Der eine zählt des anderen Tassen von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 21: Hass ---------------- An den folgenden Tagen, viele waren es nicht mehr, die sie gemeinsam hatten, unternahmen sie stets etwas, nur, um sich am Abend doch wieder zu trennen. Lene war das nicht unangenehm – ja, sie konnte dem nur zustimmen, denn sie benötigte ihren Schlaf, ihre Ruhe. Und so sehr sie sich einerseits wünschte, dass er einmal bei ihr bliebe, um mit ihr ein Glas Wein zu trinken, sagte sie sich doch andererseits, dass dazu noch Zeit sei. Außerdem entstand gerade durch dieses tägliche Beisammensein sowie das stille Übereinkommen, keine Nacht zusammen zu verbringen, der nötige Raum, um Nähe entstehen zu lassen. Jakob hatte ihr einmal auf ihren gemeinsamen Spaziergängen gesagt, dass er ihre Haltung, ja Zurückhaltung diesbezüglich sehr schätze. Darauf hatte sie grinsend erwidert: „Sind es nicht die Männer, denen stets nachgesagt wird, nur auf das eine erpicht zu sein?“ Und dann hatte sie ein wenig ausholen wollen, um dieses Klischee zu unterfüttern, weil sie in seinem Gesicht einen Anflug von Verwunderung zu erkennen meinte. „Ich kenne nur Männer, die …“, hatte sie begonnen, nur, um von ihm mit dem Hinweis unterbrochen zu werden, dass ihm solches Ansinnen vollkommen fremd sei und er sich für seine Geschlechtsgenossen schämen würde. Die heutige Gesellschaft sei in dieser Hinsicht sehr verroht. Wie er das so sagte, befremdete sie ein wenig. Er war stehengeblieben und hatte ihre Hand, die er bis dahin gehalten hatte, losgelassen, um den Finger zu heben – dozierend, wie sie fand – und gesagt: „Solch ein Verhalten vereinbart sich nicht mit meinen Werten.“ Und dabei hatte er keineswegs den Eindruck eines schüchternen Mannes gemacht. Vielmehr hatte er an etwas Anderem, für sie kaum in Worte zu Fassendem gerüttelt. Er hatte plötzlich selbstsicher gewirkt – und auch das hatte ihr gefallen. „Ich betrachte Frauen nicht als Spielzeug oder Objekt“, fügte er nach einer Weile hinzu und sie hatte lächeln müssen. Wie oft hatten ihr Männer gerade diesen Satz gesagt, ohne, dass sie ihn hatte glauben können. Bei ihm hingegen war es anders. Das fühlte sie, das wusste sie. Doch fragte sie sich bisweilen, ob er diese Werte nur in den Vordergrund schob, um die anfänglich doch sehr offenherzig vorgetragene Bemerkung über sein Unvermögen in Marias Gegenwart nun zu kaschieren, da er Lene gegenüber nicht als unmännlich erscheinen wollte. Oder war es gerade diesen Werten geschuldet, dass er bisher kaum Erfahrung hatte sammeln können? Das klang natürlich seltsam, fremd, ja, geradezu absurd in der heutigen Zeit, doch besaß es auch seinen Reiz: durfte sie also davon ausgehen, dass er zuvor nicht die Richtige getroffen hatte, mit der er eine tiefere Beziehung hatte eingehen wollen? Fragen wollte sie ihn nicht, denn gleichwohl es sie interessierte, galt: Solange er nicht selbst wieder auf dieses Thema zu sprechen kam, war ein Nachfragen ihrerseits tabu. Und letztlich war es auch egal: Er, so spürte sie, war aufrichtig, stand hinter seinem Wort: Er würde mit ihr erst eine intimere Beziehung eingehen, wenn sich die Tragfähigkeit ihrer Zweisamkeit erwiesen hätte – für sie beide. Substanz war auch ihr wichtig, denn sie suchte im Grunde keinen One-Night-Stand. Doch, gehörte dazu auch das Küssen? Daran stieß sie sich – irgendwie, schon, denn es schien ihr so, als zählte er gerade diese Form der Zärtlichkeit zu dieser intimsten aller Beziehungen hinzu. Anders konnte sie es sich im ersten Moment nicht erklären, dass er bisher noch nicht den Versuch unternommen hatte, sich ihr auf diese Art zu nähern, gleichwohl es der Gelegenheiten viele gegeben hätte. Und da das Küssen in der heutigen Gesellschaft ja beinahe zu einer Floskel verkommen war … Jeder küsste jeden – ebenso wie man einander zur Begrüßung und zum Abschied umarmte … Aber vielleicht lag hier das Problem, denn, wenn sie seinen Gedanken konsequent folgte, dann ergab sich daraus, dass er das Küssen als Zeichen einer einander tief verbunden wissenden Zweisamkeit verstand und es aus diesem Grund nicht trivialisieren wollte. Allerdings wäre es ebenso möglich und denkbar, dass er es einfach nicht mochte. Letzteres würde sie bedauern, ersteres aber rührte sie an und sie hätte nicht sagen können, dass sie dem irgendetwas entgegenzusetzen wüsste. Dennoch war da der Wunsch, ihm näher zu kommen und das, obwohl oder gerade weil er sie mehrmals schon auf die Stirn geküsst hatte. Keine Frage, sie fand es schön. Sie mochte es, wenn seine Lippen ihre Stirn berührten und sie dabei seinen Atem spürte. Und eigentlich hätte ihr das genügen können. Bisweilen aber ertappte sie sich dabei, wie sie sich vorstellte, dass er sie sogleich richtig küssen würde und das vollkommen frei von jener Leidenschaft, die sie beide auf dem Sommerdeich nach ihrem gemeinsamen Bad überfallen hatte. Aber das mussten wohl vorerst Wünsche bleiben, denn sie traute es sich nicht, ihrerseits die Initiative zu ergreifen. Irgendetwas ging seit dem Moment auf dem Sommerdeich von ihm aus, dass ihr ein Bis hierher und nicht weiter suggerierte. Was das war, wusste sie nicht zu sagen. Schön war es dennoch mit ihm zusammen zu sein. Zumal sich ihrer beider Unternehmungen nicht nur auf die Hallig selbst beschränkten. Sie fuhren gemeinsam nach Sylt und Amrum, besuchten auch noch einmal die Gröde und er zeigte ihr eine zauberhafte Ecke zwischen zwei Häusern, von der aus sie auf das so weit wirkende Gröder Land blicken konnte. Dazu nahm er ihre Hand, drückte sie leicht. Dann hatten sie sich beide lang in die Augen gesehen und sie hatte sich gefragt, was wohl in ihm verginge, worüber er nachsinnen würde, als er ihr näherkam, eine Strähne aus ihrer Stirn strich und ihr Kinn berührte. Im Grunde verlangte das nach mehr, aber er sah ihr nur weiter in die Augen. Da im Buddelbreef schließlich noch eine Wattwanderung nach Japsand angekündigt war, machten sie auch die mit. Das allerdings nicht ohne Komplikationen, die sich zu einem für Lene erschreckenden Erlebnis entwickelten. Erstens verriet ihr Jakob, dass er mit den Füßen Probleme habe und deswegen diese Schuhe mit Klettverschluss trage, er das Laufen mit nackten Füßen also nicht bevorzuge, weil er sich dadurch ziemlich unsicher fühlte. Dennoch willigte er ein und zog dicke Socken an. Sie sah, dass seine Füße durch äußert stark ausgebildete Ballen verunstaltet waren. Das Gehen fiel ihm ohne Einlagen schwer. Und in dem Maße, wie er in seinen Schuhen hatte springen können, wobei sie nun wusste, warum dies so geziert und gespreizt gewirkt hatte, musste er sich mit nackten Füßen aufs langsame Gehen verlegen. Doch sie war stets neben ihm, fasste ihn auch des Öfteren bei der Hand oder am Arm, wenn er Gefahr lief zu stolpern, zu fallen oder in irgendeinem Muschelloch hängen zu bleiben. Er lächelte dann, zeigte bisweilen auch die Zähne und sie meinte dahinter nicht nur Dank, sondern auch eine leichte Verzweiflung seiner Ungeschicklichkeit wegen zu erkennen. Da sie aus ihrer Erfahrung als Lehrerin wusste, wie sie damit umzugehen hatte, verhielt sie sich vorerst ruhig und half ihm, später dann versuchte sie ihn durch ein Gespräch abzulenken, dass er jedoch in einer Entschiedenheit unterbrach, die sie beinahe verschreckte. Doch sie beruhigte sich damit, dass er wohl seine gesamte Konzentration darauf verwenden musste, um mit der Gruppe mithalten zu können. Schließlich spürte sie auch, wie sich in ihm so etwas wie eine leichte Frustration aufbaute, die er jedoch nicht artikulierte. Dafür aber wurde sein Zähnefletschen zunehmend beißender und sein Blick starrer. Sie kannte ihn inzwischen etwas und meinte, wieder jenen Jakob in ihm zu erkennen, der ihr bei ihrem ersten Treffen geraten hatte, recht rasch zu bestellen, da das Café bald schließe. Und auch wenn sie damit umzugehen wusste, traf es sie doch, dass er ihr zunehmend entglitt. Selbstverständlich tat er ihr leid, wie er da mit dem Watt zu kämpfen hatte und sie fragte sich nicht nur einmal, ob dieser Ausflug sinnvoll sei und warum er überhaupt eingewilligt habe. Etwa, um ihr zu gefallen? Denn eine Erbauung war es für ihn nicht. Das zweite Problem kündigte sich an, als sie Japsand erreicht hatten. Sie verspürte ein dringendes Bedürfnis, dem sie nachkommen musste. Da dieser, der Hooge verlagerte Außenposten jedoch nur aus angeschwemmtem Sand bestand und folglich kein Versteck bot, musste sie dieses Bedürfnis anhalten und war dementsprechend kurzatmig, was Jakobs Probleme anbelangte. Zwar hatte sie sich all die Jahre, die sie schon als Lehrerin tätig war, ein dickes Fell zugelegt und vor allem Durchhaltevermögen antrainiert, doch, wenn sie dieses Bedürfnis überkam – und es war mit einer Heftigkeit über sie gekommen, dass sie meinte, sie hätte zuvor 4 Liter Wasser getrunken, dann half auch die stärkste Durchhalteparole nicht mehr. Sie musste und das sofort! Nur waren überall Menschen, die sie bei ihrem Geschäft hätten beobachten können. Und Jakob zu bitten, sich schützend vor sie zu stellen, ging nicht, denn obwohl sie sich bereits vertraut waren, spürte sie, dass dieses Ansinnen noch weit jenseits einer Grenze lag. Also blieb ihr nur, auf der Rücktour ganz unauffällig zurückzubleiben, doch wie es immer so spielte, waren sie und Jakob diesmal nicht die Letzten. Der Wanderführer, der sich ihnen als Karim vorgestellt hatte, musste nämlich mitbekommen haben, dass sie beide auf der Hintour das Schlusslicht gebildet hatten und da die Zeit drängte, die Flut sich bald wieder zeigen würde, mussten sie sich etwas eilen. Insofern lief er in ihrem Rücken und trieb sie so zur Eile, was einerseits Jakob gar nicht zu Pass kam, da er sehr bemüht darum war, wohin er seinen Fuß setzte und ihn auch ein ums andere Mal wieder hob, weil er nicht sicher war, was ihn erwartete. Das widerstrebte andererseits dem Wanderführer, der zunehmend ungeduldiger und auch harscher in seinen Mahnungen zur Eile wurde. Und das wiederum ließ Lenes Blase Krawall schlagen. Sie litt. Und immer, wenn sie dazu noch in eine Muschel trat, durchzuckte es sie so intensiv im Unterleib, dass sie meinte, der Inhalt ihrer Blase würde sich augenblicklich ergießen. Es war furchtbar. Unnötig zu erwähnen, dass sie Jakob keine Hilfe mehr sein konnte und er dadurch, vom Wanderführer in seinem Nacken getrieben, immer wieder ins Stolpern geriet. Sie wollte sich, bereits leicht genervt, umwenden, als das Unglück geschah … Sie sah es aus dem Augenwinkel und der Schreck durchzuckte sie wie ein elektrischer Stoß, aber sie konnte nichts tun. Zu schnell war Jakob gestolpert, hatte haltlos mit den Armen gerudert und war daraufhin in die Knie gegangen, nur um sie dann mit Matsch und Modder bespritzt von unten her anzustarren. Seine Augen waren geweitet und da er wohl selbst nicht recht wusste, hob er eine Hand, mit der er sich soeben noch abgestützt hatte, fuhr sich über die Stirn und verteilte so den Dreck auch in seinem Gesicht. Es war ein fürchterlicher Anblick. Noch fürchterlicher aber war’s, dass der Wanderführer ganz ungerührt meinte: „Los, junger Mann, auf und weiter, wir müssen.“ In diesem Moment schien Jakob wieder zu sich zu kommen, verengte die Augen zu Schlitzen, wandte sich, für seine Lage blitzschnell um und sagte: „Nicht in diesem Ton!“ Doch der Wanderführer zeigte sich unbeeindruckt davon und berührte Jakob sogar an der Schulter, wohl, um ihm aufzuhelfen. Dieser aber entzog sich ihm ruckartig und Lene spürte, dass ihn Emotionen zu dominieren begannen, Emotionen, die sie an ihm bisher nicht gekannt hatte. Seine Augen, das sah, waren noch immer zu Schlitzen verengt. Auch wusste sie, dass er den Wanderführer anfunkelte und eben nicht bereit war, sich von ihm aufhelfen zu lassen. Denn als der einen neuerlichen Versuch unternahm, stieß ihm Jakob ein: „Fassen Sie mich nicht an!“ entgegen. Unwillkürlich begann Lenes Herz zu rasen. Der Drang, sich gleich in die Hose zu machen, hatte einer Angst Platz gemacht, die sie kaum artikulieren konnte. Warum reagierte er so barsch, so aufbrausend, und wie sollte das hier weitergehen? Beide Männer funkelten sich an. Was würde noch geschehen? Die Flut kam bereits heran – das Wasser stieg merklich und bedeckte bereits den gesamten Boden. Und was, wenn sich Jakob weiterhin weigerte, wenn er … Und es war noch weit bis zum rettenden Ufer. Und so, als wolle er ihre Befürchtungen bestätigen, machte er nicht etwa Anstalten, sich zu erheben, sondern griff mit beiden Händen in den Schlamm. Wie ein Kind, so trotzig, und dennoch … Lene beobachtete die Szene, nicht wissend, was sie davon halten sollte. Das war unmöglich Jakob. Das war … Oh, mein Gott, das war … Vielleicht wäre sie noch länger in dieser panischen Gedankenschleife gefangen dahingeglitten, wenn sie nicht plötzlich ihre Blase wieder gespürt hätte. So aber kam sie zur Besinnung und sagte so ruhig sie konnte: „Komm Jakob, wir müssen.“ Schon wandte er sich an sie und es durchfuhr sie eiskalt, sodass sie sogar zusammenzuzucken meinte. Aus diesem dreckverschmierten Gesicht starrten ihr zwei Augen hasserfüllt entgegen. Erst später an diesem Tag, als sie wieder daheim war – und froh, endlich allein zu sein – konnte sie sich etwas beruhigen. Zwar hatte ihr Jakob nach all dem zu erklären versucht, warum er so reagiert habe. Ihn habe die Sache überfordert – mit Stress könne er nicht gut umgehen. Und als ihn dann auch noch dieser Typ hatte anfassen wollen, sei er ausgerastet. Lene hatte vorgegeben, Verständnis zu haben und auch registriert, dass er sich schließlich bei dem Wanderführer für sein Verhalten entschuldigt hatte. Doch hatte sie ihm trotzdem deutlich zu verstehen gegeben, dass sie allein sein wolle, weil sie vollkommen erschöpft sei. „Sehen wir uns morgen?“, hatte er sie gefragt und sie hatte ein: „Ich weiß nicht“ hervorgewürgt, denn trotz allem kam ihr immer wieder die Frage hoch, warum Jakob sich so gebärdet hatte. Was da in ihn gefahren war. Sie spürte, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Und gerade das beunruhigte sie so sehr, dass sie sich zwar an diesem Abend wieder die Kerze entzündete und in deren Flamme sah, sich jedoch nicht völlig auf das leichte Flackern einlassen konnte – und das selbst dann nicht, als Percy auf ihren Schoß sprang. Wie Jakob zuerst den Dreck an seinen Händen und dann den vor ihm stehenden Wanderführer angestarrte hatte. So hasserfüllt. So sah man niemanden an, wenn man nur frustriert und genervt war. Warum also? Die Antwort auf diese Frage sollte sie erst sehr viel später erhalten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)