Der eine zählt des anderen Tassen von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 28: So lang wie es geht ------------------------------- Ja, und das taten sie auch, gingen, zuerst die belebte Friedrichstraße hinauf in Richtung der Linden. Und da sie immer wieder anderen Menschen ausweichen mussten, lief er mal vor ihr, mal hinter. Und wann immer er das tat, war sie versucht, sich nach ihm umzudrehen, stehenzubleiben, ihn herankommen zu lassen, um dann seine Hände zu nehmen. Aber bei all den Menschen, die sie umgaben, war das schwer. Erst als sie auf die Linden einbogen, hatten sie ein wenig Ruhe. „Wohin?“, fragte er leise. „Zum Dom oder zum Brandenburger Tor?“ Sie sah ihn einen Moment lang an, sagte dann: „Zum Brandenburger Tor.“ Er nickte, nahm ihre Hand und gemeinsam liefen sie weiter. Gen Westen, der untergehenden Sonne zu. Einige ihrer Strahlen glitten bereits durchs Tor, ließen es golden erscheinen. Und so beschleunigte sie ihre Schritte und zog Jakob mit sich. „Komm“, sagte sie, „komm, mich zieht’s dahin.“ „Wieso?“, wollte er wissen, passte jedoch sein Tempo dem ihren an. Sie wandte sich kurz an ihn, lächelte, sagte: „Erst seit der Wende ist es uns Ostdeutschen erlaubt, dieses Tor zu durchqueren.“ „Na ja, da verlief eben die Grenze“, erwiderte er. „Ja, das Tor stand im Niemandsland. Wir durften nicht durch, konnten es nur von Ferne ansehen.“ „Und nun willst du durch?“ Sie nickte. „Manchmal treibt’s mich geradezu dahin, um zu sehen, ob es noch möglich ist. Ob die Grenze nicht doch wieder steht.“ Er schwieg einen Moment lang, wusste wohl nichts zu erwidern, sagte dann jedoch unvermittelt: „Klingt romantisch.“ „Was? Eher verrückt, oder?“, entgegnete sie. „Oder … Ich weiß nicht. Es ist einfach wichtig für mich. Als damals zum 20. Jahrestag des Beitritts der DDR zur BRD die übergroßen Puppen aus Frankreich hier waren: Onkel und Nichte … da war das … es war … Ja, der Onkel kam aus dem Osten, die Nichte aus dem Westen. Und hier am Brandenburger Tor trafen sie sich. Hier auf dem Pariser Platz. Hier übernachteten sie auch …“ Lene geriet ins Stammeln, senkte den Blick, murmelte dann: „Das war für mich nicht nur ein Schauspiel, das war irgendwie …Nenne ich’s ergreifend, dann klingt es nach nichts.“ Er schwieg, sah sie nur an – er mit seinem zerstrubbelten Haar. Sie musste lächeln, fragte: „Wie hast du all das erlebt? Den Mauerfall, den Beitritt?“ Er zuckte mit den Schultern, sagte: „Ich war ja drüben, habe mich allerdings für euch gefreut. Ihr, nun frei …“ „Ja, frei, frei, das waren wir fortan.“ Sie gingen weiter, dem Tor entgegen. Ab und zu blinzelte Lene in die durch das Tor tretenden Sonnenstrahlen. „Ich habe mich immer wieder gefragt, was ich damals unter Freiheit verstanden hatte“, fuhr sie fort. „Und?“ Nun war sie es, die mit den Schultern zuckte. „Ich war damals 15, als die Mauer fiel. 15. Noch keine Ahnung von nichts. Zwar wusste ich, dass es in Leipzig und später auch hier in Berlin und anderen Städten der ehemaligen DDR Montagsdemonstrationen gegeben hat, aber mir war doch nicht klar, warum diese Menschen auf die Straße gegangen waren – warum wirklich …“ „Weil sie die Macht endlich beim Volk, bei sich sehen wollten“, erwiderte er. „Deswegen skandierten sie Wir sind das Volk! Deine Landsleute sahen sich von der Politik-Elite bevormundet, verraten, verkauft, unterdrückt – das war keine Demokratie dort bei euch, sondern eine Diktatur.“ Lene nickte, sagte dann: „Ja, aber ich … ich war so unpolitisch. Mir war das nicht klar. Der Staatsbürgerkundeunterricht, den saß man ab, nickte, gab Antworten. Selber denken? Nein. Daher … was mich umtrieb, waren damals nicht die großen Fragen nach der Demokratie, sondern für mich beschränkte sich die Freiheit auf Reisefreiheit. Einzig darauf.“ Sie sah Jakob an. Er hatte wieder den Mund verzogen und sagte dann: „Ein wenig muss sich all das, was gerade jetzt in Deutschland geschieht für dich, für euch alle, die ihr aus dem Osten kommt, wieder so anfühlen wie damals in der DDR.“ „Was? Wie meinst du?“ „Na, die Regierung … handelt sie noch demokratisch? Also in deinem und in meinem Sinne?“ „Wir leben in einer Demokratie“, erwiderte sie. „Ja, dem Namen nach ist es eine Demokratie, aber haben wir wirklich noch die Herrschaft des Volkes?“ Sie sah ihn wieder an, runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. Sie fühlte sich plötzlich müde, weil sie spürte, dass er sie in eine Diskussion verwickeln wollte. „Denn, überleg doch mal“, fuhr er fort, „die Eliten im Bundestag und hier, wir, das Volk ... Demokratie?“ „Ach, Jakob“, entfuhr es ihr, „im Moment möchte ich über solche Dinge nicht nachdenken.“ „Aber du bist Geschichtslehrerin, da sollten dich solche Fragen …“ „Ja, sie interessieren mich auch“, unterbrach sie ihn, „aber nicht jetzt. Heute war der erste Schultag nach den Ferien. Und es war sehr turbulent, chaotisch – noch dazu haben ich zwei Neue in die Klasse bekommen. Flüchtlingskinder.“ „So?“ Sie nickte. „Ja, und deswegen habe ich mich auf den heutigen Abend gefreut.“ Sie sah ihn noch immer an, er aber schlug den Blick nieder. „Jakob, wir werden ganz bald auch über dieses Thema reden. Aber der Abend soll uns gehören, dir, mir – uns beiden. Ich möchte es einfach genießen, mit dir zusammen zu sein. Lass uns meinetwegen noch ein wenig laufen, durchs Tor und zur Siegessäule, dann einen Bus nehmen und irgendwo hinfahren. Mir egal …“ „Dir egal?“, fragte er und sah sie wieder an. Sie nickte. „Sieh mal, ich war noch nie auf der Siegelsäule, zumindest nicht bei Sonnenuntergang. Warum nicht jetzt?“ „Wenn du das möchtest …“ Und so gingen sie weiter, dem Tor entgegen, durch das die Sonne noch immer ihr Licht sandte. Eine Weile lang schwiegen sie, ehe er sich plötzlich an sie wandte: „Und was, wenn ich nun tatsächlich Herpes habe?“ „Dann habe ich es wohl auch“, entgegnete sie schulterzuckend, blieb stehen, nahm seine Hand und sah ihm in die Augen, lächelte. Er reagierte, indem er den Mund verzog und einen Moment lang sah er so aus, als hätte er keine Zähne mehr. Lächeln, das konnte er tatsächlich nicht. Und überhaupt: hatte sie ihn schon einmal richtig lachen sehen? Dass er den Kopf in den Nacken geworfen und ein lautes Hahaha von sich gegeben hätte? Wohl nicht, wenn sie nachdenken musste. Woran lag das? Konnte er nicht lachen? Gut, bisweilen wirkte er komisch auf sie – und um dem einen Namen zu geben, so war sie davon überzeugt, dass er autistische Züge besaß. Allerdings konnte er mit ihnen recht gut umgehen, eine Einschränkung für sein Leben – wenn man einmal von seiner bisherigen Unfähigkeit, Partnerschaften einzugehen, absah – stellten sie wohl nicht dar. Oder, er hatte gelernt, mit ihnen umzugehen. Und dass er nicht lächeln konnte … nun ja, damit kam sie ja jetzt schon klar. Auch dass ihr Herz vorhin schneller geschlagen hatte, als er ihren Kuss zu erwidern begonnen hatte, war ein gutes Zeichen. Sie wollte also mit ihm zusammensein, wollte seine Nähe tatsächlich genießen und wollte vor allem eines: mit ihm auf die Goldelse hinauf, um von dort oben den Sonnenuntergang zu beobachten. Dass sie das beide dann doch nicht taten, war wohl dem Umstand geschuldet, dass sie sich irgendwann, als sie sich auf der Straße des 17. Juli befanden, in den Tiergarten schlugen, dort eine Bank fanden und sich niederließen. Und da er seinen Arm auf die Lehne gelegt hatte, schmiegte sie sich einfach an ihn. Ihm schien das zu gefallen, denn er begann sie sacht an der Schulter zu streicheln. Sie sah zu ihm, sein Blick empfing sie. Wieder verzog er den Mund so, als hätte er keine Zähne im Mund. Aber das war ihr in diesem Moment herzlich egal. Sie hob die Hand, begann ihn ihrerseits an der Wange zu streicheln – auch bis hoch zur Schläfe, spürte seine Narben und sah, wie er, den Mund noch immer so seltsam verzogen, die Augen schloss. Sie wusste, dass ihm diese Berührungen gefielen und so setzte sie sich auf und ließ ihre Hand ein wenig tiefer gleiten, hinab zu seinem Hals bis hin zu seinem Kragenansatz. Er trug ein blassblaues Hemd und darunter ein schwarzes, enganliegendes und hoch geschlossenen T-Shirt. Einen Moment lang verharrten ihre Finger dort, ehe sie weiter hinabglitten – zu seiner Brust. Und auch mit der anderen Hand fuhr sie ihm über die Wange, hinab zum Hals. Dabei sah sie ihn an, bemerkte, wie er dieses seltsame Lächeln aufgegeben hatte, sich seine Gesichtszüge entspannten und er seinen Mund leicht öffnete. Sie stützte sich auf seiner Brust ab. Er war nicht hässlich. Keineswegs. Wenn er sich entspannte, dann wirkte er so verletzlich, sensibel, feinfühlig und ja, auch in gewisserweise schön. Sie strich ihm wieder über die Wange und just in dem Moment nahm er ihre Hand, öffnete die Augen, murmelte: „Helena …“ Sie schwieg, wollte diesen Augenblick, obwohl es ihr ankam, nicht zerstören. Wollte hier bei ihm sein, ihm in die Augen sehen, sich dann zu ihm hinabneigen, ihn küssen. Und diesmal reagierte er sofort. Wie ihr da war – sie konnte es nicht beschreiben. Doch spürte sie seine Lippen noch immer auf den ihren, als sie ihm schon längst wieder in die Augen sah, um sich dann an ihn zu schmiegen. So sitzen zu bleiben und dem Abend beim Werden beizuwohnen und doch nicht das Geringste mitzubekommen, sondern nur Jakob neben sich zu wissen – und diesen kleinen, fast im Vorbeigehen geschenkten Kuss immer und immer wieder zu durchleben. Er hatte reagiert. Wie gut das tat, wie schön das war. Ihr Herz schlug schnell und hart gegen ihre Rippen. Sie schloss die Augen und bettete ihren Kopf an seine Brust, lauschte und vernahm tatsächlich seinen Herzschlag, der auch recht schnell ging. Und dabei wusste sie seine Hand auf ihrem Haar, ihrer Stirn. Er streichelte sie und sie schlang ihre Arme um ihn, wollte nicht von ihm lassen – und musste es auch nicht. „Helena“, flüsterte er wieder und auch diesmal unterdrückte sie den Drang, zu ihm aufzusehen und ihm zu sagen, dass sie diesen Namen nicht mochte, dass er sie bitte Lene nennen solle. Nein, auch wenn es sie schmerzte, reagierte sie nicht, ließ ihn gewähren und fand auch, dass sich dieser Name, so, wie er ihn sagte, nicht schlecht anhörte, gar nicht schlecht. Und so verharrte sie, an seine Brust geschmiegt und schloss die Augen. Genießen, einfach nur genießen, das wollte sie. Eben hier, mit ihm auf der Bank sitzen bleiben, so lang, wie es ging. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)