Der eine zählt des anderen Tassen von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 25: Alltag ------------------ Nun hatte sie der Alltag wieder. An diesem Montagmorgen um kurz nach 7. Noch gestern Abend hatte sie mit ihrer Freundin Petra telefoniert und ihr berichtet, was sie umtrieb. Natürlich war Jakob eines der Themen, wenn nicht gar das Thema, gewesen. Und wenn sie es sich jetzt so überlegte, war’s einfach komisch gewesen, wie all das mit ihm so gelaufen war. Komisch, aber auch überwältigend. Ergreifend. Und irgendwie auch … na ja … Petra hatte in ihrer pragmatisch-ruhigen Art gesagt: „Lass mal, erst abwarten. Das Feuerwerk der Gefühle kann auch später noch einsetzen. Und dann wirst du es wissen … Und ansonsten weiß man ja auch nie. Nur zwing dich zu nichts. Ja?“ Nun, das hatte Lene auch nicht vor. Sich zwingen. Hatte sie schon gehabt. Oft genug. Brauchte sie nicht wieder. Sie war jetzt eine andere, bessere Lene. Und vielleicht wusste diese Lene ja doch schon? Vielleicht musste sie gar nicht abwarten? Denn, warum musste sie immer wieder an Jakob denken, der noch auf dem Schiff, das sie zum Festland brachte, ihre Hände genommen hatte – so wie einen Tag zuvor auf dem Sommerdeich? Und dann hatte er sich zu ihr hinabgeneigt und ihr Worte ins Ohr geflüstert, Worte, die … ach … Ihr Herz hatte zu rasen begonnen, vielleicht mehr noch, da sie seinen Atem an der Wange, der Schläfe, dem Ohr gespürt hatte, als er sprach. Sie hatte gelauscht und immer nur gelauscht. Mit offenem Mund, wissend, dass sie seinen Atem atmete, hatte die Augen geschlossen und sich gesagt, dass sie sich dieser Worte erinnern müsse … müsse, doch wie denn, da sie sie in diesen wenigen Augenblicken gar nicht richtig verstehen konnte … nur, dass es um zwei Saiten auf einer Violine ging … und sich wünschte, er möge einfach weitersprechen. Wahrscheinlich hätte sie aber nur noch an diesen wundersamen Moment denken können, da ihr Jakob so nah war und sie seine Lippen an der Wange spürte, hätte sie am Abend – nach dem Telefonat mit Petra – nicht einen Zettel in ihrer Jackentasche gefunden, auf den er eben diese Worte in kleinen, sauberen Buchstaben geschrieben hatte. „Für Helena, die ich Lene nennen muss“, stand darauf und weiter: Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie hinheben über dich zu anderen Dingen? Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas Verlorenem im Dunkel unterbringen an einer fremden stillen Stelle, die nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen. Doch alles, was uns anrührt, dich und mich, nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht. Auf welches Instrument sind wir gespannt? Und welcher Geiger hat uns in der Hand? Er hatte es irgendwie geschafft, ihr diese Zeilen – noch auf dem Schiff – unbemerkt zuzustecken, wohl, weil er wusste, dass diese Worte ebenso verklingen würden wie sein Geigenspiel und sie sich dann nur noch an einige Töne würde erinnern können – also hatte er sie festgehalten. Und, auch wenn es Rilkes Worte waren, derer er sich bediente, so hätten sie doch von ihm selbst stammen können. Von ihm, diesem falschen und doch so wunderbaren Geiger, der ihr als Mensch ebenso fremd wie vertraut war. Und während sie diese Zeilen noch einmal las, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Jakob war verliebt in sie. Tatsächlich verliebt. Anders konnte sie sich sein Tun nicht erklären. Vielleicht sollte sie ihn einfach ihren verliebten Jakob nennen? Und während sie sich dem Alltag wieder anheimzugeben und in die Rolle als Lehrerin ihrer nun 6. Klasse zu schlüpfen begann, dachte sie an ihn und fragte sich, was er jetzt trieb. Ob er, in seinem Erwin-Schrödinger-Zentrum in Adlershof sitzend, bereits an einem neuen Modell zur Erklärung der Welt tüftelte. Oder dachte auch er an sie? Ja? Kreuzten sich also gerade ihre Gedanken? Lene, schalt sie sich. Lass das. Diese Gedanken wurden ihr entrissen, als die das Schulgebäude betrat. Dolores, die Direktorin, stand an der Tür und begrüßte sie mit den Worten: „Lene, endlich! Du hast zwei Neue. Einen Jungen, ein Mädchen. Irak und Syrien.“ Lene blies die Wangen auf, nickte. Ja, der Alltag, der packte schon ordentlich zu, wenn er einen erst einmal in der Hand wusste. Da blieb dann tatsächlich keine Zeit mehr, an diesen verliebten Jakob zu denken, nein, da standen plötzlich zwei Flüchtlingskinder im Mittelpunkt. „Namen?“, schnappte Lene hastig. „Ich glaube … Amar und Sama“, erwiderte Dolores ebenso rasch und zuckte beinahe entschuldigend mit den Schultern. Lene nickte nur. Dass man ihr einfach so zwei fremde Kinder in die Klasse setzte, verwirrte sie nicht. Das war inzwischen Gang und Gäbe an Berliner Schulen. Als die erste große Flüchtlingswelle das Land erreicht hatte, waren die Lehrer sogar froh, wenn einige der Kinder nach einer gewissen Zeit in die Schulen kamen, nicht, um zu lernen – nein, das stand hinten an –, sondern, um Kontakt zu Gleichaltrigen knüpfen zu können und das Land, in dem sie im Moment lebten, ein wenig kennenzulernen. Petra, die in Moabit arbeitete, hatte ihr immer wieder von ihrer Schule berichtet. Sie hatte es schon vor der großen Flüchtlingswelle mit Migrantenkindern zu tun gehabt, mit Türken und Arabern. Es sei nicht leicht, hatte sie immer wieder gesagt. Allein schon, die Kinder mit Migrationshintergrund auf das Klassenziel vorzubereiten, sei teilweise unmöglich, eben, weil es immer an irgendetwas fehlte. Entweder waren es die Hausaufgaben, die nicht gemacht wurden oder die Kinder blieben fern – oftmals auch unentschuldigt. Sport? Für Mädchen? Und dann noch Schwimmen? Auch das ging nicht. Petra hatte Mühe, das wusste Lene. Und dann hatte sie eben noch Flüchtlingskinder dazubekommen … Schreckliches hatten die erlebt und konnten noch dazu kaum Deutsch, um sich auch nur annähernd gut zu verständigen und über ihre Eindrücke zu sprechen. Da blieb dann oft nur die Kunststunde. Malt ein Bild ... einfach das, was euch einfällt … Und sie hatte zu lächeln, auch dann noch, wenn sie sich plötzlich selbst mit dem Krieg konfrontiert sah und Menschen auch vor ihren Augen dahingeschlachtet wurden … Sie, die ruhige Petra, hatte sich Lene gegenüber nicht immer zurückhalten können und hatte geschimpft – nicht auf die Kinder, sondern auf das System, das voraussetzte, dass die Schulen es richteten, dass sie Kulturbarrieren durchbrechen könnten – und das am besten sofort – und aus den Kindern deutsche Kinder machten, bis diese wieder gehen müssten. Und dann hatte sie auch auf die Eltern der Kinder mit Migrationshintergrund geschimpft, die sich einfach über Regeln und Gesetze hinwegsetzten, und dann auch wieder auf das System, das sie einfach gewähren ließ und ihr zur Antwort gab: „Da können wir nichts machen. Das ist ein muslimischer Feiertag.“ Mit diesen Gedankenfetzen im Kopf nickte Lene Dolores nochmals zu und sagte: „Gut, danke.“ „Ja“, warf ihr Dolores zu. Sie wirkte gehetzt an diesem ersten Schultag. Doch wen wunderte es? Auch Lene fühlte sich schon jetzt nicht mehr ganz bei sich. Von der Hallig-Erholung spürte sie in diesen Momenten nichts mehr. Vielmehr wusste sie, dass sie zu funktionieren hatte. Dennoch nahm sie sich die Zeit, als sie aufs Lehrerzimmer zuging, Petra kurz zu schreiben: Nun hab’ ich auch zwei … Die Antwort kam postwendend: Na, herzlichen Glückwunsch! Ich hab jetzt fünf weitere ... Murat, Karim, Mohammed, Cem und Mariam. Kommen allesamt aus der Türkei, bis auf Karim, der soll wohl direkt aus Aleppo kommen …!!! Und wie heißen deine? - Amar und Sama ... Muss jetzt. CU - 2 Lene schmunzelte, steckte das Handy weg und betrat das bereits gutbesetzte Lehrerzimmer, grüßte in die Runde und sah gerade noch, wie sich Robert, ein älterer, schon straff auf die Pension zugehender Lehrer für Mathematik und Physik, seine Pfeife stopfte, als die Tür aufgerissen wurde und Dolores erschien. „So, Kinder, wie ich sehe, seid ihr alle da … lasst mal zählen … Eins, zwei …“ Sie stellte sich auf die Zehnspitzen, wollte weiterzählen, als Robert sagte: „Alle da“ und sich die gestopfte Pfeife in den Mund schob. „Was soll den das? Du weißt doch, dass im ganzen Haus absolutes Rauchverbot herrscht“, entfuhr es Dolores und sie riss die Augen weit auf. Er zuckte nur mit den Schultern und sagte ganz ruhig: „Ach, Dorle, wie gern höre ich es aus deinem Munde, dieses Verbot …“ „Gut, naja“, räusperte sich Dolores, die letztes Jahr die 50 überschritten hatte, jedoch um einiges älter wirkte, huschte nach vor und sagte: „Wie ihr wisst, gibt es einige Neuerungen dieses Jahr … ja, und ich kann es leider nicht verhindern, auch wir bekommen Flüchtlingskinder herein. Lene, du hast bereits zwei. In die fünften Klassen werden in den nächsten Tagen noch einige kommen, so alles läuft, wie es soll. Auch mitten im Schuljahr werden immer wieder welche kommen – wann, fragt mich nicht … Aber es wird alle Klassen betreffen. Stellt euch also darauf ein – auch der Sprache wegen … Hat jemand zufällig von euch Arabisch im Sommer gelernt?“ Robert gab ein leises Brummen von sich, nahm seine Pfeife aus dem Mund und sagte: Na, wenigstens müssen meine Sprache alle Kinder gleichermaßen lernen.“ Es ging ein allgemeines Schnauben durch den Raum. Dolores sah indes nicht sehr amüsiert drein. Hat sie überhaupt ein wenig entspannen können im Sommer, fragte sich Lene. Oder hatte sie die ganze Zeit nur über die Veränderungen nachzugrübeln, die nun auch ihre Schule erreicht hatten? Zuzutrauen wäre es Dolores. Das wusste Lene. Sie war so eine. Im Grunde wie Lene selbst. Nur mit noch mehr Verantwortung beladen – eben mit der für eine ganze Schule. Robert hingehen machte sich um all das keine großen Gedanken. Er meinte, seine Zahlen an die Tafel schreiben zu können, um dann seine – selbstverständlich nicht angezündete – Pfeife aus dem Mund zu nehmen und auf die Rechnung zu deuten. Das verstanden die Kinder auch ohne Deutschkenntnisse. „Die Mathe verbindet“, hatte er noch vor den großen Ferien in einer ersten Lehrerkonferenz zum Thema Flüchtlingskinder erklärt. „Und was, wenn es an Textaufgaben geht?“, hatte ihn Lene da gefragt und er hatte in seiner ruhigen Manier geantwortet: „Dann gibt’s eben erst einmal keine – und den Rest besorgt ihr. Mein Fach ist dann der Gradmesser eurer Fähigkeiten.“ Lene hatte nur mit dem Kopf schütteln können. Bei jedem anderen wäre sie wohl ausgerastet, aber bei Robert, der ja eh bald Rentier werden würde, nahm sie sich zurück. Schließlich war er es auch gewesen, der sie ganz zu Anfang ihres Lehrerinnen-Daseins beiseite genommen und sie ein wenig gecoacht hatte. Die innere Lehrerin, auf die sie immer wieder zurückgreifen konnte, hatte sie neben Petra, auch ihm zu verdanken. Er hatte ihr auch gesagt, sie dürfe die Schüler ruhig in den Arm nehmen, wenn sie das bräuchten, sie müsse sich nicht scheuen. Das nenne er falsches Distanzgehabe. Immerhin seien es Kinder, kleine Kinder, die bräuchten ab und zu etwas Nähe, auch und gerade von der Lehrerin oder dem Lehrer … Ja, Robert war schon einer. Er wusste viel, ruhte sich jedoch bisweilen nur allzu gern auf seiner Erfahrung aus, gleichwohl man ihm nicht nachsagen konnte, dass er den Schulalltag mit einer Routine verglich. Nein, gerade er war es, der auch immer wieder neue und gute Gedanken in die Lehrerversammlungen einbrachte – wie etwa, dass die Kinder, wenn sie sich denn partout nicht konzentrieren konnten, einige Runden um den Hof laufen sollten. Frische Luft, körperliche Betätigung und dann ans Werk, hatte er einst gesagt und sich dann doch, wohl vollkommen vergessend, dass er sich im Schulhaus befand, die Pfeife anstecken wollen. Na, da war aber Dolores aufgesprungen und beinahe wäre es nicht zur Abstimmung und Anerkennung seines einfachen wie einleuchtenden Plans gekommen. „Man muss die Kinder erst einmal Kinder sein lassen. Es nützt ja nichts, wenn Unruhe herrscht“, hatte er hinzugefügt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)