Der eine zählt des anderen Tassen von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 22: Rennen ------------------ Darüber, dass ausgerechnet dieses Ereignis mehr Nähe zwischen ihnen schaffen sollte, hätte Lene nur gelacht. Denn, als sie da so saß und in die Flamme starrte und Percy auf ihrem Schoß wusste, fühlte sie sich alles andere als gut. Zu sehr hatte Jakobs Verhalten sie verschreckt. Und dabei war dieses unbeherrschte Verhalten noch das kleinere Übel gewesen. Sein Blick indes, der so hasserfüllt erst den Wanderführer und schließlich auch sie gestreift hatte, nein, das war im wahrsten Sinn zu viel für Lene und sie beschloss, sich an den restlichen Tagen nicht mehr mit ihm zu treffen. Sie benötigte Ruhe, nichts als Ruhe, sonst wäre ihre Erholung bereits jetzt dahin. Und so ging sie an diesem Abend auch recht früh ins Bett. Freilich konnte sie nicht sogleich einschlafen. Das Ereignis ließ sie einfach nicht los. Und so wälzte sie sich alsbald von der einen auf die andere Seite, bis Percy, der ihr als treuer Begleiter ins Bett gefolgt war, reißausnahm und sie ihren Gedanken überließ. Und die drängten auch nur allzu gern heran … Schließlich durchzuckte es sie siedendheiß: Was, wenn er morgenfrüh bei ihr auftauchen würde? Schließlich hatte sie ihm ja nicht eindeutig gesagt, dass sie seine Gegenwart nicht schätzte. Tja, dann würde sie ihm wohl morgen reinen Wein einschenken müssen. Und dabei kam es auf Souveränität an und auch auf Konsequenz – Tugenden, die sie während ihres Studiums erlernt hatte, im Privatleben jedoch nicht immer befolgte. Hier allerdings müsste sie es, egal, was er zu seiner Entschuldigung vorbringen würde. Nein, es würde lange dauern, ehe sie diesen hasserfüllten Blick wieder vergessen könnte. Ihre Angst, wieder auf ihn zu treffen, war indes unbegründet. Jakob tauchte am anderen Morgen nicht auf. Offenbar hatte er verstanden. Und sie überlegte, was sie an ihrem vorletzten Tag unternehme könnte. Da eine kleine Halligkreuzfahrt angeboten wurde, entschied sie sich dafür – nicht ohne wieder eine leise Furcht in sich zu spüren: was, wenn auch er sich für diese Kreuzfahrt entschieden hätte. Doch wiederum war ihre Sorge grundlos und sie verlebte einen recht schönen Tag an Bord des kleinen Schiffs, das sie und andere Gäste munter bald hierhin, bald dorthin chauffierte. Sie stand an der Reling und ließ ihren Blick über das endlosweit erscheinende Meer gleiten und ihren Gedanken freien Lauf, ja, sie schickte sie ganz bewusst der Sonne entgegen. Sollten die negativen dort verglühen, so dachte sie, und die positiven als kleine Hitzeballen wieder zu ihr zurückkehren und sie wärmen. Sie schloss die Augen, reckte sich dem Heimatgestirn entgehen und wusste alsbald ein winziges Lächeln auf ihren Lippen. Schön war das. Und sie wusste, dass sie wieder in diese Lande kommen würde – und vielleicht sogar wieder auf die Hooge, die ihr so viel gegeben hatte – all die Tage, die sie allein in der Natur gewesen und dem Flug der Vögel gefolgt war, nur, um sich dann in die Fennen zu setzen, gar zu legen und Gräser und Halme so unmittelbar neben sich zu wissen, ebenso wie den Hummeln und Bienen bei der Arbeit zuzusehen. Auch hatte sie einmal eine kleine Spinne dabei beobachtet, wie diese hektisch an ihrem Schienbein entlanggekrabbelt ist. All das und dazu die Stille, die Einsamkeit. Lene wusste, dass sie hier einen wichtigen Schritt in ihrer Entwicklung getan hatte. Die Kerze würde sie sich auch in Berlin jeden Abend von neuem entzünden und in deren Flamme schauen. Auch würde sie sich mehr Zeit für sich nehmen – und einfach das tun, was ihr gut bekam. Vielleicht würde sie wieder mit dem Schwimmen beginnen, oh, ganz sicher würde sie das tun. Oder vielleicht mit dem Laufen. Jedenfalls würde sie mehr auf sich achten. Sie war ja nun kein junger Hüpfer mehr mit ihren 45 Jahren. Ach, und vor allem würde sie der kommenden Zeit, in der sich ihr Körper umstellte, positiv entgegenschauen wollen. Keineswegs würde sie ins Esoterische abgleiten wollen, wie so viele ihrer Geschlechtsgenossinnen, um sich selbst zu finden. Das fand sie affig. Allerdings war es ihr wichtig, doch tiefer in sich hineinzuhorchen. Wer war sie? Was wollte sie? Was konnte sie anderen geben? Und was brauchte sie? Alles Fragen, die, wie sie fand wichtig waren, um die nächsten Jahre möglichst gut zu gestalten. Und am wichtigsten war es ihr, stets im Augenblick zu leben – wie sie unlängst in einem Buch von Eckhard Tolle gelesen hatte. Er schrieb über das ganz Offensichtliche und das so, dass sie sich bei der Lektüre immer wieder fragen musste, warum sie diesen doch so einfachen Weg nicht zuvor gegangen war. Nun, hier auf der Hallig hatte sie damit begonnen und sie würde alles dransetzen, ihm auch im Alltag zu folgen. Und das vor allem im beruflichen Alltag. Denn war ihr das Leben damals, vor 5 Jahren, nicht gerade deswegen entglitten, weil sie zu sich selbst keinen Kontakt mehr aufnehmen konnte – und lag das nicht gerade daran, dass sie blind für die Einzigartigkeit des Augenblicks war? Wenn also Ronja nach dem Unterricht wieder einmal zu ihr kam, um ihr Dinge zu erzählen, dann würde sie diese Momente ebenso bewusst erleben wollen, wie gerade den des Einatmens dieser so wunderbar würzigen Luft hier an Bord dieses kleinen Äppelkahns. Jeder Moment zählte, jeder war kostbar – auch die bösen, die dunklen Momente. Denn die gehörten ebenso zum Leben. Und auch, wenn sie noch immer dazu neigte, vor ihnen wegzurennen, so fühlte sie sich doch besser, stärker, denn sie wusste, dass sie es vermochte, ihnen standzuhalten. Sie würde die vielen Kleinigkeiten, die das Alltagsleben Tag für Tag schöner machten, bewusst erleben, wie etwa, dass sich ein verspäteter Marienkäfer auf ihrer Hand niederließ oder Philipp, der Klassenclown, wieder einen Witz erzählte oder … wenn … Ronja endlich einmal lächeln würde. Die Kleine. Ja, sie kam nicht umhin: sie hatte dieses zierliche Mädchen irgendwie ins Herz geschlossen und freute sich, da sie nun hier an der Reling des kleinen Äppelkahns stand, darauf, sie wiederzusehen – und auch auf all die anderen ihrer Klasse freute sie sich. Auf Christoph und Hannah, die, beide intelligent, jedoch gleichermaßen vorlaut waren. Sich nicht immer wieder über diese beiden zu ärgern, sondern sie in ihrer Besonderheit anzunehmen, das nahm sie sich ebenso vor, wie Susanne, die ebenfalls scharfen Verstandes war, jedoch nie etwas im Unterricht sagte, aus der Reserve zu locken. Und dabei galt es ihr, jeden Moment ganz bewusst zu erleben, nichts dem Alltag zum Fraß vorzuwerfen. So dachte sie und spürte plötzlich wieder diese leichte Beschwingtheit in sich, die sie ganz zum Anfang des Urlaubs auch in sich getragen hatte. Und nun … sie nahm es als gutes Zeichen. Sie war vielleicht noch immer nicht ganz über ihre damals erlebte Krise hinweg, das Burn-out, doch sie wusste, dass sie sich langsam davon erholte. Sie war frei, Frau ihrer eigenen Gedanken und Entscheidungen. Wie gut sich das anfühlte, das Leben in sich zu spüren. So unmittelbar, so warm, so sanft … einfach wunderbar. An ihrem letzten Tag wollte sie noch einmal hinaus, um der Hallig Lebwohl zu sagen und um ganz bewusst etwas von diesem Eiland in sich aufzunehmen, etwas, das ihr die nötige Ruhe wiedergeben sollte, wenn sie einmal Gefahr lief, sich selbst zu vergessen, sei es nun in beruflicher oder privater Hinsicht. Ja, und so, als hätte ihr die Hallig ein Auf!,zugeflüstert, rannte sie plötzlich los, den Weg hinab zum Sommerdeich und streckte dabei die Arme aus, spürte den Wind im Gesicht, im Haar, in ihren Kleidern. Und sie rannte, rannte, so wie in den ersten Tagen auch. Ja, so hatten sich die Hallig und sie begrüßt, so würde sie sich auch von einander verabschieden. Ja, so. Und das, dieses Rennen gegen den Wind, jedoch der Sonne und dem blauen Himmel und dem Meer entgegen, das würde sie als Bild immer bei sich tragen. Das … Und wenn es ihr einmal nicht gutginge, dann würde sie im Geiste zu laufen beginnen und sich gegen diesen wundersamen Halligwind neigen und sie würde auch Ekke Nekkepenn nicht vergessen, diesen kleinen aus Halligflieder und dem Sturmwind gesponnenen Meergeist, der den Menschen Trost und Hoffnung brachte. Auch ihn würde sie mit ans Festland nehmen. Ja, und auch die Nordsee, das Watt, die Vogelhallig Norderog und auch Japsand, ja auch den … „Ich liebe dich“, murmelte sie im Laufen und noch einmal, diesmal lauter, viel lauter, so laut, dass ihr die eigene Stimme in den Ohren zu dröhnen und sie um ihre Luft zu fürchten begann. Dennoch rannte sie weiter, die Arme ausgebreitet und schreiend – nun unartikuliert, doch dachte sie noch immer „Ich liebe dich. Ich liebe dich … ich …“. Schließlich erstarb auch der Schrei, einfach, weil sie sich nun mehr und mehr und mehr auf ihren Lauf konzentrieren musste, und am liebsten hätte sie abgebrochen, doch da gab es etwas in ihr, das sie trieb – so wie damals auch, als sie im Schwimmkader war und ein Konditionstraining nach dem anderen über sich ergehen ließ. Sie lief einfach, lief und wunderte sich darüber, dass sie es noch immer konnte, dass sie so alt geworden war, aber von ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit wohl nichts eingebüßt hatte. Sie fühlte, wie ihre Füße über den Boden flogen, fühlte auch, dass sich langsam wieder eine Welle der Kraft in ihr aufbaute, dass sie … und unwillkürlich begann sie wieder zu schreien und das tat so gut. Wie gut, das tat. Ganz egal, wenn sie morgen heiser war. Ganz egal, wenn … ach, was zählte in diesen Augenblicken die Schule, zu der sie am kommenden Montag wieder gehen musste. Was zählte es, dass sie, vielleicht einer Kehlkopfentzündung erlegen, nicht würde sprechen können? Einmal die Vernunft außer Acht lassen, einmal … Sie rannte und schrie und breitete die Arme wieder aus. Bis zum Ende des Weges, dem Beginn des Sommerdeichs entgegen, zum Strandkorb, der da einsam stand. Sie rannte und dort, kaum noch richtig bei sich, sah sie plötzlich auch ihn, Jakob, wie er sich als schwarze Gestalt gegen den Horizont abhob. Sie sah ihn. Aber zu spät. Sie vermochte nicht mehr zu stoppen und rannte ihn mit solch einer Wucht an, dass er selbst ins Straucheln geriet und zu fallen drohte. Er hatte sich ihr genau in den Weg gestellt. Das schoss ihr noch durch den Kopf, ehe sie spürte, wie sie in die Knie zu gehen drohte. Ihr Herz raste, raste so sehr, dass sie nicht wusste, nicht konnte. Sie schnappte nach Luft. Immer und immer wieder. Doch es war ihr so, als atmete sie Wasser und mit weit aufgerissenem Mund starrte sie ihn an. „Was?“, nuschelte sie und ging einige Schritte, obwohl ihre Knie noch immer nachgeben wollten. „Warum?“ Und als er nicht antwortete wieder unter Auferbietung all ihrer Kräfte: „Was? Warum? Was machst du hier?“ Zu mehr war sie nicht imstande. Und er, nun dicht neben ihr, erwiderte: „Ich habe es schreien hören und bin aus dem Strandkorb hoch, um nachzusehen … und da warst du …“ Ihre Blicke trafen sich. „Scheiße“, rief sie und wollte weiter, doch sie konnte, da nun einmal angehalten, nicht wieder auf. Und so blieb ihr nur, wieder nach Luft zu schnappen und sich abzuwenden, um ihm so zu zeigen, dass sie seine Gegenwart nicht wünschte. Und so, als hätte er verstanden, hielt er sich ihr auch fern, doch plötzlich hörte sie ihn sagen: „Wie gern würde ich auch so rennen können wie du.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)