben worden waren. Ein Glück auch, denn sie hätte sich bei aller Liebe wohl nicht auf dieses Eiland getraut, wenn sie Rinder um sich gewusst hätte. Wie schnell konnte es geschehen, dass diese Tiere, durch irgendetwas erschreckt, in Panik gerieten und dann einfach losrannten und alles, was sich ihnen in den Weg stellte, niedertrampelten. Schon allein der Gedanke hinterließ in ihr ein ungutes Gefühl, dessen sie sich jedoch erwehren konnte, denn sie wollte diese Warft ja erkunden – irgendwie in sie eintauchen. Hinein in dieses Grün, das dem Auge wiederum eine Weite suggerierte, der jedoch, so wusste sie, nach höchstens 500 Metern das Meer eine Grenze setzte. Aber was sollte es, was bracht es, das zu wissen? Sie ging drauflos, ließ ihren Blick schweifen, gewährte ihm diese Weite, die sich ihm ja tatsächlich auch bot – und zum ersten Mal wurde ihr vollkommen bewusst, dass sie in jede Himmelsrichtung ungehindert sehen konnte. Sie hatte das gesamte Firmament über sich, ohne dass ein Haus oder etwas anderes ihren Blick gestört hätte. Und das war einfach wunderbar. Am Morgen konnte sie dem Sonnenaufgang beiwohnen, am Abend ihrem Untergang. Sie ging noch weiter heran an diese Warft, erspähte den kleinen Hügel, der einst von einem Haus bekrönt war, nun jedoch verlassen dalag. Dicht neben ihm der Fething, das ehemalige Wasserreservoir der Warft. Er war fast auftrocknet. Und dort, wo es noch winzige Wasserstellen gab, hatten sich die Tapsen von Enten, Gänsen und, wie sie vermutete, Möwen tief in den lehmhaltigen Boden gegraben. Sie stand wohl eine Weile, sah hinab auf das alte Wasserloch, dann wandte sie sich ab, sah sich um. Es war noch recht früh am Tag, der Mittag kaum erreicht, aber sie spürte, wie an den vorangegangenen Tagen auch, Müdigkeit in sich und so lag es nah, dass sie sich ein Fleckchen suchte, um sich zuerst zu setzen, dann zu legen. Das Buch, ihren Schmöker, zog sie hervor, begann zu lesen, ließ ihn jedoch alsbald liegen. Vielmehr Freude bereitete es ihr, in Gedanken immer und immer wieder die von Maisfeldern gesäumte Straße in Gedanken mit der Protagonistin zu laufen, als dem Abenteuer, das sich zweifelsohne ankündigte, zu folgen. Sie hatte ja Zeit, niemand trieb sie. Und so schloss sie die Augen, sah sich in der Weite des amerikanischen Südwestens stehen, auf dieser Straße und schmunzelte unwillkürlich. Die Weite, die hatte sie ja auch hier, hier auf der Hallig. Hier in diesem Moment. Und der wollte, der konnte sie sich einfach ergeben, indem sie ihre Arme ausstreckte und das Gras neben sich ertastete. Ganz egal, dass sie dabei auch an eine Stacheldistel geriet. Sie meinte nur einige Minuten lang geruht zu haben, doch als sie die Augen wieder aufschlug, stand die Sonne bereits weit im Westen. Hinzukam, dass sich ihre Arme, Beine und vor allem das Gesicht ziemlich heiß anfühlten, sodass sie sich doch, von einem leichten Schreck getrieben, rasch erhob und sich an die Wangen griff. Es bestand kein Zweifel: sie brannten etwas – und das konnte nur eines bedeuteten: das nächste Mal würde sie an Sonnenschutzmittel denken müssen. Jetzt galt es indes, erst einmal nach Haus zu kommen, um sich zu duschen und einzucremen. Doch wie das immer so war, kam es auch diesmal anders: anstatt den schnellsten Weg zu wählen, lockten dann noch weitere Eindrücke. Plötzlich fand sie sich an der Kirchwarft wieder – und von ihr aus waren es doch nur noch ein paar Schritte hinüber zur Warft, die dem Hafen am nächsten lag. Dort sollte es ein ganz wundervolles Café geben. Es hieß, dass die Eigentümerin den allerbesten Kuchen der gesamten Hallig backte. Wollte sie sich das nun entgehen lassen? Selbst wenn sie mit einem roten Gesicht durch die Gegend zog. Und wenn schon. Sie fühlte sich plötzlich aufgeregt wie ein kleines Mädchen. Außerdem stellte sich bei ihr der nachmittägliche Kuchenhunger ein, dem sie unschwer widerstehen wollte. Schneller als sie es für möglich hielt, trugen sie ihre Füße hinüber auf diese noch zu erforschende Warft. Sie umrundete sie einmal, ehe sie den Abzweig zu dem in allen Reiseführern hochgerühmten Pesel fand. Und sie hatte Glück, es war noch immer geöffnet. Den Deich hinauf und in den Warftkessel hinein waren eins und schon fiel sie förmlich in dieses kleine Café hinein, das jedoch vollbesetzt war. Der Garten zumindest, so schien es ihr. Kein freier Platz mehr. Was nun? Sie ließ ihren Blick nochmals über die Menschen gleiten, die dasaßen – einige unter großen Sonnenschirmen fast vollkommen versteckt, andere an der Hauswand lehnend, das Gesicht gen Himmel gestreckt. Das waren die Sonnenhungrigen. Sie verstand sie nur allzu gut. Doch sie in ihrem Aufzug, der ganz arg an einen Indianer erinnerte, zog es lieber vor, unter einem Sonnenschirm Platz zu nehmen, wenn denn die Möglichkeit überhaupt noch bestand. Denn so, wie sie die Sache einschätzte, konnte ihr auch der zweite Blick keine Möglichkeit anbieten, sodass sie nun vor der Wahl stand, diesem erquicklichen Örtchen den Rücken zu kehren – und so auf ihren Kuchen zu verzichten – oder einfach durch die Menschen hindurch zu gehen, um sich vielleicht zu anderen Menschen zu setzen. Das war zwar keineswegs ihr erklärtes Ziel, lieber hätte sie … ja lieber, doch alles Zaudern nützte nichts und so gab sie sich einen Ruck und wollte sich gerade einen Weg durch die dichtgestellten Tische hindurch bahnen, als sie ihn sah, ihn, den Geiger von letztem Abend. Er saß ganz hinten in einem Strandkorb an einem Tisch für sich allein, vollkommen im Schatten. In der Tat war der Stuhl vor ihm frei. Oder? Einen Moment lang überlegte sie, ob sie es wagen durfte. Ja? Nein? Ganz sicher würde seine Begleitung sogleich auftauchen. Aber was brachte es ihr, hier stehen zu bleiben und umher zu starren. Also gab sie sich einen Ruck. Fragen schadete nichts. Und außerdem hatte sie wirklich Lust auf ein großes Stückchen Kuchen. „Entschuldigen Sie bitte, ist dieser Platz noch frei?“ Ihr Gegenüber hob kurz den Blick, presste die Lippen fest aufeinander und nickte kaum merklich, ehe er sich wieder einem Buch, das er aufgeschlagenen in Händen hielt, zuwandte. Offensichtlich las er. Und sie nahm sich ein Herz, ließ sich nieder, wollte nach der Karte greifen, stellte jedoch fest, dass sie neben ihm im Strandkorb lag. „Entschuldigen Sie bitte, könnte ich wohl die Karte haben?“, hörte sie sich fragen. Er, wiederum kaum den Blick hebend, griff neben sich und reichte sie ihr wortlos. „Danke“, erwiderte sie knapp und versuchte sich auf die Speisen und Getränke zu konzentrieren, weniger auf den vor ihr sitzenden Mann, der in sein Buch vertieft schien – so sehr, dass sein Bier, der halbe Liter Flensburger, noch ganz unangerührt vor ihm stand – und das schon seit einiger Zeit, war doch der gesamte Schaum bereits verschwunden. Das stellte sie mit einem Blick fest, ebenfalls, dass er trotz der Wärme eine schwarze Cordjacke trug und darunter ein blaues Hemd. Und wenn sie unter den Tisch schauen würde, kämen da langbehoste Beine zum Vorschein. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte er beides auch gestern schon angehabt, als er seiner Violine so wunderbare Töne zu entlocken vermochte, allerdings den Eindruck machte, als wolle er sein Instrument malträtieren. Und unwillkürlich musste sie, nun den Blick in die Karte senkend, lächeln, wenn nicht gar grinsen. „Es empfiehlt sich rasch zu wählen, denn das Café schließt in 30 Minuten“, vernahm sie da plötzlich die Stimme ihres Gegenübers. „Ach“, machte sie, ließ die Karte sinken und sah ihm für einen Moment in die Augen, ehe er seinen Blick erneut niederschlug. Diesmal allerdings nicht ins Buch, wie sie unschwer erkannte, sondern auf einen Punkt links neben ihr. „Ja, dann …“, setzte sie wieder an und wandte sich erneut der Auswahl an Speisen und Getränken zu. „Es empfiehlt sich ein Stückchen Kuchen …“ Wieder trafen sich beider Blicke, ehe er den seinen sogleich niederschlug, ein „Zwetschgenkuchen“ murmelnd. „Gut, danke – und dazu nehme ich eine Tasse …“, überlegte sie laut. „Es empfiehlt sich dazu ein Milchkaffee mit etwas Schokoladenpulver oben auf“, unterbrach er sie leise. Wieder flackerte sein Blick hoch und sie mühte sich um ein kleines Lächeln, doch ehe er es ausmachen konnte, hatte er sich schon wieder ab- und seinem Buch zugewandt. „Es empfiehlt sich, Sahne zum Kuchen zu nehmen“, schob er hinterher, diesmal, ohne den Blick von seinem Buch zu erheben. „Danke“, wiederholte sie. „Der Zwetschgenkuchen ist frisch“, ließ er sich hierauf wieder vernehmen. „Saftig?“, fragte sie. Er hob den Blick, schien nachzudenken, ehe er kurz nickte. Und sie mühte sich wieder um ein Lächeln, das er mit zusammengepressten Lippen erwiderte. Und ehe er irgendetwas tun konnte, sagte sie leicht heraus: „Wissen Sie, das nehme ich. Ich habe nämlich einen Bärenhunger …“ Bei diesen Worten senkte er wieder den Blick ohne etwas zu erwidern. Sie aber wagte sich nun hervor, was im Grunde gar nicht ihre Art war, aber da sie ihn nun einmal hier vor sich zu sitzen hatte, kam sie nicht umhin, das Wort erneut an ihn zu richten und so begann sie: „Sie, entschuldigen Sie bitte, dass ich so dreist frage, aber Sie sind doch Geiger, der Geiger von …“ „Falsch“, kam’s so prompt von ihm, dass sie, als sich ihre Blicke wieder trafen, zurückzuckte. „Ich bin kein Geiger. Ich habe das nur getan, weil man an mich herangetreten ist von Seiten des Kirchengemeinderates.“ „Oh“, machte sie nur, „aber … ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich es gestern sehr schön fand.“ „Na ja“, erwiderte er reglos dasitzend. „Ich kann es eben.“ Und mit diesen Worten senkte er wieder den Blick und Stille trat ein, in der sie sich dabei ertappte, wie sie sich hinter der Karte zu verstecken begann und sich fragte, was sie von diesem Auftreten halten sollte. Doch just in dem Moment sagte er wieder: „Es empfiehlt sich, recht rasch zu bestellten, da das Café in 25 Minuten schließt.“ Sie ließ die Karte sinken und zwang sich, dem falschen Geiger einfach in die Augen zu sehen, solange jedenfalls, bis dieser seinen Blick wieder senken würde. Doch diesmal hielt er dem ihrem stand. Und so sahen sie sich beide für einige Momente nur an, ohne etwas zu sagen. Ihrem geschulten Blick entging nicht, dass er ziemlich müde wirkte – Augenringe bezeugten das – und dass er sein Haar, das auf dem Kopf bereits sehr schütter wurde, in einem strengen Linksscheitel trug, so wie es einige ältere Herren taten, die ihre Tonsur zu verdecken suchten. So ließen sie das Haar auf einer Seite etwas länger wachsen, um es sich dann über die bereits entstandene Glatze zu legen. Doch ihn, der da vor ihr saß, schätzte sie auf höchstens Mitte 50, also keine 10 Jahre älter als sie. „Das Café schließt bald“, ließ er sich unverhofft vernehmen und fuhr sich, so als ahnte er, dass sie soeben über sein schütteres Haupthaar nachgedacht hatte, durch eben dieses und zerschruwwelte es etwas. Nun hing ihm eine Strähne in die Stirn, die er wieder einzufangen suchte. „Ich weiß“, erwiderte sie. „Es empfiehlt sich also …“ „Ich weiß.“ „Also?“ Wieder sahen sie sich beide in die Augen, ehe er den Blick senkte, doch nicht, um sich wieder in sein Buch zu vertiefen, sondern, um es nach einem nochmaligen Also zuzuklappen und sich mit ihm unterm Arm zu erheben und an ihr vorbeizugehen. All das geschah so schnell, dass sie ihm nur nachsehen konnte. Er verschwand im Haus, wohl um das WC aufzusuchen, vermutete sie. Kapitel 3: Prost Mahlzeit! -------------------------- Kaum hatte sie sich wieder umgedreht und in die Speisekarte vertieft, überlegend, was sie denn nun tatsächlich nehmen sollte – ob sich zum Zwetschgenkuchen nun ein Milchkaffee anbieten würde oder nicht doch eher eine Tote Tante, denn sie verspürte Lust auf Schokoladiges mit einem Schuss Alkohol. Schließlich war sie ja zum Genießen hergekommen. Zum Ausspannen und Sich-Gehenlassen, zum … Also kaum dieser Gedanken innewerdend, nahm sie eine Bewegung neben sich wahr. Sie sah auf – und ihm, dem falschen Geiger, genau in die Augen. Er stand da, blickte ernst auf sie herab – das Buch noch immer – oder wieder? – unterm Arm. Er wirkte so, als warte er auf etwas. Jedenfalls war es diesmal sie, die den Blick niederschlagen wollte, als sein Zeigefinger plötzlich hochfuhr und sie, leicht erschrocken, dem Öffnen seines Mundes beiwohnte. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder verschreckt aufspringen sollte. Denn so bedrängt zu werden – noch dazu von einem Fremden, der, das war ihr in diesem Moment glasklar, ein wenig speziell zu sein schien –, das war unangehem. Wie er sie betrachtete, nein, das gefiel ihr ganz und gar nicht. Dennoch erinnerte er sie etwas an Lehrer Lämpel aus Buschs Max und Moritz und sie ließ alle negativen Gedanken fahren. Stattdessen fragte sie sich nur: Was kommt denn jetzt? Nun, zuerst kam gar nichts. Er stand nur weiterhin vor ihr, zu Stein erstarrt schien’s, mit aufzeigendem Finger und leicht geöffnetem Mund. Gerade so, als wollte er sogleich mit einer Rede ansetzen à la Liebe Kinder habt gut acht, wenn’s draußen grollt und kracht, denn das hat schon den Stärksten um den Verstand gebracht … So dachte sie und presste die Lippen fest zusammen, um sich nicht weiter in diesem Gedanken zu ergehen. Denn dass das böse enden konnte, davon konnten ihre Kolleginnen ein Lied singen. Ja, sie neigte zu Lachanfällen, gar -krämpfen, wenn es sie einmal gepackt hatte. Abgesehen davon wusste sie ja tatsächlich nicht, was dieser Mensch von ihr wollte – und wessen Geistes Kind er war. Gut, wäre ihr Gleiches in ihrer Heimatstadt geschehen, wohlmöglich in der vollbesetzen S-Bahn, hätte sie schon längst das Weite gesucht. Hier aber schien alles so friedlich und entspannt zu sein, dass sie sich zusammennahm und einfach abwartete, was ihr dieser Lehrer Lämpel denn nun so wichtiges mitzuteilen hatte. Und so, als hätte sie der Schabernack gepackt, hörte sie sich augenblicklich sagen: „Es empfiehlt sich …“, nur um ihn dann erwartungsvoll anzusehen. Und tatsächlich löste er sich aus seiner Starre, verengte die Augen leicht zu Schlitzen und tippte sie mit dem Zeigefinger ganz rasch an die Wange, hob ihn dann wieder und sagte dozierend ruhig: „Es empfiehlt sich etwas Salbe gegen den Sonnenbrand.“ Sie starrte ihn an – fassungslos. Das Aua! und Was bilden Sie sich ein, mich anzufassen? blieb ihr auf den Lippen kleben, denn schon war er an ihr vorbei, ließ sich wieder im Strandkorb nieder, legte das Buch neben sich, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte, so als wäre nichts geschehen: „Es empfiehlt sich darüber hinaus, alsbald einen Hautarzt aufzusuchen, denn ein etwaiges Melanom wird sich allein durch Creme nicht aufhalten lassen.“ „Na danke auch“, schnappte sie und spürte, wie ihr der Mund offenstehen blieb und sie ihn wie ein Tölpel anzustarren begann. Er schlug indes den Blick wieder nieder, griff nach seinem Buch, öffnete es, begann neuerlich zu lesen. Und sie zog vor, es dabei zu belassen und fortan zu schweigen. Doch sah sie sich zugleich nicht nur nach der Serviererin um, sondern auch nach einem freiwerdenden Platz irgendwo unter den Sonnenschirmen und zur Not auch in der Sonne. Doch wie das Lied immer so spielte, gab’s den nicht, sodass sie sich vor die Wahl gestellt sah, entweder zu bleiben und diesem komischen Menschen weiter Gesellschaft zu leisten oder so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Die Entscheidung darüber wurde ihr indes vom Erscheinen der Serviererin abgenommen. Doch gerade, als sie ihren Bestellwunsch äußern wollte, stellte diese einen Teller mit einem großen Stück Zwetschgenkuchen nebst Sahne und einen Milchkaffee vor ihre Nase. „Äh“, machte sie nur und starrte zuerst die Serviererin, dann das große Stück Kuchen an. „Das hatten Sie doch … bestellt?“, ließ sich die Serviererin vernehmen. „Äh.“ „Es empfiehlt sich …“, schaltete sich da der falsche Geiger ein, „… sogleich mit dem Essen zu beginnen, da sonst die Sahne zerläuft. Bei diesen Temperaturen um mindestens 50 % schneller als bei milderen. Es empfiehlt sich also …“ „Ja, ja … Jakob, trink du mal endlich dein Bier aus, sonst fliegen Fliegen rein“, warf die Serviererin ein. Hierauf erwiderte er nichts, klappte allerdings das Buch zu und griff, den Kopf gesenkt, tatsächlich nach seinem Glas Bier. Sie indes nutzte die Gelegenheit, der Serviererin einen Blick zuzuwerfen. Diese verstand wohl, denn sie zuckte leicht resignierend mit den Schultern, nickte in seine Richtung und sagte etwas leiser: „Jakob.“ Dazu nickte sie noch einmal, als wäre dadurch alles erklärt, um sich dann wieder an den Genannten zu wenden: „Nicht wahr Jakob, alles ist gut.“ Dieser sah auf, verzog den Mund und fletschte plötzlich die Zähne. Sollte das ein Grinsen, gar ein Lächeln darstellen? Ihr wurde bei diesem Anblick ein wenig Bange, wirkte ihr Gegenüber doch wie einer, der, gelinde gesagt, erschreckende Gedanken hegte. Hinzukam noch, dass er sie unverwandt – nun mit weit aufgerissenen Augen – anstarrte und sein Gesicht dadurch wie eine Maske wirkte. Gut nur, dass die Serviererin noch immer neben ihr stand, sonst hätte sie in diesem Moment tatsächlich das Weite gesucht. Und als er dann auch noch mit just dieser Miene sich wiederholend sagte: „Es empfiehlt sich, recht rasch zu essen“ und dazu abwechselnd auf das vor ihr stehende Stückchen Kuchen und sie stierte, wollte sie nicht wissen, was in seinem Kopf los war, was da gerade geschah. Von Geilheit mochte sie nicht sprechen. Aber auch total verrückt und durchgedreht wären zu erschreckend für sie gewesen. Eines jedoch stand für sie fest: begegnen wollte sie diesem Typen nicht noch einmal. Und so, als könnte sie die Serviererin nur durch die Macht ihrer Blicke bannen, hob sie den Kopf. Die verstand tatsächlich. Leicht nickend sagte sie zu ihr: „Sie sehen so aus, als würden Sie frieren. Möchten Sie sich nicht dort drüben hinsetzen?“ Der Chance gewahr werdend, schnappte sie augenblicklich nach Luft, erhob sich und wollte ihren Teller nebst Milchkaffee nehmen, doch die Serviererin schüttelte nur mit dem Kopf. „Das mache ich. Sie setzen sich dort hinten hin …“ Sie deutete hinter sich auf ein Sonnenplätzchen an der Mauer, das just in diesem Moment freigeworden war. Und schneller, als sie denken konnte, hatte sie dort Platz genommen, gefolgt von der Serviererin, die ihr Kuchen und Milchkaffee vor die Nase stellte und ein geflüstertes: „Bitte verzeihen Sie, aber er ist im Grunde harmlos“ nachschob. Ungeachtet der Tatsache, dass er sie noch immer beobachten konnte – und das auch tat, wie sie unschwer feststellte – mühte sie sich zu fragen, was mit ihm los sei. Und er, dort quer über den Gang in seinem Strandkorb sitzend, starrte herüber, nun wieder ernst, dafür aber irgendwie seltsam wirkend. So … Verdammt, sie konnte es nicht in Worte fassen. Die Serviererin flüsterte indes: „Sie müssen keine Angst haben.“ Verwundert löste sie den Blick von ihm, dem falschen Geiger, dieser schwarz-becordeten Gestalt, die sich, so meinte sie, mit dem Schatten in der Ecke zu verweben begann. Und doch wusste sie seinen Blick noch immer auf sich gerichtet. Bohrend, beißend … einfach unangenehm. „Er ist Mathematiker und Physiker.“ Das Was? blieb ihr im Hals stecken. Hätte nur gefehlt, dass die Serviererin gesagt hätte: „Er ist nur Mathematiker und Physiker“ – und keine Chimäre, die gerade wieder die Zähne fletschte, um ihr zu zeigen, dass … Nein, das war zu gräulich. Der Appetit war ihr gänzlich vergangen. Kapitel 4: Des Menschen Hässlichkeit ------------------------------------ Gott sei Dank sah sie den Typen in den nächsten Tagen auch nicht wieder. Diesen Jakob. Diesen … Sein zähnefletschendes Grinsen konnte sie jedoch nicht vergessen, aber es begleitete sie nur dann in ihren Gedanken, wenn sie es zuließ. Wenn sie sich hingegen der Natur anheimgab, auf die Weiden hinauslief, um mit einem Feldstecher bewaffnet, den vielen, vielen Vögeln nachzustellen und in ihrem neuerworbenen Vogelkundlichen Begleiter nachzuschauen, um welche Art es sich handelte, dann vergaß sie all diese Unschicklichkeiten. Keine Frage, das Café mied sie, die Warft ebenfalls, denn sie ahnte, dass dieser Jakob bei der Serviererin Quartier bezogen hatte: so gut, wie sie ihn zu kennen schien. Hatte sie ihn doch recht unverfänglich, fast leger angesprochen. Und er hatte ja auch entsprechend reagiert – jedenfalls nicht so, als würde er fragen wollen, was dieses Duzen zu bedeuten hätte. Obwohl: bekam der überhaupt mit, wenn sich etwas entgegen der Norm verhielt? Egal. Sie war hier auf den Fennen, hockte, ja lag bisweilen sogar auf dem Bauch und sah durch ihren Feldstecher, den ihr der Hausvater geliehen hatte. Ein netter Mensch. Groß, blond, breitschultrig und immer freundlich lächelnd. Als sie ihm am Dienstagabend gesagt hatte, dass sie des Nachts die Milchstraße so überdeutlich gesehen hätte, lachte er nur verhalten und meinte: „Hier herrscht ja auch nicht so eine hohe Lichtverschmutzung wie bei dir in der Stadt.“ Sie nickte und fragte ihn, vom Zauber dieser vielen, vielen funkelnden Sterne am Himmel gepackt, ob es denn neben Bernsteinschleifen und Lichtbildervorträgen am Abend nicht auch eine Sternwanderung hier auf der Hallig gäbe. Das biete sich ja geradezu an. „Ja sicher“, sagte er hierauf, „aber der Mann, der das alljährlich macht, ist gerade wieder gefahren. Aber wenn du möchtest, kannst du meinen Feldstecher haben. Liegt im Auto. Musst ihn dir nur holen.“ Das tat sie dankend und lag in den nächsten Nächten tatsächlich draußen auf der Deichwiese und sah in dieses funkelnde Lichtermeer hinein. Sie glitt dabei von Stern zu Stern und brachte es bei einigen sogar fertig, die Augen zu verengen, so hell strahlten sie selbst aus dieser Entfernung. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie hell sie tatsächlich waren. „Wahnsinn“, murmelte sie und konnte sich gar nicht sattsehen. Mehr und immer mehr wollte sie erkunden, bis sie bei einer an einen Kleiderbügel erinnernden Sternenkonstellation hängen blieb und vor Überraschung beinahe das Glas hätte fallen lassen. So was? So was Akkurates? Und schon musste sie lächeln und war zugleich so überwältigt, dass sie aufstand, um all das genauer betrachten zu können, bis ihr einfiel, dass es keinen Unterschied machte, ob sie lag oder stand. Nur der nicht unerhebliche Schmerz im Genick mahnte sie, sich wieder hinzulegen. Und das tat sie auch und jagte in dieser und anderen Nächten Sternen und Schnuppen nach. Sich in diesen kosmischen Weiten zu ergehen, sich auf sie überhaupt einlassen zu können – welch wundervolles Geschenk das war. Dazu die Stille, die sie erst nach und nach zu würdigen wusste. Das Schweigen, das nicht Redenmüssen, das Bei-sich-Sein – herrlich, einfach herrlich. Manche Nacht lag sie im Gras, ließ den Feldstecher sinken und sah einfach nur so hoch in den Himmel. Ebenso am Tag, da sie mit ihrem Vogelkundlichen Begleiter in der Tasche über die Fennen kroch und Ringelgans nebst Seeschwalbe im Flug oder beim Fressen beobachtete. Der Schmöker, der eigentlich gelesen werden wollte, geriet mehr und mehr in Vergessenheit. Zu viel gab es auf dieser Hallig zu sehen und zu erleben. Als sie dann noch an einem Erkundungsgang über die Salzwiesen teilnahm und erfuhr, dass sich die eine oder andere Pflanze gut in Salat, Spaghetti-Sauce und Rührei machte, konnte sie nicht an sich halten und eben das auszuprobieren, des Abends in der Küche ihrer Ferienwohnung, deren Tür stets offenstand, da sich Percy, der Kater ihres Wirts mit ihr angefreundet hatte und Einlass begehrte. Und während dieser kleine rote Kerl ihre Wohnung erkundete und schließlich auf einen der Sessel sprang, kochte sie sich ein leckeres Essen. Allein das bescherte ihr ein gutes Gefühl. Was sollte sie bei all dem noch an diesen Typen, diesen Jakob, denken, der ihr jetzt im Nachhinein, wie ein riesiger zerzauster Rabe vorkam. Seine Nase, so wollte sie sich gar nicht erinnern, war lang und raubvogelhaft gebogen. Die Augen saßen tief in den Höhlen seines schmalen Gesichts und hatten so verdammt verrückt auf sie gestarrt. Furchtbar. Nie wieder! Nun, wie das Spiel aber so spielte, hielt dieses Nie wieder! nicht lang, denn auf einer kleinen Hallig wie dieser grenzte es an ein Wunder, wenn man sich als Urlauber nicht wenigstens zweimal über den Weg lief. Und da half es auch nicht, bestimmte Orte zu meiden, an denen sich dieser Jakob aufhalten könnte, ja, da half es noch nicht einmal, einen Ausflug zur Nachbarhallig Gröde, der kleinsten Gemeinde Deutschlands, zu machen, um sich auch einmal andere Luft um die Nase wehen zu lassen und die dortige Kirche nebst Fething zu besichtigen. Nein, das half alles nichts, wenn er sich eben zu dem gleichen Ausflug mit dem Fischkutter, inklusive einer Demonstration des hiesigen Fischfangs, entschieden hatte und, obwohl die ganze Zeit unten am großen Aquarium stehend, ihrer gar nicht gewahr wurde. Er hinderte sie dennoch daran, sich auf sich zu konzentrieren und die Fahrt über die Nordsee zu genießen. Denn anstatt ans Heck des Schiffes zu gehen, um dort Ruhe zu haben, stand sie weiterhin an der Reling neben der Kapitänskabine und sah hinab auf ihn, der mit einem Fotoapparat bewaffnet in die Gegend blickte und ab und an Fotos machte – doch nicht etwa von der Nordsee, sondern stets vom allzu mageren Innenleben des Aquariums. Dazu beugte er sich jedes Mal über das Wasser, schob gleichzeitig seine Hüfte hervor, presste sich mit dem Unterleib an die Scheibe. Sie sah genau, dass er sein linkes Auge zukniff, bisweilen sogar zuhielt, wenn er fotografierte, sah auch, wie sich eine allzu große Falte zwischen seiner Nasenwurzel und dem Stirnansatz bildete. Bemerkte ebenfalls, dass er wohl unter einer Art Hautreizung oder Akne litt – und das vor allem an den Wangen und über den Augenbrauen. Und sie ertappte sich sogar dabei, auf seinem Kopf nach Spuren eines Ausschlags, eines endogenen Ekzems, gar einer Schuppenflechte zu suchen. All das durchs Fernglas – und sie fragte sich keineswegs, was sie hier eigentlich tat. Warum sie ihn beobachtete. Sie tat es einfach. Und so geriet der Ausflug zur Gröde zu einem Unterfangen, das nicht anders als mit Observation, gar Stalking zu bezeichnen war. Erst im Nachhinein griff sie sich an den Kopf. Was hatte sie sich dabei nur gedacht, dieser Vogelscheuche im schwarzen Cord so sehr nachzustellen? Konnte man es tatsächlich so sehen, dass sie von seiner augenscheinlich abstoßenden Erscheinung angezogen wurde, ja, dass von seiner Hässlichkeit ein Reiz ausging, der sie fast fiebrig werden ließ? Und dabei blieb sie selbst immer im Verborgenen. Denn auch auf der Gröde achtete sie peinlichst darauf, ihn stets in einem gewissen Abstand vor sich haben, um nötigenfalls reagieren zu können. Zwar gab es weder Baum noch Strauch, doch das Abwenden und so-tun-als-ob galt ihr als Notlösung. Und so folgte sie ihm den Deich hinauf und besichtigte eben Kirche und Fething, während er in sicherer Entfernung auf dem Deich entlangging, den Fotoapparat schussbereit vor der Brust tragend. Aber es blieb natürlich nicht aus, dass er doch einmal in hastigen, ja, geradezu zackig-strengen Schritten auf sie zukam, nämlich, als sie das Boot wieder bestiegen und sie ihn bereits an Bord wähnte, er jedoch wie ein Kistenteufel auf dem Tableau erschien – allerdings ohne ein Zeichen des Erkennens zu geben. Was war sie da erleichtert, dass er an ihr vorbeiging, jedoch und zugleich erregt, weil sie nicht verstand, wie er sie, da sie ihm ja förmlich im Weg stand, übersehen konnte, obwohl er ihr doch genau in die Augen sah. Es war ihr so, als ginge er mitten durch sie hindurch, ja, gerade so, als sei nicht er, sondern sie die Chimäre. Auf der Heimreise postierte sie sich wieder neben der Kapitänskabine und sah hinab auf ihn, der da unten eben an der Reling stand, den Fotoapparat an einem Riemen um die Schulter tragend und diesmal aufs offene Meer blickend, während ihm der Fahrtwind durchs schüttere Haar fuhr und seine zweifelsohne jeden Morgen neu gerichtete Frisur zerzauste und er sich, bald seines strengen Linksscheitels verlustig, ein blaues Basecap aufsetzte. Erst, als sie daheim in ihren sicheren vier Wänden war, beruhigte sie sich ein wenig, auch von dem, was sie an diesem Tag noch erlebt hatte. Dieser Menschen, den sie nach all dem nicht einmal mehr den falschen Geiger, geschweige denn bei seinem Namen nennen konnte, hatte, als der Fischfang eingefahren war, etwas getan, was sie nie würde vergessen können. Sie stand noch immer oben an der Reling, sah hinab, wie der erste Offizier eine vollgefüllte Kiste mit Meeresgetier in das Aquarium entleerte, hörte, wie der Kapitän die Aufforderung an die Kinder gab, jetzt selbst wühlen zu dürfen, bemerkte ihn zwischen all den Kleinen, wie er sich selbst am Aquarium erging. Ab und an hielt er etwas hoch, um es sogleich wieder ins Wasser zu geben. Immer und immer wieder tauchte er seine Hände ins Wasser, suchte, fand, holte heraus, besah es sich, legte es zurück. Wie die Kinder neben ihm auch. Doch plötzlich, ganz plötzlich holte er einen größeren Fisch herauf und aller Augen richteten sich auf ihn. Rufe wurden laut. Und er hielt den nach Luft schnappenden Fisch wie eine Trophäe hoch über den Kopf, während sich das Tier in seiner Hand wandte und krümmte – und ganz augenscheinlich einen Todeskampf focht. Dazu fletschte dieser Kerl wieder die Zähne. Kapitel 5: Ausgebrannt ---------------------- Er ließ das Tier in seiner Hand sterben, ehe er es achtlos ins Wasser warf und sich wieder dem Aquarium zuwandte. Die Kinder um ihn her zeigten kaum eine Reaktion darauf, vielmehr taten sie es ihm gleich, wohl angetrieben von ihm, der nun mit beiden Händen im Wasser umhertastete, suchte, hervorholte, besah und … Nein, dem Ganzen wollte und konnte sie nicht länger beiwohnen. Und so wandte sie sich endlich ab, begab sich ans Heck und suchte sich dort einen Platz. Der Anblick der schwindenden Gröde lenkte sie kaum ab, doch ließ sie ihren Blick bewusst übers Wasser gleiten, holte auch bewusst tief Luft – und das immer und immer wieder. Sie hatte es in den letzten Jahren gelernt, sich zu sammeln und negativen Gedanken nicht nachzuhängen und doch kamen sie immer wieder hoch – auch später noch, da sie bereits daheim in ihrer Ferienwohnung war und Percy auf dem Schoß hatte. Er schmiegte sich an sie, schnurrte leise und forderte sie durch leichtes Stupsen dazu auf, ihn zu streicheln. Doch sie, ganz bei dem, was sie erlebt hatte, konnte ihn nur halten, sodass er schließlich von ihrem Schoß sprang und zur Tür hinaus verschwand. Keineswegs war sie überempfindlich – jedenfalls würde sie sich nicht als solches bezeichnen – doch das, was der Typ getan hatte – und ihrem Begriff nach hatte er den Fisch ganz bewusst sterben lassen, ja, er hatte ihm sogar noch in sein vom Tod entstelltes Gesicht gesehen – erschütterte sie so sehr, dass sie in sich eine Unruhe spürte, die, wenn sie nicht aufpasste in eine Art Erregung übergehen konnte, die sie außerstande war zu steuern. Das Beste war, hinauszugehen und sich zu bewegen. Sich abzulenken. Den Blick über das weite Land schweifen lassen und dazu einfach einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das wollte sie, das tat sie und fand sich wenige Minuten später an einer der Fennen wieder, streckte ihre Hand über den Elektrozaun und ließ sich von allzu neugierigen Kühen beschnuppern, die jedoch bei jeder ihrer Regungen zurückzuckten. Kaum konnte sie die Tiere beruhigen, geschweige denn sie streicheln. Allerdings spürte sie immer wieder feuchte Nasen an ihren Händen, sie spürte auch den warmen Atem dieser großen Tiere, sah ihnen dabei in die braunen Augen und begann mit ihnen zu sprechen, ihnen zu erzählen. Was? Nun, als sie selbst erfasste, was sie da sagte, kniff sie den Mund fest zusammen und wünschte sich, dass diese Hallig nur ihr allein gehören würde. Nur ihr. Nahm sich jedoch sogleich zurück und beschränkte sich darauf, leise gegen den Wind zu murmeln: „Diesen Kerl möchte ich nie wiedersehen. Und wenn doch, dann werde ich ihm auf den Kopf hin zu sagen, dass er ein ekelhafter Mensch ist.“ Nun, dass sie die Gelegenheit dazu erhielt, soll an dieser Stelle nur erwähnt werden. Auch, dass sie das Schicksal eines neuerlichen Zusammentreffens bereits in den kommenden zwei Tagen traf. Vorerst allerdings wünschte sie sich, all diese Gedanken weg, denn sie war nicht auf die Hallig gekommen, um sich zu grämen, sondern um sich zu erholen, ja, Spaß zu haben, sich treiben zu lassen und einfach einmal an nichts Spezielles denken zu müssen. Von ihrer Arbeit war sie bereits so überspannt, dass sie es manchmal gar nicht hinbekam, abzuschalten. Und wenn es im ersten Kapitel noch geheißen hat, dass sie des Sonntagmorgens in ihrem großen Ohrensessel saß, um beispielsweise den Brandenburgischen Konzerten von Bach zu lauschen, dann ist das zwar korrekt, aber ihre Gedanken um die Arbeit und ihr Leben an sich konnte sie nicht wegdrücken, die blieben. Und ausgerechnet hier, auf der Hallig war ihr eben dieses Meisterwerk – ja, sie nannte es ein Meisterwerk gelungen, dass sie ihren Blick nur schweifen lassen konnte, um den Vögeln im Flug zu folgen oder eben die Sterne des Nachts zu beobachten und sich immer wieder in die Tiefen der Milchstraße zu begeben, in diese schier unendlich wirkende Weite. Diese unzähligen leuchtenden Punkte, die ihr Licht über Millionen gar Milliarden von Kilometern weit ins All hinausschickten, ehe es die Erde traf. Eines nachts blieb sie gar so lang auf der Deichwiese liegen, bis sich weit im Westen bereits Orion, eines der wenigen Sternbilder, die sie (er-)kannte, zeigte und sie richtete ihren Feldstecher auf den rechten der Schultersterne, Beteigeuze, einen roten Überriesen, der sich, so wusste sie, in 600 Lichtjahren Entfernung befand. Sein Licht benötigte also 600 Jahre bis zur Erde – unvorstellbar. Noch mehr spürte sie die Grenzen ihres Fassungsvermögens angesichts der Tatsache, dass dieser Stern starb, sich also irgendwann in einer riesigen Supernova erging – oder es bereits getan hatte. Nur sahen wir es nicht, weil das Licht, das von dieser Katastrophe kündete, noch nicht bei uns eingetroffen ist … Und in dem Moment, da ihr das bewusstwurde, erhob sie sich und ungeachtet ihrer wieder aufkommenden Genickschmerzen, presste sie den Feldstecher an ihre Augen, fixierte diesen uralten Stern, der, befände er sich in unserem Sonnensystem, die Umlaufbahn Jupiters vollkommen einnähme. Sie war glücklich, diese Gedanken denken zu können, denn das hatte man sie gelehrt, nachdem sie gemeint hatte, dass nichts mehr einen Sinn hätte, alles in einer trüb-grauen Suppe zerlaufen würden, auch und vor allem das eigene Leben. Damals – das war schlimm gewesen. Wann immer sie daran zurückdachte, wie sie eines Abends im Winter in ihrer kleinen Küche am Tisch gesessen hatte, vor sich nur eine Kerze in der ansonsten dunklen Wohnung, dann traten ihr Tränen in die Augen. Sie hatte in die leicht flackernde Flamme gestarrt und war mit dem Mittelfinger der linken Hand durch sie hindurchgefahren, zuerst rasch, doch dann immer langsamer, um schließlich in ihr zu verharren. Damals war sie gerade 40 Jahre alt geworden und hatte sich verflucht, so ausgesprochen schwach zu sein. „Lene, du feiges, feiges Schwein“, hatte sie sich selbst geschimpft, ihre Hand zurückgezogen und nur wieder in die Flamme gestarrt, während die Wehen des Schmerzes abebbten. Doch in ihrem Inneren rumorte es und es schien sie ihr so, als verhöhne sie diese kleine Flamme durch ihr munteres Geflacker. Am nächsten Morgen war sie zum Arzt gegangen. Dorthin, an diesen Abgrund, wollte sie niemals wieder zurück. Doch als sie vor einem Jahr in Südtirol war und erfuhr, dass manche Täler in den Wintermonaten kaum Sonne abbekamen, die dortigen Menschen demnach in einem ewigen Zwielicht lebten, überkam es sie kalt und sie musste mit sich kämpfen, nicht wieder ihres eigenen tiefen Tals, das sie überwunden geglaubt, ansichtig zu werden. Mittlerweile arbeitete sie wieder und versuchte ihr Leben in den Griff zu bekommen. Und diesen Urlaub, den hatte sie sich extra ausgesucht, weil sie spürte, dass diese Flamme, die in ihr selbst brannte, wieder zu verlöschen drohte. Deswegen diese drei Wochen auf der Hallig, um dann für die nächste Zeit gewappnet zu sein. Deswegen auch das Mühen darum, nun bei den Kühen auf der Weide Ruhe zu finden. Sie brauchte sie so dringend, ebenso wie das Schweigen, die Stille. Sie schloss kurz die Augen, schluckte und atmete ganz bewusst. Wegatmen, hatte ihr Therapeut gesagt, wegatmen. Bewusstsein gegen fast übermächtige Gefühle, die sie auszuhöhlen suchten – und die Flamme in sich bewahren. Um dies zu unterstützten, entzündete sie an diesem Abend auch eine Kerze, löschte das sonstige Licht, setzte sich an den Wohnzimmertisch, sah in die Flamme und schickte alle negativen Gedanken in sie hinein. Kapitel 6: Höllisch ------------------- Die kommenden zwei Tage nutzte sie dazu, tiefer in die Hallig einzudringen, denn noch immer hatte sie das Gefühl, nur an der Oberfläche gekratzt zu haben. Zwar gab ihr der Vogelkundliche Begleiter die Möglichkeit, die von ihr entdeckten Vögel zu benennen, doch wollte sie mehr, einfach mehr, wollte über die Fennen laufen – und das mit nackten Füßen, um das Gras zu spüren, wollte auch in wenigstens einen, auf der Hallig so zahlreichen Priele steigen – was sie dann jedoch nicht tat, weil es ihr nicht recht geheuer war. Sie wollte weitere Orte finden, an denen sie verweilen konnte, ohne, dass ihr Menschen begegneten. Bisweilen fand sie sich dann neuerlich bäuchlings im Gras liegend wieder und mit jedem Atemzug wurde ihr bewusster, dass sie frei war, ja, dass sie bereit war loszulassen, was sie bisher gehalten hatte – es trieb sie hinaus, immer wieder hinaus. Manchmal lief sie einfach nur über den Sommerdeich, breitete dabei die Arme aus, sah dann auf die Nordsee und hinauf in den blauen Himmel und schlug sich die Hände vor den Mund. Tränen traten ihr in die Augen. So etwas hätte sie schon damals vor 5 Jahren gebraucht. So etwas … aber damals war ihr der Gedanke an diese Hallig nicht gekommen. Damals war sie nur vor sich selbst geflohen, unfähig, sich selber einmal ins Gesicht zu sehen. Doch jetzt war es anders. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte, bis sie rannte, zuckte jedoch zurück, als sie einen lauten Schrei vernahm, ehe sie verstand, dass er sich ihrer Kehle entrungen hatte und noch einem weiteren Platz machte. Ja, plötzlich schrie sie so laut und so ungeniert, dass sie ein großes, herzhaftes Lachen hinterherschickte – und das so lang, bis sie krächzte und husten musste. Es fühlte sich gut an, so gut, dass sie weiterrannte und brüllte und schrie und lachte. Alles hinauslassen, was sie vormals in sich behalten hatte. Diese ganzen Erinnerungen, die Probleme im Job. Sie rannt, sie schrie, sie breitete ihre Arme aus, fuchtelte mit ihnen wild herum – und das, obwohl sie wusste, wie sie auf einen unbeteiligten Beobachter wirken mochte. Sie tat es dennoch – oder gerade deswegen. Solange, bis sie nicht mehr konnte und stehenbleiben musste, um nach Luft zu schnappen. Sie war nicht gut trainiert, war schon lang nicht mehr gelaufen – Sport? Na ja. Das, was sie konnte, war ein Relikt vieler Jahre harten Trainings in ihrer Jugend. Sie war geschwommen, gerne, oft und später eben auch im Leistungskader, bis sie mit dem Stress nicht mehr klargekommen war. Sport. Sie sollte ihn wieder treiben. Das sagte sie sich, als sie sich auf ihre Knie stützte und ihren Herzschlag wie einen Trommelwirbel in den Ohren hörte. Aber obwohl ihr der Lauf den Atem geraubt hatte, wollten ihre Beine weiter und schon spürte sie auch, wie sich in ihr ein neuerlicher Schrei aufbaute, der hinausdrängte. Und ohne zu überlegen, entließ sie ihn in die Freiheit. Das ging so lang, bis sie ein Urlauber ganz unvermittelt fragte, ob es ihr gut ginge und ob man ihr helfen könne. Und sie, in diesem Moment ganz schlagfertig, erwiderte heiser: „Ja, alles okay. Ist nur eine Stimmprobe. Ich trainiere, ich übe mich im Schreien. Ich brauche das für meinen Job. Ich bin Schauspielerin.“ Und im Grunde stimmte das auch – irgendwie. Der Urlauber schien’s zufrieden, jedenfalls ging der nickend und schulterzuckend davon, drehte sich jedoch noch einige Male nach ihr um. Aber sie kümmerte sich nicht weiter um ihn, winkte ihm nur. Peinlich war’s ihr nicht. Warum auch? Sie hatte begriffen, dass sie sich hier so zeigen konnte, wie sie gerade sein wollte. Das hatte ein wenig von Pippi Langstrumpf, fand sie. Dieses starke Mädchen hatte es ihr in ihrer Kindheit angetan. So zu sein wie sie. Warum nicht auch als Erwachsene ein wenig von ihr in sich tragen? Warum nicht ab und an die Grenzen übersteigen. Und hatte ihr das nicht auch ihr Therapeut geraten, sich ab und zu etwas Außergewöhnliches zu gönnen. Sie grinste. Früher hatte sie nicht gewusst, was er meinte, jetzt aber war ihr klar, dass sie ihre Fesseln nur selbst zerreißen konnte. Wen störte es also, wenn sie ihren so lang angestauten Emotionen freien Lauf ließ? Sie jedenfalls nicht. Und das war die Hauptsache. Am Abend dann spürte sie ein leichtes Kratzen im Hals, glaubte auch, leicht heiser zu sein, doch das kümmerte sie wenig. Sie kochte sich unter vielen Räuspern ein schönes Essen, nebst einem warmen Tee mit Honig, nahm beides am Wohnzimmertisch ein, während Percy im anderen Sessel lag und zu schlafen vorgab. Aber schlief er tatsächlich? Sein Schwanz ging ab und zu. Sie schmunzelte, murmelte unter neuerlichem Räuspern: „Ach, Kerlchen, du Kerlchen …“, erhob sich, räumte ab, um sich dann wieder die Kerze anzuzünden und das restliche Licht zu löschen. Wieder sah sie, nun mit Percy auf dem Schoss, in die leicht flackernde Flamme und versuchte, Ruhe zu finden, sich zu entspannen. Und es gelang. Alle negativen Gedanken waren fort und sie spürte eine Leichtigkeit in sich aufsteigen, die sie zuvor nicht gekannt hatte. Der nächste Tag ließ sich ebenso gut an wie der vorangegangene, nur hieß es im Wetterbericht, dass für den späten Nachmittag oder frühen Abend mit Regenschauern zu rechnen sei. Gut, das störte sie wenig, da es noch früh am Morgen war und die Sonne vom azurblauen Himmel schien. Alles war einträglich, ruhig. Sie beschloss, heute die Hallig zu umrunden. 11 Kilometer, das war in vier Stunden zu schaffen. Und im Anschluss daran wollte sie eines der Cafés auf ihrer Heimatwarft ausprobieren. So der Plan, dem sie auch folgte. Auf dem Sommerdeich entlang, mit den nackten Füßen im weichen Wollgras, auf dem Rücken einen kleinen Rucksack, in den sie, da gut gefrühstückt, nur eine Halbliter-Flasche Wasser getan hatte. Sie war frei wieder Wind, den sie, auch zu dieser frühen Stunde bereits aus Nord-Nordwestlicher Richtung spürte, mehr noch als an den anderen Tagen. Und sie wusste, ahnte, dass etwas aufziehen würde. Doch noch blieb Zeit, sich an der frischen Luft zu ergehen. Und der Wind in ihrem Rücken trieb sie vorerst zu schnellen Schritten an. Sie lächelte, breitete wieder die Arme aus und ließ ihren Blick kreisen. Sie war jetzt fast eine Woche hier auf der Hallig und fühlte sich schon jetzt erholt, auch wenn sie noch immer Müdigkeit in sich spürte. Aber die, so sagte sie sich, hatte sie wohl dem Umstand zu verdanken, dass sie von morgens bis abends draußen war. Frische Luft, das wusste jeder, machte müde, sehr müde. Und obwohl sie manche Nacht unter freiem Sternhimmel verbrachte, konnte sie recht gut schlafen. Ja, sie hatte sich richtig entschieden, auf diese Hallig zu kommen, denn diese Abgeschiedenheit brauchte sie. Das Alleinsein mit sich und der Natur. Und so lief sie weiter und weiter, kam alsbald an der nächsten Warft vorbei, machte kurz halt, um das WC-Häuschen aufzusuchen und etwas zu trinken, ehe sie weiterging, sich umsah und daran erfreute, dass sie weit und breit keinen anderen Menschen sah. Wo gab’s das sonst noch? So verging die Zeit – und da sie immer mal wieder stehenblieb, um sich an der sie umgebenden Weite zu erfreuen, hatte sie die letzte der Warften auf der Hallig gerade gequert, als sie von einer heftigen Böe gepackt wurde. Doch das machte ihr nicht viel aus, war es doch bereits die ganze Zeit schon recht windig gewesen. So lief sie einfach weiter, weil sie meinte, dass der Regenschauer noch etwas auf sich warten lassen würde. Jedenfalls verriet ihr der Himmel nichts Gegenteiliges. Überdies war es noch sonnig. Allerdings rechnete sie nicht mit der Geschwindigkeit der herannahenden Wolken und plötzlich brach es über sie herein. Einfach so. Unangekündigt. Jedenfalls für sie. Es war keine 15 Uhr, da sie von einem heftigen Regenschauer getroffen, nicht wusste, wohin. Sie allein auf dem Sommerdeich. Und über ihr türmten sich plötzlich tiefhängende, dunkle Wolken auf, die ihre Brut nur allzu gern ablassen wollten. Hinzukam, dass sich der Wind in einen Sturm zu verwandeln schien. Da war’s ihr fast unheimlich. Augenblicklich war sie klitschnass bis auf die Knochen und zitterte leicht, da die Temperaturen von sommerlicher Wärme um mindestens 10 Grad gefallen waren – und das innerhalb weniger Minuten. Und was blieb ihr? Sie musste weiter. Versuchen, die heimische Warft zu erreichen, da aber hörte sie hinter sich ein verräterisches Grummeln, wandte sich um. Regen peitschte ihr augenblicklich ins Gesicht und verunmöglichte ihr beinahe die Sicht auf das, was sich am Himmel abspielte. Sie erahnte mehr, als dass sie sie sah: schwefelgelbe Wolken – und dann spürte sie ein Zucken in sich. Ganz klar, die Luft war elektrisch aufgeladen und kündete vom nahenden Gewitter. Einen Moment lang starrte sie dieser Übermacht ins Antlitz, ehe sie sprichwörtlich die Beine in die Hand nahm und rannte, rannte, rannte, bis sie, kaum noch Kraft habend, ganz in der Ferne etwas ausmachte, das sie als Strandkorb zu identifizieren meinte. Schon grummelte es wieder hinter ihr – und sie, getrieben von der Angst, alsbald vom Blitz getroffen zu werden, jagte diesem rettenden Unterstand entgegen. Sie ahnte, dass ihr nur noch wenige Minuten blieben, bis sich das Gewitter über ihr erging, da meinte sie schon ein wetterleuchtendes Zucken quer über der Gischt speienden Nordsee zu erspähen, als sie den Strandkorb erreichte. Gott sei Dank, so dachte sie, steht er dem Regen abgewandt. Gott sei Dank. Schon war sie um ihn herum und wollte sich gerade in seinem Schutz fallen lassen, als ihr ein Schreckensruf entfuhr. Der Strandkorb war keineswegs leer, so, wie sie erwartet hatte. Drin saß dieser Kerl, der, wohl durch ihr Erscheinen ebenso aufgeschreckt, zu ihr hinaufsah, allerdings machte er keinerlei Anstalten zu rutschen, sodass sie ihn, vollkommen verzweifelt, anblaffte: „Nun bitte!“ Dazu fuchtelte sie ihm vorm Gesicht herum, um ihm zu verdeutlichen, was sie wollte. Er, noch immer zu ihr aufsehend, reagierte, allerdings widerwillig, wie ihr schien. Dass sie ebenso wenig neben ihm sitzen wollte, versteht sich, doch die Not war zu groß. Und so, als wollte sie das Wetter in ihrem Tun bestätigen, krachte es plötzlich so laut, dass sie sogar ein wenig in die Knie ging. „Nun machen Sie schon“, fauchte sie und zwängte sich, ungeachtet dessen, dass er seinen Rucksack auf der Sitzbank zu stehen hatte, ins sichere Versteck neben ihn. Kapitel 7: Mit der Stulle in der Hand ------------------------------------- Natürlich wollte sie nicht mit ihm reden, aber was blieb ihr denn anderes übrig, als ein Dankeschön zu murmeln, nur, um sich dann doch in die äußerste Ecke des Strandkorbs zu pressen, die Arme vor der Brust zu verschränken und zu hoffen, dass das Unwetter bald vorbeiginge. Doch mit dieser Taktik kam sie nicht weit, jedenfalls fühlte sie sich nach einer Weile des Schweigens dazu genötigt, erneut das Wort an ihn zu richten. „Sie sind auch vom Regen überrascht worden?“ „Wie kommen Sie darauf?“, kam’s flugs von ihm. „Ich bin eigens hergekommen.“ „Was? Wirklich?“ Sie wusste nicht, ob er es ernst meinte, oder sich bloß einen schiefen Scherz erlaubte. Als Antwort schickte er ihr indes einen Blick, den sie unmöglich missdeuten konnte: so von oben herab, mit leicht hängen Lidern. Sie hasste das, nahm sich aber zusammen und machte gute Miene zum bösen Spiel. „Tja, dann wollten Sie das Gewitter erleben?“, fuhr sie fort. „So wird es sich wohl verhalten“, kam’s ungerührt von ihm. Und damit war das Gespräch vorerst beendet und sie hatte Gelegenheit, dem an die Rückseite des Strandkorbs klatschenden Regen zu lauschen, ebenso wie dem Pfeifen des Windes und dem immer wiederkehrenden Grummeln am Himmel, das sich noch im tiefen Wolkenmeer versteckte. Nach einer Weile spürte sie auch die Kälte wieder und sie musste sich schon sehr zusammennehmen, nicht mit den Zähnen zu klappern. Auch zwang sie sich, auf die vom Sturm gepeitschte Nordsee zu blicken. Doch nach einer Weile wandte sie wieder den Kopf und sah ihn von der Seite an. Er trug neben Gummistiefeln eine wasserabweisende Jacke nebst Regenhose und auf dem Kopf wieder dieses blaue Basecap unter dem sich eine hohe Stirn, tiefsitzende Augen und seine gebogene Nase bargen. Seinen Rucksack hielt er auf den Knien. Er selbst saß leicht vornübergebeugt, so als wolle er unmittelbar am Sturmregen teilhaben. Auch das immer wieder auftretende Grummeln schien ihn nicht zu schrecken. Vielmehr war es ihr so, als genieße er die Stimmung. Und so, als wollte er sie in ihrer Annahme bestätigen, holte er sich aus seinem Rucksack eine Thermokanne hervor, schraubte sie auf und goss sich eine dampfende Flüssigkeit ein. Und ohne auch nur von der stürmischen Nordsee abzulassen, führte er sich den Becher an die Lippen, nahm einen Schluck und ließ sogar ein leises – fast selbstvergessenes – Ah, hören, ehe er noch einen Schluck nahm und sie, durch ein neuerliches Grummeln aufgeschreckt, fragte: „Meinen Sie nicht, dass wir vom Blitz getroffen werden könnten?“ Er wandte den Kopf und wieder traf sie dieser leicht verhangene, von oben herkommende Blick, doch er sagte nichts. Vorerst zumindest. Und sie kämpfte dagegen an, sich bei all der nervlichen Anspannung auch noch klein wie ein Tier zu fühlen und setzte sich stattdessen aufrecht hin. „Meinen Sie nicht?“ „Wäre ich hier, wenn es sich so verhielte?“, war die Antwort. Sie erwiderte nichts und auch er schwieg. Ganz offensichtlich weidete er sich an ihrem Anblick, denn seine Lippen kräuselten sich, was seinem Gesicht einen fast diabolischen Ausdruck gab. Im Moment war ihr das jedoch egal. Sie wollte Klarheit und beschloss, ihren Blick keineswegs niederzuschlagen. Und so kam es, dass sie sich einfach anstarrten und keiner nachgeben wollte – wie die beiden Ziegen auf der Brücke aus der berühmten Fabel von de La Fontaine. Schließlich wandte er sich doch ab und nahm noch einen Schluck, ehe er die Flasche wieder verschloss, sie jedoch nicht in seinen Rucksack zurücktat, sondern in den Händen behielt. „Ich bin nicht zum ersten Mal hier auf der Hallig“, begann er plötzlich. „Ach“, machte sie. „Insofern weiß ich um die hiesigen Wettererscheinungen. Das Gewitter wird sich, gemessen an der Windrichtung weit draußen auf der Nordsee ergehen. Ob wir Blitze sehen werden ist fraglich. Und der Starkregen wird in Hinblick auf das Wolkenbild, noch gut eine Stunde anhalten. „Na, großartig“, murmelte sie und presste ihre Arme ganz fest an ihren Körper. Wie hatte sie nur so dumm sein können, nicht an warme Kleidung zu denken? Sie fror ganz ordentlich. Und um sich abzulenken, wandte sie sich wieder an ihn, der nun ein Brotbehältnis aus seinem Sack holte und es öffnete. „Gemessen an der Tatsache, dass ich eigens der Blitze wegen hergekommen bin, ist das nicht großartig“, sagte er, entnahm dem Behältnis eine Schnitte und biss in sie hinein. Sie spürte, dass er großen Hunger hatte, so schnell wie er aß. Er stopfte beinahe. Nur, um zwischendurch immer wieder einen Schluck aus der Thermokanne zu nehmen. Wohl, damit es besser rutschte? „Aber vielleicht haben wir Glück und es ereignet sich doch ein Schauspiel über der Nordsee?“, hörte sie sich selber sagen. Er schwieg, sah sie nur wieder an, sodass sie sich schließlich zu einem „Was?“ veranlasst sah und er ihr, sich selbst das letzte Stückchen Brot in den Mund steckend, das Behältnis hinhielt, kaute und dann leise fragte: „Mögen Sie eine Schnitte?“ Im ersten Moment war sie sprachlos. Da sie jedoch der Hunger bemerkbar machte und er sie geradezu aufmunterte, griff sie dankend zu. Und er lächelte – ganz ohne die Zähne zu fletschen. Auch wirkte sein Blick vollkommen normal. Einen Moment lang meinte sie, auch ihn anzulächeln und sagte nochmals: „Ich danke Ihnen“, ehe sie sich über das Brot in ihrer Hand hermachen wollte. Und er, noch immer lächelnd, bot ihr auch seine Thermokanne an. „Es ist nur Kamillentee“, sagte er fast entschuldigend. Wieder nickte sie und mühte sich um ein Lächeln. „Das ist wirklich nett, danke.“ Er nickte ebenfalls, lächelte, beobachtete sie beim Essen und fügte dann ganz leise, fast zärtlich hinzu: „Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Man kann es nicht mit letzter Gewissheit sagen, ob Blitze erscheinen, allerdings empfiehlt es sich, den Feldstecher heute in der Tasche zu lassen …“ „Was?“, hörte sie sich fragen. „Nun, bisweilen beobachten Sie doch, wenn ich es recht in Erinnerung habe, sogar recht gern und intensiv.“ Augenblicklich überkam es sie siedend heiß. Hatte er … konnte es tatsächlich wahr sein … Sein Blick verriet ihr nichts. Und gerade das drehte ihr den Magen um, sodass sie vom nächsten Bissen absah. Ja, sie hatte ein schlechtes Gewissen, ein äußerst schlechtes. „Ich …“, brachte sie nur hervor. „Ja?“ Sie fühlte sich getroffen und das doppelt, denn sie war ihm, das konnte sie nicht leugnen, in die Falle gegangen. Doch zu Kreuze kriechen, das wollte sie nicht und so raffte sie sich zusammen, nahm schließlich einen Bissen vom Brot und auch einen Schluck aus der Kanne und fragte ihn dann: „Warum haben Sie den Fisch sterben lassen?“ „Sie sehen mich nicht überrascht“, setzte er an, „denn es war mir klar, dass Sie, sollten wir noch einmal aufeinandertreffen, eben jene Frage stellen würden.“ Wieder unterbrach er sich, griff sich an die Brust und fuhr dann fort: „Und es ist Ihr gutes Recht, danach zu fragen, schließlich wohnten Sie diesem Ereignis ja geradezu persönlich bei …“ Sie schluckte und meinte, an ihrem Bissen ersticken zu müssen, doch trinken wollte sie nichts. Also würgte sie leicht und verfluchte sich innerlich, nicht die Ruhe bewahren zu können. „Nun denn“, fuhr er fort, „es verhält sich so, dass ich Sie Gleiches fragen könnte: Warum haben Sie mich beobachtet? Meinten Sie allen Ernstes, dass ich dies nicht bemerken würde?“ Sie räusperte sich und wusste, dass es nun an ihr war, etwas zu sagen. Irgendetwas. Doch eine Entschuldigung, das spürte sie, wollte er nicht hören. Sie wäre ihr selbst auch zu lapidar vorgekommen. „Na ja, ich kann nicht umhin, zuzugeben, dass ich Sie bei unserem ersten Treffen für recht … nun ja …“ Sie unterbrach sich, weil sie spürte, dass sie sich in ihrer Rede verrannt hatte. Nun war es ihr peinlich. Doch er kam ihr zuvor. „Sie meinen, ich hätte auf Sie einen seltsamen, um nicht zu sagen, gestörten Eindruck gemacht?“ Sie schwieg. Er aber fuhr fort: „Nun, wenn es sich so verhielte, dauerte mich das sehr. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen, so darf ich versichern, dass ich den Fisch nicht aus Absicht habe sterben lassen, vielmehr war es ein Versehen.“ „Ach so?“, fragte sie. Er nickte und zupfte sich mehrere Male hintereinander ganz schnell an der Nasenspitze. „Ein Versehen. Doch was Sie betrifft, so ist mir noch immer nicht klar, warum Sie Ihren Feldstecher bemühten, um jede meiner Regungen zu beobachten.“ „Tja“, erwiderte sie matt, „das ... das …“ „Was hofften Sie in Erfahrung zu bringen?“, fragte er in ihr Gestammel hinein und ehe sie es sich versah, starrte ihr wieder dieses Zähnefletschen entgegen, sodass sie leicht zurückschreckte und ein: „Könnten Sie das bitte lassen? Es ist einfach schrecklich“, hauchte. Sofort verschwand dieses Grinsen und machte wieder einem recht annehmbaren Lächeln Platz. „Was?“, fragte er leise. Wieder räusperte sie sich und er hielt ihr die Kanne hin. Dass sie sich dadurch nur noch beschämter fühlte, machte es ihr nicht besser. Schließlich aber nickte sie, er verstand, öffnete sie, goss ein und reichte ihr den Napf. Sie nahm ihn, ein neuerliches „Danke“ murmelnd und da er nichts erwiderte, was denn auch?, fuhr sie fort: „Hören Sie, es war nicht meine Absicht, Sie zu observieren. Ich sah Sie nur und … ach … im Grunde möchte ich nur eines: Meine Ruhe haben. Aber als ich Sie da in diesem Café sitzen sah … Ach, bitte … belassen wir es dabei. Mir tut es sehr leid, das getan zu haben. Bitte vergessen Sie es.“ Er schwieg, sah sie aber weiterhin an und ihr war recht seltsam zumute. Neuerlich stieg ihr die Frage auf, was sie sich eigentlich dabei gedacht hatte, ihn zu observieren. Was war es gewesen? Sie wusste es nicht. „Ich bin sonst nicht so. Und ich wäre Ihnen verbunden, wenn … wenn Sie es wirklich einfach vergessen würden.“ „Nun, vergessen werde ich es nicht können, aber ich kann es in der Tat dabei belassen. Sie versuchten mir, Ihren Standpunkt zu erläutern und ich kann Ihnen versichern, dass Sie nicht die Erste sind, die sich an meinem Verhalten stößt. Ebenso wollte ich keineswegs das erreichen, was ich ganz offensichtlich erreicht habe.“ „Wie?“, entfuhr es ihr, denn sie fühlte sich ob seiner bandwurm-artigen Schachtelsatz-Redeweise plötzlich recht schummrig. Oder war es der Tatsache geschuldet, dass ihr kalt war und sie sich wünschte, daheim zu sein und eine warme, gar heiße Dusche nehmen zu können? Stattdessen erging sie sich hier in einer seltsamen Unterhaltung mit dem Typen, den sie eigentlich nicht hatte wiedersehen wollen. „Ich bin übrigens Lene … Lene Laux“, hörte sie sich zu allem Überfluss sagen und reichte ihm noch dazu die Hand. Er stutzte einen Moment lang, ehe er sie ergriff. „Gottfried Jakob Praetorius und, da Sie es zu ahnen scheinen, muss ich Sie leider enttäuschen, ich habe nichts mit dem ehemaligen Thomaner und jetzigem Dirigenten Friedrich Praetorius zu tun.“ Sie starrte ihn nur wieder an, das Wie bitte? einfach hinunterschluckend, so wie den Bissen, den sie neuerlich genommen hatte, und sagte dann: „Ach ja, das wäre tatsächlich meine nächste Frage gewesen, da Sie ja Geiger sind.“ „Falsch“, erwiderte er so prompt wie bei ihrem ersten Zusammentreffen. „Ich bin kein Geiger. Ich bin Mathematiker und Physiker, doppelt diplomiert und habilitiert in Physik.“ „Ähm …“, machte sie nur und würgte an ihrem Brot. Er sah es und deutete auf den noch halbgefüllten Napf in ihrer Hand. „Ach so“, murmelte sie. „Ja dann …“ „Nun möchten Sie sicher wissen, was mein Schwerpunkt ist.“ „Ähm, ich fürchte, dass ich davon nicht viel verstehe“, erwiderte sie. „So?“, fragte er und blinzelte einige Male. Sie nickte und spürte, dass ihr Herz zu rasen begann. „Na dann. Was könnte ich Ihnen noch erzählen, um Sie von meiner Integrität zu überzeugen?“ Sie verkniff sich jegliche Regung und nahm stattdessen wieder einen Bissen. „Nun vielleicht, dass ich Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin bin, und zwar, wie Sie sich denken können, im Fachbereich Physik. Ich fahre also jeden Tag von Zehlendorf, wo ich wohne, nach Adlershof ins Schrödinger-Zentrum.“ „Ach … ach so … ja …“, machte sie und gab vor, kauen zu müssen, um sich einer direkten Antwort zu entziehen. „Und Sie?“ Er musterte sie und wie sie fand, recht erwartungsvoll. Ganz klar, er wollte etwas von ihr hören. Doch ehe Sie darauf kam, was, vergingen einige Momente. Dann schließlich durchzuckte es sie: „Oh, bitte verzeihen Sie, ich arbeite an einer Grundschule – ich bin Lehrerin. Ebenfalls in Berlin.“ Nun war es an ihm, die Brauen hochzuziehen und ein „Ach“ hervorzubringen. „Prenzlauer Berg“, fügte sie hinzu. „Aber dann sollte Ihnen die Mathematik nicht ganz fremd sein, wenn die Prämisse stimmt, dass Grundschullehrer von Deutsch bis Mathematik alles unterrichten müssen“, fügte er hinzu. „Nun, das stimmt zwar, aber ich bin Geschichts- und Biologielehrerin und unterrichte also die fünften und sechsten Klassen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich auch in den unteren Klassen ab und zu Vertretungsstunden gebe und somit auch Mathematik oder Deutsch unterrichte.“ Er nickte nur, erwiderte allerdings nichts und so fügte sie hinzu: „Manchmal tue ich aber nichts von alldem, sondern gebe nur den Clown für die Kinder.“ „Wie?“, fragte er, neigte sich leicht zu ihr, hatte seinen Blick aber schon wieder der Nordsee zugewandt. „Ja“, erwiderte sie leise. „Das tue ich, den Clown geben.“ Kapitel 8: Und doch ist er sperrig ---------------------------------- Irgendwie komisch fand sie das Gespräch, zumal dieser Gottfried-Jakob sie dann noch, vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen, nach ihrem Sonnenbrand fragte – das allerdings so beiläufig, dass sie Zweifel daran hatte, ob es ihn wirklich interessierte. Also zog sie es vor, ihm ein „Ganz gut“ zu erwidern. „So? Ganz gut? Dennoch empfiehlt es sich, den Arzt aufzusuchen“, hatte er daraufhin bemerkt und sich kurz an sie gewandt. „Das werde ich tun“, versicherte sie. „Allerdings zeigt sich ein etwaiges Melanom erst sehr viel später. Darum heißt es doch: Die Haut vergisst nicht.“ „Ach, eine Metapher“, rief er da plötzlich – etwas unangemessen heftig, wie sie fand, nickte jedoch. „Sie überträgt noch dazu menschliche Eigenschaft auf die Haut …“, fuhr er mit plötzlich erhobenem Zeigefinger fort, was sie leicht zusammenzucken ließ, zumal er sie mit leicht gerümpfter Nase und wiederum zusammengepressten Lippen ansah. Sollte das tatsächlich ein Grinsen darstellen, gar ein Lächeln? Sie selbst verkniff sich jegliche Regung und sagte so beiläufig wie nur irgend möglich: „Ja, es handelt sich in der Tat um eine Personifikation.“ Beide hatten sich daraufhin wieder nur angesehen, ehe er den Blick senkte und sie aufs noch immer tobende Meer hinaussah. Im Nachhinein betrachtet, war es ja nicht schlimm gewesen, mit ihm über anderthalb Stunden im Strandkorb zu sitzen. Nein, keineswegs, denn in so unangenehmem Licht, wie zuvor, war er ihr nun nicht mehr erschienen, allerdings spürte sie, dass sie mit ihm auch nicht warm werden würde – gleichwohl er ihr so offen von seiner Arbeit erzählt und sich bemüht hatte, sie von seiner Normalität zu überzeugen. Und dadurch war sie in Zugzwang geraten, sich nun ihrerseits bei ihm zu entschuldigen für ihre Observationen. Nun ja. Zum Schluss hatte er sie doch allen Ernstes gefragt, ob sie aus dem Osten komme und sie hatte bejaht. Hierauf hatte er ein leicht verkniffen wirkendes Lächeln aufgesetzt, das die Falte zwischen seiner Nasenwurzel und dem Stirnansatz deutlich zum Vorschein brachte. So hatte er sie einige Momente lang gemustert, ehe er erwiderte, dass dann alles klar sei. „Wie?“, hatte sie gefragt – tatsächlich vollkommen ahnungslos. Und er hatte daraufhin, die Arme vor der Brust verschränkend, noch verkniffener gewirkt, als er sagte: „Dann haben Sie ja Erfahrung im Observieren.“ Erst in diesem Augenblick fiel bei ihr der Groschen – sie verstand, zog es jedoch vor, auf diese doch sehr klischeehafte Äußerung nicht zu reagieren, zumal sie gar nicht wusste, wie er sie gemeint hatte. Aber war ihr nicht so, als bemerke sie eine Spur Verachtung für das System, das sich aus seiner Perspektive jenseits der Mauer befunden hatte. Jedenfalls fügte er wie zur Bestätigung hinzu, dass es ja lange geheißen hätte, die Ostdeutschen müssten erst einmal richtig lernen zu arbeiten. „So?“, hatte sie erwiderte und ihre klammen Hände gefaltet. „Möchten Sie noch ein Brot und etwas trinken?“, war es in diesem Moment – wieder ganz unverhofft – von ihm gekommen. Sie hatte überlegt und ihm dabei in die Augen gesehen. Dass er Grüne hatte, war ihr zwar in diesen Momenten aufgefallen, da sie in seiner Miene zu lesen versuchte, doch sogleich war es ihr wieder durch den Kopf geschossen, dass sie dieses Menschen wohl nicht habhaft werden könne. Aber wollte sie das überhaupt? Doch wohl nicht. Sie lehnte dankend ab und verwies darauf, dass Regen und Gewitter beinahe abgezogen seien und sie es doch sogleich wagen würde, den Heimweg anzutreten. Und zu ihrem großen Glück machte er nicht auch Anstalten, den Strandkorb zu verlassen, sodass sie sich Minuten später allein auf dem Sommerdeich wiederfand – und ohne sich noch einmal umzudrehen, ihren Heimweg antrat. Freilich hatte sie sich ordentlich von ihm verabschiedet und ihm dann auch noch einmal gesagt, wie sehr sie von seinem Geigenspiel entzückt gewesen sei und es noch immer wäre. Sie hatte es gesagt, weil sie meinte, dies tun zu müssen, sozusagen als Dankeschön für die empfangene Nettigkeit. Er jedoch hatte hierauf wiederum verkniffen gelächelt, dann den Zeigefinger in die Höhe gereckt und gemurmelt: „Aber nicht vergessen, ich bin kein Geiger.“ Sollte das witzig sein, gar in irgendeiner Weise charmant? Jedenfalls rang sie sich zu einem: „Ich weiß, Sie sind Physiker und Mathematiker“ durch, gab ihm die Hand, die er auch ergriff und nun seinerseits sagte: „Also, auf Wiedersehen dann, Frau Grundschullehrer.“ Sie nickte, lächelte jedoch nicht, obwohl es ihr so vorkam, als mühte er sich gerade darum, einen Witz zu machen. Sein Gesichtsausdruck sprach indes dagegen. Oder täuschte sie sich? Aber diese zu Schlitzen verengten Augen und die festzusammengepressten Lippen wirkten nicht so, als wollten sie an ein Lächeln erinnern. Dass sie es im Zuge ihrer Ausbildung auch gelernt hatte, Gesichtsausdrücke zu deuten, durfte sie an dieser Stelle wohl niemandem verraten. Allerdings war er bisher der Einzige, den sie nicht lesen konnte, was wohl auch daran lag, dass seine Mimik tatsächlich nicht seinen Gemütszustand zu spiegeln schien. Oder, sie hatte ihn einfach noch nicht zu verstehen gelernt? Nur, wollte sie das je können? In ihren Augen war er noch immer dieser komische Kerl, den Ausdruck Tropf wollte sie nicht gebrauchen, denn in dem schwang doch etwas viel Verachtung mit. Sie aber verachtete ihn nicht, fand ihn nur seltsam, komisch, bizarr, aber eben auch zu wenig greifbar. Ja, sie hatte, wann immer sie an ihn dachte, das Gefühl, einen Fisch in der Hand zu haben. Irgendwie glitschig und ja, auch eklig. So ihre Gedanken, als sie nach Haus lief. Die Schuhe schwappten derweil voll des Wassers und gaben bei jedem ihrer Schritte ein seltsam quietschendes Geräusch von sich. Auch fror sie ganz fürchterlich, zumal der noch immer feucht-kühle Wind sie nun teilweise von der Seite traf. Zwar brachte er frische Luft mit sich, doch bescherte er ihr auch eine Gänsehaut, sodass sie leicht mit den Zähnen zu klappern begann und sich dazu durchrang, das letzte Stück zu ihrer Heimstatt zu joggen. Und seltsamerweise fiel ihr das recht leicht. Jedenfalls spürte sie daheim weder ein Seitenstechen noch den Drang, husten zu müssen. Und da sie Percy bereits auf der Treppe erwartete, schob sich auch ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie nahm ihn hoch und sah sich mit ihm auf dem Arm noch einmal um. Wieder ergriff sie der Anblick der Weite. Und obwohl der Himmel noch immer wolkenverhangen war, fühlte sie sich wiederum seltsam leicht, frei. Ja, sie hatte den Tag genossen, irgendwie, auch wenn sie dieser komische Kauz doch recht verwirrt hatte. Die warme Dusche war eine Erlösung und sie hörte sich nicht nur einmal seufzen. Und auch wenn sie etwas gegen Wasserverschwendung hatte, blieb sie solange unter dem Wasserstrahl, bis sie sich vollkommen aufgewärmt hatte – und den Rest bescherte ihr ein warmer Tee nebst einer Suppe, die sie sich, da doch recht müde und im Grunde satt, zubereitet hatte. Percy blieb bei ihr, auch als sie wiederum die Kerze anzündete und das übrige Licht in der Wohnung löschte, um sich beim Anblick der Flamme zu reinigen, wie sie es inzwischen nannte. Der nächste Tag ließ sich ebenso an, wie der vorangegangene geendet hatte – wolkenverhangen, kühl, jedoch versprach er wenigstens trocken zu bleiben. Und so nahm sie rasch ihr Frühstück ein, begrüßte Percy, der an ihrer Tür gestanden hatte, besuchte kurz den Halligkaufmann, um sich für die kommenden Tage einzudecken, nahm auch ein Leckerli für ihren Rotschopf mit, ging wieder nach Haus, räumte ihren Vorratsschrank ein, verfütterte das Leckerli und besah sich den Buddelbreef. An diesem Abend sollte es neben einer musikalisch untermalten Multivisionsshow über das Halligleben auch wieder Bernsteinschleifen geben. Sie überlegte nicht lang und fand, dass sich beide Veranstaltungen lohnten. Sie fanden am Abend statt – Zeit genug also, um morgens einen Spaziergang zu machen, wenn auch einen kleinen, aber sie brauchte die frische Luft, die Freiheit, den Wind, der ihr ins Haar fuhr und sie an Ekke Nekkepenn erinnerte. Ja, dieser Sagengestalt war sie zum ersten Mal an der am westlichsten gelegenen Warft in Form einer Holzstatue begegnet. Sie hatte den Namen gelesen und nicht verstanden: was sollte das darstellen? Erst später erfuhr sie, dass es sich eben dem Volksglauben nach um eine Gestalt handelte, die bisweilen in Wind und Sturm gekleidet übers Land zog und den Menschen auf den Halligen und Inseln tröstliche und kraftgebende Worte ins Ohr flüsterte. Diesen Gedanken fand sie schön und sie beschloss, diesen kleinen Kerl in Gedanken einfach mitzunehmen, wenn sie die Hallig wieder verlassen musste. Doch noch war sie hier, drehte sich dem Wind entgegen und ließ sich einfach zausen. Sie schloss auch die Augen, breitete die Arme aus und neigte sich dem Wind entgegen – und er hielt kräftig dagegen. Ein wundervolles Gefühl war das. Mit Worten kaum zu beschreiben und so schwieg sie gedanklich einfach. Und dieses Schweigen fühlte sich ebenso gut an. Der Wind durchdrang sie förmlich, blies alles Lästige aus ihr heraus und ließ sie sogleich noch viel ruhiger werden. Ruhiger, besonnener und im Hier und Jetzt seiend. Und schon zog sie ihre Schuhe aus. Obwohl sie die Kälte spürte, wusste sie doch auch das weiche Wollgras an ihren Sohlen. Und das ganz bewusst, weil sie sich darauf konzentrierte. Ja, sie tat einen Schritt und spürte das Wollgras, so weich, so fluffig, so schmeichelnd. Einfach schön. Und da ihr das nicht genügte, ging sie einige Schritte, während sie die Augen wieder schloss. Hier lief sie ja nicht Gefahr, irgendjemanden anzurempeln – hier konnte sie einfach sein. Am Abend dann bereitete sie sich ein kleines Mahl zu, küsste Percy auf den Kopf und machte sich dann für Multivisionsshow zurecht. Es sollte ein Lichtbildervortrag über das Halligleben gestern und heute sein. Sie war gespannt darauf, Neues zu erfahren und Anregungen zu erhalten. Und die erhielt sie auch – reichlich, nicht zuletzt deswegen, weil der Veranstalter meinte, dass er zwar seine Bilder zeigen würde, jedoch auf die musikalische Untermalung aus der Konserve verzichten wolle zu Gunsten eines, bereits seit Jahren immer wieder auf die Hallig kommenden Geigers, der bereits vor Jahren ein eigenes kleines Programm zur Untermalung der Bilder ausgearbeitet habe. Sie konnte nicht sagen, dass sie diese Worte sehr ergriffen hätten, doch dagegen, dass ihr Herz einige Takte schneller schlug, konnte sie sich nicht wehren. Und auch nicht dagegen, dass sich ein seltsamer Druck in ihr aufbaute, als er mit Geige und Bogen in der Hand neben den Veranstalter trat, den Applaus abwartete, um sich dann verneigend als Gottfried-Jakob Praetorius vorzustellen und sogleich zu konstatieren, dass er mitnichten Geiger sei, ja nicht einmal Musiker – gleichwohl jahrelang Korrepetitor an der Akademie der Künste in Berlin gewesen. Und das betone er in voller Demut der Kunst gegenüber, die er längst nicht zu beherrschen meine. Man solle also Nachsicht mit ihm üben, wenn ihm der eine oder andere Ton misslinge. Ihr blieb förmlich das Herz im Leibe stehen … - und das nicht, weil sie um seine Kunst wusste, sondern weil, weil … Und, als er sich nochmals verneigte und dabei seinen Blick über die Zuschauermenge gleiten ließ und er bei ihr innehielt, ja, sie förmlich zu fixieren begann, da wäre sie am liebsten aufgestanden und gegangen. Kapitel 9: Mach dich nicht so klein, du bist -------------------------------------------- Nur mit Mühe konnte sie den Drang, sich zu entfernen, unterdrücken, wandte den Blick ab und sagte sich, dass sie eigenes des Bildervortrags gekommen sei, doch da hörte sie ihn sagen: „Es ist mir ein großes Vergnügen, heute, hier spielen zu dürfen.“ Wieder gab’s Applaus von allen Seiten. „Allerdings“, fuhr er fort, „muss ich gestehen, dass es mir darüber hinaus auch eine persönliche Freude ist, eine ganz bestimmte Frau unter den Gästen dieses Vortrags zu wissen.“ Noch während er sprach, spürte sie, wie sich ihr Magen zusammenzog, ihr Herz zu rasen begann und sie rot zu werden drohte. Noch dazu wusste sie seinen Blick auf sich gerichtet. Sie selbst senkte den ihren und sah auf ihre sich verknotenden Hände. Warum?, schoss es ihr durch den Kopf und augenblicklich begann sie zu schwitzen – in letzter Zeit keine Seltenheit, wenn sie sehr erregt war oder sich in stickigen Räumen aufhielt. Manchmal überkam es sie auch einfach so. Dann stand sie sprichwörtlich unter Wasser. Jede Frau machte das ab einem bestimmten Alter durch, die eine früher, die andere später. Sie versuchte sich darauf einzustellen, so gut sie eben konnte. Lästig war es dennoch, wenn sie beispielsweise vor der Klasse stand, gerade dabei war, etwas zu erklären und dann diese aufsteigende Hitze spürte. Dann musste sie sich sehr stark zusammennehmen, um nicht einfach hinauszugehen. Eine Freundin, selber Lehrerin, hatte ihr geraten, sich einige Minuten lang ans geöffnete Fenster zu stellen. Manchmal half das tatsächlich, später in den Pausen, fühlte sie sich jedoch trotzdem wie durchs Wasser gezogen und hatte den Wunsch, die Kleidung zu wechseln, denn sie schwitzte, schwitzte, schwitzte. Ebenso wie hier und jetzt, da sie im Festsaal des Hallighus’ saß. Nicht besser wurde es, als er an ihr vorbei, nach hinten zu seinem Notenständer ging und sie wieder seinen Blick auf sich gerichtet wusste, wenn auch nur für einen Moment. Ihr schien es, als nickte er ihr lächelnd zu. Sie zwang sich dazu, nicht nach hinten zu sehen. Was sie so plötzlich getroffen hatte, wusste sie nicht. War es sein doch recht selbstgefälliges Auftreten gewesen, die Betonung, im Grunde kein Geiger zu sein? Was wollte er damit erreichen? Dass ihm die Menschen nur umso mehr zujubelten, nachdem sie Zeugen seiner Kunst geworden waren? War es das? Und war ihr sein Auftreten nicht einfach nur peinlich gewesen? Hatte sie sich sozusagen fremdgeschämt? Da ihr dieser Gedanke gut einging, klammerte sie sich an ihn. Ja, genau, das war es. Sie hatte sich wieder einmal an seinem seltsamen Verhalten gestoßen. Es galt indes, dass sie sich in jeder anderen Situation über diese außergewöhnliche Darbietung gefreut hätte, die ja geradezu eine Überraschung war. Denn, wo gab es das schon, dass ein Musiker eigens zur Untermalung von Impressionen geladen war? Gut, vielleicht bei der Eröffnung einer Vernissage, aber doch nicht zu einem einfachen Lichtbildervortrag. Aber da er auf der Hallig bereits bekannt war, bot sich das wohl einfach an, ihn, den falschen Geiger, auftreten zu lassen. Sie starrte noch immer auf ihre Hände und fragte sich wieder und wieder, was sie plötzlich gepackt hatte. Warum die Heftigkeit der Reaktion? Es gab im Grunde keine Veranlassung dazu. Außer, dass er anwesend war und sie sich an seinem Verhalten stieß, das, wenn man einmal von all den gestanzten Phrasen, die er geprägt hatte, absah, im Grunde nur seine Großmäuligkeit und Selbstverliebtheit bezeugte. In der Schule hatte sie es überdies tagtäglich mit solchen Kindern zu tun. Da waren die Lauten, die, die immer nach vorne drängten und ihr Wissen preisgeben mussten. Das Ich, ich ich eines Christoph hatte sie ebenso im Ohr wie das ständige: Frau Laux, ich weiß es! einer Hannah. Doch dieser Gruppe gehörten auch jene Schüler an, die sich dem Schein nach stets zurückhielten und ein äußerst bescheidenes Wesen an den Tag legten. Kinder, die fast unsichtbar waren und ihr Wissen stets herunterspielten, gar verheimlichten, um sich dann, wenn es Zeit war, als die Opfer jener hinzustellen, die ihnen in Lautstärke überlegen waren. Gerade diese Kinder besaßen ein weitaus größeres manipulatives Potential als andere, weil sie aus einer Art defensiver Haltung heraus letztlich äußerst offensiv agierten. Sie besaß mindestens zwei kleine selbst ernannte Opfer in der Klasse, denen sie nicht nur einmal ein: Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß, an den Kopf knallen wollte und es dann doch nur in Gedanken tat. Denn dieses, von Golda Meir stammende Wort, passte ihrem Empfinden nach perfekt, gleichwohl es ursprünglich eher eine selbstironische Betrachtung der Juden war, à la: Ihr müsst uns nicht klein machen, das schaffen wir schon ganz allein – und auch viel besser und zeigen euch damit, dass wir gewitzter sind als ihr. Doch besaß dieses Wort eben auch eine Mehrdeutigkeit, die jene kleinen Opfer und Menschen einschloss, die, um Aufmerksamkeit zu erhalten, dazu neigten, sich selber möglichst klein zu machen, indem sie Bescheidenheit und Demut heuchelten, hinter denen sich jedoch ein gerüttet Maß an Eigenliebe und Selbstvertrauen vielleicht sogar Selbstüberschätzung verbarg. Insofern galt es ihr als Möglichkeit, sich zu beruhigen, wenn sie von diesen um Anerkennung heischenden Kindern genervt und gestresst in die Pause ging. Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß. Und so begann sie es auch hier im Festsaal des Hallighus’ zu murmeln – immer und immer wieder. Nur, dass dieser Gottfried-Jakob Praetorius tatsächlich ein Großer war. Er hatte am letzten Sonntag bezaubernd gespielt – und so konnte sie es nicht verhindern, dass ihr Herz wieder schneller zu schlagen begann, als sie erste leise klopfende Töne in ihrem Rücken vernahm, jedoch sogleich wissend, dass er sein Instrument nur stimmte. Aber beinahe hätte sie es hingerissen und sie hätte sich umgewandt, um ihm bei seinem Werk zuzusehen, doch im letzten Moment hielt sie der Veranstalter davon ab, denn der löschte das Licht im Saal. Und augenblicklich fühlte sie sich etwas entspannter. Und sie holte tief Luft. Die Bildershow begann und mit ihr das Geigenspiel – und sie konnte nicht anders, als sich einzugestehen, dass es diese leicht schwingenden, leicht hüpfenden Töne waren, die ihr das erste Bild, das einen Teil des Sommerdeichs im Frühling zeigte, so lebendig werden ließ, dass sie das weiche Wollgras tatsächlich unter den Fußsohlen zu spüren meinte. Und während sie in Gedanken über den Sommerdeich ging, war ihr zeitweilig so, als spielten zwei Geigen in ihrem Rücken, denn schon schien sich wieder ein sachtes Schwingen mit ebenso leichten, fast schüchtern anmutenden Hüpfern zu überlagern. Und als sie die Augen schloss, sah sie sich tatsächlich für Momente mit ausgebreiteten Armen tanzen, indem sie Schwingung und Hüpfer gedanklich nachzubilden versuchte. Gar nicht einfach – und doch … Ihr Herz raste. Sie ließ es zu, lauschte weiter auf diese scheinbare Zweistimmigkeit, die plötzlich in einen Dialog überzugehen schien. Hier eine recht tiefe, krächzende Stimme, dort eine hohe, leise fiepend, die sich jedoch in einem schrillen Schrei ergehen konnte und die tiefe gleichsam mit sich fortriss. Kein Zweifel, die Diskussion artete in einen Machtkampf aus. Und so als nähme sie selbst an diesem Schauspiel teil, ballte sie die Hände zu Fäusten und presste sie sich gegen den Mund. Auch meinte sie dann die Peitschenhiebe zu spüren, während er, das ahnte sie, den Bogen auf die Seiten niedergehen ließ. Sie holte wieder tief Luft, nahm sich zusammen und öffnete die Augen: zu sehen war eine Sturmflut, die die Hallig vollkommen in ihrem Griff zu haben schien. Die Wassermassen schlugen wütend an den Deich und jagten in Fontänen über ihn hinweg auf die Fennen. Und er, in ihrem Rücken, schlug dazu auf seine Geige ein, drosch förmlich auf die Saiten, so sehr, dass sie meinte, sie müssten unter der Belastung reißen. Auch hörte sie den Schmerz des Instrumentes, das körperlich so gepeinigt, ihm dennoch ergeben diente. Ihr Herz raste, raste so sehr, dass sie nach Luft schnappen musste. Und just in diesem Moment, da sie es nicht mehr auszuhalten meinte, wandte sie sich um. Fiebrig und vollkommen verschwitzt erwartete sie ihn rasend zu sehen, oder sich wenigstens in zackigen, abgehackten Bewegungen ergehend, doch er stand ganz still da und hielt, sie konnte es aufgrund des kleinen Lichts an seinem Notenständer erkennen, die Augen geschlossen, während er seinen Bogen noch einmal auf die wehrlosen Saiten niederfahren ließ und dann von seinem Instrument abließ, die Augen öffnete und sich, heftig atmend mit der, den Bogen haltenden Hand über die Stirn fuhr. Er war erregt, kein Zweifel, erregt, ebenso wie sie. Und ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Sie fröstelte sogleich und wollte sich schon wieder umwenden, als er wieder ansetzte und den Bogen leicht, fast zärtlich auf die Seiten niedergleiten ließ, um ganz sacht über sie zu streichen, so als wolle er für die erlittene Pein um Verzeihung bitten. Das nächste Bild zeigte die Kirchwarft bei Sonnenuntergang. Weich waren die Klänge, die derweil an ihr Ohr drangen und sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und konnte sich dazu bringen, etwas ruhiger zu werden. Sie versuchte sich vollkommen, auf dieses Bild zu konzentrieren: Bäume, Fennen, das Pastorat, das der Kirche vorgelagert war, erschienen dunkel, während sich die Strahlen der Sonne im Hintergrund golden auf den Priel ergossen – und dem Ganzen ein beinahe irreales Flair verliehen. „Wunderbar“, hörte sie sich plötzlich murmeln und bemerkte augenblicklich eine Regung neben sich. Sie wandte sich zur Seite und wurde von einem Nicken ihres Nachbarn empfangen. „Tatsächlich wunderbar“, flüsterte dieser und deute kurz nach hinten, so als wolle er seiner Äußerung zusätzlich Gewicht verleihen. „Aber die Bilder sind auch wundervoll“, beeilte sie sich zu flüstern. „Beides“, bestätigte ihr Nachbar und die neben ihm sitzende Dame, wohl seine Ehefrau, neigte sich etwas vor und nickte. „Ich bewundere solche Menschen“, flüsterte sie. Lene nickte ebenfalls, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte sich wieder auf die Bilder zu konzentrieren – und weniger auf die Musik, denn die, so fürchtete sie, löste in ihr Emotionen aus, derer sie kaum frau werden konnte. Vor allem schwitzte sie noch immer. Am Ende der Veranstaltung erhob sie sich – kaum, dass der Applaus verklungen war – unversehens von ihrem Platz. Sie bemerkte, dass zahlreiche Menschen nach vorn zur Bühne eilten, wo der Veranstalter nun zusammen mit diesem Gottfried-Jakob Praetorius stand, um dankende Worte, aber auch Lobeshymnen zu empfangen. Da sah sie ihre Chance gekommen, den Raum so schnell wie möglich zu verlassen. Doch als sie gerade an der Tür war und sich bereits in Sicherheit wähnte, klang ein Ruf an ihr Ohr: „Helena!“ Sie zuckte augenblicklich zusammen, wandte sich jedoch nicht um. „Helena, warten Sie doch!“ Wieder durchzuckte es sie und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Noch dazu stand ihr der Schweiß noch immer auf Stirn und Nase. Sie selbst fühlte sich wie aus dem Wasser gezogen. „Helena!“ Sie eilte in den Gang hinaus und die Treppe hinauf. Mochten die Leute, die plötzlich in ihre Richtung gesehen hatten, von ihr halten, was immer sie wollten. Sie jedenfalls wollte nur weg – und das so schnell wie möglich. Doch wieder erklang dieses Helena, diesmal dicht an ihrem Ohr und dann spürte sie eine Berührung an der Schulter. Einem inneren Impuls folgend drehte sie sich nun doch um und sah ihm ins ebenfalls gerötete Gesicht. Seine Augen, das konnte sie überdies erkennen, waren geweitet und besaßen wohl einen leicht feuchten Schimmer. Dazu war ihm eine Strähne in die Stirn gefallen. „Helena“, wiederholte er. „Es ist schön, dass Sie gekommen sind.“ „Warum nennen Sie mich Helena?“, stieß sie hervor. „Ich heiße Lene.“ „Wie? Aber das stimmt doch gar nicht. Sie heißen Helena“, erwiderte er umgehend und kam ihr näher, ehe er flüsterte: „Und wissen Sie, ich mag diesen Namen. Sehr sogar.“ „Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, mich …“ „Würden Sie mir die Freude machen, Sie zum Abendessen einladen zu dürfen?“, unterbrach er sie hastig. Und sie erkannte auf seiner Nase und Oberlippe kleine Schweißperlen. „Ich würde Ihnen gerne danken.“ Sie entfernte sich einen Schritt von ihm, schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe bereits gegessen und jetzt würde ich gerne ...“ „Das ist sehr schade“, unterbrach er sie neuerlich, kam ihr wiederum näher, berührte sie am Oberarm, neigte sich leicht zu ihr hinab und sagte leise: „Sie müssen wissen, dass ich heute Abend nur für Sie gespielt habe.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um. „Helena …“ Erst als sie sich draußen in der sternklaren Nacht wusste, tief Luft holte und dann den Weg zu ihrer Ferienwohnung einschlug, eilte, ja raste, löste sich die Spannung etwas von ihr, machte jedoch einem Gefühl der Leere Platz, das sie seit langem überwunden geglaubt hatte. Kapitel 10: In einem Raum jenseits ---------------------------------- Sie hatte genau zwei Möglichkeiten: entweder versuchte sie sich daheim bei einer heißen Tasse Tee zu beruhigen und sah dabei wieder in die Flamme der Kerze oder sie machte kehrt und ging hinaus auf die Fennen, um sich dort durch den Blick in die Sterne abzulenken. Sie spürte, dass sich ihr Magen zusammenzog und sich der Herzschlag wieder beschleunigte – kein Zweifel, ihr Blutdruck stieg. Sie selbst fühlte sich fürchterlich: müde, abgeschlagen, doch gleichzeitig so unruhig, zapplig, nicht recht bei sich. Der Abend war ihr gar nicht gut bekommen. Dass sie allerdings in letzter Zeit ziemlich reizbar war und auch bei kleinsten Dingen ausflippte, war wohl auch so eine Sache, durch die viele Frauen ab einem gewissen Alter durchmussten. Und vielleicht lag ihre jetzige Erregung tatsächlich daran? Denn früher hätte sie wohl gelassener reagiert, wenn ihr so etwas zugestoßen wäre wie heute Abend. Nun aber hatte sie sich während dieser Veranstaltung emotional verausgabt, hatte sogar einmal mit Tränen zu kämpfen gehabt. Alles so Sachen. Und dazu schwitzte sie noch immer, zitterte gleichzeitig und meinte, tatsächlich in ihre Ferienwohnung gegen zu müssen, doch schon bei dem Gedanken daran, dann allein zu sein, überkam sie so etwas wie der Anflug einer Panikattacke. Sie hatte mit der Heftigkeit dieses Ausbruchs nicht gerechnet und musste sich erst einmal an die Hauswand lehnen, Luft holen und Percy, der vorbeikam, auf den Arm nehmen, um ihn einen Moment lang an sich zu drücken, ehe er wieder hinunterwollte. Nein, sie konnte nicht in ihre Wohnung. Noch nicht einmal die Stufen schaffte sie hinauf. Sie wollte – sie musste wieder umkehren und, auch wenn sie noch immer fror, auf die Fennen hinaus, um sich wieder zu finden. Über ihr war der Sternhimmel, so klar, so deutlich, allerdings sah sie nur einige Male hinauf. Sie konnte nicht – oder zumindest war es ihr unmöglich, sich auf diese unzählig vielen leuchtenden Punkte zu konzentrieren. Auch, dass die Milchstraße heute in einer Intensität über ihr erschienen war, nahm sie vorerst nur am Rande wahr. Indes vergrub sie die Hände in den Taschen ihrer Jacke, denn sie zitterte am ganzen Körper – auch das eine in ihrer Heftigkeit zuvor nicht gekannte Reaktion. Petra, ihre Kollegin und Freundin, hatte ihr gesagt, dass man sich zeitweilig wie ein in die Schleuder gestopfter Teddy vorkommen würde, wenn man diese Schwitz-Frost-Attacken hätte. Und bisweilen auch sonst, eben wie in der Pubertät. Sie hatte dazu gelächelt und mit den Schultern gezuckt. Ja, Petra hatte bisweilen ein Gemüt wie ein Schaukelpferd. Denn, dass sie auch etwas fülliger geworden war, störte sie wohl ebenso wenig, wie die Tatsache, dass auch ihr ab und zu die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand. Gereizt war sie jedoch nie, auch schlief sie nach eigenen Angaben nicht schlechter als früher. Nur Sport, den könnte sie wieder treiben, doch, tja, wer hatte schon Zeit dazu? Aber daran wollte Lene nun nicht denken, auch nicht daran, dass dieser Abend … mein Gott! Und nun sah sie doch in den von funkelnden Punkten übersäten Himmel, holte noch einmal tief Luft und lenkte ihre Schritte dann hinaus auf eine der Fennen. Der Abend war … Und plötzlich bestürmten sie Fragen: Woher hatte er ihren Namen? Aus dem Internet? Sicher. Woher denn sonst? Also hatte er nach ihr gesucht? Und war auf der Homepage ihrer Schule gelandet? Warum? Warum hatte er das getan? Als Revanche für ihr doch sehr grenzwertiges Verhalten von vor einer Woche? Ja? Oder? Und seine Bemerkung, ganz besonders glücklich zu sein, sie unter den Gästen zu wissen … Und dann dieses Helena … Gerade das hatte sie sehr getroffen, denn diesen Namen, den hatte sie vor fünf Jahren abgelegt. Sie hieß jetzt Lene, einfach nur Lene. Nein, es war zu viel für sie und so versuchte sie ihre Gedanken wieder einzufangen und ging weiter, beschleunigte gar ihre Schritte, um dann doch unverhofft stehenzubleiben. Es nützte ja nichts, vor allem wegzurennen. Auch ihr Therapeut hatte ihr dazu geraten, ab und an innezuhalten, vor allem dann, wenn der Drang des Wegrennens und Flüchtens zu groß wurde. Dem einfach standzuhalten – es wenigstens zu versuchen, auch wenn es nur wenige Momente waren. Schon allein das war ein Erfolg, der ihr ein gutes Gefühl bescheren sollte. Sie wollte sich ja beruhigen, irgendwo Halt finden und nun war es eben der Sternhimmel. Und über ihrem Kopf zog die Milchstraße ihr weißes Band, dessen Dreidimensionalität sie beinahe zu sehen glaubte. Es war einfach wunderbar. So unvorstellbar. Einzigartig. Ihr fehlten die Worte. Und so blieb sie stehen und sah weiter hinauf in diese schier unendliche Schar an Sternen. Wie lang, das wusste sie nicht zu sagen. Doch plötzlich meinte sie etwas zu hören, feine Töne, die sie, dem Himmelszelt vollkommen ergeben, von dort kommend vermutete. Es schien ihr alles möglich zu sein, sogar die seltsamsten Dinge. Warum sollten die Sterne, die so herrlich funkelten, nicht auch singen und klingen können? Na, warum nicht in einem riesigen Orchester musizieren? Und da fiel ihr Ronja ein, eine 9jährige, die zwei Klassen übersprungen hatte. Sie war in Lenes Klasse gelandet und hatte ihr einmal erzählte, dass sie die Sterne reden hören könnte. Was sie denn sagten, wollte Lene daraufhin wissen und die Kleine hatte in vollstem Ernst geantwortet: „Dass sie mich in einen Raum jenseits allen Seins und Verstehens mitnehmen würden.“ Lene war geschockt und hatte lange überlegt, wie sie damit umgehen sollte und sich schließlich dafür entschieden, die Eltern, beide Wissenschaftler, zu kontaktieren. Diese hatten jedoch die für ein Kind dieses Alters befremdlich anmutende Formulierung abgetan. Ronja sei schon immer so gewesen, so phantasievoll. Und sie wolle später sogar Astrophysik studieren – das wüsste sie schon seit ihrem fünften Lebensjahr. Sie als Lehrerin müsse sich keine Gedanken machen. Ronja sei speziell, würde manchmal auch anecken, wäre jedoch wohl ein leicht zu nehmendes Kind – ganz im Gegensatz zu gewissen anderen Herrschaften in der Klasse, die, das hatte Lene zugeben müssen, nur allzu sehr den Unterricht störten. Ronja fiel tatsächlich nur wenig auf, doch Lene kam lange nicht über diesen seltsamen Satz hinweg: ein Raum jenseits allen Seins und Verstehens – dachte dieses Kind tatsächlich schon an den Tod? Beängstigend. Sie hatte lange gebraucht, um über dieses kindliche Geständnis hinwegzukommen und sich auch dabei ertappt, wie sie Ronja bisweilen zu ignorieren versuchte. Im Nachhinein tat ihr das leid, sehr sogar, denn Ronja konnte ja nichts für ihre Gedanken. Sie hatte sie eben … Und wenn die Sterne zu ihr sprachen … Auch zu Lene sprachen sie nun, jetzt, da sie sie so unmittelbar über sich wusste. Aber sie wollten sie ganz bestimmt nicht in diesen Raum jenseits allen Seins und Verstehens mitnehmen, sondern schienen sie mit ihren hunderten, gar tausenden von zarten Stimmen trösten zu wollen. Und schließlich vernahm sie eben auch eine feine Melodie, der sie sich jedoch erst vollkommen bewusstwurde, als sie sich plötzlich mit der Frage konfrontiert sah, ob die Sterne tatsächlich Bach spielen könnten? Konnten sie? Für Ronja wahrscheinlich, ja, aber sie war nicht Ronja, sie war … und unwillkürlich wandte sie sich vom Himmel ab und ihr Blick blieb an einer schlanken Gestalt hängen, die wenige Meter von ihr entfernt auf der Fenne stand – vollkommen in Dunkelheit gehüllt, so, wie sie selbst. Aber sie konnte Geige und Bogen deutlich erkennen. Und obwohl sie der soeben erloschenen Aufregung wieder zu erliegen drohte, zwang sie sich, diesen klaren, reinen Tönen zu lauschen und dazu wieder in den Himmel hinauf zu sehen, so als wäre nichts. Und es war ja auch … nichts. Und nach einer Weile, die ihr gar nicht einmal als so lang erschien, war’s ihr so, als wäre dieses gesamte Sternzelt ein Abbild dieser so wundervollen Bach’schen Musik, die sich dieser einen Geige Ton um Ton entwand, um in den Himmel aufzusteigen und von dort, tausendfach reflektiert, wieder zur Erde hinab zu kommen. Tränen traten ihr in die Augen und sie ließ sie einfach laufen. Kapitel 11: Bach, immer nur Bach -------------------------------- Es tat ihr gut, den Tränen freien Lauf zu lassen. Und auch wenn sie ihn in ihrer Nähe wusste, war es ihr doch so, als wäre sie allein – allein mit sich, allein mit der Musik. Zwar wunderte sie sich kurz darüber, dass sie seine Anwesenheit ausblenden konnte, doch war sie gleichzeitig von diesen feinen, klaren Tönen gepackt, die in ihrer Intensität und Höhe fast denen einer Piccolo-Flöte glichen. Dies einer Violine entlocken zu können – ein Wunder, ebenso, wie diese abertausenden von Sternen, die sich über ihrem Kopf zu diesem so intensiv leuchtenden Band verflochten hatten. Nur ab und an rieb sie sich die Augen, um besser sehen zu können. Doch immer wieder drängten Tränen nach und so konnte sie ihnen irgendwann nicht mehr standhalten. Sie wandte sich ab, fingerte ein Taschentuch hervor, schnäuzte sich und lauschte dann nur noch der Musik, die sich nun fontänenhaft zu ergießen schien und sich in rascher Folge in immer neuen Variationen ein und desselben Themas erging. Unschwer erkannte sie, dass es sich wohl um eine Bearbeitung aus einem der Violinkonzerte von Bach handelte. Und einem Drang folgend, wandte sie sich kurz um, sah ihn, wie er ganz ruhig, fast in sich gekehrt wirkend, dastand und den Bogen über die Saiten, kaum, dass er sie berührte, tanzen ließ. Am liebsten wäre sie zu ihm gegangen, um eben dies genauer sehen zu können. Sie blieb jedoch und erging sich mehr in Ahnungen. Da seine Bewegungen jedoch so feine, hauchzarte Töne gebaren, meinte sie auch zu erkennen, dass er die Augen geschlossen hielt, während er so musizierte, als sprächen aus seinem Instrument all die Sterne, die sich da über ihren Köpfen versammelt hatten. Mitunter dünkte es sie, dass die Töne ebenso funkelten wie die hellsten unter den Sternen, und dann war es ihr plötzlich so, als fassten sie sich bei den Händen und begannen miteinander zu schwingen und zu tanzen, leicht, beinah schüchtern zuerst. Und wenn sie ehrlich war, dann spürte sie bei eben dem Stück, das er gerade spielte, eine große Lust, es den Sternen gleichzutun. Schon lang nicht mehr getan – doch … Wann zuletzt getanzt? Mit Franz … Sie schnappte nach Luft, denn daran wollte sie nicht denken. Nicht jetzt, da sie ihn, den Geiger, noch immer ansah. Für ihr Auge, das sich an die Dunkelheit inzwischen gewöhnt hatte, kein Fremder mehr. Sie griff sich an die Brust und tat einen kleinen Schritt auf ihn zu, und sofort wusste sie wieder um ihre Lust, sein anmutiges Spiel körperlich nachzuempfinden, es gleichsam in Bewegungen, ihre Bewegungen zu übertragen und sich damit selbst Ausdruck zu verleihen. Wie wichtig das war, davon hatte ihr Therapeut nur allzu oft gesprochen. Sich selbst Ausdruck zu verleihen, sich selbst erfahr- und erlebbar zu machen. Und das eben nicht nur durch den Blick in den Spiegel, sondern auch … Aber, ach, daran wollte sie jetzt auch nicht denken, sondern allein daran, dass sie diese Schwingungen der Saiten tief in sich spürte und einfach einen Fuß vor den anderen setzen wollte, leicht tänzelnd dabei, die Arme ausgestreckt, zu schreiten und jede Wendung der Musik nachempfindend. Dabei biss sie sich zuerst auf die Unterlippe – voll der Konzentration, auch ja im Takt zu bleiben und das schwebende Timbre einfangen zu können. Gleichzeitig spürte sie jedoch, dass sie diese Kunst durch jede ihrer Regungen unweigerlich profanisieren würde. Und schon wollte sie wieder innehalten. Aber was dann? Es zog sie doch zu dieser Musik hin – und sie wusste auch, dass das Allegro nur allzu schnell einem Adagio Platz machen würde. Nein, sie wollte, musste gar, und so tat sie auch weiter, drehte sich – ein wenig so, wie eine Ballett-Tänzerin, oder zumindest wie eine, die einmal neben solch graziler Frau gestanden. Das wichtigste war für sie, die Musik in sich zu erspüren und ihr so gut, sie konnte, Ausdruck zu verleihen – und plötzlich war es ihr so, als ließe sie einfach los und werde von den Tönen, die sich aneinandergereiht zu einer so wundervollen Melodie verflochten, getrieben und könne gar nicht anders, als zu tanzen, um schließlich Hitze- und Kälteschauer vergessend eins mit ihr zu werden. So sehr, dass sie meinte zu schweben. Ihr Herz raste. Und da sein Spiel recht drängend wurde, hob auch sie an, sich intensiver zu bewegen – und plötzlich fand sie sich bei ihm. Er hielt die Augen tatsächlich geschlossen, als er den Bogen lang über die Saiten zog – länger als einen Atemzug während – und sich dabei leicht nach hinten neigte, nur, um sich dann wieder in einer Flut an Tönen zu ergehen, die sie dazu brachten, sich erneut zu drehen und die Arme auszustrecken. Sie wusste dabei ein Lächeln in ihrem Gesicht und ein leichtes Zucken im gesamten Körper. Ihre Füße, so schien es ihr, berührten den Boden kaum. Das war … ach, sie wollte darüber gar nicht nachdenken, wie sich das anfühlte. Sie wollte gar nicht denken und so holte sie, die Musik nachempfindend, tief Luft, ging dann leicht in die Knie, um sogleich wieder in die Höh zu hüpfen. Sie wusste, dass dies einem Barock-Tanz kaum gerecht wurde, und vielleicht auch recht lächerlich wirkte. Doch auch das … Himmel … Sie war hier auf einer Wiese, weit draußen – wer konnte sie in ihrem Tun sehen? Er? Er spielte doch – und wie er spielte … Sie hielt kurz inne, betrachtete ihn, den Geiger, der den Bogen noch immer so selbstvergessen über die Saiten hüpfen ließ, sich jedoch selbst – anders als sie – kaum bewegte. Nur ab und an schien er, indem er den Oberkörper leicht nach hinten neigte, neuen Schwung zu holen, um der eigenen Geschwindigkeit, mit der er den Bogen über die Saiten tanzen ließ, standhalten zu können – und da, wieder … der Eindruck, dass er statt die Violine zu spielen, in eine winzig kleine Flöte blies, deren Töne zu Höhen aufstiegen, die, für das menschliche Ohr kaum hörbar, nur zu erahnen waren. Ein einziges Springen und Hüpfen und Schweben war das. Und wieder schloss sie die Augen und setzte gerade zu einer Pirouette an, als die Musik mitten im Ton verstummte und sie meinte, von der plötzlich einsetzenden Stille getroffen, aus unermesslicher Höhe zu Boden gestoßen zu werden. Im ersten Moment packte sie Verwirrung und sie wandte sich nach ihm um. Da stand er, einige Meter von ihr entfernt, leicht schräg, Bogen und Geige zu Boden geneigt und betrachtete sie ebenfalls. „Warum?“, nuschelte sie. „Warum was?“, erwiderte er. „Warum haben Sie mit dem Spiel aufgehört?“ Er schwieg, schien kurz Anstalten zu machen, die Geige wieder anzusetzen, unterließ es dann jedoch und sagte leise: „Ich kann nicht.“ „Wie?“, hörte sie sich fragen und reckte den Hals. „Sie können nicht mehr?“ Hierauf schüttelte er den Kopf. „Nein, nein, ich kann nicht weiterspielen, weil ich das Stück nur bis zu dieser Stelle auswendig kann … Es tut mir leid, Sie dadurch verschreckt und ihren Tanz vorzeitig beendet zu haben. Aber …“ Er unterbrach sich, senkte den Kopf und murmelte: „… meine Fähigkeiten sind sehr beschränkt.“ „Was? Das … das …“, stammelte sie. Er hatte also gesehen, wie sie … Ein Anflug von peinlicher Bestürzung machte sich in ihr breit. Aber was hatte sie sich denn gedacht? Dass er es nicht bemerkte? Wie naiv von ihr. „Es wird wohl noch eine Weile brauchen“, fuhr er fort, „ehe ich das gesamte Stück frei werde spielen können und ich würde Sie an dieser Stelle nur allzu gern um Geduld bitten …“ Er unterbrach sich und auch sie schwieg, denn was sollte, was konnte sie darauf erwidern, zumal er es diesmal, schien ihr, in solch tiefer Demut gesagt hatte, dass sie dem Drang kaum widerstehen konnte, sich ihm zu nähern und seine Hände, die so Wundervolles geschaffen hatten, zu berühren. Doch sie hielt dem Wunsch stand, nickte ihm stattdessen zu und murmelte ein: „Dankeschön. Es war …“ „Sie tanzen gut“, unterbrach er sie und suchte ihren Blick. „Ach“, erwiderte sie und spürte, dass sie wieder rot zu werden drohte. „Ja …“ „Ich liebe diese Musik“, gab sie von sich und rieb sich die Stirn, nicht recht wissend, was sie noch sagen sollte. „Ich liebe sie einfach. Bach …“ „Ja, Bach …“ Beide schwiegen einen Moment, in dem sie sich nur in die Augen sahen, dann setzte er, wie aus dem Zusammenhang gerissen, wieder an: „Zugegebenermaßen ist dies die einzige Sprache, die ich ein wenig beherrsche …“ „Wie?“, fragte sie verwundert. Als Antwort hob er die Hand, in der er die Geige hielt, und murmelte: „Das Violinspiel.“ „Ach …“ Sie spürte ihren Herzschlag. Er nickte, senkte wieder den Blick und sagte mehr zum Boden als zu ihr: „Mutter hat mir immer wieder gesagt, dass ich sie mir bewahren solle, diese Sprache.“ Sie vernahm seine Worte, wusste jedoch nicht, mit ihnen umzugehen, zu aufgewühlt war sie nach alldem und so schwieg sie. Er hob den Kopf, sah sie an, zuckte dann mit den Schultern, ehe er sich hinhockte, sich seinem Geigenkasten zuwandte und sein Instrument nebst Bogen darin verstaute. Sie sah ihm dabei zu, sah, wie er den Kasten schloss und sich erhob. Wieder fanden sich beider Blicke. „Ich … ich danke Ihnen sehr für diese Darb …“ „Nichts zu danken. Mir war so, als ich Sie da habe stehen sehen. So allein … Und da bin ich Ihnen, Sie mögen mir verzeihen, gefolgt, gleichwohl ich eigentlich nach Haus wollte“, unterbrach er sie, kam auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Also, dann, Helena …“ „Nennen Sie mich nicht so“, entfuhr es sofort. „Ich heiße …“ „Verzeihen Sie mir, Lene, also dann …“ Und noch einmal reichte er ihr die Hand, die sie nur zögernd ergriff. „Möchten Sie wirklich schon gehen?“, hörte sie sich fragen. Er zuckte mit den Schultern, legte den Kopf leicht schräg, ließ seinen Blick kurz ins Weite schweifen, ehe er den ihren wiederfand. „Ich bedauere, ja, denn ich muss etwas zu mir nehmen, ich verspüre nämlich ein nicht unerhebliches Hungergefühl.“ „Oh … das … das …“ Sie geriet ins Stammeln, suchte nach Worten, doch noch immer war sie zu aufgewühlt. „Oder darf ich es wagen“, fuhr er ihr in die Gedanken, „dem Wunsch nach einem gemeinsamen Abendessen mit Ihnen, noch einmal Ausdruck zu verleihen?“ Kapitel 12: Jakob ----------------- Natürlich war sein Vorgehen letztlich vorhersehbar gewesen. So wie ein Stück von Bach eben auch, wenn man dessen Harmonie kannte. Und da er, gemessen an seiner Kunst, um sie wusste, hätte er weiterspielen können, hatte es aber nicht getan und sie stattdessen um ein gemeinsames Abendessen gebeten. Freilich, weil ihm klar war, wie sehr sie sein Spiel mochte. Sie hatte es ihm ja schon so oft gesagt ... Kurzum, er hatte mit seiner Taktik Erfolg gehabt: sie saß vor ihm, blickte ihm in die Augen und dachte sogleich: Gut aussehend ist er wirklich nicht. Nicht im eigentlichen Sinn. Vielmehr wirkte er selbst wie ein Stück von Bach. Ton an Ton reihten sich aneinander und vereinten sich zu einer Melodie, die sie so leidenschaftlich gern hörte und immer wieder hören konnte. Töne waren nicht an sich hässlich oder wunderschön, sondern entfalteten ihre Wirkung erst im Verbund. Und da man der Harmonie folgend nun bestimmte Töne erwartete, empfand man auch eben jene, die diese Erwartung erfüllten, als gut, wunderschön, brillant, diejenigen hingegen, die querschlugen, die im Moment aus der Reihe zu tanzen schienen, galten den Ohren als Misstöne, gar nicht gut anzuhören. Sie rüttelten und kratzten an einem, man wollte sie loswerden, wollte weghören und vermochte es doch nicht. Und genauso verhielt es sich mit ihm, diesem Gottfried-Jakob Praetorius. Es gab da Dinge an ihm, die ihr nicht gefielen, so sein Blick, der bisweilen gesenkt war, dann jedoch wieder leicht verhangen wirkte, wenn er sie, plötzlich einsilbig geworden, betrachtete, ja beinahe musterte und sie dann nicht wusste, was sie tun sollte. Lächeln? Oder ebenso ernst dreinschauen wie er und seinem Blick ausweichen, und sich dabei einreden, dass er nur der Müdigkeit wegen so schaute und nicht, um sie in irgendeiner Weise herabzuwürdigen. Oder auch, aber das waren Äußerlichkeiten, sein so akkurater Scheitel, das spärliche Haar, das er wieder über seine angehende Glatze gekämmt hatte, seine Lippen, zu denen sich die Hautreizung, wohl ausgehend von Stirn und Wangen, ausgebreitet hatte. Und es grenzte wohl an Ironie, dass er ihr einen dringenden Dermatologenbesuch ans Herz legte, selbst jedoch ganz offensichtlich einen nötig hatte. Wahrscheinlich aber war er in Behandlung. Hinzukam seine leicht teigige Haut, die ihm einen durchaus kranken Eindruck verlieh. Die Ringe unter den Augen zeugten jedenfalls von Müdigkeit. Dann waren da seine Schläfen, die, durch ein dichtes Netz aus Narben überzogen, von einer Jugendakne zeugten. All das – und sie schämte sich dafür, ihn so chirurgisch genau zu betrachten. Auch barg sich neben seinem linken Nasenflügel eine Warze. Dennoch, mochten es Misstöne sein, im Gesamt besaßen sie ihren festen Platz in dieser Harmonie. Kurzum, das war er, Gottfried-Jakob Praetorius, der Mann, der es in wenigen Minuten vermocht hatte, sie aus einer trüben Stimmung, einer Leere gar, zu holen und sie lächeln ließ. Und wie gern sie das tat. Lächeln. Er, der sie nun wieder ansah, so ernst dagegen. Aber sie bemerkte einen zwar verhangenen, jedoch nicht weniger aufmerksamen Blick, der sie maß und musterte, ja, aber doch keineswegs so abwertend, sondern nun durchaus interessiert. Und so entschied sie sich eben für ein Lächeln. Er jedoch senkte just den Kopf und bot ihr dadurch den Blick auf seinen Scheitel und das spärliche Haar. „Jakob“, hörte sie sich sagen, „sehen Sie mich an.“ Er reagierte nicht und sie fragte sich nun, da sich diese Szene schon einige Male an diesem Abend wiederholt hatte, warum er sich so verhielt, sobald sie sich auf seinen Blick einließ. War er schüchtern? Ja? Aber warum war er’s dann nicht schon auf der Fenne gewesen und auch nicht nach seinem Gastspiel im Festsaal des Hallighus’? Warum jetzt? So plötzlich? Lag es daran, dass sie sich nun gegenübersaßen. War es die plötzliche Nähe? Der Zwang zu kommunizieren, irgendetwas zu sagen, wenn möglich noch etwas Witziges? „Jakob“, wiederholte sie, „schauen Sie mich an. Bitte.“ Und er tat’s, hob tatsächlich den Kopf, öffnete den Mund und gab dadurch die Reizung seiner Lippen nur umso mehr Preis. „Sie finden mich hässlich, nicht wahr?“ Sie schwieg, zu sehr hatte sie dieser Satz getroffen. „Abstoßend“, fuhr er fort. „Nein, nein“, beeilte sie sich zu erwidern. „Sie irren sich …“ „Reden Sie nicht. Ich erkenne es doch an Ihrem Blick.“ „Was, mein Blick?“ „Wie Sie mich mustern“, entfuhr es ihm. „Aber ich mustere Sie doch gar nicht, ich versuche nur …“ Sie unterbrach sich, griff nach dem Glas Wein, nahm einen Schluck und wollte sich sogleich an ihm verschlucken, denn sie hörte ihn sagen: „Lügen Sie nicht. Auch wenn man es mir nicht anmerkt, besitze ich die Gabe, Gesichtsausdrücke sehr gut deuten zu können.“ Sie schnappte nach Luft und stellte das Glas zurück. Der Wein brannte ihr in der Kehle. „Jakob …“, murmelte sie dann, „ich habe Sie nur angesehen, weil ich ein Gespräch mit Ihnen beginnen wollte und ich unmöglich zu jemandem sprechen kann, der seinen Blick ständig gesenkt hält.“ Er schwieg. „Ich möchte Ihnen in die Augen sehen, wenn ich mit Ihnen rede.“ Und da er noch immer schwieg, fügte sie hinzu: „Wäre ich Ihrer Einladung gefolgt, wenn ich Sie hässlich, gar abstoßend fände? Ja, hätte ich mich, draußen auf den Fennen, so sehr gehen lassen und nach ihrer Musik getanzt, wenn … wenn … Jakob …“ Sie unterbrach sich, weil sie spürte, dass sie sich zu ereifern begann. Dass sie ihn für ein wohlkomponiertes Bach’sches Stück hielt, konnte sie ihm jedoch unmöglich sagen. Das wäre ihm wohl seltsam erschienen, wenn nicht gar anstößig und vor allem zu dick aufgetragen. Da er den Blick wieder senkte, sagte sie: „Jakob, ich mag Sie“ und, um dem ganzen Nachdruck zu verleihen, fügte sie hinzu. „Sehr sogar.“ „So?“, kam’s da unverhofft von ihm und wieder sah er ihr in die Augen. „Sie mögen mich?“ Sie nickte. „Auch so sehr, dass Sie mit mir schlafen würden?“ Kapitel 13: Wenn es eines wäre ... ---------------------------------- „Jakob, das ist eine in höchstem Maße unangebrachte Frage“, stieß sie hervor und zog die Augenbrauen zusammen. Doch er sah es schon nicht mehr, denn er hatte wiederum den Blick gesenkt. „Jakob“, rief sie deswegen. „Jakob, sehen Sie mich an. Was sollte das?“ Er schwieg einen Moment, doch dann hob er den Kopf. „Wieso?“, fragte er leise. „Wieso? Wieso es eine unangebrachte Frage ist?“, erwiderte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Er nickte, wich aber ihrem Blick erneut aus. „Diese Frage stellt man einfach nicht – und schon gar nicht in dieser Direktheit. Ist Ihnen das nicht bewusst?“ Ihr war klar, dass sie ihn zu belehren begann. Und wenn schon, sie war erregt. Was bildete er sich ein? „Aber ich dachte“, bemerkte er, „dass die Frage in diesem Rahmen zulässig sei. Dass sie zur rechten Konversation gehöre, dass …“ Er unterbrach sich, senkte den Kopf. Sie meinte zu sehen, wie er errötete. „Jakob“, begann sie deswegen von neuem, nun etwas sachter. Er aber kam ihr zuvor: „Ich war bisher davon überzeugt gewesen, dass man diese Frage bei einem – wie nennen Sie es? Date? …“ „Ich nenne es nicht Date“, entfuhr es ihr. „Aber auch bei einem Date stellt man diese Frage nicht. Das schickt sich einfach nicht.“ Er sah sie wieder an. Tatsächlich war er rot, zumindest seine Wangen waren es. Und seine Stirn nahm rosa Züge an. „Ach so?“, fragte er leise und sah wieder auf seine Hände, die er unter dem Tisch barg. „Tut man das nicht?“ „Jakob …“ „Dann hat man mich Falsches gelehrt …“ „Wie?“ Sie war verwirrt, versuchte zu verstehen, doch es gelang ihr kaum. „Ich war bisher davon ausgegangen“, fuhr er fort, „dass diese Frage angemessen sei …“ Er unterbrach sich erneut, holte tief Luft, sah auf. Sein Gesicht glühte. Kein Zweifel, ihm war all das äußerst peinlich. Und auch wenn sie im ersten Moment am liebsten an die Decke gegangen wäre und es nur ihrer Routine als Lehrerin zu verdanken hatte, dass sie zumindest äußerlich Ruhe bewahren konnte, so schlug ihre Empörung sogleich in eine große Verblüffung um. Konnte es tatsächlich sein, dass er … unmöglich … Oder? „Jakob“, versuchte sie es daher behutsam, doch unterbrach er sie neuerlich. „Ein Date, so sagte man mir, lebt von …“ „Wer sagte Ihnen das?“, fragte sie dazwischen, biss sich jedoch sogleich auf die Unterlippe, denn sie spürte, dass sie nun ihrerseits drauf und dran war, eine Grenze zu überschreiten. Deswegen schob sie nach: „Bitte vergessen Sie es. Sie müssen mir darauf nicht antworten. Fakt ist jedoch, dass diese Frage nicht gestellt werden sollte, ob nun bei einem Date oder … bei einem gemeinsamen Abendessen. Und um es klarzustellen: ich betrachte dieses Abendessen als das, was es ist, eben als ein Abendessen.“ In diesem Moment, da sie es sagte, hätte sie mit allem gerechnet, nicht jedoch damit, dass er noch einmal tief Luft hole und sie dann anlächle – oder zumindest den Mund verziehe – und ein: „Da bin ich erleichtert“ ausstoße. „Sie können sich nicht denken, wie aufgeregt ich …“ „Doch“, unterbrach sie ihn, „das kann ich – sehr gut sogar. Denn, obwohl dies hier ein Abendessen nach einem zugegebenermaßen ungewöhnlichen Zusammentreffen ist, bin ich auch etwas aufgeregt. Doch das liegt …“ sie hielt inne, überlegte kurz, wollte die richtige Formulierung finden. „Ja, das liegt an Ihrer meisterlichen Art zu spielen und Sie haben mich dadurch sehr glücklich gemacht.“ „Wieso?“, wollte er wissen, noch immer ziemlich rot im Gesicht, doch deutlich gelockerter als zuvor. „Weil … nun ja, mir war es nicht so gut gegangen und dann …“ „Oh, ich darf Ihnen versichern, dass ich das in Ihnen geschaffene Hochgefühl nicht durch anstößige, den Kontext sprengende Fragen zerstören wollte. Darüber hinaus ist es mir umso wichtiger, da auch Sie mich glücklich machen. Und daher möchte ich Sie vielmals um Verzeihung bitten. Wie Sie unschwer erkennen können, ist es meiner Unwissenheit geschuldet, dass ich diese Frage stellte.“ Sie nickte und wunderte sich zugleich, wie offen er über seine Unkenntnis hinsichtlich des Dating-Verhaltens sprach, wollte jedoch nicht nachhaken und so drohte das Gespräch wieder zu ersterben. „Was haben Sie eigentlich eben damit gemeint, als Sie sagten, Ihnen sei es nicht gut gegangen?“, unterbrach er da ihre Gedanken. Sie sah ihm in die Augen, schwieg einen Moment, öffnete langsam den Mund und zuckte dann mit den Schultern. „Jedem Menschen geht es einmal nicht gut. Das kommt vor, oder?“ „Sie meinen psychisch?“ Sie nickte. „Dann bin ich umso glücklicher, Sie glücklich gemacht zu haben, Helena.“ „Bitte“, warf sie ein, „Lene.“ „Warum eigentlich? Warum Lene?“ War sie zuvor davon ausgegangen, dass dieser Abend recht schweigsam vergehen würde, spürte sie nun, dass das Gespräch nicht nur in Gang zu kommen schien, sondern sich auch in eine Richtung zu neigen drohte, die sie nicht mochte. Also sagte sie einfach: „Es ist so. Ich mag den Namen Lene lieber.“ Das dies auch zur Hälfte stimmte, sie den anderen Teil jedoch nur mühsam unter Kontrolle halten konnte, das wollte, das konnte sie Jakob nicht sagen – nicht jetzt, nicht hier. Und so, als spürte er ihr Zaudern, ließ er von ihr ab und sagte: „Wenn Sie so begeistert sind, von dem, was ich da tue, dann frage ich Sie ganz offen, warum Sie selbst nicht spielen.“ Er hielt den Kopf leicht schrägt, sah sie aus diesem Winkel an und ihr fiel – nicht zum ersten Mal an diesem Abend – sein äußerst wacher, kluger Blick auf. Kein Zweifel, sie mochte diesen Blick, der nun nicht mehr verhangen wirkte, wenn auch noch immer sehr müde. Und so begann sie zu lächeln und er reagierte, indem er wieder den Mund verzog – seine Art, auf sie zu reagieren, ohne die Zähne zu blecken. Und sie ertappte sich dabei, wie sie den Blickkontakt gern noch länger aufrechterhalten hätte, doch schließlich kam es ihr selbst etwas seltsam vor, ihm so lang in die Augen zu sehen. Also wandte sie sich ab und ergriff ihr Weinglas. Und auch er hob sein Glas, nickte ihr zu und sie flüsterte: „Danke für diesen Abend, Jakob.“ „Der Dank gebührt Ihnen“, erwiderte er, hob das Glas noch einmal, ohne es jedoch an ihres zu schlagen, sagte: „Aufs Leben“ und nahm einen Schluck. Das tat auch sie – und wie gut der Wein plötzlich schmeckte … „Also, warum spielen Sie nicht, wenn Sie doch so begeistert davon sind?“, fuhr er fort, neigte sich dazu etwas nach vorn und sah sie gespannt an. Sein Mund war nur leicht verzogen. Sie erwiderte das Lächeln und sagte: „Ich werde es wohl zugeben müssen, dass ich als Kind begann – wahrscheinlich so, wie Sie, aber mitnichten dieses Talent hatte und nach einem Jahr aufhörte …“ Sie unterbrach sich, nahm noch einen Schluck Wein, sah ihn dann an. Er hatte sich zurückgelehnt und seine Arme vor der Brust verschränkt. Er wirkte, anders, als noch vor Minuten, entspannt und sie erahnte, dass er lächeln wollte, jedoch nur wieder den Mund verzog. Aber das störte sie nicht. Sie erwiderte es und sagte: „So schaut es aus.“ „Ja“, ergriff er das Wort und neigte sich wieder etwas nach vorn. „Das ist schade. Aber vielleicht wollten Sie es dann gar nicht?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Doch, doch, ich wollte, aber als man sah, dass ich kein Talent hatte, wurde die Geige verkauft.“ „Das ist schade“, entgegnete er, sie nickte und dann, sie wusste nicht, was sie gepackt hatte, deutete sie auf seinen Geigenkasten, den er neben sich auf die Sitzbank gelegt hatte, und sagte: „Aber vielleicht könnten Sie sie mir einmal zeigen? Ich mag Geigen sehr …“ „Aber sicher“, beeilte er sich zu erwidern, erhob sich leicht, um den Kasten zu öffnen und die Geige zu entnehmen. „Es ist keine besonders gute Geige, aber auch keine schlechte“, fuhr er fort und reichte ihr sein Instrument. „Oh“, machte sie und war verblüfft, dass er sie ihr so unvermittelt übergab. Aber, als sie sie berührte und das Holz spürte sowie das filigrane Schnitzwerk des Steges sah, da wusste sie tief in sich eine Sehnsucht erwachen, die sie schon lang vergessen geglaubt hatte. Ja, es war damals schlimm gewesen, als ihr die Eltern das Instrument genommen hatten, schlimm, weil sie ihre Geige geliebt hatte – auch wenn sie auf ihr nur hatte herumkratzen können. „Schlimmer als Katzengeschrei“, hatte ihr Vater gesagt. Ja, daran erinnerte sie sich jetzt genau. Sie mochte wohl fünf oder sechs gewesen sein, jedenfalls noch nicht schulpflichtig. „Kein Talent“, hatte es geheißen. „Kein Talent.“ Und nun saß sie hier und hielt nach so vielen Jahren wieder eine Violine in der Hand und wusste, dass ihr so wundervolle, bezaubernde Töne zu entlocken waren, wenn man sie nur richtig behandelte, wenn man wüsste, wie den Bogen halten, wenn man das rasche Fingerspiel beherrschte und wenn … wenn … wenn … Sie strich mit einem Finger über das glatte, fast weiche Holz, legte sich die Geige auch an die Schulter, schloss kurz die Augen und spürte einen Moment später den Bogen in ihrer anderen Hand. „Nun könnten Sie spielen“, hörte sie Jakob sagen. „Könnte“, erwiderte sie und öffnete die Augen, „kann es aber nicht.“ „Na ja“, sagte er hierauf und zuckte mit den Schultern. Er hatte sich erhoben, stand nun vor ihrem Stuhl. Auch sie wollte auf, tat es und so standen sie sich, sie mit der Geige auf der Schulter und dem Bogen in der Hand, gegenüber. Er verzog wieder den Mund zu einem Strich und sie wusste, dass er sich um ein Lächeln mühte. Seinen Augen war es zumindest gelungen, denn sie leuchteten. „Ich würde gern …“, entfuhr es ihr. „Dann tun Sie es doch.“ „Es lernen.“ „Was hindert Sie? Ich bin hier.“ „Sie? Sie wollen mir ...?“ Er nickte. „Warum denn nicht?“ „Darüber muss ich erst einmal nachdenken …“, erwiderte sie leicht ausweichend, denn sie spürte, dass das Angebot zwar seinen Reiz besaß, sie jedoch hierhergekommen war, ohne sich irgendwelchen Verpflichtungen hinzugeben. Und das Violinspiel wäre eine solche. Dennoch hielt sie das Instrument weiter in der spielgerechten Haltung und auch den Bogen senkte sie hinab, bis er die Saiten berührte, wobei sie sich gleichzeitig fragte, was diese Violine von ihr halten würde, vorausgesetzt, sie hätte ein Bewusstsein. Zuerst hatte sie diese feinen, klaren Töne spielen dürfen und jetzt käme wohl nur ein Gekratz heraus? Wie hatte ihr Vater dereinst gesagt? „Du tust dem Instrument weh.“ Ja, es hatte auch sie geschmerzt, dass sie es nicht vermochte, gut zu spielen. „Dann denken Sie nach, Lene, denken Sie. Aber nicht zu lang, denn irgendwann ist mein Urlaub vorbei …“ Er verzog den Mund wieder zu einem Lächeln, als er auf sie hinabsah. Sie nickte und hätte doch gern einen Ton gespielt oder zumindest einmal über die Saiten gestrichen, doch plötzlich traute sie es sich nicht mehr. Nicht, weil das Restaurant voll besetzt gewesen wäre, nein, weil … weil … Ach, sie wusste nicht warum. Vielleicht, weil sie sich so wie damals, als sie noch Kind gewesen, schon wieder unter Druck setzte? Sie liebte die Geige, liebte ihre gewundenen, feinen Formen, liebte am allermeisten den kleinen Steg, der allein durch den Druck der Saiten an seiner Stelle gehalten wurde. Wie zerbrechlich dieses Instrument doch war … Und noch einmal schloss sie die Augen und plötzlich war’s ihr so, als hörte sie Jakob ganz leis sagen: „Es ist die einzige Sprache, die ich ein wenig beherrsche.“ „Wie lang bleiben Sie noch?“, flüsterte sie und öffnete die Augen wieder. „Anderthalb Wochen“, erwiderte er ebenso leise. Nickend löste sie sich von seiner Violine und murmelte ein: „Ich auch. Und danke.“ „Wofür?“ Statt einer Antwort lächelte sie ihn nur an. Und er fragte daraufhin, wieder leicht errötend: „Ist das wirklich kein … Date?“ „Und wenn es eines wäre, dann wüssten Sie es“, erwiderte sie und ertappte sich dabei, wie sie ihm zuzwinkern wollte und es dann doch nicht tat. Später standen sie beide vor dem Restaurant, das sich auf ihrer Warft befand, und wussten nicht recht. „Also dann“, begann er. „Ja, also dann …“, erwiderte sie. „Es ist schon spät, fast Schlafenszeit“, bemerkte er hierauf und sie konnte sich ein leises Schnauben nicht verkneifen. „Was?“ Sie schüttelte den Kopf und dann hörte sie sich sagen: „Dann empfiehlt es sich, recht rasch das Bett aufzusuchen.“ „So?“, erwiderte er, „ja, dann empfiehlt sich das …“ Er reichte ihr die Hand. „Also, Lene, dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht“, kam’s dazu recht gespreizt von ihm und sie reckte sich plötzlich, einem inneren Drang folgend, und küsste ihn hastig auf die Wange. Kaum spürte sie seine Haut, gar seine Bartstoppeln. Es war eher ein Stolpern als ein Kuss. „Oh“, machte er trotzdem ganz leis. „Darf dann auch ich?“ Sie sah ihm kurz in die Augen, nickte, ein „Ja“, flüsternd, obwohl sie gar nicht wusste, ob sie es wollte. Dennoch begann ihr Herz zu rasen, als er sich ihr näherte. Doch statt sie zu küssen, strich er ihr mit dem Handrücken über die Wange. „Wann sehen wir uns wieder?“ „Ich weiß nicht“, nuschelte sie und strich ihm ebenfalls über die Wange, dann auch über die narbige Schläfe, weil es ihr plötzlich so leidtat, ihn vorhin gemustert und solche Gedanken gehabt zu haben. Zugleich aber schämte sie sich dafür, dass sie sich doch dazu hatte überwinden müssen, ihn zu berühren. Und als sie sah, dass er die Augen geschlossen hatte und all das ganz offensichtlich genoss, da musste sie hart schlucken. Kapitel 14: Das "Gespenst" in der Tür ------------------------------------- Ich muss doch vollkommen verrückt sein, dachte sie, als sie am nächsten Morgen ihre Ferienwohnung verließ, um sich zu ihm zu begeben. Wie sie richtig vermutet hatte, wohnte er bei Kathrin, der Zuckerbäckerin auf der größten Warf – und das Jahr für Jahr, seit er als Kind zusammen mit seiner Mutter das erste Mal hierhergekommen war. Das müsse wohl, so vermutete er, mit fünf oder sechs Jahren gewesen sein. Damals war auch Kathrin noch ganz klein gewesen, weswegen sie natürlich nicht bei ihr, sondern bei ihren Eltern untergebracht waren. All das war gestern Abend förmlich aus ihm herausgesprudelt, nachdem sie seinem Vorschlag, sich gleich am nächsten Morgen wiederzusehen, zugestimmt hatte. „Lene, Sie wissen, wo ich wohne. Kommen Sie. Ich freue mich“, hatte er ihr, bereits im Gehen begriffen, noch einmal zugerufen und ihr zum Abschied gewinkt. Sie hatte seine Geste erwidert, nur, um sich dann ihrer Heimstadt zuzuwenden. Ja, sie hatte einem zweiten Treffen zugestimmt. Zugestimmt? Nun, so, wie sie sich gerade fühlte, als sie an der Kirchwarft vorbeieilte und sie kaum eines Blickes würdigte, hatte sie nicht nur einfach Ja gesagt. Sie hatte … Ihr Herz raste nicht, es flatterte förmlich, so als wolle es sie noch weiter antreiben. Sie aber zügelte ihre Schritte, mahnte sich zur Ruhe, wollte nochmals überlegen. Doch, was gab’s da zu überlegen? Zugegeben, es war schnell gegangen, schneller als für sie üblich. Und noch wusste sie nichts, nur, dass sie sich sehen würden. Aber eben das war es dich, was sie so sehr erregte. Gestern Nacht hatte sie lange keine Ruhe finden können – selbst die Anwesenheit ihres kleinen Hausfreundes, Percy, hatte nicht geholfen, denn ihre Gedanken waren immer wieder zu Jakob und seiner Geige zurückgekehrt und auch zu seiner stillen Frage: Ist das wirklich kein Date? Gut, sie hatten sich für heute Morgen an seiner Ferienwohnung verabredet, dann würde sie weitersehen, wüsste, ob sich das Gefühl bestätigte oder eben nicht. Auf das zweite Treffen kommt es an, hatte ihre Freundin Petra einmal gesagt. Beim zweiten entscheidet es sich … Nun verhielt es sich gerade nicht so, dass Lene nach einem Mann gesucht hätte. Im Grunde war genau das Gegenteil der Fall: sie wollte Ruhe finden und sich selbst erspüren zu lernen. Es war Zeit dafür, das wusste sie – und hier, auf der Hallig, hatte sie damit beginnen wollen. Nun, dass sie sich auch in Jakobs Gegenwart spüren konnte, war ihr gestern Abend klargeworden. Ja, sie hatte sich gespürt, als sie seine Geige entgegengenommen hatte oder auch, als sie ihm zum Abschied nähergekommen war und trotz Allem diesen leichten Widerwillen in sich gespürt hatte. Auch darüber hatte sie in der Nacht – Seite an Seite mit Percy im Bett liegend – nachgedacht. Was war es, dass sie davon abhalten wollte, ihn zu berühren? Wirklich nur seine äußere Erscheinung? Seine narbigen Schläfen? Die Hautreizung? Oder war es vielleicht dieser akkurate Scheitel, das, über die Glatze gekämmte Haar? Kurzum: sie hatte sich auf die nächtliche Gedankenautobahn begeben, um sie erst früh am Morgen wieder zu verlassen. Entsprechend müde war sie nun, sah dem, was da käme, dennoch lächelnd entgegen, denn sie wusste bei all dem: egal, wie dieses zweite Treffen mit ihm ausgehen würde, sie wäre um eine wunderbare Erfahrung reicher. Gerade dieser Gedanken trieb sie zu noch schnellerem Tempo und kaum, dass sie es sich recht bewusst war, flog sie dahin – wie dereinst als Mädchen von 15 Jahren. Damals eilte sie zu ihrem allerersten Date … Sie musste unwillkürlich lachen. Wie das damals so gewesen war, mein Gott. So unbedarft, so tollpatschig, so …, nein, bei all der Ahnung und Erfahrung, die sie sich nun zu haben einredete, kam unterm Strich doch das Gleiche wie damals vor 30 Jahren heraus: Sie wusste nicht, was sie erwartete … Vielleicht würden sie nach diesem Treffen beschließen, sich nicht wieder sehen zu wollen. Nun, was sie erwartete, klärte sich schnell, entsprach allerdings nicht dem, was sie erhofft hatte. Sie hatten sich vor Kathrins Café zu um 10 Uhr verabredet. Sie sah auf die Uhr. Es war Punkt Zehn, er aber nicht da. Im ersten Moment spürte sie schon eine leichte Enttäuschung in sich, die sie jedoch sofort verdrängte. Er würde ganz sicher gleich herauskommen. Ganz gewiss würde er das. Wie denn auch nicht? Doch die Zeit verging und noch immer kein Zeichen von ihm. Was nun? Schon überlegte sie, ob sie klingeln und nachfragen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Nachfragen, wo er sei? Nur, um dann zu hören, dass er das Haus bereits vor einer Weile verlassen hätte? Nein, das wollte sie nicht. Auch wollte sie nicht länger warten, immerhin waren bereits 15 Minuten vergangen und noch immer war er nicht erschienen. Da lag doch der Schluss nah, dass er es sich tatsächlich anders überlegt hatte. So einfach war das … Und zerplatzt war die … Tja, mal wieder … „Hallo, sind Sie Lene?“, rief es da plötzlich in ihre Gedanken hinein. Sie hatte sich bereits abgewandt und wollte sich gerade überlegen, was sie nun stattdessen machen könnte. Eines stand fest, sich sehr viel Ruhe gönnen und die Hallig genießen. Nun aber wirbelte sie herum. Vor ihr stand die Zuckerbäckerin: groß, blond, mit einer kleinen Brille auf der Nase. Unschwer konnte sie ein kleines Lächeln erkennen. „Ach, hat er Sie doch nicht vertrieben?“, fragte sie und hielt ihr die Hand hin: „Ich bin Kathrin und soll Ihnen ausrichten, dass es dem Herrn furchtbar peinlich ist, doch er sei heute Morgen indisponiert …, ja, so sagte er.“ „Oh“, erwiderte Lene, „was hat er denn?“ „Nichts Schlimmes – er ist nur indisponiert.“ „Dann, ja, dann werde ich wohl …“ „Nein, nein, er lässt überdies ausrichten, dass er … wie hat er sich ausgedrückt?“ Kathrin unterbrach sich und ein neckisches Grinsen stahl sich auf ihr schmales Gesicht: „Ach ja, er werde eilen und Sie mögen, wenn Sie es wünschen, hier im Garten warten, dort, am gedeckten Frühstückstisch. Selbstverständlich sind Sie eingeladen. Das betonte er ausdrücklich.“ Als Kathrin geendet hatte, blies sie die Wangen auf, sah auf Lene hinab, die um einiges kleiner war als sie, und sagte: „Der holde Herr ist bisweilen etwas kompliziert …“ „Ach so?“, schnappte Lene, die gar nicht recht wusste, wie ihr gerade geschah. Kathrin nickte und winkte ab. „Setzen Sie sich. Ich werde Ihnen gleich ein Frühstücksgedeck bringen.“ „Ja danke“, rief der Lene, der schon wieder wegeilenden Kathrin hinterher, „aber ich habe schon daheim …“ Ihr Satz blieb ungehört, denn Kathrin war bereits im Haus verschwunden und so blieb Lene nur, sich tatsächlich hinzusetzen – und, wie es der Zufall so wollte, blickte sie genau auf den Standkorb, in dem er bei ihrem ersten Zusammentreffen gesessen hatte. Und unwillkürlich musste sie lächeln. Das war was gewesen – keine anderthalb Wochen her, dass er all seine Sätze mit einem Es empfiehlt sich begonnen hatte, dann aufgestanden war, um … und das wurde ihr erst in dem Moment klar – ja, er hatte für sie bei Kathrin dieses Stückchen Pflaumenkuchen mit Sahne und einen Milchkaffee bestellt. Und dann hatte er sie auch noch an der Wange berührt, um ihr zu sagen: Es empfiehlt sich, alsbald einen Arzt aufzusuchen … Hätte sie es sich in dem Moment träumen lassen, dass sie ihn nun, wieder hier sitzend, erwarten würde und, dass ihr Herz dabei nicht gerade langsam schlage? „So, da kommen Gedeck, Kaffee und Brötchen“, riss Kathrin sie neuerlich aus ihren Gedanken. „Greifen Sie zu, lassen Sie es sich schmecken. Der holde Herr fordert sie ausdrücklich dazu auf, bereits zu beginnen, da sich sein Kommen trotz größter Mühen doch etwas verzögern wird.“ „Was?“, warf Lene ein und Kathrin zuckte fast entschuldigend mit den Schultern. „Wenn er indisponiert ist, ist er indisponiert – war früher auch schon immer so …“ Sie grinste und Lene wusste nicht recht, was darauf erwidern. Schließlich fragte sie: „Warum nennen Sie Ihn den holden Herrn?“ Kathrin zuckte erneut mit den Schultern und wirkte dabei ganz unbedarft, wenn auch ihr neckisches Lächeln anderes verriet. „Weil er einer ist. … Aber das soll er Ihnen mal ruhig selbst erzählen. Und nun wünsche ich Ihnen einen Guten Appetit.“ Mit diesen Worten kehrte Kathrin in ihr Haus zurück und Lene blieb mit einem großen Körbchen voll knuspriger Brötchen und dem anheimelnd wohligen Duft frisch gebrühten Kaffees zurück. Nur leider war ihr alles andere als anheimelnd. Und entspannen konnte sie sich auch nicht. Dennoch griff sie schließlich nach der Kanne und goss sich Kaffee ein, dazu auch etwas Milch. Hunger hatte sie keinen, obwohl sie der Anblick und der Duft der Brötchen doch reizten. Da sie aber bereits gegessen hatte und überdies ein wenig auf ihre Figur achten wollte, unterdrückte sie den Drang zuzugreifen. Schließlich war sie ja auch nicht hergekommen, um ein Frühstück einzunehmen, sondern, um sich mit Jakob zu treffen. Der jedoch ließ auf sich warten, auch, als Kathrin neuerlich hinauskam, ihr sagte, dass er sogleich käme. Lene nickte, nahm sich noch etwas Kaffee, trank Schluck um Schluck, begann sich umzusehen und fragte sich gleichzeitig, was sie hier eigentlich tue. Warten? Ja? Es waren bereits 30 Minuten vergangen, ohne, dass sich etwas gerührt hätte. Und da half es auch nicht, dass Kathrin immer wieder versicherte, dass es nicht mehr lange dauern könne. „Hat er denn verschlafen?“, entfuhr es Lene da plötzlich in einer Direktheit, die sie sonst nur ihren Schülern angedeihen ließ, aber Kathrin schmunzelte nur und sagte: „Er wird sogleich kommen.“ Aber es vergingen weitere Minuten, ohne, dass sich etwas tat und sie starrte wieder die Brötchen an. Wenn jetzt nicht endlich etwas geschehe, würde sie doch eines nehmen. Aber das käme einem Einverständnis gleich und das wollte sie nicht geben. Es war nicht so, dass sie Unpünktlichkeit per se ablehnte, gleichwohl sie es in der Schule sehr streng nehmen musste, aber, wenn sie auf eine Freundin wartete, weil sich diese etwas verspätet hatte, dann war das egal. Nur hier und jetzt – ja, langsam wurde sie unruhig und so trug es auch nicht Wunder, dass sie sich, als sich Kathrin neuerlich blicken ließ, erhob und sagte: „Ich denke, dass ich genug gewartet habe. Bestellen Sie Jakob bitte einen schönen Gruß von mir. Ihnen danke ich für den Kaffee. Ich werde gewiss einmal wieder zur Kaffee-Zeit bei Ihnen vorbeischauen.“ Mit diesen Worten wollte sie sich abwenden, doch Kathrin hielt sie zurück. „Lene?“ „Ja?“ „Am besten Sie kommen einmal mit, denn wie ich die Lage einschätze, wird er wohl tatsächlich nicht herauskommen.“ „Langsam frage ich mich, ob er überhaupt da ist“, entfuhr es Lene. „Doch, doch, da ist er, aber …“ „Was denn?“ „Kommen Sie einfach.“ Lene war nicht gerade wohl bei der Sache – auch ihre gute Laune war verschwunden und eigentlich wollte sie nur fort. Doch, da Kathrin sie noch einmal bat, mitzukommen, gab sie nach und folgte ihr ins Haus hinein und die enge Wendeltreppe hinauf bis vor eine Tür, die einen Spalt breit offenstand. „Hier“, flüsterte Kathrin, deutete auf die Tür und machte Anstalten zu gehen. „Was?“, fragte Lene – nicht gerade leise und bedeutete Kathrin dazubleiben. Diese verstand, klopfte leise, doch es kam keine Antwort. Dennoch schob Kathrin die Tür weiter auf und gab so den Blick in ein kleines Zimmer frei, ein Tisch stand da an der Wand, und vor ihm ein Stuhl, das Bett auf der anderen Seite – und auf dem Bett … Lene konnte sich nur mit Mühe zurückhalten – zu sehr war ihr die Überraschung in die Glieder gefahren. Auf dem Bett hockte er – bereits vollkommen angezogen und dicht an die Dachschräge gepresst. Die Beine hatte er auf dem Bett ausgestreckt und sie bemerkte, dass seine Füße in schwarzen Schuhen mit Klettverschlüssen steckten. Er sah sie seinerseits mit bleichem Gesicht an, so, als wäre er gerade aus einem schaurigen Traum erwacht und müsse sich erst finden. Die Szene erschien Lene wie eine Mischung aus dem Gemälde Der arme Poet von Carl Spitzweg und dem Portrait von Ivar von Lücken, das Otto Dix Anfang des 20zigsten Jahrhunderts gemalt hatte. Es zeigte diesen Dichter als einen großen, schlanken, fast dürren Mann, dessen Elend sich nicht nur an seinen Kleidern abzeichnete, sondern eben auch in seinem Gesicht. Noch dazu schien es, als fülle diese Gestalt den gesamten Raum aus. Kafkaesk nannte sie das. Lene wusste nicht, ob sie bei diesem Anblick lachen oder sich lieber zurückhalten sollte, allerdings hatte ihr Kathrin ja bereits angedeutet, dass Jakob nichts Ernstes habe. Dennoch sah er so blass aus ... und dazu seine geweiteten Augen ... Überdies hatte er den Mund leicht geöffnet, so als sei er gerade im Begriff, etwas zu sagen. Doch wem? Einem imaginären Wesen, das ich hinter der Tür barg? Um die peinliche Stille zu unterbrechen, nahm sich Lene ein Herz und brachte ein: „Guten Morgen, Jakob“, hervor. „Möchten Sie tatsächlich den ganzen lieben langen Tag im Bett verbringen?“ Aus ihr sprach die Lehrerin, die es gewöhnt war, ihre Schüler zur Ordnung rufen zu müssen – und das, wenn nötig auch in einem burschikosen Ton. Und Lene war dieser Lehrerin in sich dankbar dafür, dass sie die Stimme erhoben hatte, denn als normaler Mensch wäre sie an dieser surreal wirkenden Szene gescheitert, und das gerade, weil sie ahnte, was sich hier vollzog. Denn, was suchte ein erwachsener Mann in seinem Bett, wenn er erstens keineswegs krank war und zweitens eine Verabredung hatte? Warum machte er ein solch erschüttertes Gesicht, als stünde der Leibhaftige vor ihm? „Na, ich lasse Sie dann allein“, hörte sie Kathrin zu allem Überfluss in ihrem Rücken sagen, doch ehe sich Lene hatte umwenden können, murmelte Jakob: „Doch, nein ...“ „Also raus aus den Federn“, rief Lene gedämpft, „das Frühstück wartet unten im Garten.“ „Aha … ja …“, entrang es sich ihm. „Ich … bitte geben Sie mir noch einen Moment Zeit. Ich werde Ihnen sogleich folgen.“ Lene schüttelte indes den Kopf und machte einen nicht gerade kleinen Schritt in sein Zimmer hinein. Sofort wich er ihrem Blick aus. „Jakob …“ Er reagierte nicht. „Jakob, sehen Sie mich an.“ „Ein altes Leiden“, entfuhr es ihm. „Ich bitte Sie, ich komme sogleich.“ „Nichts da, jetzt, jetzt kommen Sie mit mir hinab.“ „Mir ist nicht ganz wohl.“ „Das wird sich bei einem ausgiebigen Frühstück ändern“, erwiderte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja?“ Sie nickte, obwohl er es vermied, sie anzusehen. Also schob sie ein: „Ja, natürlich“ hinterher. „Und nun los, Jakob. Wenn Sie so weitermachen, vergeht der Sonne die Lust daran, zu scheinen.“ „Oh“, fuhr er da plötzlich auf, „das wäre selbstverständlich schade.“ „Sehr sogar. Also …“ „Gut“, kam’s da von ihm, „ich werde sogleich …“ „Jakob, jetzt!“ Einen Moment geschah nichts, bis er plötzlich den Kopf hob und ihr in die Augen sah. Er war noch immer sehr blass, auch schien er sich tatsächlich nicht recht wohlzufühlen. Hätte Lene nicht gewusst, dass er gesund war, hätte sie ihn für krank gehalten. Und so, als wolle er ihre Gedanken bestätigen, fuhr er sich plötzlich übers Gesicht und sagte: „Bitte verzeihen Sie, ich habe sehr schlecht geschlafen.“ „Ich nicht minder“, entgegnete sie und mühte sich um ein Lächeln, das er jedoch nicht erwiderte. Stattdessen fuhr er fort: „Und wissen Sie, was ich geträumt habe?“ „Na?“, fragte sie leicht keck. „Dass wir getanzt haben, wir beide zusammen … Lene, ich habe so große Lust, mit Ihnen zu tanzen.“ Kapitel 15: Still! ------------------ „Bitte verzeihen Sie mein ungebührliches Verhalten auf Ihr Erscheinen“, ließ sich Jakob vernehmen, als er ihr den Stuhl am Frühstückstisch zurechtrückte. „Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist.“ Sie sahen sich in die Augen und um Lenes Mund zuckte ein kleines Lächeln. „Das kann jedem passieren. Was meinen Sie, wie oft mir das schon geschehen ist, dass einfach gar nichts mehr ging …“ „Ach ja?“, erwiderte Jakob und sah sie erstaunt an. Noch immer stand er neben ihr. Seine Hand lag auf der Lehne ihres Stuhls. „Aber ja“, sagte sie und nahm Platz. „Was stellen Sie sich denn vor?“ Sie sah zu ihm auf, lächelte und bedeutete ihm, doch ebenfalls Platz zu nehmen. Er deutete eine kleine Verbeugung an, ging dann um den Tisch herum und setzte sich ihr gegenüber, nicht ohne sie weiterhin interessiert zu betrachten. Und so sah sie sich genötigt, ihr Nähkästchen zu öffnen, um daraus zu plaudern. Im Grunde hatte sie das gar nicht vorgehabt, meinte sie doch, dass es ihm zu peinlich sei, dieses Vorkommnis zu vertiefen. Er jedoch schien anderer Ansicht, denn während er nach der Kaffeekanne griff, um erst ihr, dann sich einzuschenken, forderte er sie auf, ihre Andeutungen weiter auszuformulieren. Sie versuchte sich indes an einem schelmischen Grinsen. „Nun“, wiederholte er, „ich höre …“ „Tja, ich …“, begann sie, ein wenig aus dem Konzept gebracht und wenn sie ehrlich war, fiel ihr auf die Schnelle gar nichts ein – abgesehen davon, dass sie sich als kleines Mädchen eine Weile vor Besuchern, ob bekannten oder unbekannten, versteckt hatte, weil sie eine nicht unerhebliche Aufregung in sich gespürt hatte, mit der sie nur schwer zurechtgekommen war. Nur, ob ihn das allerdings darin bestärkte, normal gehandelt zu haben … Sie schwieg und senkte den Blick. Ihr, als Lehrerin, fiel partout nichts ein. Jakob indes ließ nicht locker. „Lene, erzählen Sie … “ Sie sah auf und wurde von einem kleinen Zähnefletschen empfangen. „Ich möchte es hören … ich möchte im Übrigen noch viel mehr von Ihnen hören … wenn ich ehrlich sein darf …, dann …“ „Wie bitte?“ Lene räusperte sich. „Ja“, erwiderte Jakob nickend, neigte sich plötzlich etwas nach vorn und berührte ihre Hand – und dessen nicht genug – ergriff er sie auch. „Alles möcht ich von Ihnen wissen, Lene.“ Lene wusste im ersten Moment nicht, wie reagieren, zumal ihr Jakob wie ein gerade erwachter Wieselflink vorkam. Nichtsdestotrotz begann ihr Herz schneller zu schlagen, als sie den leichten Druck seiner Hand spürte und ihn erwiderte. So schnell geht das also, schoss es ihr durch den Kopf und, um sich nicht der Röte, die unter seinem Blick von ihrem Gesicht Besitz ergreifen wollte, anheimzugeben, wandte sie sich ihrer Kaffeetasse zu, jedoch ohne die Berührung zu lösen. „Lene“, hörte sie da Jakob wieder, „bitte sagen Sie doch etwas.“ Sie holte tief Luft, sah auf ihrer beider Hände, sah, wie er die ihre umschlossen hielt, biss sich auf die Unterlippe, dann sah sie auf und hörte sich sagen: „Ich würde auch gern mit Ihnen tanzen, Jakob.“ „So, wie in meinem Traum?“, fragte er da prompt und sie wusste, dass nun sie ihn erstaunt ansah, erwiderte jedoch: „Ich weiß ja nicht, was konkret Sie geräumt haben … Das müssten Sie mir schon erzählen …“ „Nichts da“, kam’s von ihm, „zuerst sind Sie dran.“ „Womit denn?“ Er schwieg, jedoch meinte sie, ein kleines Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen, als er den Blick senkte. Und eben dieses Lächeln traf sie wieder, als sie sich später auf einer der Fennen, nahe des Sommerdeichs wiederfanden und er sie leise fragte: „Möchten Sie tanzen?“ Sie nickte nur. Dass ihr all das beinahe zu schnell ging, wollte sie sich selbst kaum eingestehen. Stattdessen nahm sie Jakobs Hände. Er reagierte sofort, kam einen Schritt auf sie zu. Beide sahen sich wieder in die Augen. „Lene“, flüsterte er, „ich möchte Sie kennenlernen.“ „Dann tun Sie’s doch“, erwiderte sie, löste sich von ihm und wandte sich ab. Sofort war er bei ihr. „Wenn ich wüsste, wie ich es anstellen soll“, hörte sie ihn sagen. „Haben Sie keine Scheu.“ „Darf ich Sie berühren?“ „Warum fragen Sie?“ Einen Moment lang sahen sie sich beide in die Augen. Er schwieg, sie auch. Dann senkte er den Blick. „Ich weiß nicht. Ich hatte …“ „Jakob?“ Wieder sahen sie sich an. Er wirkte plötzlich wieder etwas verunsichert, senkte auch den Blick und begann sich am Ohr zu zupfen. „Jakob?“ Er holte Luft, ehe er wieder aufsah. „Ich bin nicht sehr erfahren, müssen Sie wissen.“ „So? Dafür stellen Sie sich allerdings recht geschickt an.“ „Wie?“ „Ja, immerhin bin ich mit Ihnen hier“, erwiderte sie. „Ja, das sind Sie“, bemerkte er. „Dennoch habe ich Angst.“ „Jakob, kommen Sie her.“ Sie streckte ihre Hand nach ihm aus. Er ergriff sie, kam ihr allerdings nicht näher. Dafür tat sie einen Schritt auf ihn zu – und dann noch einen, dabei wollte sie einfach nur wissen, was das mit ihr anstellte. Wie sich das anfühlte, ihm so nah zu sein. So nah, dass sie die vielen kleinen Bartstoppeln an seinem Kinn erkennen konnte und es nur eines Geringen bedurft hätte, um ihn … Sein Mund war leicht geöffnet und obwohl sie die Reizung seiner Lippen deutlich erkennen konnte … Sie könnte ihn doch – ganz schnell, ganz sacht … um sich ihm dann ebenso schnell wieder zu entziehen. „Ich kann nicht sagen, dass das eine vollkommen neue Erfahrung für mich wäre, hier mit Ihnen zu stehen, aber …“, begann Jakob plötzlich, doch Lene schüttelte den Kopf, auch um sich selbst wieder zur Ordnung zu rufen. „Still, Jakob!“ „Aber ich möchte es dir …“ „Nicht jetzt“, flüsterte sie und nahm auch seine andere Hand, weil sie seine Unruhe spürte. „Aber …“, begehrte er auf. „Später.“ „Aber ich möchte doch nur …“ „Jakob, bitte …“, erwiderte sie, senkte den Blick, schloss die Augen und hörte sich selbst wie von Ferne sagen: „Ich saß einmal in einem Konzert – es wurde Händel gespielt und der Dirigent, der tanzte diese Musik mit, während er sein Orchester leitete. Es war so wundervoll, ihm zuzusehen, so … aber als die Musik auf ihren Höhepunkt zuging, senkte er plötzlich seinen Dirigentenstab, hielt in der Bewegung inne und neigte sich leicht nach vorn. Es schien so, als durchdringe ihn diese wunderbare Musik, als werde er eins mit diesen Tönen, die ihm da entgegenströmten. Gleichzeitig wirkte seine Geste so demütig, so ergeben, er, so klein gegen diese überwältigende Musik.“ Sie holte tief Luft, öffnete die Augen wieder, wusste Jakobs Blick auf sich gerichtet. „Und ich glaube, er verneigte sich hernach auch – nicht nur vor seinem Orchester, sondern auch vor Händels Kunst und der Musik an sich, dieser wundervollen …“ Ihre Lippen begannen zu beben. „Jakob, ich möchte damit nur sagen, dass man manchmal stillhalten und schw …“ „Ich weiß“, unterbrach er sie sanft und neigte sich zu ihr hinab, sein Mund war leicht geöffnet. Sie sah seine Lippen, die Reizung auf ihnen, die sich im Vergleich zum Vortag tatsächlich nicht gebessert hatte. Sicher schmerzte es ihn. „Aber nun möchte ich wissen, was für ein Konzert das war und wie der Dirigent geheißen hat“, entfuhr es ihm und er zwinkerte einige Male. „Später.“ „Aber, Lene, ich möchte Sie kennenlernen … möchte alles …“ „Wir werden uns kennenlernen“, entgegnete sie, löste sich etwas von ihm. „Wann denn?“ „Jetzt.“ „Wie? Ich dachte, Sie wollten …“ Sie nahm wieder seine Hand und sagte: „Schließen Sie die Augen.“ „Was?“ „Ja, schließen Sie die Augen.“ Er sah sie leicht zweifelnd an. „Vertrauen Sie mir“, entfuhr es ihr. „So? Also …“ Wieder zeigte er ein kleines Zähnefletschen, tat jedoch, wie ihm geheißen, und sie hielt einen Moment inne, betrachtete den nur notdürftig ruhiggestellten Mann an. Das also war Gottfried-Jakob Praetorius, den sie erst seit eineinhalb Wochen kannte. Nun, von kennen konnte nicht die Rede, aber … und ehe sie es sich versah, war sie bei ihm, flüsterte: „Die Augen geschlossen halten, ja?“, erntete dafür ein winziges Schmunzeln und berührte ihn mit Hand an der Wange, ganz sacht zuerst, spürte seine Hautunebenheiten, seine Narben an der Schläfe mit den Fingerkuppen, sah dazu, wie er noch immer schmunzelte, die Augen jedoch geschlossen hielt, und so stupste sie ihn leicht an die Nasenspitze. „Oh“, machte er und sie hüpfte weiter zu seinem Kinn, umfasste es leicht, ehe sie ihm ihre Hand einfach wieder auf die Wange legte. „Jakob“, murmelte sie und reckte sich dann, um ihm, so, wie am Abend zuvor, einen Kuss auf die Wange zu geben. Nur, dass sie diesmal keinerlei Widerwillen in sich spürte. Kapitel 16: Chaos ----------------- Er stand etwas steif da, als sie von ihm abließ, lächelte jedoch. „Das war schön“, murmelte er. Sie nickte, lächelte ebenfalls. „Das ist es …“ und küsste ihn nochmals auf die Wange, schloss dabei die Augen, holte tief Luft. Das ganz bewusst. Wie roch er? Wonach? Sie war ein Nasenmensch – schon immer gewesen. Vor allem bei Menschen, zu denen sie Kontakt aufnehmen wollte. Jakob hatte ein leichtes Parfum aufgelegt, vielleicht war es auch sein Aftershave? Sie wusste es nicht. War auch egal. Es wirkte unaufdringlich – so, wie er selbst – und war gerade deswegen anziehend. „Es ist schön, deinen Atem zu spüren“, murmelte er. Sie schwieg, ihm noch immer ganz nah. „Ich habe das noch nie erlebt“, begann er wieder. Schon wollte sie sich wieder von ihm lösen, um etwas zu erwidern, unterließ es jedoch. „Es ist neu für mich“, fuhr er fort, „und ich weiß nicht … Ich mache bestimmt alles falsch.“ „Machst du nicht“, erwiderte sie ganz leise und einem inneren Drängen nach, legte sie ihre Arme um ihn, so, wie sie es bisweilen bei ihren Schülern tat. Ein alter Lehrer hatte ihr einmal gesagt, dass nichts dabei sei, Schüler zu umarmen, wenn es die Situation erforderte … Sie kniff die Augen fest zusammen, denn was sie hier tat – nun ja, sie tat es gern, so gern. Sie mochte Jakobs Duft, sie mochte seine Feingliedrigkeit und sie mochte es, dass ihr Herz bei all dem schneller schlug. „Sag mir, was ich jetzt tun soll“, flüsterte er. „Nichts.“ „Nichts?“ Sie schwieg, küsste ihn noch einmal und ließ dann von ihm ab. „Ich weiß nicht“, begann er von neuem, nahm ihre Hand. „Es wäre mir lieb, wenn du …“ Er unterbrach sich, senkte den Blick. „Tu, was du denkst“, entgegnete sie leichthin und drückte seine Hand. Er zuckte mit den Schultern und sie spürte seine Verwirrung. Vielleicht hatte sie ihn mit all dem überfordert? Ja? Konnte das sein? Und nun? Sie schwieg, wartete ab. „Da war mal Maria …“, begann er leise und mit noch immer gesenktem Blick. In jedem anderen Fall hätte Lene das Gespräch an dieser Stelle unterbrochen. Doch hier, nein. Sie spürte, dass es ihm wichtig war, sich irgendwie zu artikulieren, um sich zu erklären und sich durch seine Offenheit selbst aus der Verwirrung zu verhelfen. „Erzähl mir von Maria“, flüsterte sie, zog ihn jedoch mit sich, einem soeben erspähten Strandkorb entgegen. Er folgte ihr. „Na ja, da gibt es im Grunde nicht viel. Sie sagte nur immer, dass sie es vermisse …“ Lene wandte sich um, runzelte die Stirn, wollte fragen, was Maria vermisst hätte, doch Jakob zuckte mit den Schultern, blieb stehen und senkte erneut den Blick. Sie presste die Lippen fest aufeinander. Was sollte sie darauf erwidern? Aber ihn dort so stehen lassen, das konnte sie auch nicht, denn offensichtlich erwartete er irgendetwas von ihr. Doch musste sie sich selbst erst einmal finden, denn Verwirrung machte sich auch in ihr breit. Und da die Lehrerin in ihr schwieg, war sie auf sich allein gestellt. Sie kannte sich nicht gerade als Konversationsgenie, zumal er, um sein Dilemma noch zu verdeutlichen, plötzlich auf seine Bauchregion wies und ihr schlagartig klar wurde, dass diese Maria wohl nicht nur Zärtlichkeiten vermisst hatte. Und ganz offensichtlich verspürte er nun ein Verlangen danach, ihr in dieser Situation klarzumachen, was in ihm vorging, denn er sagte: „Es ging nicht …“ Dazu sein plötzlich aufblitzender Blick, in dem sie jedoch nichts als verwirrte Bestürzung erkannte. Ihm nun wiederum zu erklären, dass seine Andeutungen unpassend seien, wenn nicht gar verrückt wirkten, fand sie an dieser Stelle ebenso falsch, wie den Hinweis darauf, dass sie sich beide wohl noch lang nicht an diesem Punkt befinden würden – wenn überhaupt jemals. Als flach und wenig hilfreich empfand sie die Bemerkung, dass er sich erst einmal setzen solle, um sich zu beruhigen. Und wie sah es damit aus, ihm zu versichern, dass bestimmt alles gut werde? Nun, diesen Satz glaubten ihr bisweilen noch nicht einmal mehr ihre Schüler … Also senkte auch sie kurz den Blick, zwang sich zur Ruhe, ging dann kurzentschlossen auf ihn zu, nahm seine Hand und sagte: „Tanz mit mir.“ Sie wusste nicht, ob es das war, was er erwartet hatte, allerdings hob er den Blick, verzog den Mund zu einem Lächeln, nickte dann, wenn auch sehr verhalten und murmelte: „Ich habe Musik dabei.“ „Und welche?“ „Händel.“ „Was?“, entfuhr es ihr und sie wusste, dass sie ihn verwirrt ansah. Er aber nickte, fletschte die Zähne und das diesmal ziemlich stark, sodass sie sich, im Übrigen nicht zum ersten Mal, fragte, warum er ganz augenscheinlich nicht richtig lächeln konnte. Entweder verzog er den Mund oder zeigte die Zähne. Nur selten lächelten seine Augen. Und wenn es etwas gab, was sie noch immer an ihm störte, dann wohl das. Aber war es ihm vorzuwerfen? Es gab doch viele Menschen, die nicht lächeln konnten. Wenn sie da nur an die kleine Ronja dachte … Aber das war ein anderes Thema. „Ich dachte, ein Schreittanz für den Anfang …“, fuhr er in ihre Gedanken hinein. „Ich mag Barocktänze, das Menuett vor allem … Und da du gestern Abend …“ Er geriet ins Stammeln, griff in seine Jackentasche und holte sein Handy hervor. „Hier. Wie wäre es mit der Feuerwerksmusik?“ Sie wollte schon die Wangen aufblasen und ihm in einer ausladenden Geste verdeutlichen, dass sie mit allem, nur nicht damit gerechnet hätte, als die ersten Klänge an ihr Ohr drangen. „Darf ich bitten?“, hörte sie ihn hierauf fragen und ergriff die ihr dargebotene Hand. Dass dies keine Disco werden würde und dennoch etwas von dieser hatte, brachte sie zum Grinsen – und eben auch die Tatsache, dass sie Barockmusik zwar mochte, jedoch im Grunde gar keine Ahnung davon hatte, wie das Menuett zu tanzen sei. Also ahmte sie ihn – sich mehr auf seine Schritte als auf die Musik konzentrierend – in all seinen Bewegungen nach, was ihr schließlich ein ganz schlechtes Gefühl bescherte, da sie immer wieder ins Stolpern geriet und die Musik vollkommen aus ihrem Bewusstsein verdrängte. Doch kam es nicht gerade auf die Musik an? Sie hielt inne, löste sich von ihm. „Was?“, hörte sie ihn fragen. „Moment“, murmelte sie, schloss kurz die Augen, um Ruhe zu finden. Er hatte recht, gestern Abend hatte sie nach Bach getanzt. Vielleicht war ihr das nicht sehr gut gelungen, doch sie hatte es vermocht, sich selbst Ausdruck zu verleihen. Würde sie nun hier weiterhin an Jakobs Hand kleben und ihn nachahmen, käme das nicht nur einem Stümpern gleich, sondern würde sie beide nur immer weiter auseinandertreiben, eben, weil sie sich selbst nicht zu spüren vermochte. Sie aber wollte, wollte … wollte sich und darüber auch ihn spüren und seine Nähe genießen. Das wollte sie. „Ich muss zuerst allein …“, entfuhr es deswegen und schon breitete sie die Arme aus und begann sich zu drehen – einfach so, denn plötzlich war die Musik wieder in ihr. „Tanzen“, rief sie und zu ihm hinüber: „Ich kann nicht zusammen ...“ Sie bemerkte, dass er in seiner Bewegung innegehalten hatte und sie fragend ansah. Sie zuckte mit den Schultern, mühte sich um ein Lächeln, bewegte sich dann auf ihn zu, sagte: „Ich hab’s doch nie gelernt …“ „Aber dann kannst du’s lernen, von mir. Jetzt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt … Lass uns einfach tanzen.“ „Einfach tanzen?“ „Ja … einfach so. Tanzen. So, wie ich gestern Abend getanzt habe.“ „Wie gestern Abend?“ Er schien überfordert und so hielt auch sie inne, legte den Kopf leicht schräg und sagte: „Die Musik einfach nur fühlen und sich dann nach ihr bewegen.“ „Aber ich kann die Musik nur fühlen, wenn ich diesen Tanz tanze. Alles andere wäre doch Chaos“, entgegnete er. Und obwohl sie das seltsam fand, näherte sie sich ihm, strich ihm über die Wange, hielt kurz sein Kinn, um sich dann wieder von ihm zu lösen. „Nicht immer kommt es dann zum Chaos. Freiheit bedeutet nicht Chaos“, rief sie über ihre Schulter hinweg. Noch immer stand er da und sie meinte zu erkennen, dass er sogar den Kopf schüttelte. „Lass dich gehen“, fuhr sie fort und schwebte wieder auf ihn zu. „Erspür die Musik …“ „Aber dann tut es doch jeder für sich allein. Jeder erspürt für sich allein. Und dann …“ „Das stimmt“, unterbrach sie ihn, ohne in ihrer Bewegung innezuhalten. „Aber wer sagt denn, dass wir immer allein bleiben müssen. Selbst im Kosmos stoßen Teilchen aufeinander, obwohl es dort oben förmlich nichts gibt.“ „Komm mir nicht damit“, entgegnete er und sie sah unwillkürlich wieder zu ihm hinüber. Er lächelte nicht, denn ganz offensichtlich stieß er sich an ihrer Bemerkung. Gleichzeitig meinte sie zu verstehen, was diese Maria tatsächlich vermisst hatte. „Jakob, lass aus der Unordnung, dem Chaos, etwas entstehen … Komm, lass dich gehen ... Bitte. Ich möchte es …“ Sie blieb kurz stehen, überlegte, ob sie wieder zu ihm hinübergehen sollte, tat es dann jedoch nicht, lächelte stattdessen und streckte die Hände nach ihm aus. „Diese Musik verlangt doch nicht nach einer Ordnung der Schritte.“ „Na ja, sie ist reine Mathematik“, erwiderte er. „Ja, sicher, aber ist Mathematik nicht auch ein Spiel?“ „Ein Spiel?“ „Freiheit …“ Und um ihrer Bemerkung Ausdruck zu verleihen, breitete sie die Arme aus und rannte auf ihn zu, nur, um kurz vor ihm zu stoppen, indem sie kurz aufhüpfte. „Was nützt es dir, wenn du immer alles von Anfang bis Ende kennst. Dann gibt’s doch keine Überraschung. Selbst ich als Lehrerin, die immer alles planen muss, werde tagtäglich von Überraschungen überrascht, von Unvorhergesehenem … und ehrlich, das ist mir das Beste an meinem Beruf. Es gibt immer Dinge …“ Sie unterbrach sich, weil sie ahnte, dass sie vom Thema abkam. Jakob maß sie derweil mit Blicken und sie meinte zu erkennen, wie sich seine Lider langsam senkten. Und da war er: dieser abschätzende Blick, den sie nicht mochte. „Es ist so eine schöne Musik“, sagte sie, „so schön. Warum sie nicht mit dem Körper nachempfinden?“ „Nun“, schnappte er und verengte seine Augen zu Schlitzen, „warst du auf einer Waldorfschule und hast deinen Namen von früh bis abends getanzt?“ „Jakob“, entfuhr es ihr da und sie spürte, wie die Emotionen nach ihr griffen. Was sollte das? Was hatte er? Sein Verhalten gefiel ihr nicht. Sie empfand es als anmaßend, verletzend. Dazu dieses Zähnefletschen. Nein …! All das war ihr zu viel. Dafür war sie nicht hergekommen. Und so mühte sie sich um einen ruhigen Ton, als sie sagte: „Jakob, ich hätte wirklich gern mit dir getanzt, aber ich glaube, das wird mit uns beiden nichts.“ Und mit diesen Worten drehte sie sich um und ging. Kapitel 17: Ein Tag und eine Idee --------------------------------- Es war nun einmal so. Und dagegen konnte sie nichts tun. Sie ging über die Fenne, querte dann eine Brücke und befand sich alsbald wieder an ihrer Ferienwohnung. Dass sie Jakob einfach so hatte steheen lassen, kam ihr in diesem Moment vollkommen gerechtfertigt vor. Schließlich hatte er sie auf seine ganz spezielle Art zu verletzen versucht. Und da sie ihn in diesem Moment nicht mehr hatte ersehen können, hatte sie eben das Weite gesucht. Aber darüber wollte sie nun nicht nachdenken. Und wenn sie eines gelernt hatte während ihrer Therapie, dann, dass man Dinge, die einem nicht guttaten, aus den Gedanken verbannen konnte, um Freiraum zu schaffen, für das, was einen wirklich anging. Und das war die Frage, was sie an diesem Tag unternehmen könnte. Einfach auf der Hallig verweilen und sich von Wind und Sonne packen lassen – so, wie an all den vorangegangenen Tagen auch? Ja? Sie entschied sich dagegen, denn ein Blick in den Buddelbreef verriet ihr, dass es in nicht einmal einer Stunde eine Wattwanderung geben sollte – hinüber nach Norderoog, zur Vogelhallig. Das war doch was. Oder? Ein Abenteuer. Wenig später fand sie sich am Treffpunkt ein – trug Rucksack und Gummistiefel bei sich. Doch man riet ihr, barfuß zu gehen, wollte sie nicht im Watt stecken bleiben. Gleichzeitig aber wurde auch vor der Amerikanischen Schwertmuschel gewarnt. Die lauere überall und eh man es sich versähe, hätte man sich die Fußsohle aufgeschlitzt. Die meisten, so auch sie, entschieden sich also dafür, die Socken anzubehalten. Und dann ging es los, dieser 2km entfernten Hallig entgegen, auf der früher allein der Vogelwart gelebt hatte. Und der, so wurde unterwegs erzählt, hätte jeden, der sich seiner Hallig näherte, mit Spaten und später auch mit Flinte bedroht. Er hatte es nicht wollen, dass ihn jemand in seiner Ruhe störte und sein Eiland betrat. Unwillkürlich musste Lene lächeln, gleichwohl es gar nichts zu Lächeln gab. Man stelle sich nur diesen wildgewordenen Vogelwart vor, wie er den Eindringling schon aus einem Kilometer Entfernung erblickte, um ihn dann nahe genug herankommen zu lassen und ihn zu bedrohen … Ach, was sie sich für Gedanken machte. Heute wurde die Vogelhallig wieder von einem Wart bewohnt, der allerdings im Sommer von freiwilligen Helfern unterstützt wurde. Zusammen achteten sie darauf, dass die kleine Vogel-Hallig auch kommenden Unwettern trotzen könnte. Dass Lene dieser Arbeit nicht abgeneigt war, erklärte sich wohl. Sie interessierte sich für Vögel und auch für deren Auskommen. Nicht umsonst hatte sie an ihren Vogelkundlichen Begleiter und den Feldstecher gedacht. Und wie erwartet, hatte sie während der Wanderung immer wieder Gelegenheit, das Watt zu abzusuchen, sofern sie nicht gerade damit beschäftigt war, ihre Füße aus dem Schlickwatt zu ziehen oder sich Gedanken darüber machen musste, wie sie über diesen und jenen Priel kam. Dennoch war sie nicht außer Atem und eher im ersten Drittel der Wandertruppe anzufinden. Sie sah sich immer wieder um, ließ die feine, klare Meeresluft in ihre Lungen dringen und lächelte, wenn sie die Nase gen Himmel hob und die Strahlen der Sonne im Gesicht spürte. Nach all dem, was sie mit Jakob erlebt hatte, war diese Wanderung das Ideale, um sich anderen Gedanken hingeben zu können. Ja, wieder durchströmte sie das Gefühl, frei zu sein. Und wenn sie sich bewusstmachte, dass sie noch ganze anderthalb Wochen hier verweilen durfte, ehe sie der Alltag in ihrer Berliner Grundschule wieder einnähme, dann wollte sie die auch nutzen, ohne sich irgendwelchen Gedanken hingeben zu müssen. Ja, so dachte sie und freute sich daran, dass sie sich freuen konnte. Denn wie lange hatte es gedauert, ehe sie das wieder gekonnt hatte. Damals, als es ihr nicht gut gegangen war und sie begreifen musste, dass sie drauf und dran war, das eigene Leben aus den Händen zu geben, da hatte sie sich wie erloschen gefühlt, falsch, nicht richtig da. Damals, als sie an diesem Winterabend in ihrer kleinen Wohnung gesessen und in die Flamme der Kerze gestarrt und sich eine Feige Sau! gescholten hatte. Damals, als es ihr jeden Morgen schwerer gefallen war, das Bett zu verlassen, um sich schließlich gar nicht mehr aufraffen zu können, damals … Ja, das war eine Zeit gewesen, die sie an ihre eigenen Grenzen geführt hatte. Eine Zeit, der sie so nie wieder ins Antlitz blicken wollte. Sie war so unsäglich müde gewesen – und ein Tag war wie der andere vergangen. Grau, trüb, kalt, nass. Selbst ihre Kleider fühlten sich stets klamm an. Und dazu dieses Gefühl, in nichts mehr einen Sinn sehen zu können. Alles war gleich – gleich öde, langweilig – nein, noch nicht einmal langweilig. Es war alles egal. Sie fühlte sich wie blind. Sie funktionierte nur noch. Tag ein, Tag aus. In der Schule arbeitete sie den Lernstoff ab, Kapitel für Kapitel, stellte Fragen, nahm die Schüler heran, bewertete, gab Noten und verließ am Ende der Stunde den Klassenraum, um sich auf dem WC die Tränen zu verbeißen. Ja, in dieser Zeit hatte sie immer wieder heulen müssen. Es war selbst an etwas bessren Tagen über sie gekommen, dass sie – manchmal sogar mitten in den Stunden – einfach hätte losheulen können. Sei es, dass ein Schüler etwas sagte, sei es, dass sich draußen ein Blatt vom Baum löste und zu Boden schwebte. Ja, selbst, wenn sie sah, dass eine schwerbepackte Frau von einem herannahenden PKW mit Wasser vollgespritzt wurde, konnte es geschehen, dass sie einfach stehenbleiben und weinen musste. Scheiße war das gewesen. Das Leben war an ihr wie ein Film vorbeigezogen. Ja, irgendwann hatte sie es verpasst gehabt, auf diesen Lebenszug aufzuspringen und sich mit ihm an einen anderen, fröhlicheren, besseren, lebenswerteren und vor allem fühlenden Ort bringen zu lassen. Dass sie sich damals selbst auch im Weg gestanden hatte – keine Frage. Das hatte sie nicht erst mit ihrem Therapeuten in den unzähligen Sitzungen erörtern müssen. Das wusste sie auch selbst. Vielmehr hatte sie es gefühlt. Ja – und wenn’s das einzige gewesen war, was ihr klargewesen ist. Es schmerzte, schmerzte so sehr, dass sie an einen Punkt gekommen war, an dem sie alles hatte hinschmeißen wollen. Der Abend dann allein mit sich in der Küche vor der Kerze – mit ihrem Therapeuten hatte sie später gerade dies als Symbol für ihre Heilung herausgearbeitet. Gerade das, dieser absolute Nullpunkt, sollte ihr helfen, wieder zu sich zu finden. Anfangs zweifelte sie, doch da ihr Therapeut darauf beharrte, zündete sie sich in der Folgezeit jeden Abend diese Kerze an und sah in die Flamme. Und ganz egal, welche Gedanken ihr dabei kamen, sie versuchte sie alle ins Licht zu schicken. Zugegebenermaßen hatte es eine Zeit lang gedauert, bis sie tatsächlich etwas gespürt hatte – so etwas wie … wie Erleichterung? Petra, schon damals ihre Freundin, hatte ihr überdies geraten, es mit Meditationen zu versuchen. Und sie war ihrem Rat gefolgt, nur, um dann doch festzustellen, dass das, im Gegensatz zu dieser Kerze, nichts für sie war. Aber vielleicht würde sich das ja noch ändern? Norderoog lag vor ihr. Deutlich erkannte sie die zwei Häuser, in denen sich der Vogelwart von April bis Oktober einzurichten hatte. Jedes Jahr wurde ein neuer Wart aus einer Reihe von Bewerbern gewählt. Kurz bevor sie zur Hallig gefahren war, hatte sie gelesen, dass der Wart natürlich gewisse Eigenschaften und Fertigkeiten mitbringen musste. Und die Suche nach Einsamkeit und innerer Einkehr standen dabei ganz gewiss nicht zur Diskussion, vielmehr das offene Engagement für die Natur, vor allem die Vögel, die ja ab Mai dort brüteten, weswegen es in diesem und den kommenden Monaten auch keinem Besucher gestattet war, Norderoog zu betreten. Es war ein einsames Leben dort drüben – und es hatte wohl auch etwas von einem Eremiten-Dasein, vollkommen auf sich gestellt, den Unbilden der Natur ausgesetzt. Aber, sie wollte es nicht verzärteln, gar romantisieren, dieses Leben. Sie wollte im Grunde gar nichts, sondern einfach nur laufen und sich ihrer selbst bewusstwerden, sich spüren, auch wenn es sie ab und an schmerzte, wie jetzt gerade, da sie in eine Amerikanische Schwertmuschel getreten war und sie nur der Strumpf an ihrem Fuß vor einer offenen Wunde bewahrte. Norderoog war klein, übersichtlich, da der gemeine Besucher ja sowieso nicht überallhin dufte – schon gar nicht in die Teile, die dem Vogelschutz vorbehalten waren. Das eine Haus barg ein Museum, das andere die Wohnung des Vogelwarts. Und die Toilette befand sich etwas abseits. Gekocht wurde auf einem Gasbrenner, frisches Wasser sowie Lebensmittel musste sich der Wart von der Hooge beschaffen und elektrisches Licht … Tja, wozu gab es Kerzen und Taschenlampen? Und in diesem Moment kam ihr eine Idee und sie wandte sich an den Vogelwart, einen jungen Mann von etwa 25 Jahren, der sein Freiwilliges Soziales Jahr hier absolvierte. „Wie sieht es eigentlich mit den Gruppen aus, die hierherkommen?“, fragte sie. „Das sind alles Leute zwischen 18 und 25, einige sind auch älter“, erwiderte er. „Und sie kommen aus aller Welt.“ Er lächelte freundlich und sie sagte: „Ich frage deswegen, weil ich selbst Biologielehrerin an einer Grundschule bin. Wie sähe es aus, könnte ich auch mit meiner Klasse herkommen?“ Er stutzte, dann sagte er: „Kommt darauf an, für wie lange und ob die Kinder entsprechend vorbereit werden.“ Nun lächelte auch sie, nickte. „Das sollte wohl kein Problem sein und mehr als eine Woche wäre es nicht.“ „Na ja“, entgegnete er schulterzuckend. „Zwar ist eine Woche nicht viel, aber ich kann mir vorstellen, dass die Kinder nicht wissen, worauf sie sich einlassen.“ „Eben darum geht es doch, oder?“. konterte sie. „Ich habe so viele Kinder in der Klasse, die nicht mehr ohne ihr Smartphone können …“ „Ja, aber ist dann diese Vogelhallig das Richtige für die Kinder?“, gab der Wart zu bedenken. „Dennoch, die Idee hat was.“ „Ja, finde ich eben auch. Und ich würde die Klasse auch gut vorbereiten.“ „Na ja … ich habe das nicht zu entscheiden. Da müssten Sie sich ans Wattenmeerhaus wenden und nochmals nachfragen. Vielleicht wäre es doch besser, wenn sie mit der Klasse eher auf der Hooge selbst absteigen würden.“ Lene nickte und freute sich, denn eine Idee war geboren, auch wenn sie noch nicht ausgegoren war. Aber sie war doch gespannt darauf, die Idee mit den Kindern besprechen zu können. Und sie wusste, dass es so einige in der Klasse gab, allen voran die kleine Ronja, aber auch Hannah und Christoph, die solch eine Klassenfahrt ganz bestimmt nicht doof oder ugly finden würden. Und just in dem Moment wusste sie auch, dass sie sich bei aller Suche nach Ruhe und innerer Einkehr doch auch darauf freute, ihre Gören aus der 6. Klasse wiederzusehen. Und sie freute sich auch darauf, mit ihnen dieses neue Jahr zu bestreiten. Aber vorerst hatte sie noch Urlaub und den wollte sie genießen. Genießen. Am frühen Abend dann ging sie noch schnell zum Halligkaufmann. Nicht, dass sie etwas Bestimmtes gebraucht hätte. Nein, sie wollte einfach nur durch die Regalreihen schlumpern und mal sehen. Sollte sie sich einen Wein kaufen? Einen Weißen? Ja? Zur Feier des Tages? Schließlich hatte sie es geschafft, dem Wattenmeer nach mehr als vier Stunden, wenn nicht sauber, so doch körperlich fast unversehrt zu entkommen – abgesehen von der kleinen Schnittwunde an der Hand, die sie sich beim Griff ins Schilf zugezogen hatte. Daheim stellte sie sich erst einmal unter die Dusche, ließ das Wasser auch diesmal länger laufen, seifte sich ordentlich ein und hörte sich wiederum einige Seufzer ausstoßen. Der Tag war, abgesehen von den morgendlichen Stunden … doch wunderschön gewesen, fand sie. Denn, wenn sie es tatsächlich hinbekäme und die Eltern aller Schüler mitspielten, dann würden sie die Abschlussfahrt ihrer 6. Klasse hierher machen. Wieder lächelte sie, drehte das Wasser zu, entstieg der Dusche und griff nach einem Handtuch. Und während sie sich abtrocknete, betrachtete sie sich im Spiegel. Sie sah sich lächeln, sich zuzwinkern. Im Moment fühlte sich das Leben gut an. Doch wie es immer so kam verlief der Abend ganz anders als geplant, denn als sie aus dem Bad kam, meinte sie ihren Ohren nicht zu trauen – und sie lauschte noch einmal, ehe es sie siedend heiß überkam: von draußen klangen Violinlaute herein und unwillkürlich war all das, was sie an diesem Tag so erfolgreich hatte verdrängen können, wieder da … Es bedurfte nur weniger Schritte zum Fenster, um es zu öffnen und hinauszuspähen. Und tatsächlich – da stand Jakob, auf dem Hof, und spielte Bach, Händel … Sie wusste es im Moment nicht zu sagen. Und so, als genüge das noch nicht, sah sie, dass sich Percy neben ihn gesetzt hatte und ihm offensichtlich lauschte. Was sollte sie tun? Das Fenster wieder schließen und sich einreden, dass nichts sei? Oder … Es war gerade Percy, der ihr die Entscheidung abnahm, denn just in dem Moment, da er sie bemerkte, gab er ein leises Maunzen von sich und erhob sich von seinem Platz. Das Geigenspiel brach ab und nun waren es zwei Augenpaare, die sie anstarrten. Was blieb ihr da anderes, als teils resigniert, teils amüsiert, teils aber auch müde mit den Schultern zu zucken, um von dem einen der beiden ein ebensolches Zucken als Antwort zu erhalten, während der andere bereits die Beine in die Hand genommen hatte und zu ihrer Tür gelaufen war. „Ich dachte mir, dass es schade wäre, wenn …“, setzte Jakob an, als er wenig später an der Schwelle ihrer Tür stand, während es sich Percy bereits auf einem der Sessel bequem gemacht hatte. Sie sah Jakob in die Augen, ehe sie sich bewusstwurde, dass sie ja nichts, als ihr Handtuch trug. Aber um diesem doch an Peinlichkeit grenzenden Gefühl keinen Raum zu geben, erwiderte sie rasch: „Ich denke auch, dass es schade wäre. Aber ich würde es doch gerne etwas langsamer angehen. Sagen wir morgen wieder?“ Er nickte und wollte sich schon umwenden, als er innehielt, sie betrachtete und dann an der Wange berührte. „Morgen“, murmelte er und kam ihr näher, „ich spiele, du tanzt.“ Kapitel 18: Schade eigentlich ----------------------------- Dass aus diesem Vorhaben wiederum nichts werden konnte, war Lene spätestens am nächsten Morgen klar, als Jakob sie abgeholte hatte und mit ihr zum Sommerdeich hinunterging. Er kam ihr dabei zwar wie ein kleiner Spring-ins-Feld vor, denn er ging mit weit ausladenden Schritten und hüpfte auch ein ums andere Mal über ein kleines Grasbüschel. Doch sie meinte hinter all der zur Schau getragenen Leichtigkeit einen Anflug gespreizter Gezwungenheit zu spüren. Dennoch musste sie grinsen, wenn er leicht hüpfte, da er obendrein den Geigenkasten geschultert trug und dadurch etwas ungelenk wirkt. Nicht zu schweigen von den schwarzen Schuhen mit den Klettverschlüssen, die sich bei dem noch immer andauernden Sandalen-Wetter seltsam ausnahmen. Da er jedoch, ganz dazu passend, eine leichte Jacke und keineswegs kurze Hosen anhatte, meinte sie darin einfach Jakobs Note zu erkennen. Er war so. Eben er, der es vorzog, bei strahlendem Sonnenschein schwarz zu tragen. Wenn da nur nicht das Zähnefletschen wäre, das sie immer dann traf, wenn er meinte, dass ihm ein Sprung außerordentlich gut gelungen sei. Oder, wenn er sie dazu animieren wollte, mitzutun. Aber obwohl sie inzwischen wusste, dass er nicht anders konnte, selbst wenn er gewollt hätte, fiel es ihr schwer, hinter dieser beißenden Grimasse ein Lächeln zu erblicken und so zog sie es vor, den Blick immer dann abzuwenden, wenn er den ihren suchte. Im Übrigen hatten sie sich heute Morgen alles andere als innig begrüßt, was wohl auch daran lag, dass sie sich in der vorangegangenen Nacht immer wieder darüber Gedanken gemacht hatte, wie sich all das entwickeln sollte. Ja, was das hier mit ihm überhaupt darstellte. Und, ganz wichtig, was sie von ihm wollte. Sie hatte ihrer Ansage von letztem Abend also Taten folgen lassen und sich etwas in sich zurückgezogen – war’s aus Vorsicht, nicht wieder in irgendetwas hineinzugeraten, denn davon hatte sie mit Franz genug erlebt, war’s, dass sie einer inneren Stimme folgte, die ihr in der letzten Nacht nicht nur dies Zähnefletschen überdeutlich vor Augen geführt und dazu geflüstert hatte: Ein Mann, der nicht richtig lächeln kann … Ein Mann, der vorgibt, keinerlei Erfahrung zu haben … Ein Mann, der das beim zweiten Date … Treffen … so offen zugibt … Ein Mann, der … Sie hätte kotzen können angesichts all dieser Gedanken, die da auf sie eingestürmt waren. Jetzt, am Morgen, wirkten sie nur noch halb so schlimm und sie brachte eben auch das eine oder andere kleine Lächeln zustande, als sie ihn neben sich hüpfen und springen sah. Dennoch blieb die miese Grundstimmung, die sich eben auch nicht auflöste, als er mit dem Geigenspiel begann und sie sich dazu gezwungen sah, zu tanzen. Aber sie brachte es einfach nicht fertig, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Und so ließ sie sich alsbald im Gras nieder, sah eine Weile auf die flutende Nordsee hinaus und wünschte sich plötzlich, allein zu sein, denn dann könnte sie … Was galten ihr all die wunderschönen Töne in ihrem Rücken, die sie nur gefangen und von dem abhielten, was sie tatsächlich tun wollte. Und dann ertappte sie sich dabei, wie sie überlegte, Jakob einfach zu sagen, dass sie Zeit für sich allein bräuchte. Sie empfand es ohnehin schon als äußert seltsam, dass er sein Spiel nicht unterbrochen hatte. Er musste doch bemerkt haben, dass sie nicht tanzte. Sie senkte den Blick, schloss auch die Augen, lauschte zuerst noch auf die Töne, die sich seiner Geige unermüdlich entwanden, meinte in ihnen alsbald schon keine Struktur mehr zu erkennen und begann auf ihren Atem zu lauschen. Vielleicht, so dachte sie, ist das jetzt der richtige Zeitpunkt, um es mit dem Meditieren zu versuchen … Doch wiederum drang Jakob in ihre Gedanken ein. Seine Präsenz störte sie, ließ sie innerlich beinahe zittern. Was es genau war, wusste sie nicht zu sagen. War es tatsächlich ein Anflug von Abscheu – ausgelöst durch … durch was eigentlich? War es wirklich sein zähnefletschendes Lächeln? Aber er konnte doch nichts dafür. Auch nicht, dass er kaum Erfahrungen besaß. Vielleicht war es aber die Tatsache, dass er so offen damit umgegangen war? Fühlte sie sich überfordert? Aber sie mochte ihn doch. Irgendwie. Ja. Schon. Sie wusste nicht, wie lang sie dort gesessen und aufs Meer gesehen hatte, wusste auch nicht, dass die Musik irgendwann verklungen war und einzig das Rauschen der Wellen an ihr Ohr klang. Sie spürte Jakobs Gegenwart erst wieder, als er sie leise fragte, ob sie mit ihm baden gehen wolle. Sie zuckte leicht, als sie aus ihrer Erstarrung erwachte, sah ihn verdutzt an. Keine Frage, warum sie nicht getanzt hatte. Stattdessen lächelte er und zeigte dabei wieder die Zähne. Doch sie nickte, denn irgendetwas trieb sie dazu. Was? Sie wusste es wiederum nicht zu sagen. Und das verwirrte sie. „Aber ich habe mein Badezeug nicht dabei“, hörte sie sich sagen. „Ich meine Badehose auch nicht“, entgegnete er leichthin. „Es geht ja auch im Schlüpfer. Oder was meinst du?“ „Schlüpfer …“, wiederholte sie und musste unwillkürlich grinsen. Dabei sah sie ihn an – und ihm auch in die Augen. Er stand da vor ihr, leicht nach unten geneigt, so als wolle er sich jeden Moment auf seinen Oberschenkeln abstützen und betrachtete sie. „Ja“, sagte er dann, nach einer kleinen Weile, „Schlüpfer.“ „Na ja“, erwiderte sie daraufhin, „und ich dann eben in Slip und BH.“ Er erwiderte nichts, verzog nur den Mund und zuckte mit den Schultern. „Was?“ Er schwieg, maß sie jedoch weiterhin mit Blicken. „Oder willst du nackt?“, hörte sie sich da plötzlich fragen. Nun war er es, der leicht zuckte und schließlich ein „Na ja“ hervorbrachte. Sie versuchte zu lächeln, entfloh dann seinem Blick und deutete auf die Geige, die er, kaum sichtbar, im Gras hatte liegen lassen. „Was wird mit ihr?“ „Was?“ Er schüttelte den Kopf, schien verwirrt, jedenfalls tanzte sein Blick zwischen ihr und der Geige hin und her. „Die Geige“, fuhr sie fort, „wenn wir beide ins Wasser gehen, dann solltest du sie nicht so offen liegen lassen. Selbst wenn es beinahe ausgeschlossen ist, dass sie jemand wegnimmt.“ „Ach“, machte er. „Und ich dachte …“ „Was dachtest du?“ Sie erhielt keine Antwort, wurde jedoch Zeuge davon, wie er seine Geige einpackte – und dies recht umständlich, wie sie fand. Zumindest benötigte er sehr lang dafür. Als er jedoch wieder zu ihr hinübersah, wich sie seinem Blick neuerlich aus. Warum das nun wieder? Auch das wusste sie nicht zu sagen. Stattdessen begann sie ihre Bluse zu öffnen und dann auch ihren Rock. BH und Slip ließ sie an und stakste so durchs weiche Wollgras der Treppe zu. Und kaum war sie mit halber Wade in der See, wandte sie sich um, auch weil das Wasser sehr kalt war, und sah ihn, wie er im Grase hockte, den Blick auf sie gerichtet und an seinen Schuhen nestelte. Ein kleiner Junge, schoss er ihr durch den Kopf und unwillkürlich musste sie lächeln. „Nun los!“, hörte sie sich rufen, sah dann wieder der Nordsee entgegen, überwand sich und stieg die Treppe vollends hinab. Das Wasser umspielte ihre Hüften und ließ sie gleichzeitig einen ganz leisen Schrei ausstoßen. Verdammt, war das kalt, ja geradezu eisig. Und so verspürte sie erst einmal kein Verlangen, sich weiter ins Meer zu begeben, blieb stattdessen stehen und ließ ihren Blick in die Ferne gleiten, bis sie plötzlich Jakobs Gegenwart gewahr wurde. Er war neben sie getreten und stand ebenso still wie sie. Die Arme hielt er etwas abgewinkelt vom Körper, als wüsste er nicht recht. Und dabei war’s doch das Wasser, das auch ihn ganz leise aufschreien ließ. Und als er sah, dass Lene ihn beobachtete, fletschte er wieder die Zähne, tat einen Schritt auf sie zu. Dabei hielt er den Bauch eingezogen und wirkte leicht verkrampft. War’s der Kälte geschuldet oder dem Moment – sie wusste es nicht, ahnte es nur, denn auch sie fühlte sich seltsam. Und um der Situation zu entkommen, warf sie sich ins Wasser, tauchte unter und tat einige kräftige Schwimmzüge. Dabei aber hatte sie Jakobs Bild deutlich vor Augen – seinen weißen Körper, der wohl in diesem Sommer noch kein Sonnenlicht gesehen hatte. Dazu den leichten Bauchansatz. Als sie wieder auftauchte, hörte sie es hinter sich platschen, wandte sich um, sah Jakob in hektischen Brustschwimmzügen auf sie zukommen. Den Kopf hielt er steil aufrecht über dem Wasser, die Lippen hatte er zu einem O geformt – geradeso, wie der sterbende Fisch, dereinst in seiner Hand. Und doch musste die über diesen Anblick lachen. „Ach Jakob“, rief sie und tauchte erneut ab, um Augenblicke später wieder an der Oberfläche zu erscheinen. Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse, sah Jakob, nun auf dem Rücken liegend, während sein leichter Bauchansatz wie eine winzige Insel aus dem Wasser stach. Und wieder musste sie lachen, schalt sich jedoch sogleich, weil sie Jakob auszulachen begann. Nicht seiner [style type="italic"]Insel[/style], sondern seiner Schwimmkünste wegen. Denn diese beförderten mehr Wasser in sein Gesicht als ihm lieb war, sodass er, sich in einem für seine Verhältnisse lauten Ach ergehend, wieder auf den Bauch legte, den Mund neuerlich zu einem großen O formte und in allzu hektischen Schwimmbewegungen nur allzu langsam vorankam. Darüber hinaus war sein Haupthaar durchnässt und hing ihm in die Stirn. Was blieb Lene da, als neuerlich zu grinsen? Und als er dann auch noch rief: „Na warte, ich kriege dich schon“, konnte sie ihrem inneren Drängen nicht mehr Stand halten und erwiderte: „Lahme Ente!“ „Pah!“, kam’s von ihm. „Ich bin gleich bei dir und dann kannst du was erleben!“ „Was denn?“, fragte sie, tauchte ab und tat einige Schwimmzüge auf ihn zu, damit wenigstens die Illusion eines möglichen Gefangenwerdens gewahrt blieb. Er jedoch antwortete nicht, weil er ganz offensichtlich mit Mund- und Körperhaltung unter und über Wasser so sehr zu kämpfen hatte, dass er alles um sich herum zu vergessen schien. Auch hing ihm sein Schopf ins Gesicht, sodass er kaum etwas sehen konnte. Es war ein schauriger Anblick, den er da bot. Schaurig schön. Zumindest für Lene, die sich plötzlich gelöst, köstlich amüsierte und ihn, um ihn zu ärgern, mit Wasser vollzuspritzen begann. Er reagierte nicht sogleich, konnte ja auch nicht, gab nur ein unartikuliertes Gurgeln von sich, so als ertrinke er. Doch dann schien er sich einen Ruck zu geben, vervielfachte seine Bemühungen und nahm wieder Kurs auf sie. Da sie jedoch wusste, dass sie ihm schnell würde ausweichen können, blieb sie und sah dem Treiben weiterhin zu. Wie er schwamm … ja, es stand einer Lehrerin nicht gut zu Gesicht, sich über das Unvermögen anderer lustig zu machen, doch hier und jetzt war sie keine. Hier war sie Lene und diese Lene sah, wie Jakob, sich wieder und wieder in hektischen Bewegungen ergehend, ein wenig nach vorn glitt, um dann doch zurückzubleiben. Ganz klar, er machte Fehler. Diese jedoch jetzt zu analysieren, war sie nicht hier. Sie war hier um … um … Sie hielt kurz inne, breitete die Arme aus, sah den ankommenden Jakob, der sich, fast wollte sie sagen, wie ein Hund, mühte – und dann, dann war er plötzlich … Sie zuckte, als sie ihn so nah bei sich wusste, gar spürte, doch dann … „Ich bin nackt“, sagte er und zwinkerte. Ob vergnügt oder wegen des Wassers, das ihm in die Augen getreten war – sie wusste es nicht, meinte nur, dass sie der Schlag getroffen hätte. Und einem ersten Impuls folgend, wollte sie von Jakob weg, doch der hielt sie – hielt sie fester, als sie es sich hätte träumen lassen. Und dann begann er sie mit Wasser zu bespritzen, so sehr, dass sie zu husten, zu prusten begann, die Augen zukniff, sich auch die Hände schützend vors Gesicht presste, ehe sie ein: „Na, hast du Angst?“ von ihm vernahm. „Hast du jetzt Angst?“ Sie riss die Augen auf, ungeachtet der Tatsache, dass sie das Wasser noch immer traf, sah, wie sich Jakob erging. Er hatte inzwischen von ihr abgelassen, bespritzte sie jedoch noch immer mit Wasser. Sein Gesicht war rot, er fletschte die Zähne. „Hast du Angst?“ Was sollte sie tun? Den wildgewordenen Wirbel alleinlassen und abtauchen oder … „Ich hab keine Angst, vor dir schon gar nicht, du sinkendes U-Boot!“ Und mit diesen Worten rollte sie heran, grimmig blickend, die Zähne ebenso wie er fletschend. Sie wusste, dass er es mit ihr niemals würde aufnehmen können, wenn sie erst einmal richtig losgelegt hätte, zu gewandt war sie im Wasser. Und so holte sie aus, um ihm einen ordentlichen Schwabs Wasser ins Gesicht zu schleudern. Doch er, nicht minder rege, packte ihre Hand und drückte sie nieder – und nicht nur das: er hielt sie auch weiterhin fest. „Du wirst mich nicht besiegen“, sagte er, plötzlich leiser geworden, und zeigte wieder die Zähne. „Das wirst du nicht können.“ Leicht wütend und doch noch immer verspielt, entriss sie sich ihm und wollte das Weite suchen, um ihn von Ferne aus zu bombardieren, doch er, wiederum äußerst wendig, griff nach ihr. Sie spürte seine Hand auf der Haut, spürte auch, wie sie nach Halt suchend an ihrem Rücken entlangglitt, bis sie plötzlich gefunden hatte. „Hab dich“, rief er triumphierend auf. Und sie daraufhin geistesgegenwärtig: „Du hast meinen Slip – nicht mich.“ „Hab dich“, beharrte er und das stimmte auch, denn wie sollte sie diesem Griff entkommen? Schon war er bei ihr, ganz nah. Und auch wenn er wie ein ertrinkender Frosch neben ihr wirkte, den Slip hielt er fest – und damit auch sie. Sie wusste, dass sie sich nur durch einen Tritt würde befreien können, als er plötzlich sagte: „Ich bekomme alles, was ich möchte.“ „Macho!“, rief sie. „So fühlt sich das also an?“ Zur Antwort streckte sie ihm die Zunge heraus, wusste jedoch, dass dies ein Fehler war, denn er zog sie noch enger an sich heran. Und einen Moment lang zweifelt sie an all dem, was er ihr vorgestern und auch gestern erzählt und dargeboten hatte. Der weiß doch genau … der spielt doch nur …, schoss es ihr durch den Kopf, nur, um sich dann zu berichtigen, als er ihr noch näherkam, ihr einen Moment lang in die Augen sah und ein „Angeschmiert“, murmelte. „Was?“, erwiderte sie. „Ich habe alles an.“ „Na denn“, brachte sie nur matt hervor. „Hast du Angst gehabt?“ „Sollte ich?“ „Hmm“, machte er, „gehört das nicht zum Spiel?“ „Zu welchem Spiel?“ „Zu dem … zwischen uns …“ Und just in dem Moment ließ er von ihr ab und senkte seinen Blick. Schon war sie versucht, etwas zu erwidern – in Lehrerinnenmanier – doch gab sie sich einen Ruck, tauchte unter, tat einige Schwimmzüge, um sich von dieser seltsamen Szene zu entfernen. Jakob war komisch. Und ganz gewiss kein Mann, in den sie sich würde verlieben können. Schade eigentlich, dachte sie. Kapitel 19: Von einem Moment zum anderen ---------------------------------------- Schade eigentlich? Wieso denn? Das fragte sich Lene wenig später, als sie im Gras lag – und Jakob neben sich wusste. Leicht erschöpft waren sie beide. Jedenfalls verriet sie ihr leises Schnaufen. Vor allem Jakob holte immer wieder tief Luft und Lene sah, wie sich seine leicht behaarte Brust dabei hob und senkte. Da war es nur allzu natürlich, sich ruhend der Sonne zu ergeben, um neue Kraft zu schöpfen. Auch mussten ja BH, Slip und Schlüpfer, der, wie Lene fand, doch recht seltsam ausgeleiert wirkte, getrocknet werden. Mussten. Ja. Und da keiner von beiden an ein Handtuch oder Ähnliches gedacht hatte und die Scham zu groß war, sich dem anderen nackt zu zeigen, klebten die Intimkleider eben feucht an den Körpern und warteten darauf, dass Sonne und Wind das ihrige täten. Lene musste schmunzeln, als sie den Kopf hob. Und das nicht nur über den Anblick des etwas unförmig wirkenden Schlüpfers … wenngleich … Ach, er passte einfach zu Jakob. Dieser ausgesessene, farblich etwas ins Gräulich tendierende Blickestopper. An Sexyness war er nicht zu überbieten. Vorne hing er herab und hinten auch – und wenn es den Gummi am Bund nicht gegeben hätte, dann wäre er glatt von Jakobs Hüften gerutscht und hätte entblößt, was er doch so großzügig verbarg. Kurzum: er hing dem guten Jakob – wohl auch, weil er nass war – wie ein Sack zwischen den Beinen herab. Ein gefundenes Fressen für Lenes Lachmuskeln. Und so ließ sie sich ins Gras sinken, schloss die Augen, gluckste noch einige Male und fragte sich, wie es diese Vogelscheuche von Schlüpfersack in Jakobs Gepäck geschafft hatte – und ob Jakob daheim noch andere solcher Exemplare besaß. Ja, all das fragte sie sich – und war gleichzeitig erstaunt darüber, wie schnell sich ihre Stimmung doch wandeln konnte. Von grüblerisch bis unglaublich frei, ja frohgemut. So ein Bisschen wie in der Pubertät. Aber ach, es war eben ein herrliches Gefühl, sich ausgetobt zu haben. Für sie als Lehrerin stand dieses Toben zwar jeden Tag auf dem Programm, aber es war schon ein Unterschied, ob man mit Gleichaltrigen verrückte Dinge anstellte oder eben verrückte Kinder auseinandertreiben musste. Der Wunsch, selbst einmal wieder Kind zu sein, ließ sich nur mit annähernd Gleichaltrigen verwirklichen. Und Jakob hatte sich geradezu angeboten. Er hatte ihren Spaß mitgemacht – und wenn sie an seinen Scherz des vorgegebenen Nacktseins dachte … Unwillkürlich musste sie kichern. Irgendwie war es doch schön gewesen mit ihm. Komisch hin, komisch her. Und das mit dem Verlieben. Das war doch Quatsch. Daran auch nur zu denken. Auf den Augenblick kam es an – und der war einfach toll gewesen. So ausgelassen hatte sie sich schon lang nicht mehr gefühlt. Ja, wann hatte sie das letzte Mal mit Wasser gespritzt oder war vor jemandem weggeschwommen, der sie wie ein alter Äppelkahn einzuholen versuchte … nein, wie Jakob geschwommen war … Wäre sie seine Lehrerin, sie würde ihm ja … Aber ach … So, als hätte Jakob ihre heiteren Gedanken erraten, fragte er plötzlich: „Darf ich?“ Sie öffnete die Augen, fand seinen Blick. Er hatte sich leicht über sie geneigt. „Was denn?“, fragte sie lächelnd. „Darf ich meinen Kopf auf deinen Bauch legen?“ Sie nickte, noch immer lächelnd und lächelte auch weiterhin, als sie, das Gewicht seines Kopfes auf ihrem Leib gewahr, ihn plötzlich wieder so nah wusste. Er sah kurz zu ihr hinauf, verzog die Lippen zu einem Lächeln, zeigte die Zähne jedoch nicht. Und sie, nicht ganz wissend, was sie sich da eingebrockt hatte, nickte nur wieder. Schon begann ihr Herz etwas schneller zu schlagen, doch die Gedanken, die sich aufzutürmen drohten, zwang sie nieder. Erstmal fühlen, schoss es ihr durch den Kopf und ehe sie es sich versah, berührte sie ihn an der Wange. Mit dem Daumen fuhr sie ihm ganz leicht über den Wangenknochen, hinauf bis zur Schläfe, spürte seine Narben und sah, dass er zu blinzeln begann, als sie seinem Auge näherkam. „Keine Angst“, hörte sie sich murmeln. „Keine Angst.“ „Hab keine“, erwiderte er ebenso leise, „find’s schön.“ „Ich auch“, flüsterte sie, gleichwohl sie in sich eine Unruhe spürte, die sie ganz zapplig werden ließ. Nur mit Mühe konnte sie sie im Zaume halten und Jakob weiterhin berühren. Er sah indes wieder zu ihr auf. Da war sein kluger, wacher Blick, gepaart mit etwas, das sie spontan Neugier oder Wissensdurst genannt hätte, etwas jedenfalls, was ihn wohl trieb, ihr näher zu kommen und sich schließlich über sie zu neigen. „Bin ich zu schnell?“, fragte er sogleich. Sie schwieg, fuhr ihm wieder mit der Hand über die Wange, überlegte jedoch, was sie tun sollte, würde er sie tatsächlich küssen wollen. Doch dazu kams nicht, denn schon ließ er von ihr ab und bettete seinen Kopf wieder auf ihren Leib. Und sie begann, ihn wieder zu streicheln – und, wer hätte es nicht gedacht? – ihn zu erforschen. Sein Kinn, seine Wange, seine Nase, die recht groß geraten, wie die eines Adlers wirkte. Dazu sein kluger, wacher Blick – so ernst, so wach, so …, ja, wenn sie es sich recht überlegte, lag auch viel Verletzlichkeit in ihm. Sie holte tief Luft, fuhr ihm dann über sie Stirn und er schloss die Augen, verzog gleichzeitig die Lippen. Er lächelte. Und sie fuhr ihm mit den Fingern ins allzu schüttere Haar, das bereits getrocknet war. Es fühlte sich weich an – und stand so ganz im Gegensatz zur Frisur, die es sonst einnehmen musste – diesem Ecke-auf-Kante-Scheitel, den sie nicht mochte. Nein, sie mochte den nicht. Er erinnerte sie an … an … Und so, als hätte sie ihrer Hand den Befehl dazu gegeben, fuhr diese über seine angehende Glatze, hinab in seinen Haarkranz. Dabei schloss sie die Augen und fühlte in sich hinein. Was wollte sie? Wollte sie, dass … dass … Ihr Herz begann zu rasen. Wollte sie diesen komischen Mann tatsächlich kennenlernen? Wollte sie ihn spüren … mit ihm … Und wieder die Frage: „Sag mir, bin ich zu schnell?“ Sie biss sich auf die Unterlippe, schüttelte den Kopf, ohne die Augen zu öffnen. Und wenn es hier geschähe, hier auf dem Sommerdeich – es wäre ja bloß … ja bloß … Sie spürte seine Lippen auf der Stirn. Ganz zart, sacht – und das auch nicht mehr als einen Lidschlag lang. Aber es war schön, so schön. Dazu sein Atem. Warm war er und erging sich auf ihrem Gesicht. So nah wer er ihr also. So nah. Und sie umfasste, ohne die Augen zu öffnen, sein Gesicht. Sie wusste, was folgen würde. Sie würden sich küssen. Ganz sicher würden sie das. Und unwillkürlich begannen sich ihre Füße zu bewegen und ein seltsam zwickendes Gefühl tat sich in ihrem Bauch auf. Wie wäre das, sich mit ihm zu küssen. Wie wäre das? Doch statt alsbald seine Lippen auf den ihren zu wissen, spürte sie ihn plötzlich in ihrer Halsbeuge. Sie spürte seine Wange, spürte seine Nase, ja sein ganzes Gesicht, wie es sich in ihre Halsbeuge drückte. Dazu sein Atem, der so warm an ihre Haut drang. Er kitzelte sie so sehr, dass sie unwillkürlich glucksen musste. Laut glucksen. „Ich mag dich sehr“, murmelte er, noch immer an sie gepresst, und sie, ihn einfach nur spüren wollend, legte ihre Arme um seinen Hals. So verharrten sie eine Weile: er über ihr, sie unter ihm – und die Nähe des anderen wohl genießend. Auch meinte Lene alsbald zu spüren, wie sich seine Brust bei jedem seiner Atemzüge gegen die ihre presste. „Ich mag dich auch“, entfuhr es ihr und begann ihn im Nacken zu streicheln. Das schien ihm wohl zu gefallen, denn er hob seinen Kopf und gab ein leises Brummen von sich. Ehe er sich wieder in ihrer Halsbeuge erging, ja, sich geradezu in ihr vergrub. Wie ein kleines, kleines Kind. Und ihr blieb nur wieder, ihn zu streicheln, während ihr Herz nicht müde wurde, sich im Rennen zu erproben. „Jakob“, flüsterte sie, öffnete die Augen und wusste ihn beinah vollkommen auf sich liegen – sein Gewicht zu spüren, das das Atmen erschwerte – wie lang hatte sie das schon nicht mehr gefühlt? Sie lächelte, stieß wieder ein „Jakob“ aus und wünschte sich beinah, dass es geschähe, ja, dass er die Initiative ergriffe und hier mit ihr, auf dem Sommerdeich … Und so, als erahnte er ihre Gedanken, hob er den Kopf und begann sie plötzlich ganz leicht am Hals zu küssen. Oh, wie ihr da wurde … Du kannst das doch, du weißt das doch, schoss es ihr durch den Kopf, während sie ihm ihre Schenkel öffnete. Er hielt indes inne, hob den Kopf, sah ihr in die Augen, murmelte dann: „Ich habe das noch nie erlebt. Ob du es glaubst oder nicht. Noch nie …“ „Dann jetzt“, flüsterte sie. Er schwieg einen Moment, küsste sie dann auf die Stirn. Sie schloss die Augen und wünschte sich, er möge sie richtig küssen, doch er ließ wieder von ihr ab. „Ich hätte nicht gedacht …“, setzte er wieder an und unterbrach sich sogleich. „Was?“ Wieder sahen sie sich in die Augen. „Na ja, dass … dass …“ „Die Nähe?“, flüsterte sie. Er nickte zögernd und sie konnte nicht anders, als ihm über die Wange zu streichen. „Es ist so schön, aber vielleicht sollten wir damit …“, setzte er wieder an und sie nickte, noch ehe er den Satz beendet hatte, denn sie verstand, wusste, was er sagen wollte. Und im Grunde hatte er ja recht, so recht. Andererseits …, ach, andererseits … er lag ja noch immer auf ihr und sie bekam kaum Luft und wollte doch nichts Anderes, als ihn auf sich zu spüren. Nur diesen Moment mit ihm sein. Und wieder schloss sie die Augen, während sie ihre Arme um ihn legte und ein Lächeln auf ihren Lippen wusste. „Weißt du“, hörte sie ihn irgendwann wieder sagen, „ich möchte dich wirklich kennenlernen. Und nicht nur mit dir … na ja …“ Er unterbrach sich. Sie öffnete die Augen und wurde seines ernsten Blickes gewahr. „Halt mich nicht für altmodisch, aber ich denke, dass …“ Er küsste sie wieder auf die Stirn, murmelte dann: „… ich kann das wohl nicht so einfach. So … dazu gehört mehr …“ „Ich verstehe …“, entgegnete sie. „Wirklich?“ Sie nickte, umfasste wieder sein Gesicht und sie sahen sich in die Augen. „Ja.“ „Ich meine, man muss sich doch erst vertrauter sein, oder?“ „Natürlich.“ „Sonst ist ja keine Substanz da.“ Sie nickte. „Wenn ich mich verliebe, dann …“ „Ach, Jakob“, unterbrach sie ihn, „ich verstehe dich. Und schön ist es doch. Oder?“ Er senkte den Blick, nickte jedoch, ließ dann allerdings – recht abrupt – von ihr ab und setzt sich neben sie ins Gras. Und sie, plötzlich bar seiner Wärme, fröstelte ein wenig und griff mehr unbewusst als bewusst nach seiner Hand, die er ihr auch überließ. Doch er schien von seiner Leidenschaft abgelassen zu haben und nun in einer Stimmung zu sein, in der er wohl all das, was da über ihn gekommen war, mühsam zu reflektieren suchte. Denn, wenn es stimmte, dass ihm so etwas tatsächlich noch nie geschehen war – wie mochte es da in ihm aussehen? So ganz glaubte sie es ihm allerdings nicht, dass er nicht doch schon mit der einen oder anderen Frau – allen voran mit Maria – zusammengelegen hatte, doch sicher konnte sie sich eben nicht sein. Und so blieb ihr nur – nachfragen wollte sie keinesfalls – seine Hand zu streicheln und die Wehen der eigenen Erregung sacht verebben zu lassen. Es war schön gewesen, ihm so nah zu sein. So schön … Und auch wenn er sich an einigen Stellen schüchtern, fast ungeschickt gab, so besaß er doch eine ganz eigene Erotik, die sie einnahm und der sie sich nur allzu gern hingeben würde. Und mit diesem Gedanken schloss sie wieder die Augen, rollte sich, ihm abgewandt, auf die Seite, um etwas zu ruhen. Doch alsbald spürte sie einen zarten Kuss auf dem Schulterblatt und dann noch einen in ihrem Nacken, dazu eine leichte Berührung in ihrer Beckengegend. Schon wollte sie ihn fragen, was das sollte, was er bezweckte, da sie sich doch gerade gegen ein zu schnelles Beisammensein ausgesprochen hatten, als sie ihn vollends in ihrem Rücken und seine Hand auf ihrem Bauch wusste. Nun, was sollte das? Ihr war ganz seltsam zumute, denn die Lust begann sie wieder zu durchströmen und es hätte nur eines Geringen bedurft, sich enger an ihn zu schmiegen und ihn wissen zu lassen, dass sie es wollte – von ihm. Jetzt. Doch dann ließ sie diesen Drang einfach fahren. Was konnte sie auch anderes tun, da sie seine Nähe so sehr mochte und diese doch intime Zweisamkeit keinesfalls zerstören wollte. Sie konnte sich ihr nur ergeben – und es zulassen, dass er sie berührte und ab und an auf die Schulter küsste. Vielleicht, so dachte sie, will er sich auch nur versuchen … ausprobieren … vielleicht … Kapitel 20: Glücklich --------------------- Eine Weile blieben sie noch liegen – er hinter ihr und sie, die Augen geschlossen und auf seinen Atem achtend, der ab und an über ihre Schulter strich. Wie schnell hätte sie sich umdrehen und über sein Kinn streichen und ihn auf die Wange küssen können, um ihm zu zeigen, wie sehr sie all das mochte. Hätte, aber sie tat es nicht, denn sie fand, dass diese Ruhe, das Stillhalten viel schöner, viel erquicklicher waren, als das Suchen, Tasten, das Artikulieren und Drängen … Ihr Herz schlug schnell, ja – und das vor allem, da sie noch immer seine Hand auf ihrem Bauch und sich von ihm gehalten wusste. Ja mehr noch, als sie ihre Hand auf die seine legte und er nach ihrer griff. Später, es war bereits in der Abendstunde, als sie sich schon längst wieder getrennt hatten, nicht ohne sich für den kommenden Tag wieder zu verabreden, fragte sie sich immer und immer wieder, wie all das so hatte kommen können. Jedoch nicht, um sich zu schelten, sondern, weil sie froh darüber war, solche Gefühle endlich wieder zulassen zu können und nicht, wie so oft schon, davor wegzulaufen. Und das, so meinte sie zu wissen, lag wohl vor allem an Jakob, der ihr bisweilen verletzlich und gleichzeitig doch so … ja, von ihm ging eine Erotik aus, der sie sich nicht verschließen konnte. Und gerade weil ihm nicht bewusst zu sein schien, wie er wirkte, er stattdessen immer wieder fragte, ob er ihre Hand nehmen und sie berühren dürfe, war er ihr so lieb. Kein Macho ging da neben ihr her über den Sommerdeich, niemand, der es sich selbst beweisen wollte, sondern einfach er, Jakob, ein Mann, der ebenso unsicher war wie sie selbst. Jedenfalls erschien er ihr so. Aber warum sollte er ihr etwas vorspielen? Nein, er wirkte nicht so, als würde er spielen können. Natürlich versuchte er sich, probierte sich aus, wenn er abrupt stehenblieb, ihre Hände nahm, ihr in die Augen sah und den Mund zu einem Lächeln verzog. Das war kein Spiel. Und gerade deswegen verlangte es sie immer wieder danach, ihn zu berühren, ihn zu streicheln, ihm mit den Fingern schließlich auch über die leicht geöffneten Lippen zu gleiten, kurz innezuhalten und seinen Atem zu spüren, ihm näher zu kommen, so nah sogar, dass er seine Arme um sie legte und sie ihren Kopf an seiner Schulter barg. Was war das für ein wunderschönes Gefühl, so gehalten zu werden. „Jakob“, murmelte sie ganz leise, gegen den Stoff seines Hemdes gepresst und holte tief Luft, weil sie seinen Duft in sich aufnehmen wollte. Da war wieder dieses leichte, unaufdringliche Parfum. Sie hatten sich an diesem Tag nicht geküsst, aber darauf war es Lene auch gar nicht angekommen. Sie mochte es einfach, neben Jakob herzugehen, seine Hand zu halten und ab und an auf die nun ebbende Nordsee zu schauen. Ihn einfach neben sich zu wissen, war schön. Miteinander geredet hatten sie nicht viel, aber das störte Lene ebenso wenig. Es war ja nicht immer das Wort, das Menschen einander näherbrachte. Vielmehr war es eine Geste, ein Lächeln oder eben eine Umarmung. Und Jakob nahm sie gern in den Arm, so wie sie ihn so gern an der Wange streichelte – auch an der Schläfe, bis hinauf zu den Augenbrauen. Auch fuhr sie ihm über den nun nicht mehr so akkurat sitzenden Scheitel, hatte ihm sogar einmal das Haar in die Stirn gestrichen und darüber lachen müssen, wie er so vor ihr stand – eben wie ein kleiner, unbeholfener Junge. Und dann hatte er sie einfach wieder an sich gezogen und sie hatte sich an ihn geschmiegt. Und als er ihr dann noch einmal gesagt hatte, dass er so etwas noch nie erlebt, dass er gar nicht gewusst habe, dass es das gebe, musste sie zustimmen. „Jede Begegnung, jede Beziehung, besitzt ihren eigenen … ist einzigartig …“ Sie hatte zu ihm aufgesehen und er hatte gelächelt. Und, auch wenn er dabei wieder die Zähne gefletscht hatte, meinte sie dahinter doch ihn zu erblicken und sie stupste ihn an die Nase, ehe sie weitergegangen waren. Der Tag mit ihm war schön gewesen, schön, da erfüllend. Lene hatte gespürt, dass sich in ihr etwas regte. Ob’s nun Verliebtheit war - … nun ja … das wusste nur die Zeit. Und wenn es das nicht war, dann eben dieses Gefühl der Verbundenheit im Augenblick. Zwei Menschen, die sich im Urlaub über den Weg gelaufen und sympathisch waren. Daraus konnte etwas werden – musste es aber nicht. In jedem Fall freute sie sich darauf, Jakob wiederzusehen, mit ihm Dinge zu unternehmen – und wenn es nur ein gemeinsamer Spaziergang war oder er ihr wieder etwas auf seiner Geige vorspielte, so wie am Nachmittag dieses Tages. Und sie hatte tatsächlich tanzen können. Ja, warum denn auch nicht? Schließlich fühlte sie sich gut, frei, beschwingt. Und so hatte sie zuerst Jakobs Musik gelauscht – er hatte Bach gespielt – und war dann den Tönen gefolgt, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob sie diesen oder jenen Schritt richtig setzte. Darauf kam es ja auch nicht an. Vielmehr wollte sie einfach bei sich und Jakob sein und der Musik Ausdruck verleihen, indem sie zu hüpfen und springen begann, sich Jakob bisweilen tänzelnd, bisweilen schleichend näherte und ihn, dabei nie aus den Augen lassend, musterte, das jedoch nicht, weil sie an ihm zu kleben, sondern, weil sie seine Hingabe zur Musik fast körperlich zu spüren meinte. Wann immer er den Bogen über die Saiten tanzen ließ, neigte er sich leicht nach hinten, um Schwung zu holen – für die nächsten Töne. Und, was sie bei all dem so sehr einnahm, war, dass er keinerlei Verrenkungen tätigte – wie dereinst, als er neben der Orgel gestanden. Seine Bewegungen waren ruhig, ausgeglichen. Er selbst hielt die Augen geschlossen – auch das ein Zeichen dafür, dass er bei sich war – ganz bei sich und der Musik. Das gefiel ihr, gab es ihr doch die Freiheit, das zu tun, wonach ihr der Sinn stand. Ja, sie konnte die Töne mit ihrem Körper nachempfinden, einen Fuß vor den anderen setzen, geziert, gespreizt, so, wie ihr die Musik gerade im Moment erschien. Bisweilen meinte sie sich wie eine Balletttänzerin zu fühlen und, auch wenn ihr bewusst war, dass ihre Regungen wohl auf einen Außenstehenden befremdlich wirken mussten, nahm sie sich nicht zurück. Sie schwebte einfach um Jakob herum, umkreiste ihn, immer und immer wieder, so als wäre er eine Statue, ließ ihren Blick auf ihm ruhen – und schloss dann selbst die Augen – zu schön war all das, dass sie schließlich das Verlangen danach verspürte, es durch keinen Sinneseindruck zu verfälschen. Sie lauschte dann wieder nur der Musik, den Tönen, die sich dieser Geige entwanden und stellte sich sogar vor, dass sie, einfach in der Luft schwebend, spielte … Es war einfach wunderbar. Wunderbar, da so anregend und dennoch entspannend. Reizvoll, leicht zwickend, glücklich machend. Am Abend dann, als sie daheim an ihrem Tisch in der Ferienwohnung saß und Percy neben sich wusste, griff sie nach ihrem Handy und schrieb ihrer Freundin Petra, dass sie wohl drauf und dran war, sich zu verlieben. - Wirklich?, fragte diese. - Ja, ich habe jemanden kennengelernt, der mir wirklich gefällt. - Das klingt gut. Hast du dir verdient. Wie heißt er? Wie alt ist er? Was tut er? - Jakob, 55, Physiker und Mathematiker, wohnt auch in Berlin, spielt Geige, aber so wunderbar, dass man meinen könnte, er sei Musiker. … Und ich habe getanzt. - Mit ihm? - Er spielte, ich tanzte … und wir waren zusammen baden und lagen beisammen im Gras. - Ach … und? - Nichts - Wie, nichts? - Nur so. - Aha … nur so … - Ja … - Lenchen, Lenchen … was bist du nur für ein Lenchen …, hatte ihre Freundin gewitzelt und ihr am Ende noch ein Küsschen-Smilie geschickt. Lene spürte, dass sie all das erst einmal verdauen und Ruhe finden musste. Bis zum nächsten Morgen. Und sie musste sich immer wieder sagen, dass sie nicht zu viele und zu hohe Erwartungen an ein viertes Treffen haben sollte. Allerdings … wenn sie es sich recht überlegte, war sie keinem ihrer vorherigen Dates bereits bei dritten Mal so nah gekommen. Noch nie. Selbst Franz damals nicht. Franz … Er hätte ihr Mann werden sollen. Hätte. War es aber nicht geworden. Nun ja … sie wollte darüber nun nicht nachdenken. Und so zündete sie sich die Kerze an und begann in die leicht flackernde Flamme zu sehen. Ruhe, die brauchte sie jetzt. Aber sie konnte es dann doch nicht lassen, ganz leise Jakobs Namen zu murmeln und mit ihm in Gedanken später auch zu Bett zu gehen, während sie Percy neben sich wusste und ihn streichelte. Kapitel 21: Hass ---------------- An den folgenden Tagen, viele waren es nicht mehr, die sie gemeinsam hatten, unternahmen sie stets etwas, nur, um sich am Abend doch wieder zu trennen. Lene war das nicht unangenehm – ja, sie konnte dem nur zustimmen, denn sie benötigte ihren Schlaf, ihre Ruhe. Und so sehr sie sich einerseits wünschte, dass er einmal bei ihr bliebe, um mit ihr ein Glas Wein zu trinken, sagte sie sich doch andererseits, dass dazu noch Zeit sei. Außerdem entstand gerade durch dieses tägliche Beisammensein sowie das stille Übereinkommen, keine Nacht zusammen zu verbringen, der nötige Raum, um Nähe entstehen zu lassen. Jakob hatte ihr einmal auf ihren gemeinsamen Spaziergängen gesagt, dass er ihre Haltung, ja Zurückhaltung diesbezüglich sehr schätze. Darauf hatte sie grinsend erwidert: „Sind es nicht die Männer, denen stets nachgesagt wird, nur auf das eine erpicht zu sein?“ Und dann hatte sie ein wenig ausholen wollen, um dieses Klischee zu unterfüttern, weil sie in seinem Gesicht einen Anflug von Verwunderung zu erkennen meinte. „Ich kenne nur Männer, die …“, hatte sie begonnen, nur, um von ihm mit dem Hinweis unterbrochen zu werden, dass ihm solches Ansinnen vollkommen fremd sei und er sich für seine Geschlechtsgenossen schämen würde. Die heutige Gesellschaft sei in dieser Hinsicht sehr verroht. Wie er das so sagte, befremdete sie ein wenig. Er war stehengeblieben und hatte ihre Hand, die er bis dahin gehalten hatte, losgelassen, um den Finger zu heben – dozierend, wie sie fand – und gesagt: „Solch ein Verhalten vereinbart sich nicht mit meinen Werten.“ Und dabei hatte er keineswegs den Eindruck eines schüchternen Mannes gemacht. Vielmehr hatte er an etwas Anderem, für sie kaum in Worte zu Fassendem gerüttelt. Er hatte plötzlich selbstsicher gewirkt – und auch das hatte ihr gefallen. „Ich betrachte Frauen nicht als Spielzeug oder Objekt“, fügte er nach einer Weile hinzu und sie hatte lächeln müssen. Wie oft hatten ihr Männer gerade diesen Satz gesagt, ohne, dass sie ihn hatte glauben können. Bei ihm hingegen war es anders. Das fühlte sie, das wusste sie. Doch fragte sie sich bisweilen, ob er diese Werte nur in den Vordergrund schob, um die anfänglich doch sehr offenherzig vorgetragene Bemerkung über sein Unvermögen in Marias Gegenwart nun zu kaschieren, da er Lene gegenüber nicht als unmännlich erscheinen wollte. Oder war es gerade diesen Werten geschuldet, dass er bisher kaum Erfahrung hatte sammeln können? Das klang natürlich seltsam, fremd, ja, geradezu absurd in der heutigen Zeit, doch besaß es auch seinen Reiz: durfte sie also davon ausgehen, dass er zuvor nicht die Richtige getroffen hatte, mit der er eine tiefere Beziehung hatte eingehen wollen? Fragen wollte sie ihn nicht, denn gleichwohl es sie interessierte, galt: Solange er nicht selbst wieder auf dieses Thema zu sprechen kam, war ein Nachfragen ihrerseits tabu. Und letztlich war es auch egal: Er, so spürte sie, war aufrichtig, stand hinter seinem Wort: Er würde mit ihr erst eine intimere Beziehung eingehen, wenn sich die Tragfähigkeit ihrer Zweisamkeit erwiesen hätte – für sie beide. Substanz war auch ihr wichtig, denn sie suchte im Grunde keinen One-Night-Stand. Doch, gehörte dazu auch das Küssen? Daran stieß sie sich – irgendwie, schon, denn es schien ihr so, als zählte er gerade diese Form der Zärtlichkeit zu dieser intimsten aller Beziehungen hinzu. Anders konnte sie es sich im ersten Moment nicht erklären, dass er bisher noch nicht den Versuch unternommen hatte, sich ihr auf diese Art zu nähern, gleichwohl es der Gelegenheiten viele gegeben hätte. Und da das Küssen in der heutigen Gesellschaft ja beinahe zu einer Floskel verkommen war … Jeder küsste jeden – ebenso wie man einander zur Begrüßung und zum Abschied umarmte … Aber vielleicht lag hier das Problem, denn, wenn sie seinen Gedanken konsequent folgte, dann ergab sich daraus, dass er das Küssen als Zeichen einer einander tief verbunden wissenden Zweisamkeit verstand und es aus diesem Grund nicht trivialisieren wollte. Allerdings wäre es ebenso möglich und denkbar, dass er es einfach nicht mochte. Letzteres würde sie bedauern, ersteres aber rührte sie an und sie hätte nicht sagen können, dass sie dem irgendetwas entgegenzusetzen wüsste. Dennoch war da der Wunsch, ihm näher zu kommen und das, obwohl oder gerade weil er sie mehrmals schon auf die Stirn geküsst hatte. Keine Frage, sie fand es schön. Sie mochte es, wenn seine Lippen ihre Stirn berührten und sie dabei seinen Atem spürte. Und eigentlich hätte ihr das genügen können. Bisweilen aber ertappte sie sich dabei, wie sie sich vorstellte, dass er sie sogleich richtig küssen würde und das vollkommen frei von jener Leidenschaft, die sie beide auf dem Sommerdeich nach ihrem gemeinsamen Bad überfallen hatte. Aber das mussten wohl vorerst Wünsche bleiben, denn sie traute es sich nicht, ihrerseits die Initiative zu ergreifen. Irgendetwas ging seit dem Moment auf dem Sommerdeich von ihm aus, dass ihr ein Bis hierher und nicht weiter suggerierte. Was das war, wusste sie nicht zu sagen. Schön war es dennoch mit ihm zusammen zu sein. Zumal sich ihrer beider Unternehmungen nicht nur auf die Hallig selbst beschränkten. Sie fuhren gemeinsam nach Sylt und Amrum, besuchten auch noch einmal die Gröde und er zeigte ihr eine zauberhafte Ecke zwischen zwei Häusern, von der aus sie auf das so weit wirkende Gröder Land blicken konnte. Dazu nahm er ihre Hand, drückte sie leicht. Dann hatten sie sich beide lang in die Augen gesehen und sie hatte sich gefragt, was wohl in ihm verginge, worüber er nachsinnen würde, als er ihr näherkam, eine Strähne aus ihrer Stirn strich und ihr Kinn berührte. Im Grunde verlangte das nach mehr, aber er sah ihr nur weiter in die Augen. Da im Buddelbreef schließlich noch eine Wattwanderung nach Japsand angekündigt war, machten sie auch die mit. Das allerdings nicht ohne Komplikationen, die sich zu einem für Lene erschreckenden Erlebnis entwickelten. Erstens verriet ihr Jakob, dass er mit den Füßen Probleme habe und deswegen diese Schuhe mit Klettverschluss trage, er das Laufen mit nackten Füßen also nicht bevorzuge, weil er sich dadurch ziemlich unsicher fühlte. Dennoch willigte er ein und zog dicke Socken an. Sie sah, dass seine Füße durch äußert stark ausgebildete Ballen verunstaltet waren. Das Gehen fiel ihm ohne Einlagen schwer. Und in dem Maße, wie er in seinen Schuhen hatte springen können, wobei sie nun wusste, warum dies so geziert und gespreizt gewirkt hatte, musste er sich mit nackten Füßen aufs langsame Gehen verlegen. Doch sie war stets neben ihm, fasste ihn auch des Öfteren bei der Hand oder am Arm, wenn er Gefahr lief zu stolpern, zu fallen oder in irgendeinem Muschelloch hängen zu bleiben. Er lächelte dann, zeigte bisweilen auch die Zähne und sie meinte dahinter nicht nur Dank, sondern auch eine leichte Verzweiflung seiner Ungeschicklichkeit wegen zu erkennen. Da sie aus ihrer Erfahrung als Lehrerin wusste, wie sie damit umzugehen hatte, verhielt sie sich vorerst ruhig und half ihm, später dann versuchte sie ihn durch ein Gespräch abzulenken, dass er jedoch in einer Entschiedenheit unterbrach, die sie beinahe verschreckte. Doch sie beruhigte sich damit, dass er wohl seine gesamte Konzentration darauf verwenden musste, um mit der Gruppe mithalten zu können. Schließlich spürte sie auch, wie sich in ihm so etwas wie eine leichte Frustration aufbaute, die er jedoch nicht artikulierte. Dafür aber wurde sein Zähnefletschen zunehmend beißender und sein Blick starrer. Sie kannte ihn inzwischen etwas und meinte, wieder jenen Jakob in ihm zu erkennen, der ihr bei ihrem ersten Treffen geraten hatte, recht rasch zu bestellen, da das Café bald schließe. Und auch wenn sie damit umzugehen wusste, traf es sie doch, dass er ihr zunehmend entglitt. Selbstverständlich tat er ihr leid, wie er da mit dem Watt zu kämpfen hatte und sie fragte sich nicht nur einmal, ob dieser Ausflug sinnvoll sei und warum er überhaupt eingewilligt habe. Etwa, um ihr zu gefallen? Denn eine Erbauung war es für ihn nicht. Das zweite Problem kündigte sich an, als sie Japsand erreicht hatten. Sie verspürte ein dringendes Bedürfnis, dem sie nachkommen musste. Da dieser, der Hooge verlagerte Außenposten jedoch nur aus angeschwemmtem Sand bestand und folglich kein Versteck bot, musste sie dieses Bedürfnis anhalten und war dementsprechend kurzatmig, was Jakobs Probleme anbelangte. Zwar hatte sie sich all die Jahre, die sie schon als Lehrerin tätig war, ein dickes Fell zugelegt und vor allem Durchhaltevermögen antrainiert, doch, wenn sie dieses Bedürfnis überkam – und es war mit einer Heftigkeit über sie gekommen, dass sie meinte, sie hätte zuvor 4 Liter Wasser getrunken, dann half auch die stärkste Durchhalteparole nicht mehr. Sie musste und das sofort! Nur waren überall Menschen, die sie bei ihrem Geschäft hätten beobachten können. Und Jakob zu bitten, sich schützend vor sie zu stellen, ging nicht, denn obwohl sie sich bereits vertraut waren, spürte sie, dass dieses Ansinnen noch weit jenseits einer Grenze lag. Also blieb ihr nur, auf der Rücktour ganz unauffällig zurückzubleiben, doch wie es immer so spielte, waren sie und Jakob diesmal nicht die Letzten. Der Wanderführer, der sich ihnen als Karim vorgestellt hatte, musste nämlich mitbekommen haben, dass sie beide auf der Hintour das Schlusslicht gebildet hatten und da die Zeit drängte, die Flut sich bald wieder zeigen würde, mussten sie sich etwas eilen. Insofern lief er in ihrem Rücken und trieb sie so zur Eile, was einerseits Jakob gar nicht zu Pass kam, da er sehr bemüht darum war, wohin er seinen Fuß setzte und ihn auch ein ums andere Mal wieder hob, weil er nicht sicher war, was ihn erwartete. Das widerstrebte andererseits dem Wanderführer, der zunehmend ungeduldiger und auch harscher in seinen Mahnungen zur Eile wurde. Und das wiederum ließ Lenes Blase Krawall schlagen. Sie litt. Und immer, wenn sie dazu noch in eine Muschel trat, durchzuckte es sie so intensiv im Unterleib, dass sie meinte, der Inhalt ihrer Blase würde sich augenblicklich ergießen. Es war furchtbar. Unnötig zu erwähnen, dass sie Jakob keine Hilfe mehr sein konnte und er dadurch, vom Wanderführer in seinem Nacken getrieben, immer wieder ins Stolpern geriet. Sie wollte sich, bereits leicht genervt, umwenden, als das Unglück geschah … Sie sah es aus dem Augenwinkel und der Schreck durchzuckte sie wie ein elektrischer Stoß, aber sie konnte nichts tun. Zu schnell war Jakob gestolpert, hatte haltlos mit den Armen gerudert und war daraufhin in die Knie gegangen, nur um sie dann mit Matsch und Modder bespritzt von unten her anzustarren. Seine Augen waren geweitet und da er wohl selbst nicht recht wusste, hob er eine Hand, mit der er sich soeben noch abgestützt hatte, fuhr sich über die Stirn und verteilte so den Dreck auch in seinem Gesicht. Es war ein fürchterlicher Anblick. Noch fürchterlicher aber war’s, dass der Wanderführer ganz ungerührt meinte: „Los, junger Mann, auf und weiter, wir müssen.“ In diesem Moment schien Jakob wieder zu sich zu kommen, verengte die Augen zu Schlitzen, wandte sich, für seine Lage blitzschnell um und sagte: „Nicht in diesem Ton!“ Doch der Wanderführer zeigte sich unbeeindruckt davon und berührte Jakob sogar an der Schulter, wohl, um ihm aufzuhelfen. Dieser aber entzog sich ihm ruckartig und Lene spürte, dass ihn Emotionen zu dominieren begannen, Emotionen, die sie an ihm bisher nicht gekannt hatte. Seine Augen, das sah, waren noch immer zu Schlitzen verengt. Auch wusste sie, dass er den Wanderführer anfunkelte und eben nicht bereit war, sich von ihm aufhelfen zu lassen. Denn als der einen neuerlichen Versuch unternahm, stieß ihm Jakob ein: „Fassen Sie mich nicht an!“ entgegen. Unwillkürlich begann Lenes Herz zu rasen. Der Drang, sich gleich in die Hose zu machen, hatte einer Angst Platz gemacht, die sie kaum artikulieren konnte. Warum reagierte er so barsch, so aufbrausend, und wie sollte das hier weitergehen? Beide Männer funkelten sich an. Was würde noch geschehen? Die Flut kam bereits heran – das Wasser stieg merklich und bedeckte bereits den gesamten Boden. Und was, wenn sich Jakob weiterhin weigerte, wenn er … Und es war noch weit bis zum rettenden Ufer. Und so, als wolle er ihre Befürchtungen bestätigen, machte er nicht etwa Anstalten, sich zu erheben, sondern griff mit beiden Händen in den Schlamm. Wie ein Kind, so trotzig, und dennoch … Lene beobachtete die Szene, nicht wissend, was sie davon halten sollte. Das war unmöglich Jakob. Das war … Oh, mein Gott, das war … Vielleicht wäre sie noch länger in dieser panischen Gedankenschleife gefangen dahingeglitten, wenn sie nicht plötzlich ihre Blase wieder gespürt hätte. So aber kam sie zur Besinnung und sagte so ruhig sie konnte: „Komm Jakob, wir müssen.“ Schon wandte er sich an sie und es durchfuhr sie eiskalt, sodass sie sogar zusammenzuzucken meinte. Aus diesem dreckverschmierten Gesicht starrten ihr zwei Augen hasserfüllt entgegen. Erst später an diesem Tag, als sie wieder daheim war – und froh, endlich allein zu sein – konnte sie sich etwas beruhigen. Zwar hatte ihr Jakob nach all dem zu erklären versucht, warum er so reagiert habe. Ihn habe die Sache überfordert – mit Stress könne er nicht gut umgehen. Und als ihn dann auch noch dieser Typ hatte anfassen wollen, sei er ausgerastet. Lene hatte vorgegeben, Verständnis zu haben und auch registriert, dass er sich schließlich bei dem Wanderführer für sein Verhalten entschuldigt hatte. Doch hatte sie ihm trotzdem deutlich zu verstehen gegeben, dass sie allein sein wolle, weil sie vollkommen erschöpft sei. „Sehen wir uns morgen?“, hatte er sie gefragt und sie hatte ein: „Ich weiß nicht“ hervorgewürgt, denn trotz allem kam ihr immer wieder die Frage hoch, warum Jakob sich so gebärdet hatte. Was da in ihn gefahren war. Sie spürte, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Und gerade das beunruhigte sie so sehr, dass sie sich zwar an diesem Abend wieder die Kerze entzündete und in deren Flamme sah, sich jedoch nicht völlig auf das leichte Flackern einlassen konnte – und das selbst dann nicht, als Percy auf ihren Schoß sprang. Wie Jakob zuerst den Dreck an seinen Händen und dann den vor ihm stehenden Wanderführer angestarrte hatte. So hasserfüllt. So sah man niemanden an, wenn man nur frustriert und genervt war. Warum also? Die Antwort auf diese Frage sollte sie erst sehr viel später erhalten. Kapitel 22: Rennen ------------------ Darüber, dass ausgerechnet dieses Ereignis mehr Nähe zwischen ihnen schaffen sollte, hätte Lene nur gelacht. Denn, als sie da so saß und in die Flamme starrte und Percy auf ihrem Schoß wusste, fühlte sie sich alles andere als gut. Zu sehr hatte Jakobs Verhalten sie verschreckt. Und dabei war dieses unbeherrschte Verhalten noch das kleinere Übel gewesen. Sein Blick indes, der so hasserfüllt erst den Wanderführer und schließlich auch sie gestreift hatte, nein, das war im wahrsten Sinn zu viel für Lene und sie beschloss, sich an den restlichen Tagen nicht mehr mit ihm zu treffen. Sie benötigte Ruhe, nichts als Ruhe, sonst wäre ihre Erholung bereits jetzt dahin. Und so ging sie an diesem Abend auch recht früh ins Bett. Freilich konnte sie nicht sogleich einschlafen. Das Ereignis ließ sie einfach nicht los. Und so wälzte sie sich alsbald von der einen auf die andere Seite, bis Percy, der ihr als treuer Begleiter ins Bett gefolgt war, reißausnahm und sie ihren Gedanken überließ. Und die drängten auch nur allzu gern heran … Schließlich durchzuckte es sie siedendheiß: Was, wenn er morgenfrüh bei ihr auftauchen würde? Schließlich hatte sie ihm ja nicht eindeutig gesagt, dass sie seine Gegenwart nicht schätzte. Tja, dann würde sie ihm wohl morgen reinen Wein einschenken müssen. Und dabei kam es auf Souveränität an und auch auf Konsequenz – Tugenden, die sie während ihres Studiums erlernt hatte, im Privatleben jedoch nicht immer befolgte. Hier allerdings müsste sie es, egal, was er zu seiner Entschuldigung vorbringen würde. Nein, es würde lange dauern, ehe sie diesen hasserfüllten Blick wieder vergessen könnte. Ihre Angst, wieder auf ihn zu treffen, war indes unbegründet. Jakob tauchte am anderen Morgen nicht auf. Offenbar hatte er verstanden. Und sie überlegte, was sie an ihrem vorletzten Tag unternehme könnte. Da eine kleine Halligkreuzfahrt angeboten wurde, entschied sie sich dafür – nicht ohne wieder eine leise Furcht in sich zu spüren: was, wenn auch er sich für diese Kreuzfahrt entschieden hätte. Doch wiederum war ihre Sorge grundlos und sie verlebte einen recht schönen Tag an Bord des kleinen Schiffs, das sie und andere Gäste munter bald hierhin, bald dorthin chauffierte. Sie stand an der Reling und ließ ihren Blick über das endlosweit erscheinende Meer gleiten und ihren Gedanken freien Lauf, ja, sie schickte sie ganz bewusst der Sonne entgegen. Sollten die negativen dort verglühen, so dachte sie, und die positiven als kleine Hitzeballen wieder zu ihr zurückkehren und sie wärmen. Sie schloss die Augen, reckte sich dem Heimatgestirn entgehen und wusste alsbald ein winziges Lächeln auf ihren Lippen. Schön war das. Und sie wusste, dass sie wieder in diese Lande kommen würde – und vielleicht sogar wieder auf die Hooge, die ihr so viel gegeben hatte – all die Tage, die sie allein in der Natur gewesen und dem Flug der Vögel gefolgt war, nur, um sich dann in die Fennen zu setzen, gar zu legen und Gräser und Halme so unmittelbar neben sich zu wissen, ebenso wie den Hummeln und Bienen bei der Arbeit zuzusehen. Auch hatte sie einmal eine kleine Spinne dabei beobachtet, wie diese hektisch an ihrem Schienbein entlanggekrabbelt ist. All das und dazu die Stille, die Einsamkeit. Lene wusste, dass sie hier einen wichtigen Schritt in ihrer Entwicklung getan hatte. Die Kerze würde sie sich auch in Berlin jeden Abend von neuem entzünden und in deren Flamme schauen. Auch würde sie sich mehr Zeit für sich nehmen – und einfach das tun, was ihr gut bekam. Vielleicht würde sie wieder mit dem Schwimmen beginnen, oh, ganz sicher würde sie das tun. Oder vielleicht mit dem Laufen. Jedenfalls würde sie mehr auf sich achten. Sie war ja nun kein junger Hüpfer mehr mit ihren 45 Jahren. Ach, und vor allem würde sie der kommenden Zeit, in der sich ihr Körper umstellte, positiv entgegenschauen wollen. Keineswegs würde sie ins Esoterische abgleiten wollen, wie so viele ihrer Geschlechtsgenossinnen, um sich selbst zu finden. Das fand sie affig. Allerdings war es ihr wichtig, doch tiefer in sich hineinzuhorchen. Wer war sie? Was wollte sie? Was konnte sie anderen geben? Und was brauchte sie? Alles Fragen, die, wie sie fand wichtig waren, um die nächsten Jahre möglichst gut zu gestalten. Und am wichtigsten war es ihr, stets im Augenblick zu leben – wie sie unlängst in einem Buch von Eckhard Tolle gelesen hatte. Er schrieb über das ganz Offensichtliche und das so, dass sie sich bei der Lektüre immer wieder fragen musste, warum sie diesen doch so einfachen Weg nicht zuvor gegangen war. Nun, hier auf der Hallig hatte sie damit begonnen und sie würde alles dransetzen, ihm auch im Alltag zu folgen. Und das vor allem im beruflichen Alltag. Denn war ihr das Leben damals, vor 5 Jahren, nicht gerade deswegen entglitten, weil sie zu sich selbst keinen Kontakt mehr aufnehmen konnte – und lag das nicht gerade daran, dass sie blind für die Einzigartigkeit des Augenblicks war? Wenn also Ronja nach dem Unterricht wieder einmal zu ihr kam, um ihr Dinge zu erzählen, dann würde sie diese Momente ebenso bewusst erleben wollen, wie gerade den des Einatmens dieser so wunderbar würzigen Luft hier an Bord dieses kleinen Äppelkahns. Jeder Moment zählte, jeder war kostbar – auch die bösen, die dunklen Momente. Denn die gehörten ebenso zum Leben. Und auch, wenn sie noch immer dazu neigte, vor ihnen wegzurennen, so fühlte sie sich doch besser, stärker, denn sie wusste, dass sie es vermochte, ihnen standzuhalten. Sie würde die vielen Kleinigkeiten, die das Alltagsleben Tag für Tag schöner machten, bewusst erleben, wie etwa, dass sich ein verspäteter Marienkäfer auf ihrer Hand niederließ oder Philipp, der Klassenclown, wieder einen Witz erzählte oder … wenn … Ronja endlich einmal lächeln würde. Die Kleine. Ja, sie kam nicht umhin: sie hatte dieses zierliche Mädchen irgendwie ins Herz geschlossen und freute sich, da sie nun hier an der Reling des kleinen Äppelkahns stand, darauf, sie wiederzusehen – und auch auf all die anderen ihrer Klasse freute sie sich. Auf Christoph und Hannah, die, beide intelligent, jedoch gleichermaßen vorlaut waren. Sich nicht immer wieder über diese beiden zu ärgern, sondern sie in ihrer Besonderheit anzunehmen, das nahm sie sich ebenso vor, wie Susanne, die ebenfalls scharfen Verstandes war, jedoch nie etwas im Unterricht sagte, aus der Reserve zu locken. Und dabei galt es ihr, jeden Moment ganz bewusst zu erleben, nichts dem Alltag zum Fraß vorzuwerfen. So dachte sie und spürte plötzlich wieder diese leichte Beschwingtheit in sich, die sie ganz zum Anfang des Urlaubs auch in sich getragen hatte. Und nun … sie nahm es als gutes Zeichen. Sie war vielleicht noch immer nicht ganz über ihre damals erlebte Krise hinweg, das Burn-out, doch sie wusste, dass sie sich langsam davon erholte. Sie war frei, Frau ihrer eigenen Gedanken und Entscheidungen. Wie gut sich das anfühlte, das Leben in sich zu spüren. So unmittelbar, so warm, so sanft … einfach wunderbar. An ihrem letzten Tag wollte sie noch einmal hinaus, um der Hallig Lebwohl zu sagen und um ganz bewusst etwas von diesem Eiland in sich aufzunehmen, etwas, das ihr die nötige Ruhe wiedergeben sollte, wenn sie einmal Gefahr lief, sich selbst zu vergessen, sei es nun in beruflicher oder privater Hinsicht. Ja, und so, als hätte ihr die Hallig ein Auf!,zugeflüstert, rannte sie plötzlich los, den Weg hinab zum Sommerdeich und streckte dabei die Arme aus, spürte den Wind im Gesicht, im Haar, in ihren Kleidern. Und sie rannte, rannte, so wie in den ersten Tagen auch. Ja, so hatten sich die Hallig und sie begrüßt, so würde sie sich auch von einander verabschieden. Ja, so. Und das, dieses Rennen gegen den Wind, jedoch der Sonne und dem blauen Himmel und dem Meer entgegen, das würde sie als Bild immer bei sich tragen. Das … Und wenn es ihr einmal nicht gutginge, dann würde sie im Geiste zu laufen beginnen und sich gegen diesen wundersamen Halligwind neigen und sie würde auch Ekke Nekkepenn nicht vergessen, diesen kleinen aus Halligflieder und dem Sturmwind gesponnenen Meergeist, der den Menschen Trost und Hoffnung brachte. Auch ihn würde sie mit ans Festland nehmen. Ja, und auch die Nordsee, das Watt, die Vogelhallig Norderog und auch Japsand, ja auch den … „Ich liebe dich“, murmelte sie im Laufen und noch einmal, diesmal lauter, viel lauter, so laut, dass ihr die eigene Stimme in den Ohren zu dröhnen und sie um ihre Luft zu fürchten begann. Dennoch rannte sie weiter, die Arme ausgebreitet und schreiend – nun unartikuliert, doch dachte sie noch immer „Ich liebe dich. Ich liebe dich … ich …“. Schließlich erstarb auch der Schrei, einfach, weil sie sich nun mehr und mehr und mehr auf ihren Lauf konzentrieren musste, und am liebsten hätte sie abgebrochen, doch da gab es etwas in ihr, das sie trieb – so wie damals auch, als sie im Schwimmkader war und ein Konditionstraining nach dem anderen über sich ergehen ließ. Sie lief einfach, lief und wunderte sich darüber, dass sie es noch immer konnte, dass sie so alt geworden war, aber von ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit wohl nichts eingebüßt hatte. Sie fühlte, wie ihre Füße über den Boden flogen, fühlte auch, dass sich langsam wieder eine Welle der Kraft in ihr aufbaute, dass sie … und unwillkürlich begann sie wieder zu schreien und das tat so gut. Wie gut, das tat. Ganz egal, wenn sie morgen heiser war. Ganz egal, wenn … ach, was zählte in diesen Augenblicken die Schule, zu der sie am kommenden Montag wieder gehen musste. Was zählte es, dass sie, vielleicht einer Kehlkopfentzündung erlegen, nicht würde sprechen können? Einmal die Vernunft außer Acht lassen, einmal … Sie rannte und schrie und breitete die Arme wieder aus. Bis zum Ende des Weges, dem Beginn des Sommerdeichs entgegen, zum Strandkorb, der da einsam stand. Sie rannte und dort, kaum noch richtig bei sich, sah sie plötzlich auch ihn, Jakob, wie er sich als schwarze Gestalt gegen den Horizont abhob. Sie sah ihn. Aber zu spät. Sie vermochte nicht mehr zu stoppen und rannte ihn mit solch einer Wucht an, dass er selbst ins Straucheln geriet und zu fallen drohte. Er hatte sich ihr genau in den Weg gestellt. Das schoss ihr noch durch den Kopf, ehe sie spürte, wie sie in die Knie zu gehen drohte. Ihr Herz raste, raste so sehr, dass sie nicht wusste, nicht konnte. Sie schnappte nach Luft. Immer und immer wieder. Doch es war ihr so, als atmete sie Wasser und mit weit aufgerissenem Mund starrte sie ihn an. „Was?“, nuschelte sie und ging einige Schritte, obwohl ihre Knie noch immer nachgeben wollten. „Warum?“ Und als er nicht antwortete wieder unter Auferbietung all ihrer Kräfte: „Was? Warum? Was machst du hier?“ Zu mehr war sie nicht imstande. Und er, nun dicht neben ihr, erwiderte: „Ich habe es schreien hören und bin aus dem Strandkorb hoch, um nachzusehen … und da warst du …“ Ihre Blicke trafen sich. „Scheiße“, rief sie und wollte weiter, doch sie konnte, da nun einmal angehalten, nicht wieder auf. Und so blieb ihr nur, wieder nach Luft zu schnappen und sich abzuwenden, um ihm so zu zeigen, dass sie seine Gegenwart nicht wünschte. Und so, als hätte er verstanden, hielt er sich ihr auch fern, doch plötzlich hörte sie ihn sagen: „Wie gern würde ich auch so rennen können wie du.“ Kapitel 23: Hitze ----------------- „Was? Was soll das?“, stammelte sie und wandte sich um. Er stand in einigem Abstand hinter ihr, sah sie an. Sie schüttelte den Kopf, als er keine Anstalten machte zu antworten. In der Schule, da hätte sie … ja, da hätte sie …, aber hier und jetzt? Sie holte tief Luft und versuchte überdies die Erschöpfung niederzuringen. Doch das gelang ihr nicht, zu lang war sie schon nicht mehr gelaufen und zu sehr hatte sie sich in diesen wenigen Momenten verausgabt. Sie keuchte leise und wollte sich schon wieder abwenden, als sie ihn sagen hörte: „Ich habe mich in dich verliebt.“ „Was?“ Es durchzuckte sie mit solcher Heftigkeit, dass sie wieder nach Luft schnappte. Er nickte, tat einen Schritt auf sie zu. „Ja …“ „Ja … und …?“, stieß sie hervor. „Denkst du, dass es das ist …?“ Sie unterbrach sich und fuhr sich mit der Hand über den Mund. „Darf ich das nicht sagen?“, entgegnete er. „Klar darfst du …“ „Du musst mir glauben, dass ich das noch nie erlebt habe.“ „Ach“, machte sie nur, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, und starrte ihn nur wieder an, ehe sie sich abwandte. „Ich verstehe, wenn du …“, setzte er neuerlich an, „… wenn du meine Gefühle nicht teilst, doch wollte ich sie dir mitteilen. Meine Mutter sagte immer wieder – zuletzt noch auf dem Krankenbett vor zwei Jahren …“ Wieder unterbrach er sich und sie spürte irgendwie, dass er hinter sie getreten war. Sie zwang sich indes, nicht zu reagieren und ihren Blick einfach über das weite Land jagen zu lassen. Dabei holte sie einige Male tief Luft, ehe Jakobs Stimme wieder an ihr Ohr drang: „… Sie ist gestorben, ohne, dass ich ihr diesen Wunsch hätte erfüllen können … Junge, sagte sie, wenn du eine Frau findest, für die du meinst,etwas zu empfinden, dann lass sie nicht wieder gehen.“ „Sagte sie das?“, schnappte Lene und wandte sich abrupt um. Beider Blicke trafen sich. „Sie ist gestorben“, wiederholte er und sah sie unverwandt an. „Es war Lymphdrüsen …“ „Es reicht“, unterbrach sie ihn und fuhr sich mit der Hand über den Mund. „Es reicht!“ Er schwieg tatsächlich, rührte sich auch nicht. Stand nur da, den Blick gesenkt, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Beinahe demütig wirkend. Lene wusste nicht, was sie von all dem halten sollten, wusste noch viel weniger, wie damit umgehen. Und so betrachtete sie ihn nur. Schweigend. Auf der Stelle verharrend. Schließlich: „Mir tut es leid, dass deine Mutter gestorben ist.“ „Ja“, erwiderte er knapp, hob kurz den Kopf, sah sie an, senkte ihn wieder. „Jakob.“ Er reagierte nicht. „Jakob, sieh mich an.“ „Tut mir leid … Es tut mir leid“, setzte er an, den Blick noch immer zur Erde gerichtet, „… dass ich es gesagt habe …“ „Dass du …“ „Dass … dass ich etwas für dich empfinde …“, stammelte er. Sie kratzte sich am Kopf, biss sich auf die Unterlippe, tat einen Schritt auf ihn zu, berührte ihn sogar am Arm. „Das muss dir nicht leidtun“, entgegnete sie so sanft, wie sie konnte, doch sie spürte, dass die Worte in ihrer Kehle kratzten. „Nicht?“ Er sah sie wieder kurz an. Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich muss dir sagen, dass mich dein Verhalten im Watt … ja, es hat mir nicht gefallen … es war …“ Sie unterbrach sich, weil sie nicht wusste, wie sie ihm, einem erwachsenen Mann, sagen sollte, dass ihr sein Verhalten nicht gefiel. Sollte sie es ihm überhaupt sagen? Ja? Warum denn? „Ja“, hörte sie ihn da schon sagen, „ja, das … nun … das ist wohl nicht mit einem einfachen Geigenspiel zu …“ „Vor allem möchte ich wissen, warum“, entfuhr es ihr da plötzlich. Und dann: „Jakob, das war gefährlich da draußen und du hast … hast ...“ Sie schnappte nach Luft, schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Seiten. „Und dann dieser Hass … Jakob … Und nun kommst du an, sagst mir, dass …“ „Bitte“, unterbrach er sie leise. „Bitte …“ Lene runzelte die Stirn, schüttelte dann wieder den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich davon zu halten habe. Du bist … Nein. Wenn du nur begreifen würdest, dass …“ „Aber das tue ich doch. Ich weiß doch … Ich …“, stammelte er, dann hob er den Blick. „Ich bin hier, um es dir zu erklären. Jedenfalls möchte ich es versuchen. Ich würde es gern …“ Lene schwieg einen Moment, fuhr sich dann wieder über den Mund, wich seinem Blick aus. Wollte sie das? Wollte sie von ihm erfahren, was er zu sagen hatte? Oder wollte sie nicht eher … ja, wollte sie nicht ihre Ruhe haben? Der Hass in seinem Blick hatte sie verschreckt, seine Reaktion war unangemessen und gefährlich gewesen. In ihm, so ahnte sie, lauerten unausgesprochene, ja, noch schlimmer, unterdrückte Emotionen. Und wie er hier so vor ihr stand – noch immer die Haltung eines demütigen, gar reuigen Beters angenommen – das war … kam doch einem Schauspiel, fast eine Posse gleich. Er kroch zu Kreuze. Und sie? Sie wusste nicht. Wollte sie? Wollte sie das? Und dazu noch sein Geständnis. Auch das wirkte wie eine Inszenierung. Eine Selbstinszenierung. „Jakob“, setzte sie wieder an, „ich denke, dass wir an dieser Stelle …“ Sie unterbrach sich. Warum? Sie wusste doch plötzlich die Kraft in sich, ihm zu sagen, was sie dachte. Doch sie schwieg, sah ihn nur wieder an, ihn diesen komischen Mann, der sie mit seinem Geigenspiel bezauberte, mit seinem Verhalten jedoch so sehr abstieß. Und dabei: noch vor wenigen Tagen hätte sie es sich vorstellen können, Gefühle für ihn zu entwickeln. So, sie sie nicht bereits in sich getragen hatte. Gefühle. Für ihn, diesen falschen Geiger. Hatte er sich nicht die ganze Zeit selbstinszeniert? War nicht alles an ihm ein Schauspiel? Sie biss sich wieder auf die Unterlippe und ließ ihren Blick über die Weite jagen. Am liebsten hätte sie sich umgedreht, wäre gegangen. Doch das, so wusste sie, war unmöglich. Sie hatte den Satz begonnen, den einen, der es endgültig gemacht hätte. Sie hätte sich von ihm verabschiedet. Vielleicht hätte sie ihm die Hand gereicht. Vielleicht hätten sie sich sogar umarmt. Vielleicht. Wer sollte das wissen? Nur, eines wusste sie, sie hätte ihn nicht noch einmal an der Wange berührt, auch nicht an der Schläfe. Sie wäre gegangen, ohne sich nach ihm umgesehen, und hätte das Kapitel für sich geschlossen. Ja, hätte. Dass sie all das nicht tat und ihm stattdessen bedeutete, sie zum Strandkorb zu begleiten, war, so wusste sie, eine Ungeheuerlichkeit sich selbst gegenüber, die sie ebenso wie sein hasserfüllter Blick verschreckte. Dennoch nahm sie im Strandkorb Platz und wartete, bis auch er sich neben sie gesetzt hatte. „Jakob“, sagte sie dann, „ich kann mit deinem Verhalten nichts anfangen. Absolut nichts.“ Er sah sie einen Moment an, nickte dann, schlug den Blick nieder. „Ich weiß doch.“ „Und?“ Sie spürte in sich wieder die Lehrerin hochkommen, die, die alles zu überblicken vorgab und dabei … Lene zitterte nicht nur innerlich. Sie zitterte und rang nach Luft und dann, von einem Moment zum anderen, packte sie die Hitze. Sie spürte, wie sie sich von ihrem Magen aufsteigend zu ihrer Brust, zum Hals, in ihren Kopf ausbreitete, ohne, dass sie etwas dagegen hätte tun können. Sie schnappte nur wieder nach Luft, versuchte, sich zusammenzunehmen, sich ruhig zu halten, aber auch das gelang ihr schlecht. Noch dazu begann ihr Herz zu rasen begann, so sehr, dass sie meinte, alles um sie her löse sich in ein graues Rauschen auf. Nur mit Mühe konnte sie sich bewusstmachen, dass sie in einem Strandkorb saß. Schon packte sie wieder die Hitze und sie begann zu schwitzen, stand augenblicklich unter Wasser und wäre am liebsten aufgesprungen und hätte sich die Kleider vom Leib gerissen. Es war fürchterlich und das umso mehr, da Jakob plötzlich sagte: „Du bist ganz rot im Gesicht.“ Sie nickte, erwiderte: „Mir ist heiß.“ „Und warum?“ Sie sah ihn einen Moment lang an, fixierte ihn fast, spürte sogar, wie sie ihre Augen zu Schlitzen verengte, während es in ihr bohrte und hämmerte. Ja, die Emotionen hatten sie gepackt und suchten nur nach einem Grund, einem winzigen, um hervorbrechen zu können. Endlich … Und hätte er sich auch nur den kleinsten Anschein gegeben, seinen Mund verziehen zu wollen, gar die Zähne zu fletschen, hätte sie … wäre sie … Sie hätte … So aber … Er sah sie nur an, fragend, weil nicht wissend und schließlich hinzufügend: „Seltsam, mir ist kalt.“ „Ja“, schnappte sie, „so unterschiedlich sind die Menschen.“ „Ja, das stimmt wohl. Aber dir muss wirklich sehr heiß sein. Du schwitzt ja sogar …“ „Ja“, versuchte sie so ruhig wie möglich zu erwidern und dem Drang, endlich aufzuspringen, hemmend entgegenzuwirken. Und das vor allem, da er sie noch immer ansah, fragend, nicht wissend. Und dann sah sie, wie er in seiner Jackentasche zu suchen begann, ohne den Blick von ihr abzuwenden, sah auch, wie er ihr einen Moment später ein Taschentuch reichte und spürte dann, wie er sie an der Wange berührte. Ganz leicht nur, doch sie zuckte. Er aber begann sie zu streicheln, auch an der Schläfe. Und sie blinzelte, als er ihren Augen näherkam. „Hab keine Angst“, murmelte er. „Hab keine“, erwiderte sie und begann sich den Schweiß abzuwischen. Und so, als sei das nicht genug, fügte er hinzu: „Lene, ich mag dich. Auch, wenn du schwitzt, finde ich dich schön.“ Beinah hätte sie laut aufgelacht, gab diesem Drängen jedoch nicht nach und wischte sich stattdessen weiterhin den Schweiß ab. Und er betrachtete sie dabei – ernst, ganz ernst mit seinem klugen, wachen Blick. Und dann sagte er: „Schwitzen gehört dazu, oder?“ Kapitel 24: Auch wenn die Erde sich nicht aufhört zu drehen ----------------------------------------------------------- Sie schob seine Hand weg, sah ihn an, fragte: „Warum?“ Er zögerte, so als wolle er seinerseits fragen, was sie meinte, ließ dann jedoch seine Hand sinken. „Ja“, sagte er, „ja … ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ „Wie wäre es mit der Wahrheit?“, drang sie in ihn. „Wahrheit … ja“, erwiderte er, strich sich einige Male übers Knie, so als schmerzte es, ließ seinen Blick übers Meer gleiten, gerade so, als suche er nach einer Antwort und wandte sich dann wieder an Lene. „Zuerst einmal möchte ich dir danken, dass du mir die Gelegenheit gibst, mich zu erklären. Das bedeutet mir sehr viel, zeigt es doch, dass …“ „Was soll es zeigen?“, unterbrach sie ihn und wischte sich neuerlich den Schweiß von der Stirn. Davon, dass es ihr inzwischen besserging, konnte nicht die Rede sein. Die Hitze steckte noch immer in ihr und ließ sie zusätzlich gereizt sein – eben, weil sie nicht tun konnte, was sie gerne wollte: aufspringen und sich die Kleider vom Leib reißen. Und wenn sie nur daran dachte, dass dieser Hitze eine Kälte folgen würde, die sie wiederum zittern ließe, dann spürte sie in sich bereits eine Erschöpfung, die danach rief, diesen Strandkorb so schnell wie möglich zu verlassen, um sich daheim auszuruhen. Überdies musste sie ihre Sachen noch packen und sich Brote schmieren und Tee kochen und Percy auf den Schoß nehmen, um ihm zu erklären, dass sie morgen abreisen würde … und dann musste sie noch … musste … „Auch, wenn du es nicht glaubst, mir ist durchaus bewusst, dass sich mein Verhalten einerseits nicht schickt und dass es andererseits auf dich befremdlich gewirkt haben muss.“ „Befremdlich?“, zischte sie und schnaubte leise, ehe ihr bewusst wurde, dass es gerade diese Haltung war, die sie während ihres Pädagogikstudiums gelernt hatte, abzulegen. Es ging nicht darum, den anderen, der seine Schuld bereits einsah, noch zusätzlich auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Nicht selbstgerechtes Verhalten half, einen Konflikt zu entschärfen, sondern das Zuhören, um dann entsprechend zu reagieren, indem sie den anderen, so er ihrer Meinung nach noch immer falsch lag, sacht zu korrigieren. So sollte eine gute Auseinandersetzung mit einem allzu aufsässigen Schüler aussehen, mit einem, der sozial auffällig war. So – und nicht anders. Nur, war sie hier die Lehrerin? Gut, diese innere Lehrerin konnte ihr helfen, half ihr beinahe immer und war ihr so zur Freundin geworden. Doch wollte sie sie hier sprechen lassen? Oder anders: hatte sie überhaupt die Kraft dazu, sie sprechen zu lassen? Hier, während sie neben Jakob saß und sich so heiß anfühlte, als hätte sie Fieber, nur, um zu wissen, dass sie gleich das Frösteln packen würde. Und dann? Was war dann? Konnte sie sich selbst beherrschen? Wollte sie das überhaupt? „Befremdlich“, wiederholte er und seine Stimme klang plötzlich sehr sanft. Sie sah ihn an. Er reagierte umgehend, wandte sich an sie und beider Blicke trafen sich. „Ich bin erleichtert, dass du mir die Möglichkeit gibst, mich zu erklären. Vielleicht, aber nur vielleicht, hoffen mag ich nicht, kannst du mich dann verstehen.“ „Jakob …“ „Lene?“ Er neigte sich leicht zu ihr hinüber, hob dann die Hand, strich ihr übers Haar und dann kam er ihr noch näher. Sie zuckte zurück. Was sollte das? Was hatte er vor? Doch nicht …? Nicht jetzt … Er küsste sie wieder auf die Stirn. „Lass das“, hörte sie sich sagen und schon verschränkte sie die Arme vor der Brust, nicht ohne, sich vorher die Stirn abzutupfen. Und dann packte sie tatsächlich die Kälte. Sie kam mit einer Übermacht, die sie augenblicklich zittern ließ. „Ich will wissen …“, begann sie und spürte, wie es in ihrem Bauch zu rumoren begann, wie sich alles ineinander verknotete. Es zwickte und zwackte, es kniff, es schmerzte fast. „Warum?“ stieß sie neuerlich hervor, nur, um gleichzeitig zu wissen, wie sehr sie sich in diesen Momenten dem Trotz anheimzugeben begann. Doch Jakob schien von all dem nichts zu bemerken, denn er strich ihr wieder über die Stirn, die Schläfe und sagte dann: „Es ist schön, dich zu berühren. Ich habe all die Jahre, na ja, viele Jahre nur ahnen können, wie das ist, einem anderen Menschen so nah zu sein. Aber bei dir kann ich das.“ Er holte tief Luft, sah sie mit leicht geöffnetem Mund an, so als wolle er fortfahren, klappte ihn dann jedoch zu und sie sah, wie er zu lächeln begann. Hoffentlich zeigt er jetzt nicht die Zähne, schoss es ihr durch den Kopf und er tat es tatsächlich nicht. Stattdessen rutschte er näher an die heran, flüsterte: „Ich konnte es mir bisher nicht vorstellen, einen anderen Menschen zu berühren und ich mag es noch immer nicht, wenn man mich berührt. Von Fremden möchte ich schon gar nicht berührt werden.“ „So?“, machte sie und mühte sich darum, ihn nicht merken zu lassen, wie sehr sie fror. Sie presste nur ihre ineinander verknoteten Arme enger an sich und neigte sich leicht nach vorn, um gerade ihren Bauch, der sprichwörtlich zu einer Kühltruhe geworden war, irgendwie wärmen zu können. Doch es gelang ihr nicht. Sie zitterte nur und wusste auch, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Dazu Jakobs Nähe, die sie zusätzlich aufregte. Er sah sie an, berührte sie auch weiterhin und fuhr leise fort: „Ich mag es nicht, hasse es, wenn mich fremde Menschen berühren und dieser Wanderführer …“ „Karim“, warf sie ein. Warum, das wusste sie nicht. Vielleicht, um zu testen, ob sie noch reagieren konnte, denn die Kälte breitete sich nun, ebenso, wie die Hitze zuvor über die Brust hin zu ihrem Kopf aus. Und ihr hilfloses Herz trommelte dabei wie wild gegen die Rippen. Wie konnte sie dem, was da mit ihr und ihrem Körper zu geschehen begann, auch nur ansatzweise positiv gegenüberstehen? Nein, das würde sie nie im Leben durchhalten können, selbst wenn Petra, ihre Freundin, an ihrer Seite wäre und ihr immer wieder versichern würde, dass das der Lauf der Welt sei, dass eine Frau eben ab einem gewissen Alter … Ja, und trotzdem, es war schwer. Und dass diese Hitzeattacken gerade in Situationen auftraten, die ohnehin schon aufregend waren … Nein, nein … Und wieder spürte sie Jakobs Berührungen und dann sah sie plötzlich sein Gesicht vor sich. Er war ihr nah, ganz nah und wieder zuckte sie zurück und er sagte: „Ich mag ihn nicht. Er ist ein Fremder. Und ich mag es nicht, von Fremden angefasst zu werden. Hab es schon als Kind nicht gemocht, wenn mich andere Leute berührten.“ Er unterbrach sich, senkte den Blick, strich ihr über die Wange und setzte sich dann wieder zurück. Er schwieg, sie auch, ohne jedoch das, was er gesagt hatte, richtig verarbeiten zu können. Klar war ihr indes, dass er sich zu erklären versuchte. Irgendwie. Und dass er sein Verhalten mit seiner Kindheit begründete. „Ich war früher schlimmer. Selbst meiner Mutter war es eine Zeitlang unmöglich, mich zu berühren …“ Wieder erschien er in ihrem Gesichtsfeld, zwinkerte, sah sie an, so als erwarte er eine Reaktion. Doch sie war nicht imstande, etwas zu sagen. Sie presste nur die Schenkel aneinander, biss sich auf die Unterlippe. „Lene, ich …“, fuhr er fort. „Du hast mich aber angefasst“, hörte sie sich da mitten in seine Worte hinein sagen. „Du hast mich berührt, als wir uns noch nicht einmal kannten. Heißt das, dass du darfst, was du anderen versagst?“ Sie sah, dass er kurz innehielt, wohl um zu überlegen, dann erwiderte er ganz leis: „Ich kann das nicht so regulieren.“ „Was kannst du nicht regulieren?“ Er zuckte mit den Schultern, schlug dann seine Beine übereinander, umfasst sein Knie, nur, um es sogleich wieder fahren zu lassen. „Ich kann es nicht. Ich dachte bisher, dass ich Berührungen nicht sehr mag – abgesehen die von meiner Mutter und vielleicht von Kathrin und, aber …“ Er unterbrach sich erneut, sah sie an und sie mühte sich, ein möglichst entspanntes Gesicht zu machen, während es noch immer in ihrem Inneren rumorte. „Ja und?“, fragte sie. „Du hast recht, im Grunde hätte ich in dem Moment, als ich dich berührte, wissen müssen, dass sich das nicht schickt.“ Sie nickte. „Aber … ich weiß nicht. Plötzlich hatte ich einfach Lust dazu, vielleicht, weil …“ Er unterbrach sich und sah sie mit einem Blick an, den sie alles andere als mochte. Und was noch schlimmer war, sie konnte ihn nicht beschreiben. Hündisch wäre das falsche Wort gewesen, ergeben zu schwach. Und so, als ahnte er ihre Gedanken, senkte er den Kopf und sie wollte, einem inneren Impuls folgend, sagen: Ich weiß, dass du dich ausprobieren möchtest, murmelte dann jedoch: „Es ist gut. Es hat mir ja nicht wehgetan.“ Er nickte, sah jedoch nicht auf, und sie bemerkte, dass er sich mit dem Handrücken einige Male über die Nase fuhr – eine beinahe kindlich anmutende Geste. Dann sagte er: „Du wirst vielleicht bemerkt haben, dass mir einige Dinge schwerfallen, dass ich bisweilen etwas linkisch wirke. Könntest du es dir trotzdem vorstellen, dass …“ Er unterbrach sich, sah auf. Seinen Mund hielt er leicht geöffnet. „Ich möchte nur wissen“, fügte er hinzu, „ob es grundsätzlich möglich ist, dass wir uns auch nach dem Urlaub widersehen?“ Auch wenn sie selbst – und das konnte sie nicht leugnen – bereits das eine oder andere Mal daran gedacht hatte, stutzte sie jetzt. „Ich will dich damit gewiss nicht überfahren, wie man so schön sagt. Aber ich mag dich, Lene. Sehr …“ Sie wollte nicken, unterließ es dann aber. Und was, wenn sie ihm jetzt sagte, dass ihr kalt sei. Jetzt, in diesem Moment, da er sie so fragend ansah? Was würde dann geschehen? Wäre das für ihn das „Ja“? Wollte sie das oder sich lieber nicht festlegen und vorgeben, es sich überlegen zu müssen? „Ich würde dich wirklich gern weitertreffen“, hörte sie ihn sagen. „Immerhin haben wir hier, abgesehen von der Wattwanderung, wunderschöne Tage verlebt, oder?“ Sie rührte sich nicht und auch er schwieg, jedenfalls einen Moment lang. Dann fuhr er fort: „Sollte es wirklich daran scheitern? An dieser Wattwanderung?“ Sie biss sich auf die Unterlippe und holte einige Male tief Luft. „Ich weiß doch, wie schwer es ist, einen Menschen in das eigene Leben hinein …“ „Ja“, sagte sie da plötzlich und wusste seinen Blick sofort auf sich gerichtet. Er suchte, suchte nach einem Zeichen von ihr und gerade das verunsicherte sie. Und noch mehr, da er sagte: „Die Momente auf dem Sommerdeich, als du, als ich … Lene, ich hätte nie gedacht, dass ich mich das je trauen würde, aber als du es zugelassen hast, mich sogar aufgefordert hast, weiter zu gehen – du weißt nicht, wie … wie sehr … allein, als du deine Hände um mein Gesicht gelegt hast …“ Sie zuckte mit den Schultern, mühte sich, diese Kälte, die da in ihrem Inneren hauste, zu unterdrücken, und sagte dann: „Wenn überhaupt, möchte ich es gern langsam angehen lassen. So, und jetzt ist mir kalt.“ Das brachte sie hervor, ohne sich recht darüber bewusst zu sein. Schon sah sie, wie Jakob den Mund verzog – und dann erschienen auch seine Zähne. Und sie, noch immer voll der Erregung, knurrte: „Lass das, ich kann diese Mimik nicht leiden. Ich mag sie nicht. Ich hasse sie. Ja, ich hasse sie.“ Und mit diesen Worten sprang sie auf und schnappte nach Luft. Ihr war kalt. So kalt. Sie glaubte, noch nie in ihrem Leben so gefroren zu haben, als sie da stand und schon das obligatorische Dann lass mich dich wärmen von Jakob erwartete. Doch er sah sie nur von unten her an – nun wieder ganz ernst – nickte und sagte: „Das klingt nicht schlecht. Alles andere wäre auch mir zu schnell, glaube ich …“ Sie nickte ebenfalls, holte tief Luft, wandte sich dann leicht ab, sah aufs Meer hinaus. Es flutete wieder. „Und doch würde ich dich gern küssen“, hörte sie ihn da in ihrem Rücken sagen. Wieder zuckte sie leicht, sah aber weiterhin aufs Meer hinaus, zwang sich dazu – und das noch mehr, da sie ihn plötzlich neben sich wusste. „Die Welt muss nicht aufhören, sich zu drehen – was sie ja sowieso nicht täte, da sie einen ihr eigenen Drehimpuls besitzt, der nur …“ „Jakob“, fuhr sie ihm ins Wort. Er sah sie an. Das wusste sie, auch wenn sie weiterhin aufs Meer hinausblickte. „Ich habe mir immer vorgestellt, wie das wäre, wie es sich anfühlen würde, wie all das überhaupt sein kann. Wie es Menschen geben kann, die miteinander auf dem Sommerdeich laufen, sich unterhalten, ab und zu die Hand des Anderen nehmen, dann stehen bleiben, sich tief in die Augen sehen … Ich habe das nie verstanden. Wie das gehen kann … Und dann plötzlich … Es hat mich gereizt, als ich bemerkte, dass du mich von der Reling aus beobachtet hast. So sehr gereizt. Und am liebsten hätte ich einfach zu dir hochgesehen, um zu verstehen, warum du das tust. Und auch auf der Gröde. Warum? Ich habe es nicht begriffen. Aber es war ein seltsam erregendes Gefühl. Und deswegen – und auch, weil wir … weil ich … ich kann ja nur von mir sprechen … es als so, ja, ich empfand es als wunderschön mit dir auf dem Sommerdeich. In deinem Rücken zu liegen. Und auch das davor …“ Als er das so sagte, konnte Lene es nicht verhindern, sich doch an ihn zu wenden. „Gerade auch das. Noch nie hat eine Frau …“ „Jakob.“ „Was?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt.“ Und einem inneren Wunsch folgend, nahm sie seine Hand und drückte sie leicht. Dann holte sie tief Luft: „Lassen wir es also langsam angehen und schauen, was daraus wird. Ok?“ „Oh ja“, erwiderte er beinahe hastig. „Dann kannst du mich an meiner Arbeit besuchen.“ „Ich denke nicht“, entgegnete sie und rümpfte die Nase. „Denn Physik …“ „Nicht das. Ich bin auch ehrenamtlicher Leiter des Musiktheaters an der Volkshochschule Steglitz-Zehlendorf. Und du magst Musik … Ich würde mich so freuen, wenn du …“ Er lächelte. Diesmal jedoch ohne die Zähne zu zeigen. Und dann kam er ihr wieder näher, so nah, dass sie schon den Impuls in sich spürte, nach hinten auszuweichen, doch er berührte sie plötzlich an der Wange, neigte sich zu ihr hinab und murmelte: „Auch, wenn sich die Erde nicht aufhört zu drehen …“ Kapitel 25: Alltag ------------------ Nun hatte sie der Alltag wieder. An diesem Montagmorgen um kurz nach 7. Noch gestern Abend hatte sie mit ihrer Freundin Petra telefoniert und ihr berichtet, was sie umtrieb. Natürlich war Jakob eines der Themen, wenn nicht gar das Thema, gewesen. Und wenn sie es sich jetzt so überlegte, war’s einfach komisch gewesen, wie all das mit ihm so gelaufen war. Komisch, aber auch überwältigend. Ergreifend. Und irgendwie auch … na ja … Petra hatte in ihrer pragmatisch-ruhigen Art gesagt: „Lass mal, erst abwarten. Das Feuerwerk der Gefühle kann auch später noch einsetzen. Und dann wirst du es wissen … Und ansonsten weiß man ja auch nie. Nur zwing dich zu nichts. Ja?“ Nun, das hatte Lene auch nicht vor. Sich zwingen. Hatte sie schon gehabt. Oft genug. Brauchte sie nicht wieder. Sie war jetzt eine andere, bessere Lene. Und vielleicht wusste diese Lene ja doch schon? Vielleicht musste sie gar nicht abwarten? Denn, warum musste sie immer wieder an Jakob denken, der noch auf dem Schiff, das sie zum Festland brachte, ihre Hände genommen hatte – so wie einen Tag zuvor auf dem Sommerdeich? Und dann hatte er sich zu ihr hinabgeneigt und ihr Worte ins Ohr geflüstert, Worte, die … ach … Ihr Herz hatte zu rasen begonnen, vielleicht mehr noch, da sie seinen Atem an der Wange, der Schläfe, dem Ohr gespürt hatte, als er sprach. Sie hatte gelauscht und immer nur gelauscht. Mit offenem Mund, wissend, dass sie seinen Atem atmete, hatte die Augen geschlossen und sich gesagt, dass sie sich dieser Worte erinnern müsse … müsse, doch wie denn, da sie sie in diesen wenigen Augenblicken gar nicht richtig verstehen konnte … nur, dass es um zwei Saiten auf einer Violine ging … und sich wünschte, er möge einfach weitersprechen. Wahrscheinlich hätte sie aber nur noch an diesen wundersamen Moment denken können, da ihr Jakob so nah war und sie seine Lippen an der Wange spürte, hätte sie am Abend – nach dem Telefonat mit Petra – nicht einen Zettel in ihrer Jackentasche gefunden, auf den er eben diese Worte in kleinen, sauberen Buchstaben geschrieben hatte. „Für Helena, die ich Lene nennen muss“, stand darauf und weiter: Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie hinheben über dich zu anderen Dingen? Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas Verlorenem im Dunkel unterbringen an einer fremden stillen Stelle, die nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen. Doch alles, was uns anrührt, dich und mich, nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht. Auf welches Instrument sind wir gespannt? Und welcher Geiger hat uns in der Hand? Er hatte es irgendwie geschafft, ihr diese Zeilen – noch auf dem Schiff – unbemerkt zuzustecken, wohl, weil er wusste, dass diese Worte ebenso verklingen würden wie sein Geigenspiel und sie sich dann nur noch an einige Töne würde erinnern können – also hatte er sie festgehalten. Und, auch wenn es Rilkes Worte waren, derer er sich bediente, so hätten sie doch von ihm selbst stammen können. Von ihm, diesem falschen und doch so wunderbaren Geiger, der ihr als Mensch ebenso fremd wie vertraut war. Und während sie diese Zeilen noch einmal las, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Jakob war verliebt in sie. Tatsächlich verliebt. Anders konnte sie sich sein Tun nicht erklären. Vielleicht sollte sie ihn einfach ihren verliebten Jakob nennen? Und während sie sich dem Alltag wieder anheimzugeben und in die Rolle als Lehrerin ihrer nun 6. Klasse zu schlüpfen begann, dachte sie an ihn und fragte sich, was er jetzt trieb. Ob er, in seinem Erwin-Schrödinger-Zentrum in Adlershof sitzend, bereits an einem neuen Modell zur Erklärung der Welt tüftelte. Oder dachte auch er an sie? Ja? Kreuzten sich also gerade ihre Gedanken? Lene, schalt sie sich. Lass das. Diese Gedanken wurden ihr entrissen, als die das Schulgebäude betrat. Dolores, die Direktorin, stand an der Tür und begrüßte sie mit den Worten: „Lene, endlich! Du hast zwei Neue. Einen Jungen, ein Mädchen. Irak und Syrien.“ Lene blies die Wangen auf, nickte. Ja, der Alltag, der packte schon ordentlich zu, wenn er einen erst einmal in der Hand wusste. Da blieb dann tatsächlich keine Zeit mehr, an diesen verliebten Jakob zu denken, nein, da standen plötzlich zwei Flüchtlingskinder im Mittelpunkt. „Namen?“, schnappte Lene hastig. „Ich glaube … Amar und Sama“, erwiderte Dolores ebenso rasch und zuckte beinahe entschuldigend mit den Schultern. Lene nickte nur. Dass man ihr einfach so zwei fremde Kinder in die Klasse setzte, verwirrte sie nicht. Das war inzwischen Gang und Gäbe an Berliner Schulen. Als die erste große Flüchtlingswelle das Land erreicht hatte, waren die Lehrer sogar froh, wenn einige der Kinder nach einer gewissen Zeit in die Schulen kamen, nicht, um zu lernen – nein, das stand hinten an –, sondern, um Kontakt zu Gleichaltrigen knüpfen zu können und das Land, in dem sie im Moment lebten, ein wenig kennenzulernen. Petra, die in Moabit arbeitete, hatte ihr immer wieder von ihrer Schule berichtet. Sie hatte es schon vor der großen Flüchtlingswelle mit Migrantenkindern zu tun gehabt, mit Türken und Arabern. Es sei nicht leicht, hatte sie immer wieder gesagt. Allein schon, die Kinder mit Migrationshintergrund auf das Klassenziel vorzubereiten, sei teilweise unmöglich, eben, weil es immer an irgendetwas fehlte. Entweder waren es die Hausaufgaben, die nicht gemacht wurden oder die Kinder blieben fern – oftmals auch unentschuldigt. Sport? Für Mädchen? Und dann noch Schwimmen? Auch das ging nicht. Petra hatte Mühe, das wusste Lene. Und dann hatte sie eben noch Flüchtlingskinder dazubekommen … Schreckliches hatten die erlebt und konnten noch dazu kaum Deutsch, um sich auch nur annähernd gut zu verständigen und über ihre Eindrücke zu sprechen. Da blieb dann oft nur die Kunststunde. Malt ein Bild ... einfach das, was euch einfällt … Und sie hatte zu lächeln, auch dann noch, wenn sie sich plötzlich selbst mit dem Krieg konfrontiert sah und Menschen auch vor ihren Augen dahingeschlachtet wurden … Sie, die ruhige Petra, hatte sich Lene gegenüber nicht immer zurückhalten können und hatte geschimpft – nicht auf die Kinder, sondern auf das System, das voraussetzte, dass die Schulen es richteten, dass sie Kulturbarrieren durchbrechen könnten – und das am besten sofort – und aus den Kindern deutsche Kinder machten, bis diese wieder gehen müssten. Und dann hatte sie auch auf die Eltern der Kinder mit Migrationshintergrund geschimpft, die sich einfach über Regeln und Gesetze hinwegsetzten, und dann auch wieder auf das System, das sie einfach gewähren ließ und ihr zur Antwort gab: „Da können wir nichts machen. Das ist ein muslimischer Feiertag.“ Mit diesen Gedankenfetzen im Kopf nickte Lene Dolores nochmals zu und sagte: „Gut, danke.“ „Ja“, warf ihr Dolores zu. Sie wirkte gehetzt an diesem ersten Schultag. Doch wen wunderte es? Auch Lene fühlte sich schon jetzt nicht mehr ganz bei sich. Von der Hallig-Erholung spürte sie in diesen Momenten nichts mehr. Vielmehr wusste sie, dass sie zu funktionieren hatte. Dennoch nahm sie sich die Zeit, als sie aufs Lehrerzimmer zuging, Petra kurz zu schreiben: Nun hab’ ich auch zwei … Die Antwort kam postwendend: Na, herzlichen Glückwunsch! Ich hab jetzt fünf weitere ... Murat, Karim, Mohammed, Cem und Mariam. Kommen allesamt aus der Türkei, bis auf Karim, der soll wohl direkt aus Aleppo kommen …!!! Und wie heißen deine? - Amar und Sama ... Muss jetzt. CU - 2 Lene schmunzelte, steckte das Handy weg und betrat das bereits gutbesetzte Lehrerzimmer, grüßte in die Runde und sah gerade noch, wie sich Robert, ein älterer, schon straff auf die Pension zugehender Lehrer für Mathematik und Physik, seine Pfeife stopfte, als die Tür aufgerissen wurde und Dolores erschien. „So, Kinder, wie ich sehe, seid ihr alle da … lasst mal zählen … Eins, zwei …“ Sie stellte sich auf die Zehnspitzen, wollte weiterzählen, als Robert sagte: „Alle da“ und sich die gestopfte Pfeife in den Mund schob. „Was soll den das? Du weißt doch, dass im ganzen Haus absolutes Rauchverbot herrscht“, entfuhr es Dolores und sie riss die Augen weit auf. Er zuckte nur mit den Schultern und sagte ganz ruhig: „Ach, Dorle, wie gern höre ich es aus deinem Munde, dieses Verbot …“ „Gut, naja“, räusperte sich Dolores, die letztes Jahr die 50 überschritten hatte, jedoch um einiges älter wirkte, huschte nach vor und sagte: „Wie ihr wisst, gibt es einige Neuerungen dieses Jahr … ja, und ich kann es leider nicht verhindern, auch wir bekommen Flüchtlingskinder herein. Lene, du hast bereits zwei. In die fünften Klassen werden in den nächsten Tagen noch einige kommen, so alles läuft, wie es soll. Auch mitten im Schuljahr werden immer wieder welche kommen – wann, fragt mich nicht … Aber es wird alle Klassen betreffen. Stellt euch also darauf ein – auch der Sprache wegen … Hat jemand zufällig von euch Arabisch im Sommer gelernt?“ Robert gab ein leises Brummen von sich, nahm seine Pfeife aus dem Mund und sagte: Na, wenigstens müssen meine Sprache alle Kinder gleichermaßen lernen.“ Es ging ein allgemeines Schnauben durch den Raum. Dolores sah indes nicht sehr amüsiert drein. Hat sie überhaupt ein wenig entspannen können im Sommer, fragte sich Lene. Oder hatte sie die ganze Zeit nur über die Veränderungen nachzugrübeln, die nun auch ihre Schule erreicht hatten? Zuzutrauen wäre es Dolores. Das wusste Lene. Sie war so eine. Im Grunde wie Lene selbst. Nur mit noch mehr Verantwortung beladen – eben mit der für eine ganze Schule. Robert hingehen machte sich um all das keine großen Gedanken. Er meinte, seine Zahlen an die Tafel schreiben zu können, um dann seine – selbstverständlich nicht angezündete – Pfeife aus dem Mund zu nehmen und auf die Rechnung zu deuten. Das verstanden die Kinder auch ohne Deutschkenntnisse. „Die Mathe verbindet“, hatte er noch vor den großen Ferien in einer ersten Lehrerkonferenz zum Thema Flüchtlingskinder erklärt. „Und was, wenn es an Textaufgaben geht?“, hatte ihn Lene da gefragt und er hatte in seiner ruhigen Manier geantwortet: „Dann gibt’s eben erst einmal keine – und den Rest besorgt ihr. Mein Fach ist dann der Gradmesser eurer Fähigkeiten.“ Lene hatte nur mit dem Kopf schütteln können. Bei jedem anderen wäre sie wohl ausgerastet, aber bei Robert, der ja eh bald Rentier werden würde, nahm sie sich zurück. Schließlich war er es auch gewesen, der sie ganz zu Anfang ihres Lehrerinnen-Daseins beiseite genommen und sie ein wenig gecoacht hatte. Die innere Lehrerin, auf die sie immer wieder zurückgreifen konnte, hatte sie neben Petra, auch ihm zu verdanken. Er hatte ihr auch gesagt, sie dürfe die Schüler ruhig in den Arm nehmen, wenn sie das bräuchten, sie müsse sich nicht scheuen. Das nenne er falsches Distanzgehabe. Immerhin seien es Kinder, kleine Kinder, die bräuchten ab und zu etwas Nähe, auch und gerade von der Lehrerin oder dem Lehrer … Ja, Robert war schon einer. Er wusste viel, ruhte sich jedoch bisweilen nur allzu gern auf seiner Erfahrung aus, gleichwohl man ihm nicht nachsagen konnte, dass er den Schulalltag mit einer Routine verglich. Nein, gerade er war es, der auch immer wieder neue und gute Gedanken in die Lehrerversammlungen einbrachte – wie etwa, dass die Kinder, wenn sie sich denn partout nicht konzentrieren konnten, einige Runden um den Hof laufen sollten. Frische Luft, körperliche Betätigung und dann ans Werk, hatte er einst gesagt und sich dann doch, wohl vollkommen vergessend, dass er sich im Schulhaus befand, die Pfeife anstecken wollen. Na, da war aber Dolores aufgesprungen und beinahe wäre es nicht zur Abstimmung und Anerkennung seines einfachen wie einleuchtenden Plans gekommen. „Man muss die Kinder erst einmal Kinder sein lassen. Es nützt ja nichts, wenn Unruhe herrscht“, hatte er hinzugefügt. Kapitel 26: Ja? --------------- Und dann stand Lene vor ihrer Klasse, der 6., die sie in diesem Jahr die Aufgabe hatte, auf die weiterführenden Schulen vorzubereiten. Doch im Grunde wusste sie schon, welche Empfehlung sie jedem Einzelnen am Ende des ersten Halbjahres überreichen würde. Da waren Hannah und Christoph, beide in der vorderen Reihe, jedoch je allein sitzend. Sie würden ebenso eine gymnasiale Empfehlung erhalten wie Susanne, auch wenn diese nie den Mund auftat. Und dass Ronja auf ein Spezialgymnasium für Höchstbegabte gehen würde, stand ebenso fest. Für Matthias, Merten und Enrico, Sophia, Luca und all die anderen würde sie die Sekundarschule empfehlen – bei einigen von ihnen wusste sie, dass das Abitur machbar wäre, bei anderen zweifelte sie. Und es waren gerade diese Fälle, die sie sich freute, endlich loszuwerden, denn gerade hier waren es die Eltern, die auf eine gymnasiale Empfehlung drängten, wie etwa bei Jenny, die zwar eine wunderschöne Schrift besaß und ebenso viel Fleiß zeigte, doch eben kaum eigene Gedanken produzierte. Und da war noch Sascha … oh, dieser Sascha, der hatte sich an diesem Morgen ausgerechnet neben Susanne gesetzt, wohl, weil er wusste, dass er von ihr abschreiben konnte, wenn es bei ihm einmal wieder nicht langte. Lene hatte zu Beginn des 5. Schuljahres schnell durchschaut, dass sich Sascha – ganz im Gegensatz zu seinen Eltern – recht gut einschätzen konnte. Und um die nicht zu enttäuschen, versuchte er mit besseren Schülern, vor allem Schülerinnen, anzubandeln. Nun war es eben Susanne, die das Opfer seiner Avancen werden sollte … Und das alles nur, um seinen Eltern zu gefallen und ihnen den Sohn zu präsentieren, den sie wollten. Im Grunde konnte er ihr leidtun, dieser blonde große Kerl. Sie würde wohl einen harten Kampf mit den Eltern auszufechten haben, wenn sie ehrlich wäre … wenn, denn, wie ihr Petra einmal sagte, seien Notlügen durchaus erlaubt, um sich allzu aufdringliche Eltern vom Leib zu halten … Tja, blieben noch die beiden Neuen, würden sie das Klassenziel überhaupt erreichen? Das fragte sie sich, stutzte und ließ ihren Blick noch einmal über ihre Rasselbande gleiten: wo waren die Neuen überhaupt? Sie wollte schon auf und zu Dolores hinunter in die erste Etage, um sie zu fragen, was nun sei, warum die Neuen nicht in ihrer Klasse säßen, als ihr Handy ein kaum überhörbares Brummen von sich gab. Zuerst versuchte sie es zu ignorieren, doch es brummte erneut und ihr war klar, eine Nachricht war eingegangen. Und so, als müsste sie sich ihrer Klasse gegenüber rechtfertigen, murmelte sie: „Bitte entschuldigt, es kann wichtig sein.“ Warum sie das sagte, wusste sie nicht, denn im Grunde galt auch für sie das Handyverbot während der Stunde. Nur in Ausnahmefällen war es dem Lehrer oder der Lehrerin gestattet, das Handy zu nutzen. Das sollte, so hatte es die Lehrerkonferenz festgelegt, eine Vorbildfunktion für die Schüler haben, die ja beinahe nicht mehr ohne konnten. Da sollte wenigstens die Schule eine handyfreie Zone sein. Doch nun hatte ihres gebrummt, weil sie vergessen hatte, es auszustellen. Vorhin. Im Lehrerzimmer. Und nun stand sie da – schon mit dem Telefon in der Hand, begab sich zum Fenster, öffnete es, lehnte sich etwas hinaus, holte tief Luft, sah, dass sie eine Mail erhalten hatte, überlegte kurz, ob sie sie öffnen sollte und entschied sich, einem inneren Drängen folgend, dafür. Lene, ich bin dazu ausgebildet worden, die großen Fragen der Menschheit anzugehen und kann noch nicht einmal meine eigenen beantworten. Seit einer Stunde schon starre ich auf den Bildschirm meines PC. Die Mail an dich ist geöffnet, doch ich weiß nicht, wie beginnen. Seit unserem Auseinandergehen auf dem Bahnhof Hamburg-Altona vor vier Tagen haben wir uns weder gesehen, gesprochen, gelesen. Am Freitagabend findet die Premiere einer neuen Inszenierung der Zauberflöte in der Staatsoper statt. Würdest du mir die Freude bereiten, dich dorthin einladen zu dürfen? Ich kann dir versichern, dass es eine wunderbare Inszenierung mit der weltberühmten Sopranistin Diana Damrau als Königin der Nacht sein wird. In Erwartung deiner Antwort Jakob Lenes Herz begann schneller zu schlagen und am liebsten hätte sie Jakob sofort geantwortet, doch das ging nicht. Die Pflicht. Und so stellte sie ihr Handy auf stumm, schaltete es schließlich ganz aus und wollte sich gerade wieder der Klasse zuwenden, als sie plötzlich mitten auf dem Schulhof ein braunhaariges Mädchen stehen sah – ganz allein. Es bedurfte nur eines Augenblickes und Lene war klar, wer dort wartete … „Sama?“, rief sie aus dem Fenster und erhielt als Antwort einen Blick, den sie nicht einordnen konnte. „Bist du Sama?“ Das Mädchen schwieg weiterhin und in Lenes Kopf begann es zu arbeiten. Was sollte sie, was konnte sie tun? „Philipp“, rief sie gedämpft, „komm mal bitte her.“ Er war der erste, der ihr, nun wieder halb der Klasse zugewandt, ins Auge gesprungen war. Sofort war der kleine blonde Junge bei ihr und sah sie fragend an. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, wandte sich dann vollends an die Klasse. „Da unten steht eure neue Mitschülerin Sama. Sie kommt aus Syrien. Sie ist sehr schüchtern, traut sich nicht hoch. Philipp, du“, wandte sie sich an den kleinen Jungen, „wirst hier am Fenster bleiben und mit ihr reden, während ich nach unten gehe und sie hole. Klar?“ Philipp nickte. Er war eigentlich der Clown der Klasse, doch kannte Lene ihn auch als einen sehr empathischen Jungen. „Ruf sie beim Namen. Aber nicht zu laut.“ Wieder nickte er. „Und ihr anderen verhaltet euch still. Ist das klar?“ Seltsamerweise gab es kein Gemurr. „Danke“, sagte sie. „Nur Philipp darf, denn wir wollen sie nicht verschrecken. Nun los Philipp …“ Sie gab ihm ein Zeichen. Er folgte ihrer Geste und dann hörte sie ihn plötzlich rufen: „Hallo, ich bin Philipp und du, bist Sama?“ Innerlich dankte sie dem Jungen für seinen wachen Verstand und stürmte dann aus dem Klassenzimmer, um ihren neuen Schützling vom Hof abzuholen. Doch kaum war sie unten, blickte sie, einer inneren Eingebung folgend, nach oben zum Fenster und wusste nicht, wie ihr geschah: da stand nicht nur Philipp, sondern fast die ganze Klasse hatte sich an den Fenstern versammelt und schweigend sahen die Kinder hinab. Einige hatten die Hand zum Gruß erhoben, andere lächelten nur. Lene konnte einen Moment lang gar nichts tun, außer nach oben zu schauen und Sama dann einfach die Hand hinzustrecken, die die Kleine tatsächlich auch nahm. „Ich bin Lene, deine Lehrerin“, sagte sie. „Und das da oben …“ Sie deutete zu den Fenstern hinauf. „… das sind deine Klassenkameraden. Das da ist Philipp und das da ist Merten und da, siehst du, da steht Ronja und …“ Sie unterbrach sich, fuhr sich mit der Hand über den Mund, winkte dann zu ihrer Klasse hinauf und wandte sich an Sama. „Magst du auch? Winken?“ Sie machte es ihr vor, doch die Kleine reagierte nicht und so fragte sie sie leise: „Und du bist Sama?“ Diese sah sie noch immer schweigend an – mit ihren großen braunen Augen. „Sama“, wiederholte Lene langsam und dann – sie wusste im ersten Moment nicht, ob sie sich verhört hatte, vernahm sie plötzlich ihren eigenen Namen. „Lene.“ Sie konnte nur nicken und lächeln und wieder nicken und schließlich ein kleines „Ja“, hervorbringen und die Hand des Kindes leicht drücken. „Ich bin Lene und du bist Sama.“ „Sama“, wiederholte das Kind und deutete auf sich, dann auf Lene und sagte: „Lene.“ Was war das für ein Moment! Die Frage, wo Amar geblieben war, stellte sich Lene in diesem Moment nicht. Später erfuhr sie von Dolores, dass er erkrankt sei und erst nächste Woche käme. Nun, erst einmal wollte sie Sama nach oben bringen. Als sie die Klasse zusammen mit dem Mädchen betrat, saßen die anderen Kinder schon wieder an ihren Plätzen. Ganz ruhig und sahen sie und Sama an. Lene konnte nicht anders als „Danke“ zu sagen. „Danke.“ Und sie beschloss, ihrer Klasse für ihr gutes Verhalten eine Überraschung zu bereiten. Das musste einfach sein. Das hatten sie sich alle verdient. Und als dann auch noch Ronja ungefragt aufstand und sagte: „Sama kann neben mir sitzen“, musste Lene doch sehr mit ihren Emotionen kämpfen. Dass an Unterricht nicht zu denken war, verstand sich von selbst. Lene teilte den Stundenplan aus, verteilte auch die bereits zurechtgelegten Klassensätze an Büchern für Geschichte und Biologie und wies die Kinder darauf hin, diese bis morgen einzuschlagen. Dabei huschte ihr Blick immer wieder nach hinten, in Ronjas Ecke, die, so meinte sie, Sama tatsächlich helfend zur Seite stand. Dieses stets ernste Mädchen kümmerte sich um den kleinen Neuling. Unwillkürlich musste sie schmunzeln. Erst in der großen Pause kam Lene dazu, sich der Mail von Jakob neuerlich zu widmen. Dass sie sich dafür eigens in den Kartenraum, den man auch von innen abschließen konnte, verzog, wurde ihr erst bewusst, als sie den Schlüssel im Schloss herumdrehte und sich auf einen Hocker sinken ließ. Lene, las sie nochmals ich bin dazu ausgebildet worden, die großen Fragen der Menschheit anzugehen und kann noch nicht einmal meine eigenen beantworten. Seit einer Stunde schon starre ich auf den Bildschirm meines PC. Die Mail an dich ist geöffnet, doch ich weiß nicht, wie beginnen. Wie hatte sie sich das vorzustellen? Er, in seinem Bürosessel, mit krummem Rücken vor seinem PC hockend, klickend und doch nicht wissend? Ach, Jakob, murmelte sie. Und dann schrieb sie: Jakob, und verzichtete damit ebenso wie er auf die doch so sehr förmlich wirkende Anrede Lieber. Vielen Dank für dieses wunderbare Gedicht von Rilke, das ich dem Wortlaut nach bereits vergessen hätte, wenn du es mir nicht zugesteckt hättest. Die Erinnerung an diese Momente, da du es mir zugeflüstert hast, bleiben jedoch. Auch ich möchte dich gern wiedersehen, aber zu der Premiere einer bereits im Voraus so gefeierten Inszenierung? Die Karten sind ausverkauft … Wie willst du, wie kannst du? Du siehst mich verwirrt … Sie unterbrach sich, las ihren Text noch einmal, fragte sich dann, ob er nicht zu viel Gefühl transportiere, da sie sich selbst noch gar nicht so sicher war, entschied sich jedoch, die Erinnerung an die Momente, da er ihr das Gedicht ins Ohr geflüstert hatte, nicht zu streichen. Und so schrieb sie weiter: Wir können uns doch auch auf ein gemeinsames Abendessen treffen. Was meinst du? In Erwartung deiner Antwort Lene Die Antwort kam mit dem Klingelzeichen zur nächsten Stunde, und auch wenn es sie zum Aufbruch trieb, las sie doch Jakobs Mail: Lene, warum nicht heute das gemeinsame Abendessen? Wenn du Zeit hast? Und darf ich deinen weiteren Zeilen entnehmen, dass du mich am Freitagabend begleiten würdest, wenn ich Karten hätte? Dann darf ich dir versichern, dass wir auf dem ersten Rang, erste Reihe Mitte sitzen werden. Zuvor gibt es eine Werkseinführung. Ich darf also mit deiner Anwesenheit auch an diesem Freitagabend rechnen? Dein Jakob, der nun, da er eine Mail von dir erhalten hat, beruhigt an die Fragen gehen kann, die ihn umtreiben, aber nicht berühren. Ps.: Lene, sag ‚Ja‘ zu heute Abend. Kapitel 27: Was für ein Tag! ---------------------------- Erst am Ende dieses Schultages kam Lene dazu, ihr Handy wieder anzuschalten, um Jakob auf seine Frage nach einem Treffen zu antworten. Doch gerade in diesem Moment lief ihr Ronja in die Arme. Diesmal ohne Sama. Beide Mädchen schienen sich zu verstehen. Ronja, das hatte Lene bereits in den Einführungsstunden beobachtet, sprach viel mit Sama – und, wenn diese etwas nicht verstand, was häufig genug der Fall war –, dann begann sie einfache Wörter zu gebrauchen und sie mit Gesten zu untermalen. Lene war klar, dass vor ihr selbst ein ganzes Stück Arbeit läge. Ob sie Sama auf den Übergang in eine weiterführende Schule würde vorbereiten können, war fraglich. Was sie jedoch positiv stimmte, war die Tatsache, dass Ronja sie in alles einwies, ihr alles zeigte, sie herumführte wie eine Patin es tat. Sehr gewissenhaft eben. „Danke“, sagte Lene. „Danke.“ „Wofür?“, fragte Ronja und sah ihre Lehrerin ernst an. „Na, dass du Sama unter deine Fittiche nimmst.“ „Ach das, ja …“, gab Ronja zurück und zuckte mit den Schultern. „Meine Eltern sagen zwar immer wieder, dass es nur Probleme geben werde mit den Flüchtlingen und dass man aufpassen solle …“ „Das sagen sie?“ Ronja nickte. „Und von welchen Probleme sprechen sie konkret?“ Ronja zuckte wieder mit den Schultern. „Sie sagen, dass es wohl schwer werde, sie zu integrieren. Ich denke aber, dass man dem entgegenkommen kann, indem man diesen Menschen hilft. Oder nicht?“ Lene sah Ronja einen Moment lang nur an, denn sie konnte nicht sofort reagieren. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Das Mädchen, das da vor ihr stand, war – ja, wieder erschreckte es sie, wie reif Ronja bereits war. So umsichtig, weitsichtig. Dieses 10jährige Mädchen: kleine, schmächtig, das Haar zu einem unordentlichen Zopfe gebunden. Eigentlich wirkte sie wie eine 8jährige und war doch im Kopf so rege wie manch Erwachsener nicht. „Deine Eltern sagen also …“, setzte Lene wieder an und Ronja nickte. „Ja, sie sagen, dass es Probleme geben könnte und dagegen möchte ich an, möchte etwas tun.“ „Das ist gut, sehr gut. Gerade diese Menschen, die Flüchtlinge, benötigen jetzt unsere Hilfe. Und wenn du dazu bereit bist, dich um Sama zu kümmern, dann denke ich, werden wir es schaffen, sie auch in die Klasse zu integrieren. Oder was meinst du?“ Ronja schwieg einen Moment lang, dann sagte sie: „Es ist wichtig, dass sich Sama in der Klasse wohlfühlt, ja, noch wichtiger ist es aber, dass sie und ihre Eltern das Leben in Deutschland kennenlernen und mit ihm vertraut gemacht werden. Aber dazu braucht es den Austausch. Leider habe ich heute noch nicht viel von ihr erfahren können, da ich kein Arabisch kann, aber das wird schon. Wir haben uns darauf geeinigt, dass sie es mir beibringt und ich ihr Deutsch. Und sobald wir über einen Grundwortschatz verfügen, wird sie auch mehr Vertrauen fassen. Da bin ich sicher. Derzeit ist sie allerdings noch sehr schüchtern.“ All das sagte Ronja so, als wäre es das Normalste von der Welt, dass ein Kind ihres Alters so dachte und sich auch so ausdrücken konnte. Lene befremdete das noch immer. Und so gern sie Ronja inzwischen auch hatte, spürte sie doch, dass gerade diese Reife einen nicht unerheblichen Abstand, ja einen Raum schuf, den Lene selbst immer wieder Gefahr lief, mit ihren eigenen Emotionen zu füllen. Bisweilen wusste sie in sich ein Gefühl der Unheimlichkeit aufkommen, wenn sie Ronja gegenüberstand. Ja, Ronja war ihr noch immer unheimlich, so, wie damals, als sie in der 5. Klasse nach der Stunde zu ihr nach vorn gekommen war und gesagt hatte, dass sie die Sterne in einen Raum jenseits allen Seins mitnehmen wollten. Und gleichzeitig spürte sie doch ins sich das Verlangen, dieses Mädchen einfach in ihre Arme zu ziehen, sie an sich zu drücken, ihr über den Kopf zu streichen, sie anzulächeln, auch wenn sie vielleicht niemals darauf reagieren würde. Ja, was Lene neben all dieser Ewachsenheit schreckte, war die Tatsache, dass Ronja, soweit sie sich erinnern konnte, bisher kein einziges Mal gelächelt hatte. Auch dies wäre ein Thema, worüber sie mit den Eltern sprechen könnte. Denn, woran lag es, dass Ronja niemals ein freudiges gar ausgelassenes Verhalten zeigte? War das wirklich nur ihrer Reife geschuldet? Aber sprachen nicht gerade die großen Philosophen davon, dass zur Lebensweisheit auch ein ordentliches Maß an Freude gehörte und eben auch die Fähigkeit, diese auszudrücken und auszuleben? Gut, wenn sie sich an ihre eigene Schulzeit erinnerte, dann hatte auch sie eine Phase durchlebt, in der sie kaum gelächelt geschweige denn gelacht hätte. Diese Emotionen hatte sie erst später zugelassen, als sie aus der Pubertät heraus war. Doch Ronja war noch weit von der körperlichen Umstellung entfernt – anders als einige ihrer Klassenkameradinnen. „Doch ich denke, dass sich die Schüchternheit tatsächlich legen wird, wenn sie erst einmal Deutsch kann“, hörte sie Ronja in ihre Gedanken hinein sagen und zwang sich, diesem Mädchen in die Augen zu sehen. Doch wieder überkam sie das seltsame verschreckende Gefühl, nicht zu wissen, wer da nun eigentlich vor ihr stand: ein Kind oder eine Erwachsene? „Ja“, setzte sie schließlich an, denn Ronja, das wusste sie, erwartete eine Reaktion von ihr. „Ja, ja, da hast du vollkommen recht. Integration beginnt bei der Sprache.“ „Nicht nur“, entgegnete Ronja, „aber auch.“ Nur mit Mühe konnte Lene ein Kopfschütteln unterdrücken, gar eine Geste, die ihren Gefühlszustand verraten hätte. Ronja sollte nicht spüren, wie verunsichert sie war – sie, als ihre Lehrerin hatte all das zu deckeln. Auch die Eltern hatten ihr geraten, normal mit ihr umzugehen und das bedeutete, sie wie eine Erwachsene zu behandeln. Und gleichzeitig musste sie sich immer wieder klar zu machen, dass Ronja mitnichten erwachsen war. Sie war ein Kind von 10 Jahren, ein kleines Mädchen, das sie niemals überfordern durfte – auch und gerade in Hinblick aufs Samas Betreuung nicht. Aber wie leicht es war, diese Kleine als Erwachsene zu betrachten und wie verlockend, ihr Aufgaben zu übertragen, die weit über das hinausgingen, was ein Kind ihres Alters fähig war anzugehen. Sich immer wieder bewusst zu machen, dass sie es noch mit einem Mädchen zu tun hatte, fiel Lene nicht immer leicht. Und so auch jetzt, da sie sich selbst daran erinnern musste, wie wichtig es war, Ronja zwar Verantwortung zu übertragen, sie dabei jedoch immer im Augen zu behalten – und das mehr noch als ihre Klassenkameraden. Dennoch war Lene davon überzeugt, dass diese Aufgabe auch Ronja zugutekäme, denn zuvor hatte sie sich stets ein wenig isoliert. Wenn sie nun aber mit Sama arbeiten würde, könnte das ihrem Ansehen in der Klasse nur helfen und ihre Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen weiterentwickeln. So dachte Lene und musste sich im nächsten Moment doch sehr zusammennehmen, Ronja nicht über den Kopf zu streichen. Stattdessen legte sie ihr die Hand auf die Schulter und nickte. „Ronja, ich danke dir nochmals, dass du dich um Sama kümmern möchtest. Aber bitte komm zu mir, wenn es Probleme gibt. Ja?“ Ronja nickte, sagte jedoch nichts. Drei Stunden später stand Lene Jakob am Bahnhof Friedrichstraße gegenüber, nahm seine Hand, sah ihm ins schmale Gesicht, bemerkte seine leicht zerstrubbelten, wohl vom Wind gekämmten Haare und legte ihm einfach ihre Arme um den Hals, ehe sie ihr Gesicht an seine Wange schmiegte. „Jakob“, murmelte sie und vernahm auch ihren Namen, so dicht an ihrem Ohr, dass sie sich noch enger an ihn schmiegte. Sie brauchte das jetzt, denn ihr war wieder so kalt wie vor fünf Tagen auf dem Sommerdeich. Nur war dieser Kälte diesmal kein Hitzeschauer vorausgegangen. Sie wusste nicht, was es war – vielleicht die Aufregung, ihn wiederzusehen? Die Freude? Sie spürte seine Hände in ihrem Rücken und seine Arme, wie sie sie umfingen. Und sie küsste ihn auf die Wange, hob dann den Kopf. „Jakob“, murmelte sie noch einmal, sah auf seine leicht geöffneten Lippen, reckte sich, doch er zuckte plötzlich zurück. „Was?“, hörte sie sich fragen. „Wir sollten nicht so eng beieinander sein“, erwiderte er und löste sich aus ihrer Umarmung. „Wieso?“ Sie war verwirrt. „Wir hätten uns gar nicht treffen sollen …“ „Wieso denn bloß? Du wolltest es doch auch …“ „Weil … weil …“, begann er zu drucksen, „ich … Lene, als deine Mail vorhin kam, da …“ Er unterbrach sich, griff sich an den Mund. „Jakob, was?“ „Lene, ich war so aufgeregt danach, dass ich … ich … ich glaube, ich hab …“ Wieder unterbrach er sich und sie sah ihn nur umso verwirrter an, schwieg jedoch und so fuhr er schließlich fort: „Lene, du darfst nichts Falsches von mir denken, aber ich glaube … ich neige zu Herpes. Und ich glaube … es kribbelt schon … und ich habe zwar schon etwas genommen dagegen, aber …“ Er senkte den Blick, sagte dann: „Wir sollten uns fernbleiben und dabei wollte ich doch …“ Lene wusste im ersten Moment nicht, wie sie reagieren sollte und so nahm sie nur seine Hände, drückte sie leicht, sagte dann ganz leis: „Das macht doch nichts.“ „Aber ich wollte dich … nun … küssen. Ich hatte es mir so fest vorgenommen und nun …“ „Jakob“, hörte sie sich nur sagen und wusste nicht, ob es Rührung war, die sie ihm gegenüber empfand. „Leidenschaft“, fuhr er da plötzlich auf, sah sie ganz ernst an und kam ihr wieder näher. „Ich würde dich gern so leidenschaftlich küssen, wie es ein Mann nur irgend kann.“ Lene konnte nur nach Luft schnappen, ihn ansehen. „Jakob“, sagte sie dann, „das … das wirst du und ich freue mich darauf.“ Und mit diesen Worten umfasste sie sein Gesicht, reckte sich und küsste ihn – ganz leicht und murmelte: „Aber nicht hier, nicht jetzt, und nun lass uns etwas essen gehen.“ „Ich kann jetzt nicht ans Essen denken“, entfuhr es ihm. „Du hast mich …“ Sie war ihm noch immer nah, spürte seinen Atem im Gesicht, erwiderte: „Ich brauchte das eben.“ Und mit diesen Worten küsste sie ihn noch einmal, nur diesmal schloss sie die Augen. Ihr war es in diesem Moment egal, was geschehen würde. Außerdem kannte sie diese Bläschen nur allzu gut und hatte eine Salbe daheim, die sie auftragen würde – zur Sicherheit. Hier und jetzt nun wollte sie ihn spüren. Seine Lippen, seine leichten Barstoppeln, seinen Atem. „Was für ein Tag!“, murmelte sie. Nur um ihn dann noch einmal zu küssen. Und diesmal zuckten auch seine Lippen und ein Blitz schoss ihr durch den Magen. Er begann auf ihren Kuss zu reagieren, langsam, tastend – und doch … „Jakob“, murmelte sie gegen seinen leicht geöffneten Mund, „das ist …“ Sie unterbrach sich, sah ihm in die Augen und fuhr ihm durchs Haar. „Lass uns ein paar Schritte gehen“, kam es prompt von ihm und sie nickte. Kapitel 28: So lang wie es geht ------------------------------- Ja, und das taten sie auch, gingen, zuerst die belebte Friedrichstraße hinauf in Richtung der Linden. Und da sie immer wieder anderen Menschen ausweichen mussten, lief er mal vor ihr, mal hinter. Und wann immer er das tat, war sie versucht, sich nach ihm umzudrehen, stehenzubleiben, ihn herankommen zu lassen, um dann seine Hände zu nehmen. Aber bei all den Menschen, die sie umgaben, war das schwer. Erst als sie auf die Linden einbogen, hatten sie ein wenig Ruhe. „Wohin?“, fragte er leise. „Zum Dom oder zum Brandenburger Tor?“ Sie sah ihn einen Moment lang an, sagte dann: „Zum Brandenburger Tor.“ Er nickte, nahm ihre Hand und gemeinsam liefen sie weiter. Gen Westen, der untergehenden Sonne zu. Einige ihrer Strahlen glitten bereits durchs Tor, ließen es golden erscheinen. Und so beschleunigte sie ihre Schritte und zog Jakob mit sich. „Komm“, sagte sie, „komm, mich zieht’s dahin.“ „Wieso?“, wollte er wissen, passte jedoch sein Tempo dem ihren an. Sie wandte sich kurz an ihn, lächelte, sagte: „Erst seit der Wende ist es uns Ostdeutschen erlaubt, dieses Tor zu durchqueren.“ „Na ja, da verlief eben die Grenze“, erwiderte er. „Ja, das Tor stand im Niemandsland. Wir durften nicht durch, konnten es nur von Ferne ansehen.“ „Und nun willst du durch?“ Sie nickte. „Manchmal treibt’s mich geradezu dahin, um zu sehen, ob es noch möglich ist. Ob die Grenze nicht doch wieder steht.“ Er schwieg einen Moment lang, wusste wohl nichts zu erwidern, sagte dann jedoch unvermittelt: „Klingt romantisch.“ „Was? Eher verrückt, oder?“, entgegnete sie. „Oder … Ich weiß nicht. Es ist einfach wichtig für mich. Als damals zum 20. Jahrestag des Beitritts der DDR zur BRD die übergroßen Puppen aus Frankreich hier waren: Onkel und Nichte … da war das … es war … Ja, der Onkel kam aus dem Osten, die Nichte aus dem Westen. Und hier am Brandenburger Tor trafen sie sich. Hier auf dem Pariser Platz. Hier übernachteten sie auch …“ Lene geriet ins Stammeln, senkte den Blick, murmelte dann: „Das war für mich nicht nur ein Schauspiel, das war irgendwie …Nenne ich’s ergreifend, dann klingt es nach nichts.“ Er schwieg, sah sie nur an – er mit seinem zerstrubbelten Haar. Sie musste lächeln, fragte: „Wie hast du all das erlebt? Den Mauerfall, den Beitritt?“ Er zuckte mit den Schultern, sagte: „Ich war ja drüben, habe mich allerdings für euch gefreut. Ihr, nun frei …“ „Ja, frei, frei, das waren wir fortan.“ Sie gingen weiter, dem Tor entgegen. Ab und zu blinzelte Lene in die durch das Tor tretenden Sonnenstrahlen. „Ich habe mich immer wieder gefragt, was ich damals unter Freiheit verstanden hatte“, fuhr sie fort. „Und?“ Nun war sie es, die mit den Schultern zuckte. „Ich war damals 15, als die Mauer fiel. 15. Noch keine Ahnung von nichts. Zwar wusste ich, dass es in Leipzig und später auch hier in Berlin und anderen Städten der ehemaligen DDR Montagsdemonstrationen gegeben hat, aber mir war doch nicht klar, warum diese Menschen auf die Straße gegangen waren – warum wirklich …“ „Weil sie die Macht endlich beim Volk, bei sich sehen wollten“, erwiderte er. „Deswegen skandierten sie Wir sind das Volk! Deine Landsleute sahen sich von der Politik-Elite bevormundet, verraten, verkauft, unterdrückt – das war keine Demokratie dort bei euch, sondern eine Diktatur.“ Lene nickte, sagte dann: „Ja, aber ich … ich war so unpolitisch. Mir war das nicht klar. Der Staatsbürgerkundeunterricht, den saß man ab, nickte, gab Antworten. Selber denken? Nein. Daher … was mich umtrieb, waren damals nicht die großen Fragen nach der Demokratie, sondern für mich beschränkte sich die Freiheit auf Reisefreiheit. Einzig darauf.“ Sie sah Jakob an. Er hatte wieder den Mund verzogen und sagte dann: „Ein wenig muss sich all das, was gerade jetzt in Deutschland geschieht für dich, für euch alle, die ihr aus dem Osten kommt, wieder so anfühlen wie damals in der DDR.“ „Was? Wie meinst du?“ „Na, die Regierung … handelt sie noch demokratisch? Also in deinem und in meinem Sinne?“ „Wir leben in einer Demokratie“, erwiderte sie. „Ja, dem Namen nach ist es eine Demokratie, aber haben wir wirklich noch die Herrschaft des Volkes?“ Sie sah ihn wieder an, runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. Sie fühlte sich plötzlich müde, weil sie spürte, dass er sie in eine Diskussion verwickeln wollte. „Denn, überleg doch mal“, fuhr er fort, „die Eliten im Bundestag und hier, wir, das Volk ... Demokratie?“ „Ach, Jakob“, entfuhr es ihr, „im Moment möchte ich über solche Dinge nicht nachdenken.“ „Aber du bist Geschichtslehrerin, da sollten dich solche Fragen …“ „Ja, sie interessieren mich auch“, unterbrach sie ihn, „aber nicht jetzt. Heute war der erste Schultag nach den Ferien. Und es war sehr turbulent, chaotisch – noch dazu haben ich zwei Neue in die Klasse bekommen. Flüchtlingskinder.“ „So?“ Sie nickte. „Ja, und deswegen habe ich mich auf den heutigen Abend gefreut.“ Sie sah ihn noch immer an, er aber schlug den Blick nieder. „Jakob, wir werden ganz bald auch über dieses Thema reden. Aber der Abend soll uns gehören, dir, mir – uns beiden. Ich möchte es einfach genießen, mit dir zusammen zu sein. Lass uns meinetwegen noch ein wenig laufen, durchs Tor und zur Siegessäule, dann einen Bus nehmen und irgendwo hinfahren. Mir egal …“ „Dir egal?“, fragte er und sah sie wieder an. Sie nickte. „Sieh mal, ich war noch nie auf der Siegelsäule, zumindest nicht bei Sonnenuntergang. Warum nicht jetzt?“ „Wenn du das möchtest …“ Und so gingen sie weiter, dem Tor entgegen, durch das die Sonne noch immer ihr Licht sandte. Eine Weile lang schwiegen sie, ehe er sich plötzlich an sie wandte: „Und was, wenn ich nun tatsächlich Herpes habe?“ „Dann habe ich es wohl auch“, entgegnete sie schulterzuckend, blieb stehen, nahm seine Hand und sah ihm in die Augen, lächelte. Er reagierte, indem er den Mund verzog und einen Moment lang sah er so aus, als hätte er keine Zähne mehr. Lächeln, das konnte er tatsächlich nicht. Und überhaupt: hatte sie ihn schon einmal richtig lachen sehen? Dass er den Kopf in den Nacken geworfen und ein lautes Hahaha von sich gegeben hätte? Wohl nicht, wenn sie nachdenken musste. Woran lag das? Konnte er nicht lachen? Gut, bisweilen wirkte er komisch auf sie – und um dem einen Namen zu geben, so war sie davon überzeugt, dass er autistische Züge besaß. Allerdings konnte er mit ihnen recht gut umgehen, eine Einschränkung für sein Leben – wenn man einmal von seiner bisherigen Unfähigkeit, Partnerschaften einzugehen, absah – stellten sie wohl nicht dar. Oder, er hatte gelernt, mit ihnen umzugehen. Und dass er nicht lächeln konnte … nun ja, damit kam sie ja jetzt schon klar. Auch dass ihr Herz vorhin schneller geschlagen hatte, als er ihren Kuss zu erwidern begonnen hatte, war ein gutes Zeichen. Sie wollte also mit ihm zusammensein, wollte seine Nähe tatsächlich genießen und wollte vor allem eines: mit ihm auf die Goldelse hinauf, um von dort oben den Sonnenuntergang zu beobachten. Dass sie das beide dann doch nicht taten, war wohl dem Umstand geschuldet, dass sie sich irgendwann, als sie sich auf der Straße des 17. Juli befanden, in den Tiergarten schlugen, dort eine Bank fanden und sich niederließen. Und da er seinen Arm auf die Lehne gelegt hatte, schmiegte sie sich einfach an ihn. Ihm schien das zu gefallen, denn er begann sie sacht an der Schulter zu streicheln. Sie sah zu ihm, sein Blick empfing sie. Wieder verzog er den Mund so, als hätte er keine Zähne im Mund. Aber das war ihr in diesem Moment herzlich egal. Sie hob die Hand, begann ihn ihrerseits an der Wange zu streicheln – auch bis hoch zur Schläfe, spürte seine Narben und sah, wie er, den Mund noch immer so seltsam verzogen, die Augen schloss. Sie wusste, dass ihm diese Berührungen gefielen und so setzte sie sich auf und ließ ihre Hand ein wenig tiefer gleiten, hinab zu seinem Hals bis hin zu seinem Kragenansatz. Er trug ein blassblaues Hemd und darunter ein schwarzes, enganliegendes und hoch geschlossenen T-Shirt. Einen Moment lang verharrten ihre Finger dort, ehe sie weiter hinabglitten – zu seiner Brust. Und auch mit der anderen Hand fuhr sie ihm über die Wange, hinab zum Hals. Dabei sah sie ihn an, bemerkte, wie er dieses seltsame Lächeln aufgegeben hatte, sich seine Gesichtszüge entspannten und er seinen Mund leicht öffnete. Sie stützte sich auf seiner Brust ab. Er war nicht hässlich. Keineswegs. Wenn er sich entspannte, dann wirkte er so verletzlich, sensibel, feinfühlig und ja, auch in gewisserweise schön. Sie strich ihm wieder über die Wange und just in dem Moment nahm er ihre Hand, öffnete die Augen, murmelte: „Helena …“ Sie schwieg, wollte diesen Augenblick, obwohl es ihr ankam, nicht zerstören. Wollte hier bei ihm sein, ihm in die Augen sehen, sich dann zu ihm hinabneigen, ihn küssen. Und diesmal reagierte er sofort. Wie ihr da war – sie konnte es nicht beschreiben. Doch spürte sie seine Lippen noch immer auf den ihren, als sie ihm schon längst wieder in die Augen sah, um sich dann an ihn zu schmiegen. So sitzen zu bleiben und dem Abend beim Werden beizuwohnen und doch nicht das Geringste mitzubekommen, sondern nur Jakob neben sich zu wissen – und diesen kleinen, fast im Vorbeigehen geschenkten Kuss immer und immer wieder zu durchleben. Er hatte reagiert. Wie gut das tat, wie schön das war. Ihr Herz schlug schnell und hart gegen ihre Rippen. Sie schloss die Augen und bettete ihren Kopf an seine Brust, lauschte und vernahm tatsächlich seinen Herzschlag, der auch recht schnell ging. Und dabei wusste sie seine Hand auf ihrem Haar, ihrer Stirn. Er streichelte sie und sie schlang ihre Arme um ihn, wollte nicht von ihm lassen – und musste es auch nicht. „Helena“, flüsterte er wieder und auch diesmal unterdrückte sie den Drang, zu ihm aufzusehen und ihm zu sagen, dass sie diesen Namen nicht mochte, dass er sie bitte Lene nennen solle. Nein, auch wenn es sie schmerzte, reagierte sie nicht, ließ ihn gewähren und fand auch, dass sich dieser Name, so, wie er ihn sagte, nicht schlecht anhörte, gar nicht schlecht. Und so verharrte sie, an seine Brust geschmiegt und schloss die Augen. Genießen, einfach nur genießen, das wollte sie. Eben hier, mit ihm auf der Bank sitzen bleiben, so lang, wie es ging. Kapitel 29: Helena ------------------ Am anderen Morgen erwachte sie mit einem Kribbeln in der Unterlippe. Sie fluchte leise, am Abend zuvor nicht mehr daran gedacht zu haben, sich die Heilsalbe prophylaktisch aufgetan zu haben. Ja, sie hatte es einfach vergessen – so euphorisch, wie sie sich gefühlt hatte. Denn zum ersten Mal seit langem spürte sie da wieder etwas in sich – ja, und was hatte es ihr eingebracht? Einen Herpes, der nun schnell der Behandlung bedurfte. Momente später stand sie im Bad, starrte sich im Spiegel an, fuhr sich mit den Fingern über die Unterlippe. Als Mädchen hatte sie sich zum ersten Mal angesteckt beim allzu sorglosen Küssen, damals noch Knutschen genannt, und nun? Tja, nun eben wieder. Gleichwohl gewarnt, hatte sie ihrem Bauch nachgegeben und nicht von Jakob, der Virenschleuder, lassen können. Sie gestattete sich ein Schmunzeln, obwohl ihr eigentlich gar nicht danach war. Und nun? Was nun? Sie wollte darüber nicht nachdenken. Denn so, als wären die sich leise ankündigenden Bläschen noch nicht genug, spürte sie ein nicht unerhebliches Spannen in den Brüsten. Je älter sie wurde, desto penetranter kündigte sich die Periode an. Und wenn sie dazu noch an diese impertinenten Hitzewallungen dachte, die nur darauf zu lauern schienen, sie in allen möglichen und unmöglichen Situationen zu überfallen, dann galt ihr der Tag gleichsam als wunderbar. Dass sie zwischendurch, während sie sich duschte, immer wieder an Jakob denken musste, machte es nicht besser. Gar nicht. Überhaupt nicht. Denn gerade unter der Dusche … Ach nee! Und dann kam’s noch dicker: was, wenn auch er an sie dachte, während er … Verständlich, dass sie sich an dieser Stelle unterbrach, denn sonst wäre zu all dem, was sie an diesem Morgen schon als lästig empfand, noch die Schamröte hinzugekommen und dann vielleicht eine Hitzewallung – und darauf hatte sie keine Lust. Absolut nicht. Obwohl ihre Gedanken bereits gestern Abend immer wieder in diese Richtung geeilt waren und sie sich Jakob, auch später beim gemeinsamen Essen, nackt oder zumindest mit freiem Oberkörper vorgestellt hatte. Dass sie ihn bereits in einem seiner sonderbaren Schlüpfersäcke gesehen hatte und wusste, dass er zu recht guter Unterarmbehaarung, allerdings auch zu einem winzigen Hühnerbrustansatz und einem kleinen Bauch neigte, machte es nicht besser … Gleichwohl dieser Schlüpfersack … wenn sie sich auf den nur recht stark und lang konzentrierte, würden die Phantasien doch irgendwann Adé sagen müssen. So dachte sie. Das Ende vom Lied aber war, dass sie diesen Sack einfach ausblendete und Jakob stattdessen in einen normalen Männerslip steckte. Ob weiß, ob schwarz … na ja, vielleicht wohl doch eher weiß. Schwarz war allzu verwegen – und Jakob war nicht der Typ Mann, dem schwarz stand, jedenfalls nicht untenrum, fand sie. Außerdem würde er wohl eher nicht die zu knappe Variante wählen – also doch den Schlüpfersack … Unwillkürlich musste sie schmunzeln und spürte sogleich wieder das Kribbeln in ihrer Unterlippe. So ein …! Aber was brachte es ihr, sich zu ärgern? Sie trug ja die Schuld daran. Hätte sie ihn nicht geküsst … bla bla bla … Sie würde es nachher Petra schreiben, damit die etwas zu lachen hätte. Zuerst aber tat sie sich reichlich Salbe auf die Lippe, betrachtete sich dann wieder im Spiegel und schüttelte den Kopf über sich selbst, nicht ohne doch wieder schmunzeln zu müssen. Und als sei das noch nicht genug, klingelte plötzlich das Telefon. Sie reagierte prompt, eilte in ihr Schlafzimmer, nahm den Hörer ab. „Laux.“ - Guten Morgen, Helena … Ihr stockte der Atem. Ihr Herz begann zu rasen. - Guten Morgen, Jakob. Schön, dass du anrufst, stieß sie hervor. Sie setzte sich auf ihr Bett, sah an sich herab. Himmel, sie war ja nackt! Nicht, dass sie das sonst gestört hätte bei Telefonaten – hier aber … Oh, wunderliche Natur, oh wunderliche Triebe. Sie hielt den Atem an, biss sich auf die Unterlippe, lauschte, doch am anderen Ende der Leitung blieb es still. - Jakob?, hörte sie sich schließlich fragen. - Helena …, kam’s von ihm und wieder baute sich etwas in ihr auf, das sie dazu drängte, ihm zu sagen, dass sie diesen Namen nicht mochte. Doch sie hielt sich zurück, biss sich nur wieder auf die Unterlippe und zog sich ihr Kopfkissen heran, um ihre Scham zu bedecken. Er könnte ja – obwohl er es gar nicht konnte. Aber, wer weiß, vielleicht konnte er es ja doch irgendwie fertigbringen, durch das Telefonkabel hindurch zu ihr zu linsen. Aber was sähe er dann? Doch nicht, dass sie hier säße und sich wie ein Mädchen gebärdete. Vielmehr sähe er ihr direkt … ja, direkt ins Ohr hinein und würde vielleicht vom darin befindlichen Schmalz überrollt werden … Auch kein sehr angenehmer Gedanken. Und helfen tat er ebenso wenig. Verdammt, sie spürte Jakob einfach so, als wäre er hier, stünde im Raum neben ihr. Und allein der Gedanke … Himmel, wie alt war sie? Und was, wenn auch er … Ach, das wollte sie sich nicht ausdenken. Und überdies: er war sicher schon an der Arbeit. - Ich sitze gerade auf meinem Bett, fuhr er prompt fort, ich bin gerade aufgewacht und da dachte ich mir … Nein, anders, ich habe von dir geträumt … und nun musste ich dich einfach anrufen, ehe ich unter die Dusche gehe … - Oh, ja? Ähm …, machte sie, ich war gerade duschen und nun will ich mich anziehen … Sie unterbrach sich, verzog den Mund und klopfte sich ein-zweimal mit der Faust gegen den Schädel. Was trieb sie denn hier? Warum sagte sie ihm das? - Oh, machte auch er, dann will ich nicht stören, aber … - Ach, du störst nicht, erwiderte sie. - So. Na ja … War es ihm auch peinlich? Es schien so. Sollte ihr das Erleichterung bringen? Ja? Das Gegenteil war der Fall. Denn schon packte sie wieder eine dieser Hitzeattacke und dazu spannten noch immer ihre Brüste. Und wenn sie daran dachte, dass er da auf seinem Bett saß, wohlmöglich nur leicht bekleidet … Schon wollt sie ihn fragen, was er denn trage. Ja, welche Farbe sein Pyjama hätte, denn sie konnte ihn sich gut in einem Pyjama vorstellen. Er war der Typ Mann, der keinen lumpigen Schlafanzug trug. - Ich wollte … also zuerst wollte ich dir einen Guten Morgen wünschen, kam’s wieder von ihm. Und dann wollte ich dir sagen, dass ich den gestrigen Abend sehr schön fand und ihn gern so schnell wie möglich wiederholen würde und dann … Er unterbrach sich, schwieg. - Jakob?, fragte sie und presste sich ihr Kopfkissen noch viel stärker gegen den Leib. - Ja, bitte hab einen Augenblick Geduld, mich friert, ich muss mir meinen Morgenmantel anziehen. - Wie? - Ja, ich bin … Lene kniff die Augen ganz fest zusammen. Ahnte, was er sagen wollte. Und tatsächlich: - Ich pflege nackt zu schlafen, kam’s prompt von ihm. Und dann: Das macht das Träumen authentischer. - Jakob, entfuhr es ihr. - Na, was? Ich bin schließlich auch nur ein Mann. Ihr blieb die Sprache weg. - Bin ich zu weit gegangen?, hörte sie ihn unvermittelt fragen. - Nein … nein, nein …, schnappte sie. - Hätte ich es nicht sagen sollen? War ich zu schnell? - Nein, nein, beeilte sie sich zu erwidern. - Aber, dass ich von dir geträumt habe, ist wahr. Doch es war kein Traum, wie ihn Männer bisweilen haben … Sie verdrehte die Augen und spürte, dass sie rot wurde – und das noch mehr, da sie sich bewusstmachen musste, dass er sie ja gar nicht sehen konnte. Und wenn doch, dann sah er ihr ja bloß ins Ohr … Nein, darüber konnte sie noch immer nicht lachen. Stattdessen stellte sie sich nun vor, dass … - Jakob, ich habe auch von dir geträumt, hörte sie sich da sagen und schlug die Hand vor den Mund, woraufhin ihre Unterlippe wieder zu kribbeln begann. - Und?, fragte Jakob. - Was, und?, schnappte sie. - Müssen wir uns schämen? Sie rieb sich die Augen. Himmel, was erzählte sie hier nur für einen Mist? Nie und nimmer hatte sie von ihm … - Nein, nein, wir sind nur Hand in Hand über eine Wiese … - Über den Sommerdeich? - Ja. Hand in Hand … - Schön … - Und dann haben wir uns in die Augen gesehen … Und du? Was hast du geträumt. - In meinem Traum saßen wir zusammen in der „Zauberflöte“ und plötzlich … Er unterbrach sich. - Was ist plötzlich geschehen?, fragte sie und reckte sich etwas über das Kissen, so als könnte sie ihn dadurch besser verstehen. - Nun, plötzlich, begann er, befanden wir uns beide auf der Bühne. Ich spielte Violine und du bist um mich herumgetanzt. Wir hatten beide Barock-Kleider an. Und du hast wunderschön in deinem Kleid ausgesehen. Lene blieb der Mund offenstehen. - Und dann, fuhr er fort, tanzten wir plötzlich gemeinsam. Aber ich weiß nicht mehr, ob es noch immer die „Zauberflöte“ war oder nicht eher „Figaros Hochzeit“. Jedenfalls hielten wir uns bei den Händen und tanzten. Und weißt du, es ging ganz leicht. Wir sprangen umher. Du, ich. Wir rannten über die Bühne, sprangen, rannten. Und dann eilte ich hinter dir her, aber ich bekam dich kaum zu greifen, denn du hast andauernd Haken geschlagen. Und wenn ich dich doch hatte, hast du dich nur umgedreht, gelacht und bist weiter, so als wolltest du mich nicht an dich heranlassen … Das machte mich irgendwie traurig. Und da habe ich irgendwann von dir abgelassen, habe mich mitten auf die Bühne gesetzt und habe die „Herrmannsschlacht“ von Kleist zu lesen begonnen. Er unterbrach sich und sie hörte, wie er Luft holte. - Und dann?, entfuhr es ihr. - Dann bist du zu mir gekommen, hast dich neben mich gesetzt, mir übers Haar gestrichen und mich geküsst. - Auf den …? - Ja, auf den, und dann hast du mich gefragt, warum ich die „Herrmannsschlacht“ lesen würde und dann bin ich erwacht … - Das hast du geträumt?, konnte sie nur erwidern. - Ja, und weißt du, es war so schön, wie wir miteinander tanzten, du, ich, wie wir umherrannten. Da habe ich gespürt … Helena … Wieder durchzuckte es sie, doch auch diesmal konnte sie sich dazu bringen, ruhig zu bleiben. Aber so, als erahnte er ihre Gedanken, fragte er: Ich darf dich doch nun ‚Helena‘ nennen? - Na ja …, setzte sie an. - Oder … ich möchte nichts falsch machen. Aber nachdem du mich gestern geküsst hast, als ich dich so nannte, dachte ich nun … Und wenn ich das so sagen darf: Du bist für mich Helena, nicht Lene. Bitte lass mich dich auch weiterhin so nennen. - Na ja … - Oder sag mir, was dich an diesem Namen stört. Ich denke, das sollte ich wissen, fuhr er fort. - Gut, aber nicht jetzt. Die Zeit … - Ja, ich weiß, die drängt. Ich hätte auch schon längst auf dem Weg sein sollen. Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du es, nun ja, auch hast … Schon wollte Lene fragen, was er meinte, als ihr ihre Unterlippe die Antwort gab und sie ein kleines: Hmmm herausbrachte. - Oh, das ist mir sehr peinlich. Wirklich. - Macht nichts. Und um der Peinlichkeit, sich wie zwei Teenager beieinander angesteckt zu haben, ein wenig zu entkommen, sagte sie: Es gibt ja gute Medikamente dagegen. Ich denke am Freitag sind wir wieder salonfähig. Er reagierte nicht sofort, gab dann ein kleines Schnauben von sich und sagte: Ich freue mich. Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich auf unseren gemeinsamen Opernbesuch freue. - Ich freue mich auch, Jakob. - Helena … Kapitel 30: Mitnichten ---------------------- Die Schule rief und Lene eilte. Bereits in der ersten Stunde hatte sie ihre Klasse, die 6, in Geschichte. Schon gestern hatte sie überlegt, ob die Sitzordnung, die die Schüler selbst gewählt hatten, tatsächlich sinnvoll war. Hannah und Christoph, neben Ronja und Susanne, die beiden Leistungsstärksten der Klasse, saßen vorn, während René, der Schwächsten einer in der hintersten Reihe saß. Das ging so nicht. Auch würde sie Ronja und Sama etwas weiter nach vorn holen. Und Sascha musste sich natürlich von Susanne verabschieden. Den wollte sie lieber neben Jenny setzen. Und Susanne, tja, die setzte sie erst einmal allein. Vielleicht, so überlegte sie, würde Amar bald ihr Banknachbar werden? Die Schüler gingen leicht murrend auf Lenes Pläne ein, schließlich hatten sie ja auch keine andere Wahl. Christoph und Hannah in die Mitte – ja, und beide zusammen. So hatte sie ihre beiden Streber, wie sie sie nannte, stets im Blick, denn sie wusste, dass es zu Konflikten kommen würde, da sie sich nicht sonderlich leiden konnten und vor allem miteinander um die besten Noten wetteiferten. Sollten sie. Lene war gespannt, wie lange sie das aushielten, wenn sie sich so unmittelbar miteinander konfrontiert sahen. Beide waren starke, jedoch vollkommen ich-bezogene, um nicht zu sagen egomane Persönlichkeiten, denen sie keineswegs einen schwächeren Schüler anvertrauen konnte. Sollten sie sich also aneinander die Hörner abstoßen und es lernen, so gut wie möglich miteinander auszukommen! Denn als zwar gute, aber eben auch asoziale Schüler wollte sie sie nicht von dieser Schule lassen. Natürlich würde sie ihnen dabei helfen, sich zu finden, und wenn sie sähe, dass es absolut nicht ginge, würde sie die beiden auch wieder trennen. Doch gerade jetzt, am Anfang des Schuljahres, setzte sie auf Konfrontation. Die Gefahr, dass einer den anderen unterbuttern und vielleicht sogar in den Leistungen drücken würde, bestand nicht. Und da die beiden es dringend lernen mussten, sich einander als gleichwertig zu respektieren, würden sie ihnen im Laufe des Schuljahres immer wieder Aufgaben zukommen lassen, die sie nur zu zweit lösen konnten. Lene musste sich das Schmunzeln verkneifen als sie die langen Gesichter der beiden sah. Aber auch Ronja warf ihr einen fragenden Blick zu, bedeutete jedoch Sama, ihr zu folgen, um sich mit ihr zusammen in die dritte Reihe zu setzen. Ja, dort am Fenster wusste sie die beiden gut. Auch Sascha hatte das Gesicht verzogen, als er sich Jenny näherte. Die allerdings machte ihm nur allzu gern den Platz neben sich frei. Und wieder musste sich Lene auf die Innenseite ihrer Wange beißen, um sich nichts anmerken zu lassen. Vielleicht, so ahnte sie, hatte sie Jenny mit ihrer Entscheidung in die Hände gespielt. Der Blick des Mädchens sprach jedenfalls Bände. Der Unterricht an sich verlief vorerst ohne Unterbrechungen. Lene hatte im letzten Jahr die Entwicklung des Menschen bis zu den frühen Hochkulturen in Mesopotamien, Ägypten und Anatolien durchgenommen – gleichwohl nur sehr stichpunktartig, wie es eben der Lehrplan vorsah. Leider. Und so war sie mit ihren Schülern noch nicht einmal im Pergamon-Museum oder im Ägyptischen Museum gewesen. Das wollte, das sollte sie nachholen – und zwar bald. Doch zunächst meinte sie, dass den Schülern eine Wiederholung guttäte. Also fragte sie sie, was Geschichte eigentlich sei. Zunächst blieb es still in der Klasse. Auch Ronja, die sicher wusste, worauf Lene hinauswollte, verhielt sich ruhig. Also holte sie noch ein wenig weiter aus, fragte, ob ihr jemand sagen könne, was der Unterschied zwischen einer Geschichte, einem Märchen, und dem Fach Geschichte sei. Wieder meldete sich niemand und sie vermutete, dass die Klasse vielleicht noch im Nachferiendämmer gefangen sei, bis sich plötzlich doch einer meldete. Es war Philipp. Ein wenig erleichtert nahm sie ihn heran und der Junge sagte: „Ich denke, dass wir vielleicht eine Gesprächsrunde machen könnten.“ Lene war erstaunt, wollte es sich aber nicht anmerken lassen, fragte: „Wieso?“ „Na ja, weil doch Sama neu in die Klasse gekommen ist. Vielleicht weiß sie ja noch gar nicht, wie alle heißen und außerdem wissen wir auch noch nicht sehr viel von ihr. Nur, dass sie aus Syrien kommt.“ Lene mühte sich um ein Lächeln, nickte dann. „Das ist eine sehr gute Idee, Philipp. Das hatte ich sowieso vor, allerdings erst, wenn Amar auch bei uns ist. Oder wie seht ihr es?“ Erst einmal blieb es still, doch dann meldete sich ausgerechnet Ronja. „Ich kann mich Philipp nur anschließen. Wir sollten uns alle zusammensetzen und Sama in unseren Reihen begrüßen. Sama ist damit auch einverstanden.“ Lene hatte gerade dies noch ein wenig hinauszögern wollen, da sie wusste, dass man die Neuankömmlinge so normal wie möglich behandeln und sie nicht mit Fragen konfrontieren solle, die sie wohlmöglich verunsichern könnten. Lieber im Stillen beobachten und abwarten. Wenn sie von selbst kämen und erzählten … Ja, aber gerade da lag ja der Hase im Pfeffer: wie sollte Sama denn erzählen, wenn sie Deutsch nicht konnte. Und, so fragte sich Lene, war es nicht auch ein wenig Feigheit ihrerseits, Sama erst einmal zu ignorieren? Hatten die Schüler nicht recht und auch ein Recht darauf, zu erfahren, was mit Sama war? Klar, sie würde einspringen und moderieren müssen, wenn es aus dem Ruder liefe. Aber wollte sie sich nicht gerade davor drücken? Sie hatte doch keine Erfahrung mit traumatisierten Kinder – ebenso wenig mit deren Eltern, die sie in Bälde auch zu einem Elterngespräch hier in der Schule erwartete. Auch davor graute ihr ein wenig. Wie weit durfte, wie weit konnte sie gehen? Und was waren letztlich die Ziele für Sama und auch Amar dieses Jahr? Lene gab sich einen Ruck, sah Ronja in die Augen, spürte, dass das Kind darauf drängen würde und wusste ebenso, dass sie selbst sich nicht in Schweigen hüllen durfte, wenn die Klasse eine Vorstellungsrunde wünschte. Schließlich war sie nicht nur deren Lehrerin, sondern auch Betreuerin, jemand, der für den Zusammenhalt in der Klasse sorgen musste. „Ich möchte mal gerne wissen, warum sich ausgerechnet Ronja um Sama kümmern soll“, hörte sie Hannah in ihre Gedanken hinein fragen, sah auf und spürte ausgerechnet in diesem Moment wieder dieses Kribbeln in der Unterlippe. Nach der Stunde würde sie sich sofort wieder Salbe auftun müssen, um keine Bläschen aufkommen zu lassen. Diese Gedanken gestattete sie sich noch, ehe sie sich an Hannah wandte: „Das können wir gern nach der Stunde klären, Hannah, jetzt erst einmal räumt ihr bitte die Tische zur Seite und stellt die Stühle in einen Kreis. Beeilt euch, denn wir haben nicht mehr viel Zeit für …“ Im Grunde nannte sich so etwas Klassenleiterstunde, doch diesmal ging es nicht um Fragen, die das Klassenklima betrafen, sondern um Sama, die sich, das bemerkte Lene, doch sehr an Ronja hielt. Ja, sie machte ihr alles nach, half mit, die Tische zu verrücken. Und das schon am zweiten Tag ... Nein, sie musste sich dem Mädchen auch einzeln nähern. Spätestens kurz vor dem Elterngespräch, wenn möglich schon früher. Doch wie. Ganz normal? Mal eben so? Hallo Sama, kommst du mal kurz zu mir ... Sieben Minuten später, Lene hatte auf die Uhr gesehen, saßen sie alle in einem großen Kreis. Sama neben Ronja, Hannah nicht neben Christoph, Sascha dafür bei Susanne und Philipp links neben ihr. „Also“, begann Lene und rieb sich die kribbelnde Unterlippe. Keine Frage, es wurde nicht besser, eher schlechter. Sie wurde fast wahnsinnig. Wenn sie – und das war nur einer ihrer unzählig verqueren Gedanken heute Morgen – noch gleich eine Sexualkundestunde heranhängen würde und sich als rühmendes Beispiel anführte, nach dem Motto: Knutscht nicht jeden, den ihr seht, denn dann ist es schon zu spät … Ach, was war nur mit ihr los? Warum diese kindlich anmutende Stimmung? Jakob? Ja, er war der Grund. Aber an den durfte sie jetzt nicht denken, also fuhr sie sich noch einmal über den Mund und sagte: „Wie ihr alle wisst, sitzt jetzt Sama unter uns. Sie stammt ursprünglich aus Syrien …“ „Aus Aleppo oder auf Arabisch Ḥalab“, warf Ronja ein und wandte sich an Sama, die nickte. „Aleppo“, wiederholte Lene und mühte sich, keine Miene zu verziehen, doch in ihr begann es rumoren. Aleppo war in den letzten Monaten und Wochen nicht nur zum Sinnbild einer zerstören Stadt geworden, sondern gleichsam zum Symbol für den Krieg und den Terror im Nahen Osten. Tagtäglich las man in den Medien vom Leid und Elend der noch immer belagerten Stadt, las, dass Lebensmittel knapp wurden, die Medizinische Versorgung kaum oder gar nicht mehr gewährleistet war. Russen und Assads Truppen bombardierten gezielt Krankhäuser, zerstörten die Infrastruktur. Die Menschen lebten in den Ruinen ihrer Häuser, suchten in den Trümmern Schutz. Es drohten Krankheiten … und dann die vielen Leichen … All das schoss Lene durch den Kopf und sie wusste nicht, wie damit umgehen. Zwar hatten sie alle, die sie Lehrer an dieser Schule waren, eine Konferenz oder besser einen Workshop zu diesem Thema, dem Umgang mit traumatisierten Flüchtlingskindern gehabt, doch der nützte ihr jetzt gar nichts, da sie einerseits aller Augen auf sich gerichtet sah und andererseits nicht wusste, was konkret sie tun sollte. Und so fragte sie sich im ersten Moment allen Ernstes, ob es sinnvoll wäre, eine Karte aus dem Geographie-Zimmer zu holen, um den Kindern die Lage von Syrien und genauer, von Aleppo zu zeigen. Doch war das wirklich hilfreich? Lene fühlte sich in diesen Momenten, da ihr Blick über die Kinder ihrer Klasse ging, hilflos und von den an sie gestellten Erwartungen bedrängt. Als sie sich an diesem Abend mit Petra traf – sozusagen auf ein Feierabendbier –, war sie ob dieses Erlebnisses noch immer sehr erregt – und hatte, wie konnte es anders sein, auch vergessen sich die Lippe einzucremen, sodass sie nun das erste Bläschen spürte. Petra machte sie in ihrer unnachahmlich trockenen Art auch darauf aufmerksam, was sie ihr nicht übelnahm. Es berührte sie auch kaum, da sie gedanklich noch immer in der Klasse saß und sich um Worte ringen sah. „Sama kommt aus Syrien. In diesem Land herrscht seit Jahren Krieg. Sama und ihre Eltern sind geflüchtet – hierher, um in Frieden leben zu können.“ Das hatte sie gesagt und es dabei nicht gewagt, Sama in die Augen zu sehen. Sie wollte nicht wissen, ob die Kleine verstand, was sie sagte und fürchtete mehr noch deren Reaktion. Lene wusste, dass sie sich keineswegs korrekt verhielt, doch fühlte sie sich überfordert. Wie erklärt man Kindern das Elend eines Krieges, in dem Hunderte, Tausende abgeschlachtet und eine ganze Stadt zerstört wurde. Abgesehen vom menschlichen Leid schmerzte es sie auch, dass die Altstadt von Aleppo, die Zitadelle, der über 5000 Jahre alte Kern der Stadt ebenfalls zerstört war. Vor Jahren hatte sie eine Reise nach Syrien gemacht. Vor Jahren … Sie war durch den alten Suq gelaufen, hatte sich schwarzen Tee gekauft und ein soganntes Arafat-Tuch … „Ich denke, dass du richtig reagiert hast“, hörte sie Petra in ihre Gedanken hinein sagen. „Die Kinder wissen teilweise selber schon über den Krieg Bescheid und können damit umgehen, dass nun auch Flüchtlingskinder zu uns kommen. Wichtig ist, dass man es ihnen sagt, aber wichtig ist es eben auch, so normal wie möglich weiter zu machen. Wenn Sama Sprachschwierigkeiten hat, sollte sie am Nachmittag unbedingt gesondert Deutsch lernen. Gibt es so etwas schon an euer Schule?“ Lene biss sich auf die Unterlippe, ließ jedoch ebenso schnell wieder davon ab, denn ihre Lippe kribbelte zur Antwort besonders stark, und schüttelte den Kopf. „Dann muss das eingerichtet werden. Deutschunterricht. Und das möglichst eben nicht an irgendeiner anderen Schule, sondern bei euch. Und wenn sich niemand findet, warum auch immer, dann obliegt es dir …“ Petra sah Lene an, die den Blick senkte und sich die Augen rieb. Sie fühlte sich müde – und das bereits nach dem zweiten Arbeitstag. Da half auch der Gedanke an Jakob nicht. Jakob, der sie so schnell wie möglich wiedersehen wollte. Und am liebsten hätte sie von ihm erzählt. Aber das, so ahnte es Lene, wollte Petra im Moment nicht hören. Ihr ging es um die Kinder und darum, wie mit ihnen umzugehen sei. „Sei so normal wie möglich, blende deine eigenen Gedanken aus. Geh auf die Kinder ein. Du hast nur zwei in der Klasse, da sollte das machbar sein.“ Lene nickte. „Ich habe Ronja in der Klasse, ein hochintelligentes Kind. Beide Eltern Wissenschaftler, Physiker. Sie kümmert sich um Sama“, sagte sie. Petra nippte an ihrem Glas Bier, nickte. „Das ist gut, sehr gut. Wenn Sama auf Akzeptanz in der Klasse trifft, fällt es ihr leichter, Vertrauen aufzubauen. Aber auch du solltest sie niemals aus dem Blick lassen. Traumatisierte Kinder …“ Lene sah auf. „Ich habe Angst“, sagte sie leise. Petra nickte nur. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Was, wenn … ich kann das nicht …“ Petra nickte erneut. „Wenn du meinst, dass es dir aus dem Ruder läuft, dann …“ „Ach, du weißt, dass es das nicht ist …“, schnappte Lene, zog ihr Glas Bier heran, setzte es an, nahm einen Schluck. „Ich glaube, dass ich es einfach nicht mehr bringe.“ „Das ist doch Quatsch. Allerdings musst du dir Hilfe holen …“ „Ich habe Angst vor mir selbst“, fuhr Lene fort und starrt auf ihr Bierglas. „Angst …“ „Ja, ich verstehe“, entgegnete Petra. „Und gerade deswegen ist es besser …“ „Vor dem Unvorhersehbaren. Damals war es Ronja, jetzt Sama und bald noch Amar. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Ich fühle mich schon jetzt überfordert“, sprudelte es aus Lene heraus. „Umso wichtiger ist es doch, wenn dir ein Sozialpädagoge zur Seite sitzt“, sagte Petra und Lene sah sie an, schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich wirklich schon wieder soweit bin. Manchmal spüre ich eine Müdigkeit in mir, eine Abgeschlagenheit …“ Petra nickte und sagte dann: „Du musst differenzieren und dir klarmachen, dass Ängste, deine Ängste, normal sind. Aber du darfst sie nicht mit in den Unterricht tragen. Es sind deine Ängste, die erst einmal nichts mit der Situation in deiner Klasse zu tun haben.“ „Aber, was, wenn Sama, wenn …“ „Nein!“, erwiderte Petra. „Sama ist erst einmal Sama und du bist du. Wenn du spürst, dass du mit Sama nicht klarkommst, wenn sie dir zu entgleiten droht, hast du das Recht, dich an den Sozialpädagogen deiner Schule …“ „Wir haben ja gar keinen …“ Lene fing einen stirnrunzelnden Blick von Petra auf, zuckte mit den Schultern. „Brauchten wir bisher nicht.“ „Dann reg das an, besteh darauf. Ihr benötigt ganz dringend einen.“ Lene nickte. „Aber wichtig ist auch“, fuhr Petra fort, „dass du dir klar machst, dass deine eigenen Ängste nicht das Unterrichtsgeschehen dominieren dürfen. Und das, was du mir gesagt hast, klingt alles gut. Geh auf deine Klasse ein. Wenn deine Schüler einen Stuhlkreis wünschen, dann gib ihnen die Möglichkeit. Ich meine, die Kinder sind ja, je nachdem, aus was für einem Elternhaus sie kommen, ebenfalls mit dem Geschehen in der Welt konfrontiert. Da könnten sich unter Umständen ja auch Ängste aufbauen.“ „Und ich bin dann dafür da, ihnen zu sagen, dass sie keine zu haben bräuchten?“, schnappte Lene, doch Petra schüttelte den Kopf. „Lehrer zu sein ist noch nie leicht gewesen, jetzt, in dieser speziellen Situation wird viel von uns gefordert – keine Frage und uns obliegt es, weiter zu unterrichten und den Kindern zu erklären, was dort draußen in der Welt geschieht. Ja …“ Lene war auch nach dem Gespräch mit Petra noch immer aufgewühlt, versuchte sich allerdings immer wieder zu sagen, dass sie ihre Ängste tatsächlich nicht mit in die Klasse tragen durfte. Sicherlich hatte sie Angst – Angst vor der neuen Situation, dem Unvorhersehbaren. Richtig darauf vorbereitet worden war sie nicht. Aber wie sollte das auch gehen? Im Grunde galt nur, dass sie sich als Lehrerin zunächst neutral, aber eben aufgeschlossen zeigen sollte. Aber was, wenn Sama durch irgendeine Äußerung getriggert würde? So wie sie selbst dereinst … und, wie es schien, noch immer … An diesem Abend ging Lene sehr spät ins Bett – und das, obwohl die Müdigkeit groß war. Sie zündete sich eine Kerze an, setzte sich an ihren Küchentisch, sah in die Flamme. Lange, sehr lange. Und sie mühte sich dabei, an nichts zu denken, sondern ihre Gedanken kommen und gehen zu lassen. Das hatte sie gelernt – damals, in der Therapie. Und was hatte Petra ihr noch gesagt? Hab Geduld mit dir. Und dann, irgendwann, das Treffen ging bereits dem Ende entgegen, hatte sie ihr plötzlich dazu geraten, Jakob nicht ausgerechnet dann zu küssen, wenn er über kribbelnde Lippen klagte. Und sie solle ihn bloß nicht am Freitag küssen, ja, sich ihm nicht einmal nähern, sonst würde er sich wieder bei ihr anstecken und sie sich dann wieder bei ihm .... Das hatte die gute Petra gesagt, ohne die Miene zu verziehen und Lene hatte doch gespürt, wie sehr sie sich für sie freute. Gerade diese Gedanken, auch wenn sie sie nicht festhalten konnte, erfüllten Lene, machten sie glücklich. Ja, das Wissen darum, Jakob spätestens am Freitag wiederzusehen, ließ sie sogar lächeln. Und dann war da noch Ekke Nekkepenn, dieser kleine, aus Strandflieder und Sturm gewebte Kerl, in ihren Gedanken erschienen. Sie hatte ihn von der Hallig mitgebracht, um sich von ihm auch hier in Berlin Trost zukommen zu lassen. Trost, Kraft und das Wissen darum, dass sie, unabhängig davon, ob ihre Schule einen Sozialpädagogen einstellte oder nicht, doch wieder professionelle Hilfe in Anspruch nehmen sollte. Sie war mitnichten über alles hinweg. Kapitel 31: Wie zwei Säcke -------------------------- Wider Erwarten ging es Lene an den darauffolgenden Tagen besser, ja, sie verspürte sogar eine Art Freude, wenn sie vor ihre Klasse trat und all ihre Kinder vor sich sitzen sah. Da waren Hannah und Christoph, die sich natürlich noch immer nicht leiden mochten und nun, so schien es, ihr Heil darin suchten, sich, mehr als zuvor, im Unterricht zu beteiligen. Kaum stellte sie eine Frage, zeigten sie auf, das Ich, ich, ich nun gemeinschaftlich auf den Lippen. Lene gab sich indes Mühe, die beiden Kontrahenten im Kampf um ihre Aufmerksamkeit, zu ignorieren, beide, um sich eher Ronja und Sama zuzuwenden. Doch wie sie feststellen musste, bedurfte es hier nicht ihres Eingreifens. Ronja und Sama schienen sich nicht nur sehr gut zu verstehen, sondern so etwas wie freundschaftliche Bande zu knüpfen. Dennoch nahm sich Lene vor, mit beiden ab und an zu sprechen, einfach, um zu sehen, wie sie mit der Situation zurechtkamen und wie sich Sama entwickelte. Denn, dass die beiden ein wenig wie in ihrer eigenen Welt wirkten, konnte Lene nicht bestreiten. Hatte Ronja zuvor keine Freunde in der Klasse gehabt, so war es jetzt Sama, der sie ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte und sie so auch von der Klasse isolierte. Freilich konnte sie sich auch täuschen. Vielleicht war Sama ebenso geartet wie Ronja? Um dem auf den Grund zu gehen, musste sie mit beiden Mädchen sprechen – und sie eben auch niemals aus den Augen lassen. Ein wenig erinnerte sie all das an ihre schräge Aktion im Urlaub, da sie Jakob mit ihrem Feldstecher gefolgt war. Nur, er hatte es bemerkt; bei den beiden Mädchen musste sie sich deswegen umso mehr anstrengen, um den teilnehmenden, jedoch unsichtbaren Beobachter spielen zu können. Dass am Donnerstag plötzlich Amar in der Klasse auftauchte, brachte Lene vorerst auch nicht von ihrer soliden Stimmung ab, jedenfalls nicht gänzlich. Der Junge betrat die Klasse nach Unterrichtsbeginn, hatte weder Schulzeug noch eine Tasche dabei und wirkte allgemein so, als hätte er sich verirrt. Hinzukam, dass er wohl deutlich älter als 12 Jahre war. Lene schätzte ihn auf 15, wenn nicht gar 16. Das mochte einerseits an seiner Größe und bulligen Gestalt sowie an seiner bereits sehr tiefen Stimme liegen, andererseits aber auch an seinem starren, durchdringenden Blick, der ihr zu sagen schien: „Bleib mir bloß fern!“ Doch was blieb ihr, als ihn zu fragen, ob er Amar sei und ihm, als er nickte, die Hand zu reichen, die er jedoch nicht ergriff, und ihn trotzdem in der Klasse willkommen zu heißen. Zu Susanne setzte sie ihn nicht, denn sie bezweifelte, dass sich das stille Mädchen um ihn würde kümmern können. Und so blieb ihr nur, ihm vorerst den Platz ganz hinten in der Wandreihe zuzuweisen. Ein wenig schäbig kam sie sich dabei allerdings vor, erinnerte sie doch gerade dies an ihre eigene Schulzeit, als ihre Lehrerin einen der größten und auch aggressivsten Schüler ganz nach hinten gesetzt hatte. Wohl auch, weil sie ihn nicht in ihrer Nähe hatte haben wollen. Ja, auch von Amar ging etwas latent Bedrohliches aus. Das spürte sie sehr genau. Davon einmal abgesehen, dass er nicht der kleine Junge war, den sie erwartet hatte, störte sie sein starrer, ja, finsterer Blick, der ihr stets zu folgen schien. Und dann seine bullige Statur, für die er zweifelsohne nichts konnte. Aber das gepaart mit diesem Blick und seiner zur Schau getragenen Unwilligkeit. Wie er da schon hockte. Die Arme vor der massigen Brust verschränkt, die Beine übereinander geschlagen. Dazu dieses Starren ... Nein, es war ihr geradeso, als gäbe sich hier irgendein Typ von der Straße als Amar aus. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wollte sie diesen Kerl nicht in ihrer Klasse haben. Doch was sollte sie tun? Sich an Dolores wenden und sie bitten, ihn ihr wieder abzunehmen? Wo aber sollte er sonst hin? In der Pause dann versuchte sie sich zusammenzunehmen. Amar war Amar, ein Junge, der Schreckliches erlebt hatte – wie auch Sama. Beide mussten damit erst einmal fertig werden und gleichzeitig hier in Deutschland ankommen. Das war nicht leicht. Und wer weiß, was genau ihm widerfahren war … Doch mit ihm zu sprechen, das traute sie sich nicht. Zu sehr machte er ihr den Eindruck, von allem und allen Abstand halten zu wollen. Er hatte Grenzen gesetzt, wenn auch nonverbale, die sie nicht überschreiten würde. Die Klasse schien das ebenfalls zu spüren, denn sie ließen ihn in Ruhe. Der Freitag begann wie der Donnerstag geendet hatte – ruhig und gleichzeitig war Lene innerlich doch aufgewühlt, dass sie sogar bisweilen im Unterricht den Faden zu verlieren meinte, sich jedoch jedes Mal wieder zur Raison rief. Das geplante Treffen heute Abend mit Jakob ging ihr allerdings nicht aus dem Kopf. Der Gedanke daran, was sie anziehen konnte, trieb sie dazu, ihren heimischen Kleiderschrank vor ihrem inneren Auge zu durchmustern. Schließlich handelt es sich ja nicht um irgendeine Opernaufführung, sondern um eine Premiere, die obendrein schon im Vorfeld so hochgelobt worden und seit Wochen als ausverkauft galt. Wie hatte es Jakob da vollbringen können, überhaupt an Karten zu kommen? All diese Fragen schossen ihr durch den Kopf und sie war mehr als erleichtert, als die letzte Stunde dem Ende zuging. Sie schwor sich, dass sie sich nächste Woche um Amar kümmern, ja, wenigstens an ihn herantreten würde. Sie musste, schließlich war sie seine Lehrerin, ebenso wie die von René, Jenny, Sascha, Ronja, Christoph, Hannah, Susanne und all den anderen. Sie hatte sich ihm zuzuwenden, um ihm zu signalisieren, dass er willkommen sei. Am Abend dann ... oh, was war das für eine Aufregung! Zuerst hatte ihr das Kleid, das sie eigentlich hatte tragen wollen, nicht mehr gepasst. Und so musste sie sich eingestehen, dass sie wohl unbemerkt einige Pfunde zugelegt hatte, was sie noch zusätzlich irritierte. Doch Zeit, sich ihrer leisen Wut hinzugeben, hatte sie nicht. Die Uhr mahnte. Um 19 Uhr wollte sie sich mit Jakob am Hackeschen Markt treffen, besser am Dom und dann … Ach, sie griff sich an die Brust. War sie denn ein kleines Mädchen oder warum durchschauerte sie diese unbändige Aufregung? Konnte sie denn nicht einen, wenigstens einen einzigen klaren Gedanken fassen? Wieder durchmusterte sie ihren Kleiderschrank. Fand sich da nichts Passendes? Gar nichts? Einen Minirock konnte sie schlecht tragen. Eine Jeans? Unwillkürlich musste sie grinsen. Was für ein Schwachsinn! Ja, hatte sie denn nichts, was es sich zu tragen lohnte und diesem Ereignis angemessen war? Sie schüttelte den Kopf, leicht resigniert, und griff dann doch wieder zu ihrem Kleid. Wenn sie sich ein wenig Mühe gäbe … und so fett war sie ja nun auch noch nicht … sie musste eben den Bauch einziehen, aber die Brust durfte sie ebenso wenig rausstrecken, denn sonst … Na ja … Als sie endlich in diesem Kleid steckte und sich im Spiegel betrachtete, gefiel sie sich – zumindest ein wenig. Sie strich sich über den Bauch, und die Brüste. Es würde schon gehen, jedenfalls an diesem Abend. Schließlich zog sie ihre hochhackigen Schuhe an. Die pflegte sie sonst nicht zu tragen, sie mochte sie noch nicht einmal, doch für heute Abend waren sie wohl die richtige Wahl. Aber ob sie in ihnen überhaupt richtig laufen konnte, stand auf anderen Blättern. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, knickt prompt um, fluchte leise und fühlte sich augenblicklich wieder fett in ihrem Kleid, dessen Nähte doch sehr spannten. Na, das konnte ja was werden … Eine Stunde später stöckelte sie zum Dom, immer darauf bedacht, nicht wieder umzuknicken und gleichzeitig ja nicht zu viel Luft zu holen. Sie fühlte sich in diesem Moment schon mehr als unwohl, aber als sie dann Jakob von ferne sah, begann ihr Herz so zu rasen, dass sie wusste, was sie sogleich ereilen würde. Und richtig: da war sie auch schon – eine Hitzeattacke. Und nun? Sie musste ja weiter – zu Jakob, denn der hatte sich just in dem Augenblick, da sie innerlich zu verdampfen drohte, umgedreht. Sie sah noch, dass er ein Jackett trug und um den Hals einen Schal. Schon standen sie sich gegenüber. „Helena“, stieß er hervor und dann waren sie sich beide wieder so nah, ehe er von ihr abließ, sie bei den Händen nahm und betrachtete. „Du siehst“, setzte er dann an und verzog den Mund, „… so gut aus.“ „Du aber auch“, entgegnete sie, blies die Wangen auf und verwünschte diese Hitze. Am liebsten hätte sie sich hier und jetzt all ihre Kleider vom Leib gerissen, vor allem dieses enge Korsett, wie sie ihr Kleid nannte. „So habe ich dich noch nie gesehen“, fuhr er fort. Wieder kam er ihr näher, so nah, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Und dazu sein Blick … Sie zuckte leicht, als sie seinen Atem auf ihren Lippen spürte und es war ihr so, als schlügen Wellen über ihr zusammen, da sie ihre Arme um seinen Hals legte, ihm zuerst in die Augen sah und ihn dann auf die Wange küsste. Einmal, zweimal und dann – es durchfuhr sie, ebenso wie später an diesem Abend, als sie nebeneinander auf dem ersten Rang in der ersten Reihe saßen. Nur mit Mühe konnte sie sich beruhigen, um der Zauberflöte zu folgen. Er neben ihr … Ab und an gestattete sie sich einen Seitenblick auf ihn, sah, dass er, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände im Schoß gefaltet, doch viel entspannter in seinem Sessel saß als sie. Und offensichtlich war er ganz bei der Musik, dieser wunderbaren, leichten Musik. Wie konnte sie da nicht auch … sich konzentrieren … Sie wandte sich ab, holte tief Luft, schlug ebenfalls die Beine übereinander, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss kurz die Augen. Was aber war das nur, das sie dennoch trieb, sich an ihn zu lehnen, nur um sogleich seine Hand in der ihren zu wissen. Sie sah auf. Er lächelte, murmelte: „Helena“ und wandte sich dann wieder dem Geschehen auf der Bühne zu. Und so auch sie an seiner Schulter lehnend, aber keineswegs ruhiger. Sie schnappte erneut nach Luft, schloss wieder die Augen, hielt sie auch geschlossen, zwang sich, nur auf die Musik, den Gesang zu achten und alles andere auszublenden. Und es gelang – für eine Weile. Ja. Bis sie die ersten Takte der wohl berühmtesten aller Opern-Arien vernahm. Augenblicklich setzte sie sich gerade auf, sah diese einzigartige Sopranistin auf der Bühne, die die Königin der Nacht interpretierte. Und das so wunderbar – Worte konnten es nicht beschreiben … Und wieder begann ihr Herz zu rasen und sie reckte sich nach vorn, so als könne sie dadurch besser lauschen, bekäme dadurch viel mehr mit. Es war … Sie holte tief Luft, sah kurz zu Jakob hinüber, ob auch er … und ja, auch er … Doch als sich ihre Blicke trafen, da meinte sie … ja, sie musste noch einmal hinsehen … in seinen Augen standen Tränen. Tränen. Und er flüsterte, leicht schulterzuckend, so als müsse er sich dafür entschuldigen: „Es ist so schön. Diese Musik …nicht wahr?“ Sie nickte, wandte sich der Bühne zu, vernahm diese Töne, diese glasklaren Töne, sah wieder zu ihm. Eine Träne lief ihm die Wange hinab. „So schön“, wiederholte er ganz leise. Und sie, von einem inneren Drängen gepackt, sah ihm in die feucht glänzenden Augen, wischte ihm dann mit dem Daumen die Träne weg und flüsterte: „Du bist schön, Jakob.“ Er blinzelte, sie nickte. „Ja, das bist du“, und strich ihm neuerlich über die Wange, fuhr ihm dann durchs Haar, bis in den Nacken hinab, kam ihm näher und spürte plötzlich wieder seinen Atem auf ihren Lippen. Sie reckt sich leicht, schloss die Augen und ... Es war ein kleiner Kuss, ein winziges Fünkchen nur, doch Lene durchzuckte es, ihr Magen zog sich zusammen und es drängte sie, Jakob wieder anzusehen, ihm über die Wange zu streichen. Und am liebsten hätte sie es gehabt, wenn er sie noch einmal geküsst hätte. Doch hier in der Oper? Vor aller Augen? Unmöglich … Aber allein, dass er es getan hatte … dass er ... Sie lehnte sich wieder an seine Schulter und er nahm ihre Hand und … sie sah wieder auf, nur um tief Luft zu holen und seinen Duft, dieses leichte Parfum, in sich aufzunehmen und ihre Hand über seine Brust und seinen Bauch gleiten zu lassen. Vielleicht nannte man es Kuscheln, was sie hier taten, vielleicht, denn auch er lehnte sich an sie. Später standen sie sich vor der Oper gegenüber – bei den Händen haltend, jedoch nicht recht wissend, was nun. In Lenes Innerem rumorte es und so blieb ihr nur, ihm in die Augen zu schauen. Er hatte die Lippen zu einem seiner typischen Lächeln verzogen, bleckte jedoch nicht die Zähne. Und selbst wenn er’s getan hätte … selbst wenn … Sie strich ihm über die Wange, hörte sich dann sagen: „Ich würde mich freuen, wenn wir noch irgendwo etwas trink …“ „Möchtest du mit zu mir kommen?“, unterbrach er sie. Er hielt den Mund leicht geöffnet, wirkte plötzlich etwas unruhig, so als müsse er sich das, was er soeben gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Doch dann nickte er. „Möchtest du?“ Sie selbst war über seine Frage ebenso erschrocken, hatte sie doch nicht damit gerechnet. Ahnte sie, ja wusste sie, was das bedeutete, oder besser, bedeuten konnte? Und wollte sie das? Wenn sie einmal bei ihm war, würde sie an diesem Abend ganz sicher nicht mehr nach Hause fahren. Aber wenn sie jetzt … nein … „Möchtest du?“, hörte sie ihn erneut fragen und fühlte sich ob seines Blickes leicht verunsichert. „Morgen ist Samstag …“, fuhr er fort. Sie nickte. „Ist das ein Ja?“ Sie konnte nicht antworten, nickte nur wieder, biss sich dann auf die Unterlippe und wich seinem Blick aus. „Dann komm“, sagte er, nahm ihre Hand, wollte los. „Jakob“, murmelte sie. Sofort war er bei ihr. „Was?“ Ihr Herz flatterte und sie befürchtete, wieder von einer Hitzeattacke gepackt zu werden, als er sich leicht zu ihr hinabneigte und flüsterte: „Daheim wartet jemand auf dich.“ „Was? Wer?“ Er schmunzelte, schwieg jedoch. „Wer?“, drängte sie ihn. „Na, die Geige … Schon lang hat sie dich nicht mehr gesehen. Und wenn ich ehrlich bin, fragte ich dich auch nur ihretwegen.“ „Jakob …“ Er zog die Augenbrauen hoch und zuckte mit den Schultern. Dann legte er den Kopf schräg und sah sie einen Moment lang an. „Also?“ Wenig später saßen sie beide in der S-Bahn. Nebeneinander. Er hatte seinen Arm um sie gelegt, was ihr sehr gefiel, gleichwohl die Aufregung noch nicht von ihr gewichen war. Nie zuvor hatte sie sich so schnell darauf eingelassen, einem Mann nach Haus zu folgen. Noch nie … aber Jakob war anders als andere Männer. Der war … Sie holte tief Luft, legte ihm die Hand auf die Brust, schmiegte sich an ihn. Sie wollte sich, gerade wegen der Unruhe, die in ihr herrschte, ein wenig entspannen, als sie plötzlich eine Bewegung wahrnahm und leicht zurückschreckte. Ihr gegenüber hatten zwei Frauen platzgenommen: vollkommen in schwarz gekleidet und vollverschleiert. Einzig die Augen waren durch einen schmalen Schlitz sichtbar. Und Lene war es so, als werde sie von den beiden gemustert, angestarrt. Augenblicklich spürte sie ein seltsam ziehendes Gefühl in sich und wollte sich schon an Jakob wenden, als dieser ihr ins Ohr flüsterte: „Die hocken da wie zwei schwarze Säcke …“ Kapitel 32: Draußen auf den Stufen ---------------------------------- „Jakob …“, begehrte Lene ebenso leise auf, doch er unterbrach sie. „Aber es stimmt doch. Sieh sie dir doch nur an! Und du hast Angst.“ Sie nickte unmerklich. „Ich auch“, erwiderte er, packte ihre Hand, stand auf und zog sie mit sich auf einen anderen Vierersitz. „Es ist schlimm, dass man im eigenen Land Angst haben muss.“ „Na ja, im Grunde …“, setzte Lene an, „ist es nicht die Angst vor den Frauen – nur vor ihrer …“ „Verschleierung“, warf Jakob ein, schüttelte den Kopf und sagte dann: „Weiß ich, wer unter diesem Kittel steckt? Ob eine Frau oder ein Mann mit Sprengstoffgürtel?“ „Jakob“, hob sie wieder an. „Na, was denn? Entweder Sprengstoffgürtelträger oder sprechender Sack.“ „Wie bitte?“ „Schwarze sprechende Säcke sind das!“ Lene schwieg einen Moment, sah dann kurz zu den Frauen hinüber, die von all dem keine Notiz zu nehmen schienen. Auch deren Männer nicht, die sich nun zu ihnen gesetzt hatten. Ja, sie hatten sich noch nicht einmal umgewandt. Doch wenn Lene ganz ehrlich zu sich selbst war, dann musste sie Jakob recht geben: Wusste sie, wer sich unter diesem Vollschleier verbarg? Wusste sie es mit Sicherheit, wenn man nur die Augen sehen konnte? „Das fällt unter das Vermummungsverbot“, ereiferte sich Jakob, fuhr sich mit der Zunge mehrmals über die Lippen und ließ sich auf dem Sitz ihr gegenüber nieder. „Aber der Staat, der tut nichts dagegen.“ „Jakob“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen, da er lauter geworden war und sie befürchtete, dass die Frauen und vor allem deren Männer ihn wohlmöglich verstehen konnten. Doch er schien sich daraus nichts zu machen. „Der Staat“, fuhr er fort, „duldet das, duldet die Angst seiner Bürger. Was ist das für ein Staat, der … der seine Bürger nicht schützt?“ „Aber das ist doch deren Freiheit, so herumzulaufen, wie sie wollen“, entgegnete Lene. „Freiheit? Freiheit nennst du das? Religionsfreiheit wohlmöglich?“ Jakob verengte die Augen zu Schlitzen. Lene gefiel es nicht, wie er sie ansah. Es erinnerte sie zu sehr an die Szene im Wattenmeer. Und Angst packte sie wieder. „Ich sag dir etwas“, fuhr Jakob fort, „das da, das gehört ganz und gar nicht zu unserer Kultur und fällt auch nicht unter die Religionsfreiheit. Das ist pervers!“ „Jakob!“, schnappte sie. „Und perfide ist es, wie uns diese Regierung weismachen möchte, dass das hier ...“ Wieder fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. „Aber unsere Gesellschaft“, hielt sie so ruhig wie möglich dagegen, „sieht die Religionsfreiheit vor. Und solange diese Frauen nicht gegen unser Grundgesetz verstoßen …“ „Tun sie nicht? Nein?“, fuhr er auf, deutete mit den Zeigefinger auf die Frauen und funkelte Lene gleichzeitig an. Sie schwieg einen Moment, betrachtete Jakob, der die Arme nun vor der Brust verschränkte und die Beine übereinandergeschlug. Er wirkte ein wenig verknotet, wie er da so saß. „Ist der Islam wohlmöglich nur eine Religion? Ja?“ Die letzten Worte hatte er so laut ausgerufen, dass sich, so bemerkte es Lene durch einen Seitenblick, einige der Mitfahrenden nach ihnen umsahen. Ihr war das peinlich, sehr sogar, doch Jakob schien von all dem überhaupt keine Notiz zu nehmen, denn er hob plötzlich wieder den Zeigefinger und sagte: „Wenn du das glaubst, dann muss ich dir sagen, dass du nicht nur auf dem Holzweg bist, sondern einer Art von Meinungsbildung erlegen bist, die dazu beiträgt, unsere Demokratie zu zerstören. Die Leute, die so etwas proklamieren, dass der Islam nur eine Religion sei, sind ideologisch verblendet!“ Lene wagte es nicht, noch einmal zu den Mitreisenden hinüber zu sehen, mied jedoch auch Jakobs Blick. Sie war aufgeregt und gleichzeitig wie gelähmt. „Verblendet“, wiederholte er, „denn der Islam gehört nicht zu Deutschland. Hat er nie. Der Islam ist eine die Demokratie zerstörende gewaltbereite, menschenverachtende Ideologie. Und er nutzt die Freiheiten, die ihm die Demokratie bietet, um sie aus ihrem Inneren heraus zu zerstören …“ „Aber diese Frauen“, flüsterte Lene. Vergebens. Jakob hatte sich offensichtlich in Rage geredet. „Ich hasse es“, fuhr er auf, „überall und immer diese Kopftücher und Schleier zu sehen. Sie gehören ebenso wenig in unsere Kultur wie ...“ „Aber diese Frauen“, beharrte Lene und schielte hinüber zu den Frauen und deren Männern. Doch alle vier verhielten sich so, als würden sie von all dem nichts mitbekommen. Im Inneren dankte sie ihnen für ihre Zurückhaltung, denn den Gedanken daran, was wäre, wenn die Männer eingriffen, wollte sie nicht weiterdenken. Und also sagte sie etwas lauter: „Diese Frauen, die kannst du fragen, die wollen doch unsere Demokratie ganz sicher nicht zerstören.“ Jakob funkelte Lene an, schüttelte dann den Kopf und sagte: „Der oder die Einzelne ist es niemals – es ist diese gwaltbereite und menschenverachtende Ideologie des Islam, und vor allem das Establishment …“ „Welches Establishment?“ „Die Regierung, die es zulässt, dass solche Leute unkontrolliert herkommen und sich so verhalten dürfen, als wären sie noch immer in ihren Ländern, die Regierung, die es zulässt, dass diese Leute unsere Kultur nicht annehmen, dass sich Parallelgesellschaften auf dem Boden unseres Staates herausbilden, die unser Grundgesetz missachten, die Demokratie unterhöhlen. Der Islam ist keine Religion …“ Jakob sprach laut, sehr laut. Noch dazu war er rot im Gesicht und seine Augen funkelten. „Das ist …“ „Jakob“, stieß Lene hervor, „bitte, du unterhältst das ganze Abteil.“ „Na und?“, widersprach er barsch, „dann tue ich es eben. Alle sollen hören …“ „Aber niemand will es hören“, rief plötzlich ein anderer Fahrgast, der sich erhoben hatte und auf Jakob zutrat. „Sie? Was mischen Sie sich da ein?“, entgegnete Jakob und erhob sich nun, da ihm der andere so nah gekommen war. „Ich mische mich ein, weil Sie Stuss reden, Mann, und auch, weil sie diese beiden Frauen in einer Weise angegangen sind, die ich nicht dulde.“ „Ach, Sie dulden es nicht, dass ich die Wahrheit sage? Das ist ja interessant …“, entfuhr es Jakob. „Ja, Mann, weil wir in einer Demokratie leben. Hören Sie auf Ihre Freundin, Sie ... Wir leben in einer Demokratie“, fauchte der Mann. „Ach so? Tun wir das? Und warum wird es mir dann verboten, meine Meinung zu sagen?“, versetzte Jakob. „Ist es ist nicht im Grundgesetz verankert, das Recht auf …“ „Weil sie niemand hören will, Ihre freie Meinung. Und soll ich Ihnen auch sagen warum?“ Jakob schwieg einen Moment und der Mann fuhr fort: „Weil es absoluter Mist ist, den Sie da von sich geben.“ „Mist? Mist?“, prustete Jakob. „Nennen Sie die Wahrheit Mist?“ „Ja, Mist, denn was haben Ihnen diese Frauen getan?“ „Nichts, aber …“ „Sehen Sie. Also halten Sie endlich die Klappe und hören Sie auf …“ „… über den Islam herzuziehen?“, fragte Jakob dazwischen und das plötzlich so leise, dass der andere ihn verwirrt ansah. „Ja?“, fuhr er fort. „ist es das, was sie mir unterstellen möchten? Dass ich gegen den Islam hetze?“ Jakob sah den vor ihm stehenden Mann mit zu Schlitzen verengten Augen an. Er wirkte dabei ... – ja, Lene durchzuckte es wieder, denn dieses Bild erinnerte sie nur umso mehr an die Szene im Watt. Und am liebsten wäre sie davongerannt – weit weg. Aber das ging nicht. Und da sie es wusste, spürte sie wieder eine elende Hitze in sich aufsteigen. Sie musste etwas tun, agieren … Irgendetwas. „Jakob“, hörte sie sich schließlich selbst sagen, „bitte, hör auf.“ Augenblicklich wandte er sich um, den Unterkiefer vorgeschoben, die Zähne gefletscht. So sah er sie an. „Bitte lass mich, dieser Mann hier versteht nicht, worum es geht.“ „Hänfling“, kam’s von dem, „an Ihrer Stelle würde ich auf Ihre Freundin hören!“ „Wollen Sie mir etwa drohen?“ „Wenn’s anders nicht in Ihren Schädel reingeht …“ „Das könnt ihr, einem drohen“, zischte Jakob und schien ganz unbeeindruckt. „Nur das … Drohen, einem wohlmöglich noch Gewalt androhen …“ „Da Sie es sagen“, erwiderte der andere ebenso ungerührt, „solchen wie Ihnen kann man im Grunde nur mit Gewalt kommen. Aber keine Angst, an dir halbem Hemd mache ich mir nicht die Finger dreckig. Nicht jetzt. Aber wenn ich dich noch einmal erwische, wie du …“ „Wie ich was? Die Wahrheit sage?“, peitschte Jakob dazwischen, zuckte jedoch zurück, als ihm der Mann plötzlich näherkommend, den Zeigefinger unter die Nase hielt. „Pass auf Bürschchen, sonst nimmt es mit dir noch ein schlimmes Ende.“ Und mit diesen Worten wandte sich der Mann ab. Und Jakob ließ sich, ohne noch etwas zu sagen, auf seinen Sitz zurückfallen. Einen Moment lang schwieg er, suchte dann Lenes Blick, die nicht wusste, ob sie die Kommunikation mit ihm wollte. Sie wusste ja noch nicht einmal, ob es nicht besser wäre, an der nächsten Haltestelle auszusteigen und den Zug zurück zur Friedrichstraße zu nehmen, denn sie fühlte sich schlecht, fertig, müde und war doch gleichzeitig innerlich so unruhig, dass sie beinahe zu brennen meinte. Und würde Jakob jetzt auch nur ein Wort, ein einziges, an sie richten, dann würde sie … Sie rieb sich die Augen, zwang sich, an die Scheibe gepresst, nach draußen in die Nacht zu sehen. Einfach nur, um Ruhe zu finden. Jakob schwieg, so als erahnte er ihre Verwirrung – oder war er es in gleicher Weise, verwirrt? Ihr im Grunde in diesen Momenten egal. Vollkommen. Ihr war kalt und zugleich so heiß. Sie schnappte nach Luft, rieb sich die Stirn, wollte auf, als der Zug hielt und blieb doch sitzen. Irgendwann hörte sie Jakob sagen: „Schlachtensee, wir müssen raus.“ Er war aufgestanden, sah auf die hinab. Sie wusste es, spürte es, bemerkte auch seine Hand, die er ihr reichte. Sie hob mühsam den Kopf. „Komm“, sagte er, „wir müssen, wenn du noch immer möchtest.“ Wenn du noch immer möchtest … Sie fühlte sich fiebrig und von einer Schwere gepackt, der sie sich kaum erwehren konnte. Vor Stunden noch hatte sie mit ihm in der Oper gesessen und dieser wunderbaren Musik gelauscht, hatte sich an ihn geschmiegt, sich von ihm küssen lassen und sich gewünscht, der Kuss möge intensiver werden, ja, hatte sogar selbst daran gedacht, ihn zu bitten, sie nach Haus zu begleiten, um den Abend bei Kerzenschein und einem Glas Wein ausklingen zu lassen. Doch nun, nun fühlte sie sich in der Falle, ihm ausgeliefert – oder noch nicht einmal das … vielmehr von ihren eigenen Gefühlen verraten. Wieder schnappte sie nach Luft, erhob sich dann und stürmte, so schnell es ihre Stöckelschuhe zuließen, an ihm vorbei ins Freie, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Auf dem Bahnsteig blieb sie einen Moment lang stehen, sah dann gen Himmel, schüttelte den Kopf, ehe sie der Treppe entgegeneilte, Jakobs Rufe ignorierend. Sie brauchte das jetzt, laufen, auch wenn sie diese hochhackigen Dinger an ihren Füßen ganz kirre machten … Aber da sie den Weg zum See hinab kannte … Welch Ironie des Schicksals. Wie oft war sie schon hier gewesen, allein, um dem See Runde um Runde ihre Probleme anzuvertrauen. Sollte sie es als Zeichen nehmen? Ja? Sie wollte lachen, doch brachte sie es nicht fertig. Dafür klammerte sie sich am Geländer der Treppe fest, hielt den Kopf gesenkt, nahm Stufe um Stufe und fragte sich dabei, wie dämlich sie eigentlich sei, jetzt zum See zu wollen. Vernünftiger wäre es doch, den nächsten Zug gen Innenstadt zu nehmen. So aber … Sie hielt kurz inne. Schon war Jakob an ihrer Seite. Sie wusste seinen Blick auf sich gerichtet. Doch sie wollte ihn nicht erwidern. „Helena …“ „Nenn mich nicht Helena“, rief sie aufbrausend und bemerkte, dass er leicht zurückzuckte. Sie schüttelte wieder den Kopf, begann sich Luft zuzufächeln, wandte sich dann abrupt um, sah die Treppe hinauf. Wie leicht es wäre, wie leicht … „Lene“, hörte sie ihn da sagen und noch einmal: „Lene.“ Sie sah ihn an, wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht wie. Ihre Gedanken kreisten, ja tobten in ihrem Kopf – so sehr, dass ihr schwindlig wurde und sie sich auf die Treppenstufe setzen musste. Einen Moment noch stand er, ehe er sich neben ihr niederließ, die Knie umfassend. Er schwieg, sah sie nur an. Sie holte wieder tief Luft, lauschte. Der Gegenzug fuhr ein. Den würde sie nicht mehr schaffen. Der nächste käme erst in 20 Minuten. Also eine Taxe rufen? Ja? Wie viel würde die kosten? Da hörte sie plötzlich in ihre Gedanken hinein Jakob leise sagen: Wir wandeln in den Abendglanz den weißen Weg durch - Taxusbäume, du hast so tiefe, tiefe Träume und windest einen weißen Kranz. Komm, du bist müde. Kurze Rast: Du lächelst in die heißen Fernen, du lächelst zu den ersten Sternen, und ich weiß, dass du Schmerzen hast. Ich sehne mich so ... Du verstehst …“ Er unterbrach sich abrupt, räusperte sich, sagte: „Na ja.“ Sie hob den Blick, sah ihm in die Augen, sagte: „Das war wieder Rilke.“ Er nickte. „Den magst du?“ Wieder nickte er. „Schön und artig aufgesagt“, fuhr sie fort. Er nickte erneut. „Das konnte ich schon immer gut, Gedichte auswendig lernen.“ „Ich sehe es.“ „Mein Pfarrer und späterer Freund sagte mir immer wieder, wie wichtig es sei, Dinge auswendig zu lernen: Gedichte, Psalmen, ja ganze Texte, Philosophische Pamphlete, denn im Extremfall könne man sich, so er, nur auf das eigene Hirn verlassen …“ „Im Extremfall?“ Jakob nickte wieder, sagte: „Er war Inhaftierter des Regimes, in dem auch du groß geworden bist, saß …“ „… im Stasiknast?“ „… und wurde freigekauft, sollte ins Bundesgebiet, wollte aber hier in Berlin bleiben. Es war ein Glücksfall, dass wir uns über den Weg liefen. Er lehrte mich Rilke und die Freude an der Physik und Mathematik und dafür bin ich ihm dankbar. Er war mehr als ein Freund für mich – mehr, viel mehr, mein einziger Vertrauter“, sagte Jakob, erhob sich, sah auf Lene hinab, schwieg einen Moment. Dann sah sie seine Hand dicht vor ihrer Nase und hörte ihn sagen: „Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie hinheben über dich zu anderen Dingen?“ Sie sah auf, schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ „So komm mit mir, Lene. Komm mit mir. Bitte.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)