Der eine zählt des anderen Tassen von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 16: Chaos ----------------- Er stand etwas steif da, als sie von ihm abließ, lächelte jedoch. „Das war schön“, murmelte er. Sie nickte, lächelte ebenfalls. „Das ist es …“ und küsste ihn nochmals auf die Wange, schloss dabei die Augen, holte tief Luft. Das ganz bewusst. Wie roch er? Wonach? Sie war ein Nasenmensch – schon immer gewesen. Vor allem bei Menschen, zu denen sie Kontakt aufnehmen wollte. Jakob hatte ein leichtes Parfum aufgelegt, vielleicht war es auch sein Aftershave? Sie wusste es nicht. War auch egal. Es wirkte unaufdringlich – so, wie er selbst – und war gerade deswegen anziehend. „Es ist schön, deinen Atem zu spüren“, murmelte er. Sie schwieg, ihm noch immer ganz nah. „Ich habe das noch nie erlebt“, begann er wieder. Schon wollte sie sich wieder von ihm lösen, um etwas zu erwidern, unterließ es jedoch. „Es ist neu für mich“, fuhr er fort, „und ich weiß nicht … Ich mache bestimmt alles falsch.“ „Machst du nicht“, erwiderte sie ganz leise und einem inneren Drängen nach, legte sie ihre Arme um ihn, so, wie sie es bisweilen bei ihren Schülern tat. Ein alter Lehrer hatte ihr einmal gesagt, dass nichts dabei sei, Schüler zu umarmen, wenn es die Situation erforderte … Sie kniff die Augen fest zusammen, denn was sie hier tat – nun ja, sie tat es gern, so gern. Sie mochte Jakobs Duft, sie mochte seine Feingliedrigkeit und sie mochte es, dass ihr Herz bei all dem schneller schlug. „Sag mir, was ich jetzt tun soll“, flüsterte er. „Nichts.“ „Nichts?“ Sie schwieg, küsste ihn noch einmal und ließ dann von ihm ab. „Ich weiß nicht“, begann er von neuem, nahm ihre Hand. „Es wäre mir lieb, wenn du …“ Er unterbrach sich, senkte den Blick. „Tu, was du denkst“, entgegnete sie leichthin und drückte seine Hand. Er zuckte mit den Schultern und sie spürte seine Verwirrung. Vielleicht hatte sie ihn mit all dem überfordert? Ja? Konnte das sein? Und nun? Sie schwieg, wartete ab. „Da war mal Maria …“, begann er leise und mit noch immer gesenktem Blick. In jedem anderen Fall hätte Lene das Gespräch an dieser Stelle unterbrochen. Doch hier, nein. Sie spürte, dass es ihm wichtig war, sich irgendwie zu artikulieren, um sich zu erklären und sich durch seine Offenheit selbst aus der Verwirrung zu verhelfen. „Erzähl mir von Maria“, flüsterte sie, zog ihn jedoch mit sich, einem soeben erspähten Strandkorb entgegen. Er folgte ihr. „Na ja, da gibt es im Grunde nicht viel. Sie sagte nur immer, dass sie es vermisse …“ Lene wandte sich um, runzelte die Stirn, wollte fragen, was Maria vermisst hätte, doch Jakob zuckte mit den Schultern, blieb stehen und senkte erneut den Blick. Sie presste die Lippen fest aufeinander. Was sollte sie darauf erwidern? Aber ihn dort so stehen lassen, das konnte sie auch nicht, denn offensichtlich erwartete er irgendetwas von ihr. Doch musste sie sich selbst erst einmal finden, denn Verwirrung machte sich auch in ihr breit. Und da die Lehrerin in ihr schwieg, war sie auf sich allein gestellt. Sie kannte sich nicht gerade als Konversationsgenie, zumal er, um sein Dilemma noch zu verdeutlichen, plötzlich auf seine Bauchregion wies und ihr schlagartig klar wurde, dass diese Maria wohl nicht nur Zärtlichkeiten vermisst hatte. Und ganz offensichtlich verspürte er nun ein Verlangen danach, ihr in dieser Situation klarzumachen, was in ihm vorging, denn er sagte: „Es ging nicht …“ Dazu sein plötzlich aufblitzender Blick, in dem sie jedoch nichts als verwirrte Bestürzung erkannte. Ihm nun wiederum zu erklären, dass seine Andeutungen unpassend seien, wenn nicht gar verrückt wirkten, fand sie an dieser Stelle ebenso falsch, wie den Hinweis darauf, dass sie sich beide wohl noch lang nicht an diesem Punkt befinden würden – wenn überhaupt jemals. Als flach und wenig hilfreich empfand sie die Bemerkung, dass er sich erst einmal setzen solle, um sich zu beruhigen. Und wie sah es damit aus, ihm zu versichern, dass bestimmt alles gut werde? Nun, diesen Satz glaubten ihr bisweilen noch nicht einmal mehr ihre Schüler … Also senkte auch sie kurz den Blick, zwang sich zur Ruhe, ging dann kurzentschlossen auf ihn zu, nahm seine Hand und sagte: „Tanz mit mir.“ Sie wusste nicht, ob es das war, was er erwartet hatte, allerdings hob er den Blick, verzog den Mund zu einem Lächeln, nickte dann, wenn auch sehr verhalten und murmelte: „Ich habe Musik dabei.“ „Und welche?“ „Händel.“ „Was?“, entfuhr es ihr und sie wusste, dass sie ihn verwirrt ansah. Er aber nickte, fletschte die Zähne und das diesmal ziemlich stark, sodass sie sich, im Übrigen nicht zum ersten Mal, fragte, warum er ganz augenscheinlich nicht richtig lächeln konnte. Entweder verzog er den Mund oder zeigte die Zähne. Nur selten lächelten seine Augen. Und wenn es etwas gab, was sie noch immer an ihm störte, dann wohl das. Aber war es ihm vorzuwerfen? Es gab doch viele Menschen, die nicht lächeln konnten. Wenn sie da nur an die kleine Ronja dachte … Aber das war ein anderes Thema. „Ich dachte, ein Schreittanz für den Anfang …“, fuhr er in ihre Gedanken hinein. „Ich mag Barocktänze, das Menuett vor allem … Und da du gestern Abend …“ Er geriet ins Stammeln, griff in seine Jackentasche und holte sein Handy hervor. „Hier. Wie wäre es mit der Feuerwerksmusik?“ Sie wollte schon die Wangen aufblasen und ihm in einer ausladenden Geste verdeutlichen, dass sie mit allem, nur nicht damit gerechnet hätte, als die ersten Klänge an ihr Ohr drangen. „Darf ich bitten?“, hörte sie ihn hierauf fragen und ergriff die ihr dargebotene Hand. Dass dies keine Disco werden würde und dennoch etwas von dieser hatte, brachte sie zum Grinsen – und eben auch die Tatsache, dass sie Barockmusik zwar mochte, jedoch im Grunde gar keine Ahnung davon hatte, wie das Menuett zu tanzen sei. Also ahmte sie ihn – sich mehr auf seine Schritte als auf die Musik konzentrierend – in all seinen Bewegungen nach, was ihr schließlich ein ganz schlechtes Gefühl bescherte, da sie immer wieder ins Stolpern geriet und die Musik vollkommen aus ihrem Bewusstsein verdrängte. Doch kam es nicht gerade auf die Musik an? Sie hielt inne, löste sich von ihm. „Was?“, hörte sie ihn fragen. „Moment“, murmelte sie, schloss kurz die Augen, um Ruhe zu finden. Er hatte recht, gestern Abend hatte sie nach Bach getanzt. Vielleicht war ihr das nicht sehr gut gelungen, doch sie hatte es vermocht, sich selbst Ausdruck zu verleihen. Würde sie nun hier weiterhin an Jakobs Hand kleben und ihn nachahmen, käme das nicht nur einem Stümpern gleich, sondern würde sie beide nur immer weiter auseinandertreiben, eben, weil sie sich selbst nicht zu spüren vermochte. Sie aber wollte, wollte … wollte sich und darüber auch ihn spüren und seine Nähe genießen. Das wollte sie. „Ich muss zuerst allein …“, entfuhr es deswegen und schon breitete sie die Arme aus und begann sich zu drehen – einfach so, denn plötzlich war die Musik wieder in ihr. „Tanzen“, rief sie und zu ihm hinüber: „Ich kann nicht zusammen ...“ Sie bemerkte, dass er in seiner Bewegung innegehalten hatte und sie fragend ansah. Sie zuckte mit den Schultern, mühte sich um ein Lächeln, bewegte sich dann auf ihn zu, sagte: „Ich hab’s doch nie gelernt …“ „Aber dann kannst du’s lernen, von mir. Jetzt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt … Lass uns einfach tanzen.“ „Einfach tanzen?“ „Ja … einfach so. Tanzen. So, wie ich gestern Abend getanzt habe.“ „Wie gestern Abend?“ Er schien überfordert und so hielt auch sie inne, legte den Kopf leicht schräg und sagte: „Die Musik einfach nur fühlen und sich dann nach ihr bewegen.“ „Aber ich kann die Musik nur fühlen, wenn ich diesen Tanz tanze. Alles andere wäre doch Chaos“, entgegnete er. Und obwohl sie das seltsam fand, näherte sie sich ihm, strich ihm über die Wange, hielt kurz sein Kinn, um sich dann wieder von ihm zu lösen. „Nicht immer kommt es dann zum Chaos. Freiheit bedeutet nicht Chaos“, rief sie über ihre Schulter hinweg. Noch immer stand er da und sie meinte zu erkennen, dass er sogar den Kopf schüttelte. „Lass dich gehen“, fuhr sie fort und schwebte wieder auf ihn zu. „Erspür die Musik …“ „Aber dann tut es doch jeder für sich allein. Jeder erspürt für sich allein. Und dann …“ „Das stimmt“, unterbrach sie ihn, ohne in ihrer Bewegung innezuhalten. „Aber wer sagt denn, dass wir immer allein bleiben müssen. Selbst im Kosmos stoßen Teilchen aufeinander, obwohl es dort oben förmlich nichts gibt.“ „Komm mir nicht damit“, entgegnete er und sie sah unwillkürlich wieder zu ihm hinüber. Er lächelte nicht, denn ganz offensichtlich stieß er sich an ihrer Bemerkung. Gleichzeitig meinte sie zu verstehen, was diese Maria tatsächlich vermisst hatte. „Jakob, lass aus der Unordnung, dem Chaos, etwas entstehen … Komm, lass dich gehen ... Bitte. Ich möchte es …“ Sie blieb kurz stehen, überlegte, ob sie wieder zu ihm hinübergehen sollte, tat es dann jedoch nicht, lächelte stattdessen und streckte die Hände nach ihm aus. „Diese Musik verlangt doch nicht nach einer Ordnung der Schritte.“ „Na ja, sie ist reine Mathematik“, erwiderte er. „Ja, sicher, aber ist Mathematik nicht auch ein Spiel?“ „Ein Spiel?“ „Freiheit …“ Und um ihrer Bemerkung Ausdruck zu verleihen, breitete sie die Arme aus und rannte auf ihn zu, nur, um kurz vor ihm zu stoppen, indem sie kurz aufhüpfte. „Was nützt es dir, wenn du immer alles von Anfang bis Ende kennst. Dann gibt’s doch keine Überraschung. Selbst ich als Lehrerin, die immer alles planen muss, werde tagtäglich von Überraschungen überrascht, von Unvorhergesehenem … und ehrlich, das ist mir das Beste an meinem Beruf. Es gibt immer Dinge …“ Sie unterbrach sich, weil sie ahnte, dass sie vom Thema abkam. Jakob maß sie derweil mit Blicken und sie meinte zu erkennen, wie sich seine Lider langsam senkten. Und da war er: dieser abschätzende Blick, den sie nicht mochte. „Es ist so eine schöne Musik“, sagte sie, „so schön. Warum sie nicht mit dem Körper nachempfinden?“ „Nun“, schnappte er und verengte seine Augen zu Schlitzen, „warst du auf einer Waldorfschule und hast deinen Namen von früh bis abends getanzt?“ „Jakob“, entfuhr es ihr da und sie spürte, wie die Emotionen nach ihr griffen. Was sollte das? Was hatte er? Sein Verhalten gefiel ihr nicht. Sie empfand es als anmaßend, verletzend. Dazu dieses Zähnefletschen. Nein …! All das war ihr zu viel. Dafür war sie nicht hergekommen. Und so mühte sie sich um einen ruhigen Ton, als sie sagte: „Jakob, ich hätte wirklich gern mit dir getanzt, aber ich glaube, das wird mit uns beiden nichts.“ Und mit diesen Worten drehte sie sich um und ging. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)