Der eine zählt des anderen Tassen von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 24: Auch wenn die Erde sich nicht aufhört zu drehen ----------------------------------------------------------- Sie schob seine Hand weg, sah ihn an, fragte: „Warum?“ Er zögerte, so als wolle er seinerseits fragen, was sie meinte, ließ dann jedoch seine Hand sinken. „Ja“, sagte er, „ja … ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ „Wie wäre es mit der Wahrheit?“, drang sie in ihn. „Wahrheit … ja“, erwiderte er, strich sich einige Male übers Knie, so als schmerzte es, ließ seinen Blick übers Meer gleiten, gerade so, als suche er nach einer Antwort und wandte sich dann wieder an Lene. „Zuerst einmal möchte ich dir danken, dass du mir die Gelegenheit gibst, mich zu erklären. Das bedeutet mir sehr viel, zeigt es doch, dass …“ „Was soll es zeigen?“, unterbrach sie ihn und wischte sich neuerlich den Schweiß von der Stirn. Davon, dass es ihr inzwischen besserging, konnte nicht die Rede sein. Die Hitze steckte noch immer in ihr und ließ sie zusätzlich gereizt sein – eben, weil sie nicht tun konnte, was sie gerne wollte: aufspringen und sich die Kleider vom Leib reißen. Und wenn sie nur daran dachte, dass dieser Hitze eine Kälte folgen würde, die sie wiederum zittern ließe, dann spürte sie in sich bereits eine Erschöpfung, die danach rief, diesen Strandkorb so schnell wie möglich zu verlassen, um sich daheim auszuruhen. Überdies musste sie ihre Sachen noch packen und sich Brote schmieren und Tee kochen und Percy auf den Schoß nehmen, um ihm zu erklären, dass sie morgen abreisen würde … und dann musste sie noch … musste … „Auch, wenn du es nicht glaubst, mir ist durchaus bewusst, dass sich mein Verhalten einerseits nicht schickt und dass es andererseits auf dich befremdlich gewirkt haben muss.“ „Befremdlich?“, zischte sie und schnaubte leise, ehe ihr bewusst wurde, dass es gerade diese Haltung war, die sie während ihres Pädagogikstudiums gelernt hatte, abzulegen. Es ging nicht darum, den anderen, der seine Schuld bereits einsah, noch zusätzlich auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Nicht selbstgerechtes Verhalten half, einen Konflikt zu entschärfen, sondern das Zuhören, um dann entsprechend zu reagieren, indem sie den anderen, so er ihrer Meinung nach noch immer falsch lag, sacht zu korrigieren. So sollte eine gute Auseinandersetzung mit einem allzu aufsässigen Schüler aussehen, mit einem, der sozial auffällig war. So – und nicht anders. Nur, war sie hier die Lehrerin? Gut, diese innere Lehrerin konnte ihr helfen, half ihr beinahe immer und war ihr so zur Freundin geworden. Doch wollte sie sie hier sprechen lassen? Oder anders: hatte sie überhaupt die Kraft dazu, sie sprechen zu lassen? Hier, während sie neben Jakob saß und sich so heiß anfühlte, als hätte sie Fieber, nur, um zu wissen, dass sie gleich das Frösteln packen würde. Und dann? Was war dann? Konnte sie sich selbst beherrschen? Wollte sie das überhaupt? „Befremdlich“, wiederholte er und seine Stimme klang plötzlich sehr sanft. Sie sah ihn an. Er reagierte umgehend, wandte sich an sie und beider Blicke trafen sich. „Ich bin erleichtert, dass du mir die Möglichkeit gibst, mich zu erklären. Vielleicht, aber nur vielleicht, hoffen mag ich nicht, kannst du mich dann verstehen.“ „Jakob …“ „Lene?“ Er neigte sich leicht zu ihr hinüber, hob dann die Hand, strich ihr übers Haar und dann kam er ihr noch näher. Sie zuckte zurück. Was sollte das? Was hatte er vor? Doch nicht …? Nicht jetzt … Er küsste sie wieder auf die Stirn. „Lass das“, hörte sie sich sagen und schon verschränkte sie die Arme vor der Brust, nicht ohne, sich vorher die Stirn abzutupfen. Und dann packte sie tatsächlich die Kälte. Sie kam mit einer Übermacht, die sie augenblicklich zittern ließ. „Ich will wissen …“, begann sie und spürte, wie es in ihrem Bauch zu rumoren begann, wie sich alles ineinander verknotete. Es zwickte und zwackte, es kniff, es schmerzte fast. „Warum?“ stieß sie neuerlich hervor, nur, um gleichzeitig zu wissen, wie sehr sie sich in diesen Momenten dem Trotz anheimzugeben begann. Doch Jakob schien von all dem nichts zu bemerken, denn er strich ihr wieder über die Stirn, die Schläfe und sagte dann: „Es ist schön, dich zu berühren. Ich habe all die Jahre, na ja, viele Jahre nur ahnen können, wie das ist, einem anderen Menschen so nah zu sein. Aber bei dir kann ich das.“ Er holte tief Luft, sah sie mit leicht geöffnetem Mund an, so als wolle er fortfahren, klappte ihn dann jedoch zu und sie sah, wie er zu lächeln begann. Hoffentlich zeigt er jetzt nicht die Zähne, schoss es ihr durch den Kopf und er tat es tatsächlich nicht. Stattdessen rutschte er näher an die heran, flüsterte: „Ich konnte es mir bisher nicht vorstellen, einen anderen Menschen zu berühren und ich mag es noch immer nicht, wenn man mich berührt. Von Fremden möchte ich schon gar nicht berührt werden.“ „So?“, machte sie und mühte sich darum, ihn nicht merken zu lassen, wie sehr sie fror. Sie presste nur ihre ineinander verknoteten Arme enger an sich und neigte sich leicht nach vorn, um gerade ihren Bauch, der sprichwörtlich zu einer Kühltruhe geworden war, irgendwie wärmen zu können. Doch es gelang ihr nicht. Sie zitterte nur und wusste auch, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Dazu Jakobs Nähe, die sie zusätzlich aufregte. Er sah sie an, berührte sie auch weiterhin und fuhr leise fort: „Ich mag es nicht, hasse es, wenn mich fremde Menschen berühren und dieser Wanderführer …“ „Karim“, warf sie ein. Warum, das wusste sie nicht. Vielleicht, um zu testen, ob sie noch reagieren konnte, denn die Kälte breitete sich nun, ebenso, wie die Hitze zuvor über die Brust hin zu ihrem Kopf aus. Und ihr hilfloses Herz trommelte dabei wie wild gegen die Rippen. Wie konnte sie dem, was da mit ihr und ihrem Körper zu geschehen begann, auch nur ansatzweise positiv gegenüberstehen? Nein, das würde sie nie im Leben durchhalten können, selbst wenn Petra, ihre Freundin, an ihrer Seite wäre und ihr immer wieder versichern würde, dass das der Lauf der Welt sei, dass eine Frau eben ab einem gewissen Alter … Ja, und trotzdem, es war schwer. Und dass diese Hitzeattacken gerade in Situationen auftraten, die ohnehin schon aufregend waren … Nein, nein … Und wieder spürte sie Jakobs Berührungen und dann sah sie plötzlich sein Gesicht vor sich. Er war ihr nah, ganz nah und wieder zuckte sie zurück und er sagte: „Ich mag ihn nicht. Er ist ein Fremder. Und ich mag es nicht, von Fremden angefasst zu werden. Hab es schon als Kind nicht gemocht, wenn mich andere Leute berührten.“ Er unterbrach sich, senkte den Blick, strich ihr über die Wange und setzte sich dann wieder zurück. Er schwieg, sie auch, ohne jedoch das, was er gesagt hatte, richtig verarbeiten zu können. Klar war ihr indes, dass er sich zu erklären versuchte. Irgendwie. Und dass er sein Verhalten mit seiner Kindheit begründete. „Ich war früher schlimmer. Selbst meiner Mutter war es eine Zeitlang unmöglich, mich zu berühren …“ Wieder erschien er in ihrem Gesichtsfeld, zwinkerte, sah sie an, so als erwarte er eine Reaktion. Doch sie war nicht imstande, etwas zu sagen. Sie presste nur die Schenkel aneinander, biss sich auf die Unterlippe. „Lene, ich …“, fuhr er fort. „Du hast mich aber angefasst“, hörte sie sich da mitten in seine Worte hinein sagen. „Du hast mich berührt, als wir uns noch nicht einmal kannten. Heißt das, dass du darfst, was du anderen versagst?“ Sie sah, dass er kurz innehielt, wohl um zu überlegen, dann erwiderte er ganz leis: „Ich kann das nicht so regulieren.“ „Was kannst du nicht regulieren?“ Er zuckte mit den Schultern, schlug dann seine Beine übereinander, umfasst sein Knie, nur, um es sogleich wieder fahren zu lassen. „Ich kann es nicht. Ich dachte bisher, dass ich Berührungen nicht sehr mag – abgesehen die von meiner Mutter und vielleicht von Kathrin und, aber …“ Er unterbrach sich erneut, sah sie an und sie mühte sich, ein möglichst entspanntes Gesicht zu machen, während es noch immer in ihrem Inneren rumorte. „Ja und?“, fragte sie. „Du hast recht, im Grunde hätte ich in dem Moment, als ich dich berührte, wissen müssen, dass sich das nicht schickt.“ Sie nickte. „Aber … ich weiß nicht. Plötzlich hatte ich einfach Lust dazu, vielleicht, weil …“ Er unterbrach sich und sah sie mit einem Blick an, den sie alles andere als mochte. Und was noch schlimmer war, sie konnte ihn nicht beschreiben. Hündisch wäre das falsche Wort gewesen, ergeben zu schwach. Und so, als ahnte er ihre Gedanken, senkte er den Kopf und sie wollte, einem inneren Impuls folgend, sagen: Ich weiß, dass du dich ausprobieren möchtest, murmelte dann jedoch: „Es ist gut. Es hat mir ja nicht wehgetan.“ Er nickte, sah jedoch nicht auf, und sie bemerkte, dass er sich mit dem Handrücken einige Male über die Nase fuhr – eine beinahe kindlich anmutende Geste. Dann sagte er: „Du wirst vielleicht bemerkt haben, dass mir einige Dinge schwerfallen, dass ich bisweilen etwas linkisch wirke. Könntest du es dir trotzdem vorstellen, dass …“ Er unterbrach sich, sah auf. Seinen Mund hielt er leicht geöffnet. „Ich möchte nur wissen“, fügte er hinzu, „ob es grundsätzlich möglich ist, dass wir uns auch nach dem Urlaub widersehen?“ Auch wenn sie selbst – und das konnte sie nicht leugnen – bereits das eine oder andere Mal daran gedacht hatte, stutzte sie jetzt. „Ich will dich damit gewiss nicht überfahren, wie man so schön sagt. Aber ich mag dich, Lene. Sehr …“ Sie wollte nicken, unterließ es dann aber. Und was, wenn sie ihm jetzt sagte, dass ihr kalt sei. Jetzt, in diesem Moment, da er sie so fragend ansah? Was würde dann geschehen? Wäre das für ihn das „Ja“? Wollte sie das oder sich lieber nicht festlegen und vorgeben, es sich überlegen zu müssen? „Ich würde dich wirklich gern weitertreffen“, hörte sie ihn sagen. „Immerhin haben wir hier, abgesehen von der Wattwanderung, wunderschöne Tage verlebt, oder?“ Sie rührte sich nicht und auch er schwieg, jedenfalls einen Moment lang. Dann fuhr er fort: „Sollte es wirklich daran scheitern? An dieser Wattwanderung?“ Sie biss sich auf die Unterlippe und holte einige Male tief Luft. „Ich weiß doch, wie schwer es ist, einen Menschen in das eigene Leben hinein …“ „Ja“, sagte sie da plötzlich und wusste seinen Blick sofort auf sich gerichtet. Er suchte, suchte nach einem Zeichen von ihr und gerade das verunsicherte sie. Und noch mehr, da er sagte: „Die Momente auf dem Sommerdeich, als du, als ich … Lene, ich hätte nie gedacht, dass ich mich das je trauen würde, aber als du es zugelassen hast, mich sogar aufgefordert hast, weiter zu gehen – du weißt nicht, wie … wie sehr … allein, als du deine Hände um mein Gesicht gelegt hast …“ Sie zuckte mit den Schultern, mühte sich, diese Kälte, die da in ihrem Inneren hauste, zu unterdrücken, und sagte dann: „Wenn überhaupt, möchte ich es gern langsam angehen lassen. So, und jetzt ist mir kalt.“ Das brachte sie hervor, ohne sich recht darüber bewusst zu sein. Schon sah sie, wie Jakob den Mund verzog – und dann erschienen auch seine Zähne. Und sie, noch immer voll der Erregung, knurrte: „Lass das, ich kann diese Mimik nicht leiden. Ich mag sie nicht. Ich hasse sie. Ja, ich hasse sie.“ Und mit diesen Worten sprang sie auf und schnappte nach Luft. Ihr war kalt. So kalt. Sie glaubte, noch nie in ihrem Leben so gefroren zu haben, als sie da stand und schon das obligatorische Dann lass mich dich wärmen von Jakob erwartete. Doch er sah sie nur von unten her an – nun wieder ganz ernst – nickte und sagte: „Das klingt nicht schlecht. Alles andere wäre auch mir zu schnell, glaube ich …“ Sie nickte ebenfalls, holte tief Luft, wandte sich dann leicht ab, sah aufs Meer hinaus. Es flutete wieder. „Und doch würde ich dich gern küssen“, hörte sie ihn da in ihrem Rücken sagen. Wieder zuckte sie leicht, sah aber weiterhin aufs Meer hinaus, zwang sich dazu – und das noch mehr, da sie ihn plötzlich neben sich wusste. „Die Welt muss nicht aufhören, sich zu drehen – was sie ja sowieso nicht täte, da sie einen ihr eigenen Drehimpuls besitzt, der nur …“ „Jakob“, fuhr sie ihm ins Wort. Er sah sie an. Das wusste sie, auch wenn sie weiterhin aufs Meer hinausblickte. „Ich habe mir immer vorgestellt, wie das wäre, wie es sich anfühlen würde, wie all das überhaupt sein kann. Wie es Menschen geben kann, die miteinander auf dem Sommerdeich laufen, sich unterhalten, ab und zu die Hand des Anderen nehmen, dann stehen bleiben, sich tief in die Augen sehen … Ich habe das nie verstanden. Wie das gehen kann … Und dann plötzlich … Es hat mich gereizt, als ich bemerkte, dass du mich von der Reling aus beobachtet hast. So sehr gereizt. Und am liebsten hätte ich einfach zu dir hochgesehen, um zu verstehen, warum du das tust. Und auch auf der Gröde. Warum? Ich habe es nicht begriffen. Aber es war ein seltsam erregendes Gefühl. Und deswegen – und auch, weil wir … weil ich … ich kann ja nur von mir sprechen … es als so, ja, ich empfand es als wunderschön mit dir auf dem Sommerdeich. In deinem Rücken zu liegen. Und auch das davor …“ Als er das so sagte, konnte Lene es nicht verhindern, sich doch an ihn zu wenden. „Gerade auch das. Noch nie hat eine Frau …“ „Jakob.“ „Was?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt.“ Und einem inneren Wunsch folgend, nahm sie seine Hand und drückte sie leicht. Dann holte sie tief Luft: „Lassen wir es also langsam angehen und schauen, was daraus wird. Ok?“ „Oh ja“, erwiderte er beinahe hastig. „Dann kannst du mich an meiner Arbeit besuchen.“ „Ich denke nicht“, entgegnete sie und rümpfte die Nase. „Denn Physik …“ „Nicht das. Ich bin auch ehrenamtlicher Leiter des Musiktheaters an der Volkshochschule Steglitz-Zehlendorf. Und du magst Musik … Ich würde mich so freuen, wenn du …“ Er lächelte. Diesmal jedoch ohne die Zähne zu zeigen. Und dann kam er ihr wieder näher, so nah, dass sie schon den Impuls in sich spürte, nach hinten auszuweichen, doch er berührte sie plötzlich an der Wange, neigte sich zu ihr hinab und murmelte: „Auch, wenn sich die Erde nicht aufhört zu drehen …“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)