Der eine zählt des anderen Tassen von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 5: Ausgebrannt ---------------------- Er ließ das Tier in seiner Hand sterben, ehe er es achtlos ins Wasser warf und sich wieder dem Aquarium zuwandte. Die Kinder um ihn her zeigten kaum eine Reaktion darauf, vielmehr taten sie es ihm gleich, wohl angetrieben von ihm, der nun mit beiden Händen im Wasser umhertastete, suchte, hervorholte, besah und … Nein, dem Ganzen wollte und konnte sie nicht länger beiwohnen. Und so wandte sie sich endlich ab, begab sich ans Heck und suchte sich dort einen Platz. Der Anblick der schwindenden Gröde lenkte sie kaum ab, doch ließ sie ihren Blick bewusst übers Wasser gleiten, holte auch bewusst tief Luft – und das immer und immer wieder. Sie hatte es in den letzten Jahren gelernt, sich zu sammeln und negativen Gedanken nicht nachzuhängen und doch kamen sie immer wieder hoch – auch später noch, da sie bereits daheim in ihrer Ferienwohnung war und Percy auf dem Schoß hatte. Er schmiegte sich an sie, schnurrte leise und forderte sie durch leichtes Stupsen dazu auf, ihn zu streicheln. Doch sie, ganz bei dem, was sie erlebt hatte, konnte ihn nur halten, sodass er schließlich von ihrem Schoß sprang und zur Tür hinaus verschwand. Keineswegs war sie überempfindlich – jedenfalls würde sie sich nicht als solches bezeichnen – doch das, was der Typ getan hatte – und ihrem Begriff nach hatte er den Fisch ganz bewusst sterben lassen, ja, er hatte ihm sogar noch in sein vom Tod entstelltes Gesicht gesehen – erschütterte sie so sehr, dass sie in sich eine Unruhe spürte, die, wenn sie nicht aufpasste in eine Art Erregung übergehen konnte, die sie außerstande war zu steuern. Das Beste war, hinauszugehen und sich zu bewegen. Sich abzulenken. Den Blick über das weite Land schweifen lassen und dazu einfach einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das wollte sie, das tat sie und fand sich wenige Minuten später an einer der Fennen wieder, streckte ihre Hand über den Elektrozaun und ließ sich von allzu neugierigen Kühen beschnuppern, die jedoch bei jeder ihrer Regungen zurückzuckten. Kaum konnte sie die Tiere beruhigen, geschweige denn sie streicheln. Allerdings spürte sie immer wieder feuchte Nasen an ihren Händen, sie spürte auch den warmen Atem dieser großen Tiere, sah ihnen dabei in die braunen Augen und begann mit ihnen zu sprechen, ihnen zu erzählen. Was? Nun, als sie selbst erfasste, was sie da sagte, kniff sie den Mund fest zusammen und wünschte sich, dass diese Hallig nur ihr allein gehören würde. Nur ihr. Nahm sich jedoch sogleich zurück und beschränkte sich darauf, leise gegen den Wind zu murmeln: „Diesen Kerl möchte ich nie wiedersehen. Und wenn doch, dann werde ich ihm auf den Kopf hin zu sagen, dass er ein ekelhafter Mensch ist.“ Nun, dass sie die Gelegenheit dazu erhielt, soll an dieser Stelle nur erwähnt werden. Auch, dass sie das Schicksal eines neuerlichen Zusammentreffens bereits in den kommenden zwei Tagen traf. Vorerst allerdings wünschte sie sich, all diese Gedanken weg, denn sie war nicht auf die Hallig gekommen, um sich zu grämen, sondern um sich zu erholen, ja, Spaß zu haben, sich treiben zu lassen und einfach einmal an nichts Spezielles denken zu müssen. Von ihrer Arbeit war sie bereits so überspannt, dass sie es manchmal gar nicht hinbekam, abzuschalten. Und wenn es im ersten Kapitel noch geheißen hat, dass sie des Sonntagmorgens in ihrem großen Ohrensessel saß, um beispielsweise den Brandenburgischen Konzerten von Bach zu lauschen, dann ist das zwar korrekt, aber ihre Gedanken um die Arbeit und ihr Leben an sich konnte sie nicht wegdrücken, die blieben. Und ausgerechnet hier, auf der Hallig war ihr eben dieses Meisterwerk – ja, sie nannte es ein Meisterwerk gelungen, dass sie ihren Blick nur schweifen lassen konnte, um den Vögeln im Flug zu folgen oder eben die Sterne des Nachts zu beobachten und sich immer wieder in die Tiefen der Milchstraße zu begeben, in diese schier unendlich wirkende Weite. Diese unzähligen leuchtenden Punkte, die ihr Licht über Millionen gar Milliarden von Kilometern weit ins All hinausschickten, ehe es die Erde traf. Eines nachts blieb sie gar so lang auf der Deichwiese liegen, bis sich weit im Westen bereits Orion, eines der wenigen Sternbilder, die sie (er-)kannte, zeigte und sie richtete ihren Feldstecher auf den rechten der Schultersterne, Beteigeuze, einen roten Überriesen, der sich, so wusste sie, in 600 Lichtjahren Entfernung befand. Sein Licht benötigte also 600 Jahre bis zur Erde – unvorstellbar. Noch mehr spürte sie die Grenzen ihres Fassungsvermögens angesichts der Tatsache, dass dieser Stern starb, sich also irgendwann in einer riesigen Supernova erging – oder es bereits getan hatte. Nur sahen wir es nicht, weil das Licht, das von dieser Katastrophe kündete, noch nicht bei uns eingetroffen ist … Und in dem Moment, da ihr das bewusstwurde, erhob sie sich und ungeachtet ihrer wieder aufkommenden Genickschmerzen, presste sie den Feldstecher an ihre Augen, fixierte diesen uralten Stern, der, befände er sich in unserem Sonnensystem, die Umlaufbahn Jupiters vollkommen einnähme. Sie war glücklich, diese Gedanken denken zu können, denn das hatte man sie gelehrt, nachdem sie gemeint hatte, dass nichts mehr einen Sinn hätte, alles in einer trüb-grauen Suppe zerlaufen würden, auch und vor allem das eigene Leben. Damals – das war schlimm gewesen. Wann immer sie daran zurückdachte, wie sie eines Abends im Winter in ihrer kleinen Küche am Tisch gesessen hatte, vor sich nur eine Kerze in der ansonsten dunklen Wohnung, dann traten ihr Tränen in die Augen. Sie hatte in die leicht flackernde Flamme gestarrt und war mit dem Mittelfinger der linken Hand durch sie hindurchgefahren, zuerst rasch, doch dann immer langsamer, um schließlich in ihr zu verharren. Damals war sie gerade 40 Jahre alt geworden und hatte sich verflucht, so ausgesprochen schwach zu sein. „Lene, du feiges, feiges Schwein“, hatte sie sich selbst geschimpft, ihre Hand zurückgezogen und nur wieder in die Flamme gestarrt, während die Wehen des Schmerzes abebbten. Doch in ihrem Inneren rumorte es und es schien sie ihr so, als verhöhne sie diese kleine Flamme durch ihr munteres Geflacker. Am nächsten Morgen war sie zum Arzt gegangen. Dorthin, an diesen Abgrund, wollte sie niemals wieder zurück. Doch als sie vor einem Jahr in Südtirol war und erfuhr, dass manche Täler in den Wintermonaten kaum Sonne abbekamen, die dortigen Menschen demnach in einem ewigen Zwielicht lebten, überkam es sie kalt und sie musste mit sich kämpfen, nicht wieder ihres eigenen tiefen Tals, das sie überwunden geglaubt, ansichtig zu werden. Mittlerweile arbeitete sie wieder und versuchte ihr Leben in den Griff zu bekommen. Und diesen Urlaub, den hatte sie sich extra ausgesucht, weil sie spürte, dass diese Flamme, die in ihr selbst brannte, wieder zu verlöschen drohte. Deswegen diese drei Wochen auf der Hallig, um dann für die nächste Zeit gewappnet zu sein. Deswegen auch das Mühen darum, nun bei den Kühen auf der Weide Ruhe zu finden. Sie brauchte sie so dringend, ebenso wie das Schweigen, die Stille. Sie schloss kurz die Augen, schluckte und atmete ganz bewusst. Wegatmen, hatte ihr Therapeut gesagt, wegatmen. Bewusstsein gegen fast übermächtige Gefühle, die sie auszuhöhlen suchten – und die Flamme in sich bewahren. Um dies zu unterstützten, entzündete sie an diesem Abend auch eine Kerze, löschte das sonstige Licht, setzte sich an den Wohnzimmertisch, sah in die Flamme und schickte alle negativen Gedanken in sie hinein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)