Ich, er und die Liebe von Maginisha ================================================================================ Prolog: Von zerbrochenen Brillen und besten Freunden ---------------------------------------------------- Ich weiß noch genau, wie ich mich in ihn verliebt habe. Es war eine dieser Schulstunden, in denen ich zu viel Zeit hatte in der Gegend herumzugucken. Das heißt, es war entweder Mathe und ich somit schon mit den Aufgaben fertig, während alle anderen noch über ihren Heften schwitzten, oder Geschichte; ein Fach, das mich dermaßen anödete, dass ich mir meistens nicht mal die Mühe machte, dem Unterricht zu folgen. Ich lernte das Nötigste lieber allein zu Hause nach, auch wenn das doppelte Quälerei bedeutete. Eigentlich hätte ich mich zu diesem Zeitpunkt Anton zugewandt, um leise mit ihm zu tuscheln oder Ergebnisse zu vergleichen, während der Schrader vorne am Lehrerpult möglichst nichts davon mitbekam. Anton saß in fast allen Fächern neben mir und war so was wie mein bester Freund. Ich sage „so was wie mein bester Freund“, weil wir im Grunde nichts zusammen unternahmen, dass uns zu Freunden machte. Das lag weniger an mir als vielmehr an Anton beziehungsweise Antons Mutter, die ständig versuchte, ihren Sohnemann in Watte zu packen. Aber, wenn wir mal ehrlich sind, musste man das mit Anton auch, wenn man nicht Angst haben wollte, dass ihn der nächste laue Frühlingswind umpustete. Anton war klein, geradezu winzig. Er hatte eine Hühnerbrust, dünne Ärmchen und Beinchen, eine dicke Brille, die ständig von der Nase rutschte, und Asthma. Außerdem ungefähr 35 verschiedene Allergien und eine Befreiung vom Sportunterricht, von Klassenfahrten, vom Müllsammeln im Schulgarten und er konnte nicht Fahrradfahren. Letzteres lag daran, dass seine Mama immer Angst hatte, dass er runterfiel und sich dabei eine Blutvergiftung holte.   Warum ich das erzähle, obwohl Anton eigentlich gerade nicht das Thema ist? Weil er an dem Tag beim Arzt war. Somit fiel er als Gesprächspartner aus und die Alternative auf der andere Seite, Oliver, kam aus diversen anderen Gründen nicht infrage, auf die ich später zu sprechen komme. An Oliver kam man nämlich schwer vorbei, weswegen er in unserer u-förmigen Sitzaufteilung auch ganz außen saß, mit mir und Anton als Puffer zwischen den Mädchen, die sich durch seine Anwesenheit ebenso belästigt fühlten wie alle anderen inklusive der Lehrer und der Putzfrau. Aber dazu später mehr.   Das eigentlich Interessante an diese Mathestunde – es muss Mathe sein, sonst hätte er nämlich garantiert zugehört und irgendwann eine dieser trockenen, aber superschlauen Bemerkungen rausgehauen, die alle anderen in Ehrfurcht erstarren und mich normalerweise mit den Augen rollen ließen – saß nämlich auf der anderen Seite des Us und mir somit fast gegenüber. Während ich also Staubkörnchen dabei zusah, wie sie dem Gesetz der Schwerkraft folgten und durch den sonnendurchfluteten Luftraum des Klassenzimmers gen Boden tänzelten, tat er genau das Gleiche. Allerdings hatte das bei ihm vermutlich den Grund, dass er keine Ahnung hatte, wie er die Aufgaben lösen sollte. In Mathe war er nämlich echt schlecht. Und da er in dieser Stunde schon viermal ermahnt worden war, nicht mit Johannes zu quatschen, seinem Nebenmann, den alle nur Jo nannten, obwohl Hannes viel eher zu ihm gepasst hätte, blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als ebenfalls in der Gegend rumzugucken und mit seiner Brille zu spielen. Ja, auch er hatte eine Brille, aber nicht so ein Nasenfahrrad wie Anton, sondern so ein randloses, total intellektuell wirkendes Teil, das unter den blonden Strähnen, die ihm immer ins Gesicht rutschten, gar nicht auffiel. Und wenn, unterstrich es eigentlich nur noch das männlich Markante seines Gesichts, das ihn so völlig vom Rest der Typen abhob, die bei uns noch so im Klassenzimmer rumgammelten.   Aber, meine Güte, was will man erwarten. Ganz normale Zehntklässler halt. Weder besonders schlau, noch besonders schön, mit Pickeln im Gesicht und bis über beide Ohren voll mit Hormonen und dummen Sprüche. Die Mädchen waren uns schon ungefähr drei Jahre in ihrer Entwicklung voraus, wenn man mal von Corinna absah, der im letzten Schuljahr rausgerutscht war, dass ihr ihre Mama immer noch die Klamotten rauslegte. (Anlass war ein Pullover, den sie auf links angezogen hatte und von dem sie dann steif und fest behauptet hatte, der gehöre so, weil nämlich ihre Mama ihr den so hingelegt habe. Man kann sich die Reaktionen in etwa vorstellen.) Ansonsten waren wir halt ein Haufen Chaoten, bei dem ich irgendwo im Randorbit mitschwamm, weil man gegen mich nicht wirklich was haben konnte.   Das Zentrum des männlichen Zehnte-Klasse-Universums bildete jedoch er, seit er vor zwei Jahren als Sitzenbleiber zur Tür reingestiefelt war und sich auf den erstbesten Platz gepflanzt hatte, der ihm vor die Nase gekommen war. Dass dort eigentlich Jo gesessen hatte, interessierte in dem Moment nicht mehr. Wenn er etwas beschloss, muckte halt keiner dagegen auf. Ich auch nicht. Noch nicht mal an diesem ersten Tag, obwohl ich durch die Durchrückerei, die seine widerrechtliche Besetzung zur Folge hatte, meinen Platz ganz am Ende der Bank verloren hatte und so zwischen Anton und Oliver gelandet war. Mir war er nämlich einfach zu blöd gewesen, um mich groß mit ihm abzugeben. Er war ein eingebildeter Schnösel und sich viel zu sehr bewusst, dass nahezu alle Mädchen der Mittelstufe auf ihn standen. Diese Meinung hatte sich auch in den letzten zwei Jahren nicht geändert bis zu dieser Mathestunde, in der wir uns nun also gegenüber saßen wie Cowboys beim High Noon.   Ich weiß gar nicht mehr, warum ich eigentlich rübergesehen habe. Vielleicht, weil sich in dem Moment gerade eine Wolke vor die Sonne schob, die mir bis dahin volle Kanne in den Nacken knallte, und mich daher meiner Goldstäubchen zum Zusehen beraubte. Vielleicht, weil ich sehnsüchtig zur Klassenraumtür schielte, die gleich hinter ihm lag und durch die es in den nächsten Minuten zur großen Pause gehen sollte, in der ich mich endlich mit meinem Buch in eine Ecke verkrümeln konnte. Vielleicht auch einfach so, weil man halt überall mal hinguckt, wenn man sowieso nichts zu tun hat. Tatsache war jedoch, dass ich dabei mitansehen durfte, wie [style type="italic"]er[/style], namentlich Theodor von Hohenstein, seine Brille zerbrach. Einfach so mittendurch. Vermutlich hatte er vorher damit herumgespielt, weil ihm die dämlichen Gleichungen nicht so gehorchen wollten wie der Rest der Welt, und plötzlich machte es leise 'Knack' und er hatte zwei zerbrochene Teile in der Hand. In dem Moment, als es passierte, sah er hoch und mir direkt in die Augen. Und dann wurde er rot. Ich schwöre, ich habe es gesehen. Mister Ich-bin-ja-so-eine-obercoole-Sau schoss das Blut ins Gesicht, während er mich anstarrte wie eine Kuh, wenn's donnert. Ich war so verdattert, ich konnte nicht mal lachen. Stattdessen verzog sich mein Mund nach einer halben Ewigkeit zu einem mitfühlenden Kann-ja-jedem-mal-passieren-Lächeln, das er auch noch erwiderte, bevor er sich der Schadensbegutachtung widmete und mich wieder vollkommen ausblendete. Und ich? Ich saß da mit einem Herzklopfen, das noch bis in die nächste Klasse zu hören sein musste, und dachte nur:   „Scheiße, ich bin verknallt.“ Kapitel 1: Von blutigen Nasen und bösen Schmetterlingen ------------------------------------------------------- So, nun könnte es eigentlich mit der Action losgehen, tut es aber noch nicht. Ich möchte nämlich erst mal noch ein paar Dinge klarstellen. Erstens: Mein Name ist Benedikt Dorn. Zweitens bin ich, wie der Name vermuten lässt, kein Mädchen. Und drittens: Ich bin schwul. Nachdem das jetzt geklärt wäre, gibt’s noch irgendwelche Fragen? Wie ich aussehe? Na, da gibt es wirklich Interessanteres zu erzählen. Stellt euch einfach irgendwas mittelmäßiges vor. So jemand wie euren Cousin zweiten Grades, den ihr alle Jubeljahre mal bei Tante Annas Geburtstag trefft und immer schon ein bisschen langweilig fandet, weil der irgendwie nie ein Wort sagt und bestimmt voll öde Hobbys hat wie Aquarienfische züchten und Schlangen aus Büroklammern basteln oder so was in der Art. So einer bin ich. Noch was? Wer Theodor ist? Hab ich doch schon erzählt. Der Kerl, in den die halbe Schule inklusive mir verknallt ist. Groß, schlank, sportlich, so ein Surfertyp. Ihr wisst schon. Immer leicht gebräunt, dunkelblonde Haare, die im Sommer so helle Strähnchen kriegen, mit irgendeinem total männlich coolen Anhänger an einem Lederbändchen um den Hals und einem Hintern zum Niederknien. Nein wirklich, ich kann das beurteilen. Ich starre den nämlich gerade an, während wir Mannschaften für das anstehende Völkerballspiel auswählen. Dieser Vorfall mit der Brille ist jetzt ungefähr zwei Wochen her und ich bin in Theodors – oder wie Jo ihn nennt „T“, ausgesprochen „Ti“ wie das englische T – Mannschaft, was mir ermöglicht, unauffällig einen halben Meter hinter ihm zu stehen und ihm auf den Arsch zu glotzen. Und man, das ist wirklich ein verdammtes Prachtstück. Eigentlich kann man das in den weiten, halblangen Shorts gar nicht so gut erkennen. Ich weiß trotzdem genau, wie er aussieht, weil T nämlich die Angewohnheit hat, mit dem Fahrrad zur Schule zu kommen. Das ist so ein Rennradteil, auf dem man fast liegt und dementsprechend präsentiert er, wenn er mit dem Ding angefahren kommt, sein schönstes Körperteil so richtig einladend für alle anwesenden Schwulen, die dabei einen halben Herzkasper kriegen. Nein, natürlich habe ich ihm nicht aufgelauert, um das abzuchecken. Dazu hätte ich mich ja, statt bequem mit dem Bus zu fahren wie sonst auch, mit meinem klapprigen Drahtesel zur Schule quälen müssen, um ihn dort im Fahrradkeller abzupassen, und das wäre ja nun wirklich etwas viel des Guten, oder? Mein Schwarm wäre also abgefrühstückt, dann starre ich jetzt noch ein bisschen und ihr … Ihr wollt wissen, wie ich gemerkt habe, dass ich schwul bin? Euch ist schon klar, dass das ne total behämmerte Frage ist, oder? Seit wann wisst ihr denn, dass ihr es seid? Oder seid ihr hetero? Wann habt ihrdas denn bitte gemerkt? Na seht ihr, sag ich doch. Blöde Frage. Aber weil ich mich grad ein bisschen ablenken muss, damit ich nicht auch noch anfange zu sabbern, erzähl ich euch halt, was ihr in den letzten 16 Jahren meines Lebens verpasst habt. Alles begann damit, dass ich geboren wurde … Okay, ist jetzt nicht so der innovative Anfang, das muss ich zugeben. Wir spulen also ein bisschen vor und gucken uns mal an, ob es nicht irgendwelche ominösen „Anzeichen“ dafür gab, dass ich vielleicht ein bisschen anders ticke als die Jungs, die in der Pause mit ihren Freundinnen rumknutschen und hinter deren Rücken erzählen, sie hätten ihnen schon an die Brüste oder woanders hingefasst oder „es“ sogar schon getan. (Ich sage euch, die Hälfte von denen lügt. Hoffe ich zumindest.) Rückblickend gesehen gab es vielleicht tatsächlich den einen oder anderen Hinweis, aber ich gestehe, ich hab's erst ziemlich spät wirklich kapiert. Ich meine, ich hatte noch nie ein Faible für Lidschatten und Glitzer, hab keine hübschen Blumenbeete angelegt, wenn ich nicht gerade zur Gartenarbeit verdonnert wurde, und auch nie Kleider getragen bis auf dieses eine Mal beim Fasching. Da hatte sich meine Mutter beim Bestellen des Faschingskostüms vertan und statt des erwarteten Dinoanzugs waren in dem Paket ein rosa Tutu und Schmetterlingsflügel. Zum Umtauschen war natürlich keine Zeit mehr und ich am Boden zerstört. Meine große Schwester hat mir dann einfach mit Kajal eine gruselige Maske ins Gesicht gepinselt und gesagt, ich wäre jetzt ein supergiftiger Terrorfalter. Fand ich so lange gut, bis die anderen im Kindergarten mich ausgelacht haben, sodass ich dem Rädelsführer meinen „Regenbogenzauberstab of Doom“ über den Schädel gezogen und mich danach unterm Klettergerüst versteckt habe, bis es Zeit zum Abholen war. Nicht gerade eine meiner Sternstunden. Als nächstes hätte man vielleicht auffällig finden können, wie sehr ich mich immer an die Freunde meiner großen Schwester rangeschmissen habe. Die ist gute acht Jahre älter als ich und hat dementsprechend, als ich in die Pubertät kam, schon mal den einen oder anderen heißen Typ mit nach Hause gebracht. Und natürlich hatte ich als nerviger, kleiner Bruder nichts Besseres zu tun, als sie bei ihren Dates zu stören. Da war zum Beispiel Maik. Maik war Biker und sooo cool. Als er mich eingeladen hat, mal eine Runde auf seinem Bock mitzufahren, hab ich natürlich nicht nein gesagt. Leder, Benzin, Männerschweiß und ne schwere Maschine zwischen den Beinen, das ist doch nun wirklich nichts, was einen Jungen nicht anmachen darf. Ich war total aufgeregt und hab mich wie blöd an ihm festgeklammert, damit ich nicht runterfalle. Ist ja ganz normal, oder? Meine Schwester war zwar nicht begeistert, aber unsere Mutter hat was von „fehlender, männlicher Identifikationsfigur“ gefaselt und gemeint, sie solle es mir doch gönnen. Also hat Diana sich ein bisschen zurückgehalten – vielleicht auch, weil unsere Mutter gesagt hat, dass sie sonst am Wochenende das Auto nicht kriegt – und ich schwebte im siebten Pubertätshimmel, weil ich die offizielle Erlaubnis hatte, den Objekten meiner Begierde auf den Pelz zu rücken. Gut, es war nicht immer alles prima. Wenn wir zum Beispiel mit ihren Freunden zum Baden gegangen sind, hab ich ziemlich oft warten müssen, bis die zwei im Wasser verschwunden waren, damit keiner was von meinem mehr als offensichtlichen Problem mitbekam. Ich hab mir dann irgendwann ne weitere Badehose gekauft, seitdem ging’s, aber vorher: Hölle! Die wirkliche Offenbarung über meinen „Zustand“ hatte ich aber dank Enid Blyton. Neeeeiiin, nicht was ihr jetzt denkt. Ich habe nicht „Hanni und Nanni“ gelesen und wäre am liebsten bei diesen supergeheimen Mitternachtspartys dabei gewesen, um mit meinen Freundinnen um die Wette zu kichern, während ich mich mit Dosenpfirsichen vollstopfe. (Ja gut, das eine oder andere Band hab ich vielleicht doch gelesen, als mir mal in den Sommerferien echt langweilig und die Bücherei geschlossen war und ich somit nur noch Dianas alte Kinderbücher oder die Tageszeitung zur Auswahl hatte. Aber ich fand diesen Mädchenkram wirklich ganz furchtbar!) Eigentlich stand ich jedoch eher auf die „Fünf Freunde“ und zwar besonders auf Richard, mit dem ich mich total identifizieren konnte. Und genau wie er wollte ich nach dem Konsum des ersten Bandes nur noch „Dick“ genannt werden, weil ich meinen richtigen Namen sowieso mal total peinlich fand und immer noch finde. So heißt doch kein Schwein! „Der Gesegnete“. Am Arsch! So kann man Päpste nennen, aber doch keine unschuldigen Neugeborenen, die sich dagegen nicht wehren können. Leider war meine Mutter bei der Namenssuche auf dem Trip, dass ihr Sohn was Besonderes haben müsse. Sie ist nämlich Standesbeamtin und somit auch zuständig für Pässe, Geburtsanmeldungen und all solchen Kram. Dementsprechend hatte sie schon viele, viele ganz furchtbare und vor allem doppelt vergebene Namen zu Gesicht bekommen. Allein in unserer Jahrgangsstufe gibt es zwei Lukasse, drei Leons und sage und schreibe vier Mias. Zum Glück verteilen die sich einigermaßen gleichmäßig auf die drei Klassen und die Mias haben fast alle noch einen Zweitnamen, sodass wir nun bei uns in der Klasse nur noch mit Mia-Sophie und Mia-Marie zu kämpfen haben. Aber zurück zu meinem Namensproblem. Dank der lieben Enid wurde also aus dem „blöden Benedikt“ der „coole Dick“, was aber nur ungefähr so lange wirklich cool war, bis mich die zunehmenden Englischkenntnisse meiner Mitschüler und Social Media einholten. Ich sehe, dass ihr grinst, und ihr habt recht mit eurer Vermutung. Irgendwann tauchte auf irgendeinem Handy eines dieser „Dick pics“ auf und natürlich bekam ich das mit dem Vermerk „Guck mal, ein Foto von dir“ weitergeleitet. Nur dass ich im Gegensatz zu allen anderen darauf nicht mit hysterischem Gekreisch und „Ieh, wie schwul“-Rufen reagierte. Also natürlich habe ich gesagt, dass sie mich mit der Scheiße in Ruhe lassen sollen, aber … ähm … na ja. Ich fand das Bild gar nicht mal so schlecht. Das Schlimmste war jedoch, dass dann tatsächlich der eine oder andere angefangen hat, selbst solche Bilder zu machen und rumzuschicken. Ob nun wirklich von seinem eigenen Equipment oder von irgendwelchen Bildern aus dem Netz, weiß ich nicht. Aber plötzlich sah ich meine männlichen Klassenkameraden nur noch als herumlaufende Schwänze und das war dann irgendwie der Augenblick, in dem mir klar war, dass da bei mir was anders gepolt ist. Und jetzt stand ich hier und starrte Ts rattenscharfes Hinterteil an, während die letzten, armen Schweine auf die Mannschaften verteilt wurden, die eigentlich niemand haben wollte. Kanonenfutter eben. Und Oliver. Oliver hatte nämlich die nervige Angewohnheit, grundsätzlich gegen seine eigene Mannschaft anzuarbeiten, indem er dafür sorgte, dass man nicht gescheit werfen konnte oder gleich die andere Mannschaft den Ball bekam. Oder aber er knallte irgendwem den Ball ins Gesicht – vorzugsweise einem Mädchen, das daraufhin anfing zu heulen – weswegen die eigene Mannschaft dann irgendwelche Strafen auferlegt bekam und man alle Hände voll zu tun hatte, den Mist wieder auszubügeln. Also nein, Oliver wollte keiner haben, ebenso wenig wie Mia-Marie, die eigentlich alle nur „die dicke Mia“ nannten, was natürlich total gemein war, von ihr aber einigermaßen mit Humor genommen wurde. Meist begnügte sie sich damit, auf ihren Platz zu trotten und sich beim ersten Ballwechsel abwerfen zu lassen, um dann den Rest der Stunde am Spielfeldrand rumzustehen. Ich hab sie mal sagen hören, dass das immer noch besser sei als beispielsweise Basketball, wo man ständig rumrennen und so tun musste, als wenn man mitspielen würde. Nicht, dass ich jetzt ne große Leuchte beim Basketball wäre. Im Treffen des kleinen Korbs bin ich nämlich auch nicht so dolle. Aber Völkerball war okay, weil ich früher mal Fußball gespielt habe. Als Torwart. Von daher war Bälle fangen jetzt nicht so das Problem, wenngleich ich sie danach meist an die besseren Werfer weiterverteilte. Ist immerhin ne Teamsportart, oder? „Na los, fangen wir an, sonst ist die Stunde gleich um“, rief plötzlich unser Sportlehrer und wedelte uns auf unsere jeweiligen Spielfelder. Herr Jansen war so einer, der den ganzen Tag im Trainingsanzug rumlief. Ich weiß gar nicht, ob der eigentlich auch noch was anderes unterrichtete. Müsste er am Gymnasium ja eigentlich, oder? Aber bisher hatte ich ihn nur hier unten in Sportmontur bewundern dürfen. „Uh, guck mal, da oben steht Mia“, raunte Jo plötzlich T zu und nickte mit dem Kopf in Richtung Decke. Dazu muss man wissen, dass unsere Turnhalle so halb unterirdisch liegt. Im oberen Drittel der einen Wand sind riesige Glasscheiben eingelassen, durch die einerseits Tageslicht einfällt, andererseits Leute von dort aus beim Sport zugucken können. Normal tat das natürlich während des Unterrichts keiner, aber anscheinend hatte „nur Mia“ aus der 10a in der ersten Stunde eine Freistunde und somit die Möglichkeit, sich nebst ihrer besten Freundin dort oben zu platzieren und Publikum zu spielen. Dass das überhaupt einen Blick wert war, lag vielleicht daran, dass „nur Mia“ ziemlich gut aussah. Also so für ein Mädchen. Schulterlange, blonde Haare, blaue Augen und irgendwie „süß“ ohne dabei kindlich oder albern zu wirken. Außerdem hatte sie ziemlich große Brüste, wie allen anderen Jungs anscheinend aufgefallen war, nur mir nicht. Wir wissen ja inzwischen, warum. „Na und“, gab T jetzt zur Antwort und tat so, als würde er sich auf das Spiel konzentrieren, das noch gar nicht angefangen hatte. „Die steht bestimmt auf mich.“ Jo strotzte nur so vor Selbstbewusstsein. Als wenn „nur Mia“ sich ausgerechnet in einen Spargeltarzan mit mausbraunem Undercut vergucken würde. „Wohl eher auf Theo“, plapperte mein Mund irgendwie los, bevor ich es verhindern konnte. Zwei erstaunte Augenpaare richteten sich auf mich. „Wer hat dich denn gefragt, Peniskopf?“ Sieh an, Jo konnte Englisch. Ein Hoch auf die moderne Bildung. „Und er heißt T.“ „Alles klar, Hannes“, grinste ich zurück. Keine Ahnung, was mich in dem Moment geritten hat. Vielleicht die Tatsache, dass zwischen Jo und mir seit ewigen Zeiten eine unterschwellige Feindschaft bestand, seitdem meine Mannschaft seine mal bei einem Heimturnier abgezogen hat. Er war übrigens der Torwart der Gegenmannschaft, der einfach alles durchgelassen hat, was unsere Jungs ihm reingedrückt haben. Am Ende hat er geheult und wir hatten gewonnen. Damals waren wir ungefähr sieben und er seitdem sauer auf mich. Ich spiele inzwischen kein Fußball mehr und er ist mittlerweile in der Bezirksliga oder so. Von daher gab es eigentlich keinen Grund, warum er mich immer noch angiftete wie eine Bulldogge auf Speed, aber er tat’s nun mal und ich ging ihm deswegen meistens aus dem Weg. Meistens, wohlgemerkt, aber nicht heute. „Du willst wohl Stress haben?“, knurrte Jo und ballte die Hände zu Fäusten. „Mit dir? Keine Ahnung. Kannst ja mal versuchen, ob du mich triffst.“ Ich ging einen kleinen Schritt zurück und suchte mir festeren Stand. Seit ich kein Fußball mehr spielte, war ich nämlich auf Umwegen beim Judo gelandet und Jo hatte schon mal versucht, sich körperlich mit mir anzulegen, was ihm nicht so besonders gut bekommen war. Nicht nur, dass ich ein bisschen größer und stärker war als er, ich wusste eben einfach, was ich tun musste, damit mein Gegenüber nicht auf den Beinen blieb. Wenn ich es mir recht überlege, könnte das der Grund sein, warum er immer noch so angepisst war. „Jetzt macht er wieder einen auf Karate-Kid“, höhnte Jo und fing an sich kaputtzulachen. Arschloch. Es drängte mich wirklich, ihm eins auf die Zwölf zu geben – so ganz unjudomäßig – aber wir waren hier immerhin dem wachsamen Blick einer Lehrkraft ausgesetzt, also war das vermutlich keine so gute Idee. Deswegen grinste ich ihn nur noch einmal an und verbeugte mich spöttisch in seine Richtung. Ich wollte mich gerade umdrehen und mich wieder auf das Spiel konzentrieren, als wie aus dem Nichts plötzlich ein Ball auftauchte und mich voll ins Gesicht traf. Scheiße, tat das weh! Ich riss noch den Arm hoch, was natürlich viel zu spät war, aber immerhin den Weg meiner Hand zu meiner Nase verkürzte, als mir plötzlich das Blut aus selbiger schoss. Ich versuchte, den Strom irgendwie aufzuhalten, aber besonders erfolgreich war ich nicht und die ersten roten Spritzer landeten auf dem grauen Turnhallenboden. „Oliver!“, war alles, was ich hörte, bevor sich auf einmal Herr Jansen in mein leicht lädiertes Gesichtsfeld schob. „Geht es, Benedikt?“ „Ja, geht“, nuschelte ich undeutlich hinter meiner Hand, durch die es immer noch auf den Fußboden suppte. „Du kommst am besten mit und der Rest von euch fängt schon mal an zu spielen. Sandra, du hast hier die Leitung.“ Na prima, jetzt wurde ich wie ein Fünftklässler verletzt vom Platz geführt, während der Rest der Klasse mich anglotzte wie ein exotisches Tier. „Selbst schuld!“, rief noch jemand hinter mir her und wenn mich nicht alles täuschte, war das Jo. So ein Saftsack! „Hier hast du erst mal was zum Aufwischen“, meinte Herr Jansen und gab mir ein paar von diesen scheißrauen, grauen Papiertüchern, die die Nässe immer nur gleichmäßig verteilen, aber nie aufsaugen. Wer die erfunden und dann noch die Frechheit besessen hat, sie „Handtücher“ zu nennen, möchte ich mal wissen. Dann wühlte mein Lehrer in dem kleinen Kühlschrank, der in der Lehrerumkleide stand, und förderte schließlich ein Kühlpack zutage. „Damit kannst du nachher die Schwellung kühlen, wenn es aufgehört hat zu bluten.“ Ich nickte nicht, sondern tat einfach nur, was er gesagt hatte. War jetzt nicht so, dass ich das erste Mal was abbekam. Viele raten ja bei Nasenbluten, den Kopf in den Nacken zu legen, aber das ist total falsch, weil das Blut dann den Rachen runterrinnt und zu Übelkeit und Erbrechen führen kann. So was lernt man unweigerlich, wenn man Kampfsport macht. Ich ließ stattdessen den Kopf etwas nach vorne sinken und drückte auf meine Nasenflügel, um die Blutzufuhr zu unterbinden. „Hast du dich mit Oliver gestritten?“, fragte Herr Jansen jetzt. Sein blauer Trainingsanzug raschelte. „Nein“, brummte ich. „Der braucht doch keinen Grund, um jemanden zu schikanieren. Wissen Sie doch selber. Ich hab einfach nur dagestanden.“ Ein Seufzen war alles, was von Herrn Jansen kam. „Na schön, dann setz dich einfach drinnen auf die Bank, bis du wieder fit bist, klar?“ „Klar“, gab ich widerwillig zur Antwort. Am liebsten wäre ich ja hiergeblieben und hätte noch ein bisschen meine Wunden geleckt. Aber das ging natürlich nicht wegen der Aufsichtspflicht. Also wurde ich samt Kühlpack und Papiertüchern wieder in die Halle gescheucht. Was für eine Blamage. Ich konnte nur hoffen, dass es bald aufhörte zu bluten, dann würde ich einfach wieder mitspielen und so tun, als wäre nichts passiert. Oliver war anscheinend zur Strafe ebenfalls auf die Bank verbannt worden und grinste mich von da aus an. Wichser! Der sollte nochmal versuchen, in Mathe von mir abzuschreiben. Irgendwie schien er nicht zu kapieren, dass man nicht in einem Moment Scheiße zu den Leuten sein und im nächsten was von ihnen wollen konnte. Wer ficken will, muss freundlich sein, Junge. Ich wünschte mir wirklich, Anton wäre jetzt hier, aber da er ja regelmäßig der erquicklichen Leibesertüchtigung fernblieb, der wir hier dreimal wöchentlich frönen durften, waren für ihn die Sportstunden in der Lehrmittelbibliothek verplant. Es gab noch eine weitere Bücherei, die fest in Lehrerhand war und nur zweimal die Woche geöffnet hatte, aber das Lager mit den Büchern, die im Unterricht gelesen wurden (also 25 mal „Effi Briest“ und ähnliches mehr) war dank eines von irgendeinem Lehrer ins Leben gerufenen Projekts unter Verwaltung mehrerer Schüler. Also eigentlich nur unter Antons Fuchtel und die anderen durften ein bisschen so tun als ob, um sich auch ein Fleißsternchen zu verdienen. Ich hätte da auch mitmachen können, aber ehrlich gesagt hatte ich keine allzu große Lust, meine Zeit in einem Raum mit vier total unattraktiven Nerds zu verbringen. Ich lieh mir allerdings manchmal was aus, damit sie sich nicht total nutzlos vorkamen. Das Meiste davon brachte ich zwar ungelesen wieder zurück, aber das wussten die ja nicht. Meine Nase hatte inzwischen aufgehört zu tropfen. Ich ließ also das Kühlpack Kühlpack sein und machte mich auf den Weg zum Spielfeld. Kurz davor stoppte mich eine energische Stimme. „Das geht nicht. Benedikt kann jetzt nicht mehr mitmachen.“ Au ja, Auftritt Sandra Degenhardt. Klassensprecherin, Lehrerliebling, Sportass, Rächerin der Verderbten und Enterbten. Und in der Gegenmannschaft. „Das ist unfair. Wenn er jetzt noch ins Spiel kommt, verschiebt das total das Kräfteverhältnis.“ „Na und, wir sind doch eh schon zwei weniger.Das ist unfair.“ Ich stelle vor: Ben Neumann, zweiter Klassensprecher und grundsätzlich dagegen. Sein späterer Berufswunsch war vermutlich Politiker in der Opposition. Er war außerdem der Grund, warum mein Name nicht einfach zu „Ben“ abgekürzt werden konnte. „Das Spiel ist doch eh fast zu Ende. Ist doch nur noch T da.“ Mein Blick glitt zur Seite und tatsächlich. Da stand Mister stramme Hose als Letzter auf dem Feld. Will heißen, wenn ich jetzt wieder reinkam, hatte ich ihn einige kostbare Minuten ganz für mich allein ... wenn man mal von den ganzen anderen Kanaillen drumherum absah und davon, dass irgendeiner bestimmt gleich wieder reinkam, wenn wir zu zweit den Ball an uns gebracht und damit das Blatt gewendet hatten. Aber ich konnte Sandras Blickwinkel verstehen. Wenn sie T erwischten, hatten sie gewonnen. Ich musste ihn retten und damit gleich das Spiel und meine Ehre. „Komm schon, lass mich mitmachen. Noch ein Spiel schaffen wir eh nicht“, bettelte ich. Ja, ich bettelte. Ich wollte da unbedingt hin. Außerdem hatte ich recht, denn wenn wir noch genug Zeit zum Umziehen haben wollten, musste Herr Jansen uns gleich entlassen. „Ja, los, gib uns ne Chance“, sagte da plötzlich eine Stimme, von der ich das nicht erwartet hatte. Ts Stimme. Wow, die war so … tief und männlich. Da kriegte man fast weiche Knie davon. Fast. Wenn man ein Mädchen wäre. Was ich nicht bin, kapiert? Aber … aaaah, habt ihr gehört, was er gesagt hat? Sie soll uns ne Chance geben. Oh ja bitte. Ich würd so gerne … also … ich würde … ich … Blinzeln. Atmen. Blinzeln. Nochmal atmen. Aufhören T in die Augen zu sehen und auf gar keinen Fall rot werden, weil … ach Kacke! Schon passiert. Hoffentlich hat das keiner gesehen. Bloß schnell abdecken, ernsthafte Kriegsverletzung vortäuschen und dann möglichst unauffällig vom Schlachtfeld robben. „Ich glaube, meine Nase blutet wieder“, murmelte ich hinter vorgehaltener Hand und schlich zu dem fast aufgetauten Kühlpack zurück, um es mir aufs Gesicht zu drücken. Scheiße! Konnte man unter so einem Kühlpack eigentlich ersticken? Schön wär’s zumindest. Dann müsste ich die Peinlichkeit nicht ertragen, mit T und den ganzen anderen nachher in die Umkleidekabine zu gehen und mich ihrem Spott auszusetzen, während ich mich umzog. Während er sich umzog. Okay, wisst ihr was, ihr geht am besten schon mal vor und ich bleib noch ein bisschen hier sitzen, bis die Stunde vorbei ist. In der Jungsumkleide habt ihr nun wirklich nichts verloren, also husch-husch! Raus mit euch! Kapitel 2: Von karierten Zetteln und nervigen Oberlippenbärtchen ---------------------------------------------------------------- Ach, da seid ihr ja wieder.   Hi.   Ja, alles gut bei mir.   Warum ich so komisch gucke?   Na weil ihr mal so überhaupt gar nichts verpasst habt in der Umkleidekabine.     T war schneller weg, als ich „schicke Shorts“ auch nur denken konnte. Jo hat ihn in seine Klamotten geprügelt, um „nur Mia“ noch abpassen und ihr ne Frikadelle ans Ohr labern zu können. Und ich? Ich hab einen auf Schnecke gemacht. Die nächste Stunde war nämlich Geschichte und darauf hatte ich ja mal so gar keinen Bock.   Ich quälte mich also so richtig motiviert die Treppen hoch bis zu unserem Klassenraum. Der lag zwar nur im zweiten Stock, aber wegen der unterirdischen Turnhalle (Vorsicht Wortwitz!) waren das echt viele. Ich ging so langsam ich konnte, ohne rückwärts wieder runterzufallen, aber irgendwann war halt auch die schönste Galgentreppe mal zu Ende.   Als ich oben ankam, saßen die anderen noch auf dem Flur herum. Irgendwer hatte nämlich beschlossen, dass Schüler, die sich bereits vor dem Unterricht in den Klassenräumen befinden, nur Blödsinn anstellen. Deswegen waren die Klassen in der Regel abgeschlossen und wir solange auf den Gang verbannt, bis unsere Lehrkraft geruhte aufzutauchen und uns reinzulassen.   Ich ließ mich neben Anton auf den Boden fallen. Er blickte nicht auf, sondern murmelte nur irgendwas hinter seinem Buch hervor, das mit viel Augenzudrücken als Begrüßung durchgehen konnte. „Morgen“, brummte ich zurück und sah mit Entsetzen, dass am Ende des Gangs bereits Herr Vogel erschienen war, die Geißel meiner jetzigen Geschichtsstunden. Obwohl man ihm zugutehalten musste, dass er es echt versuchte. Für ihn war Geschichte wohl zusammen mit Deutsch, dem anderen Fach, das wir bei ihm hatten, die absolute Königsdisziplin. Leider lief sein Unterricht in der Regel so ab, dass die zwei Geschichtscracks, Jonas und Ben, alles vorlernten und sich mit Herrn Vogel über das jeweilige Thema unterhielten, während der Rest von uns lediglich körperlich anwesend war und versuchte nicht einzuschlafen. Oder zumindest beim Schlafen nicht mit dem Kopf auf die Tischplatte zu knallen.   Auch heute kam Herr Vogel wieder voller Tatendrang auf uns zu. Nun, eigentlich war es eher ein würdevolles Schreiten. Der Mann hatte was von einem Graureiher, sag ich euch. Groß, dünn und grauhaarig, mit einer immer leicht gestelzt wirkenden Art und Weise. Trotzdem machte sich nie einer über ihn lustig. Er hatte so etwas Respekteinflößendes, obwohl er nie laut wurde oder Strafarbeiten verteilte, wenn man mal wieder die falsche Antwort gegeben oder die Hausaufgaben vergessen hatte. Aber wenn er einen so ansah mit diesem Blick, bekam man unweigerlich das Gefühl, gerade etwas sehr, sehr Schlimmes getan zu haben.   Herr Vogel öffnete also die Tür und wir drängelten uns braven Schafen gleich hindurch zu unseren Plätzen. Als bereits alle saßen, ging die Tür noch einmal auf und T und Jo kamen herein. Sie ignorierten den Blick vom Lehrerpult gekonnt und ließen sich auf ihre Stühle fallen. Jo sah ziemlich zufrieden aus, während an Ts Gesicht mal so gar nichts abzulesen war. Wahrscheinlich ging ihm die Welt im Allgemeinen und Geschichte im Besonderen total am Arsch vorbei. Man, der war so cool, der pinkelte bestimmt Eiswürfel. Haha.   Herr Vogel räusperte sich, bevor er zu sprechen begann. „Da jetzt alle von euch geruht haben, dem Unterricht beizuwohnen, will ich mit einer Ankündigung beginnen. Nachdem wir letzte Stunde erfolgreich die Weimarer Republik abgeschlossen haben …“ (Hatten wir?) „werden wir jetzt mit dem Thema Nationalsozialismus beginnen. Dazu werde ich zunächst eine Reihe von Partnerprojekten verteilen. Wenn das entsprechende Thema dran ist, werdet ihr eurem Klassenkameraden darüber einen etwa halbstündigen Vortrag halten.“   Ein Stöhnen lief durch die Klasse.   „Die Partner des Projekts werden wir auslosen.“   Das Stöhnen verwandelte sich in empörte Ausrufe.   „Aber Herr Vogel, das ist doch voll ungerecht.“   Natürlich war Ben der Erste, der protestierte. Ich hatte erwähnt, dass er immer dagegen war, oder? Außerdem hatte er bestimmt gehofft, in eine Gruppe mit Jonas zu kommen, damit die beiden ihre halbe Stunde zu einem dreistündigen Vortrag ausdehnen und uns andere damit endgültig zu Tode langweilen konnten.   „Warum denn nicht? Ist doch ne gute Idee, mal die Gruppen neu zu mischen. Das ist gut für den Klassenzusammenhalt.“   Ach ja, was war Sandra doch engagiert. Die war bestimmt auch Mitglied in drei Tierschutzvereinen und las am Wochenende alten Damen im Altenheim vor.   „So ähnlich war die Idee. Danke Sandra.“ Her Vogel lächelte mild und Sandra strahlte. „Deswegen wird jetzt die Hälfte von euch, die links von mir sitzt, ihre Namen auf Zettel schreiben, während die andere Hälfte dann jeweils einen davon ziehen wird. So sollten wir eine genügende Grunddurchmischung erwirken.“   Okay, ich gebe zu, ich hatte beim letzten Satz schon abgeschaltet, denn mein Gehirn machte gerade ganz, ganz, ganz dumme Pläne. Wenn ihr euch die Klasse jetzt nochmal vorstellen wollt, hieß die Regelung, die Herr Vogel gerade vorgeschlagen hatte, dass ich dich tatsächlich die Chance hatte, Theodor von Hohenstein, den heimlichen Schwarm von ungefähr zwei Dutzend Mädchen und meiner schwulen Wenigkeit als Projektpartner zu kriegen. Ich kriegte feuchte Hände und sah es schon bildlich vor mir:   Wir würden jede Menge Zeit miteinander verbringen und uns auf Anhieb total gut verstehen. Ich würde ihn einladen, die Projektarbeit doch einfach mal zu mir nach Hause zu verlegen. Dort würden wir lernen und ganz die Zeit vergessen, weil wir neben dem Projekt noch ganz viel andere Gemeinsamkeiten entdecken würden, über die wir quatschen konnten. Er würde abends noch bleiben, wir würden mit Chips und Cola im Dunkeln auf meinem Bett liegen und einen Film gucken. Unsere Hände würden sich immer wieder ganz zufällig in der Chipstüte begegnen, ich würde ihm einen hartnäckigen Krümel vom Mund wischen und dann …   „Benedikt? Wenn du bitte einen Namen ziehen würdest?“ „Hä?“ Ich blinzelte Herrn Vogel an, der mir die Plastikschüssel unter die Nase hielt, in der normalerweise die Kreide aufbewahrt wurde. Trug denn heutzutage keiner mehr Hüte? Oder wenigstens ein Cappy? Wie stillos! Echt mal. „Klar“, murmelte ich und zog einen Zettel aus der Schale. Er war klein, ziemlich oft gefaltet und offenbar aus einem Matheheft herausgerissen worden.   Ich schluckte und traute mich nicht, ihn zu öffnen. Was, wenn ich jetzt tatsächlich T gezogen hatte? Im nächsten Augenblick schalt ich mich einen Dummkopf. Wahrscheinlich bekam ich statt meines Traumprinzen ohnehin Timo oder so.   Timo war einer der anderen Nerds aus der Lehrmittelbücherei. Er trug grundsätzlich nur braune Klamotten – ich vermute stark, dass seine Eltern ihre Sachen aus dem 70ern aufbewahrt hatten, es sei denn, es gab heutzutage tatsächlich noch irgendwo Cordhosen zu kaufen – hatte eine Pisspottfrisur, die ihm inzwischen fast bis zu den Schultern gewachsen war, und etwa acht Millionen Sommersprossen.   Man hätte jetzt denken können, dass er und Anton doch beste Freunde sein müssten, aber während Anton sich auf Computer und die Wirtschaftsseite der Zeit stürzte wie ein Adler auf die Beute, hegte Timo eher eine Leidenschaft für Orks, Elfen und Ritter in glänzenden Rüstungen. Das hatte ich mal herausgefunden, als ich bei einer Klassenfahrt mit ihm in einem Zugabteil saß. Er hatte mir angeboten, bei einem Pen & Paper mitzumachen, und da ich gerade nichts Besseres zu tun gehabt hatte, hatte ich eingewilligt. Der Einfachheit halber hatte ich einen seiner bereits erstellten Charaktere bekommen. Nach drei Runden war meine schöne Elfenkriegerin den Heldentod gestorben und Timo hatte zufrieden seine Siebensachen zusammengepackt. „Die wollte ich eh aus der Gruppe haben“, hatte er gesagt und ich hatte den Rest der Fahrt nicht mehr mit ihm geredet, weil er mich ganz hinterhältig hatte von einem Drachen hatte fressen lassen, gegen den ich mit meinen popeligen fünf Rüstungspunkten nicht den Hauch einer Chance gehabt hatte.   Anton hatte inzwischen seinen Zettel entfaltet. Er hatte Timo gezogen. Okay, den kriegte ich also schon mal nicht. Es bestand also noch Hoffnung.   Ich atmete tief durch und entwurstelte mit zitternden Fingern das Papier. Und dann starrte ich auf die vier Buchstaben, die mich von dem Zettel aus anlachten. Es waren ein E, ein H, ein O und ein T. Nicht in der Reihenfolge.   Plötzlich begann sich alles um mich zu drehen. Der schöne Chips-und-Cola-Traum, der sofort wieder in meinem Kopf aufploppte, lief an der Stelle weiter, an der ich Traum-Theos Lippen mit meinen eigenen berührt hatte. Leider nahm er ab da eine ganz und gar nicht erfreuliche Wendung. Nach dem Kuss sprang Traum-Theo nämlich auf einmal aus meinem Bett, nannte mich eine „schwule Sau“ und stürzte zur Tür raus. Am nächsten Tag wusste es bereits die ganze Schule und ich lief nackt durch ein Heer grölender Mitschüler lediglich mit einem Schild vor meinen edelsten Teilen, auf dem „dumm und schwul“ stand. Und selbstredend stand Theo ganz in vorderster Linie und musterte mich voller Abscheu, während „nur Mia“ an seinem Arm hing und sich über mich kaputtlachte. Scheiße.   „Scheiße!“   Der Ausruf riss mich aus meiner Horrorvision. Er stammte von Oliver.   „Ich hab die Fette.“   Ich schielte auf seinen Zettel. Tatsächlich hatte er Mia-Marie gezogen. Die Arme. Wahrscheinlich musste sie sich nicht nur die ganz Zeit dumme Sprüche von Oliver anhören, er würde ihr auch noch total die Note versauen und/oder sie alle Arbeit allein machen lassen. Trotzdem hätte ich liebend gern mit ihr getauscht. Lieber Oliver als Theo, vor dem ich mich total blamieren würde. Moment mal … tauschen? Das war die Idee!   „Willst du tauschen?“, fragte ich in einem Anfall von geistiger Umnachtung. Wir erinnern uns daran, dass ich immer noch das Ticket für unglaublich viel Zeit mit meinem Traummann in Händen hielt. Oliver sah mich misstrauisch an. „Du willst freiwillig mit dem Walross arbeiten?“ „Ja, warum nicht? Mia ist nett.“ „Sie ist fett.“ „Na und?“ „Sie ist ein Mädchen.“ Er überlegte und begann dann zu grinsen. „Obwohl dir das ja nichts ausmacht, oder, Schwuchtel?“   Okay, an dieser Stelle muss ich einen kleinen Exkurs machen. Diese Beleidigung von Oliver hatte nämlich nicht unbedingt etwas mit meiner sexuellen Orientierung zu tun, die ohnehin niemandem außer mir selbst bekannt war, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass ich als einziger Junge der gesamten Klasse Französisch als zweite Fremdsprache gewählt hatte. Ich bekam also Unterricht in Französisch zusammen mit ganz vielen Mädchen. Ihr ahnt sicherlich, warum es in Olivers Kopf Sinn machte, mich „Schwuchtel“ zu nennen.   „Nein, das tut es tatsächlich nicht“, entgegnete ich und verkniff es mir, ihn einen unterbelichteten Höhlenmenschen zu nennen. Manche Offensichtlichkeiten wurden auch nicht besser, wenn man sie laut aussprach. „Also was ist nun? Willst du tauschen oder nicht?“ „Gib her“, grunzte er und warf mir voller Verachtung den Zettel mit Mias Namen hin.   Ich reichte das Stück Papier mit Theos Namen drauf zu ihm rüber. Er riss es gierig an sich und ich glaubte zu hören, wie mein kleines, schwules Herz anfing zu weinen, sich mit Eis, einer Kuscheldecke und „Pretty Woman“ aufs Sofa verkroch und vorhatte, sich von dort die nächsten drei Jahre nicht mehr wegzubewegen. Irgendwie tat es mir leid.   Ich tat mir auch leid, aber ich hatte keine Zeit, mich in dem Gefühl zu suhlen. Herr Vogel war noch voll in Planungsstimmung und bat uns jetzt, unseren jeweiligen Projektpartner zu nennen, damit er ihn in eine Liste eintragen konnte. Er begann mit Oliver.   „Theodor“, sagte der und grinste nach drüben.   Ich konnte sehen, wie T die Stirn runzelte und mich ansah. Er sah mich an, nicht Oliver. Verdammt, hatte der etwa den Zettel wiedererkennt, den ich gezogen hatte? Wusste er, dass ich ihn verschenkt hatte? Mein Herz bestellte sich noch eine Familienpizza dazu.   „Benedikt?“ „Was?“ Herr Vogel sah mich auffordernd an. „Deinen Projektpartner bitte.“ „Oh, ähm ja. Mia. Mia-Marie.“ „Danke. Anton?“ „Timo.“   Ich blendete den Rest der Stunde aus und überließ es Mia, ein Projekt-Thema für uns zu ziehen. Wir bekamen „Die weiße Rose“ zugeteilt. Na ganz toll. Jetzt musste ich auch noch was über schwule Blumen erzählen. Wirklich ganz großes Kino.     In der großen Pause suchte ich Asyl bei den Nerds in der Bücherei. Ich hatte einfach keinen Nerv auf Pausenhof und die Welt im Allgemeinen. Da hatte ich meine erste Chance auf so was wie ein Liebesleben in Händen gehalten und dann hatte ich sie verschenkt und das ausgerechnet an den Typen, der mir nicht mal ne halbe Stunde vorher fast die Nase gebrochen hatte. War ich denn vollkommen bescheuert?   Während ich da so auf dem Boden hockte, weil es nicht genug Stühle gab, und mich fragte, was mit mir eigentlich nicht stimmte, traf mich auf einmal eine Papierkugel am Kopf. Das hieß, eigentlich traf sie mich nicht wirklich. Sie krepierte mehr so einen knappen halben Meter vor mir auf dem Boden, aber Anton hatte trotzdem erreicht, was er wollte. Ich sah zu ihm nach oben.   „Was hast du mit deiner Nase gemacht?“, wollte er wissen.   Die Frage allein musste man ihm schon hoch anrechnen, da er sich sonst eigentlich nie nach meinem Empfinden erkundigt. Zumal er auch noch vor dem altersschwachen PC der Bücherei saß, die laut seiner Beurteilung die Rechenkapazität einer Atari-Konsole besaß, und versuchte, eine neue Datenbank für die Verwaltung der Bücherei zu programmieren. Ich rangierte also im Grunde auf seiner Prioritätenlisten sehr weit unten.   „Oliver hat mir beim Völkerball einen Ball dagegen gedonnert. Mit Absicht.“ „So ein Penner!“   Ich zog die Augenbrauen nach oben. Wer war der Kerl und was hatte er mit Anton gemacht? Hatten Aliens ihn entführt und einen Klon hiergelassen? Wurden wir unterwandert?   Man muss dazu wissen, dass Anton quasi nie ausfallend wurde. Sich mit ihm zu unterhalten war mehr so, als würde man mit einer Mischung aus Schiller und Nietzsche quatschen. Wenn die beiden Ahnung von Computern gehabt hätten, versteht sich. Wahrscheinlich hatte er auch eine Allergie gegen Schimpfwörter.   „Wusstest du, dass die kanadische Bildungsforscherin Joy Butler Völkerball in einer Studie als eine Form des legalen Mobbings bezeichnet? Sie rät dringend dazu, es vom Lehrplan zu streichen. Zumal es eigentlich ein rituelles Kriegsübungsspiel war. In Zeiten der zunehmenden Globalisierung und Völkerverständigung ist das einfach vollkommen fehl am Platz.“   Okay, mit Anton war also doch alles in Ordnung. Puh. Ich hatte schon gedacht, die Welt wäre jetzt vollkommen übergeschnappt, aber anscheinend betraf dieses Problem doch nur mich allein. Ich hatte T verschenkt! Am besten ich trat gleich in ein Kloster ein und wurde Nonne. Mönch. Whatever.     Den Rest des Tages verbrachte ich damit, mich durch den Stundenplan zu langweilen und mich in den Pausen vor Mia-Marie zu verstecken. Die war nämlich ganz begeistert von unserem floralen Projekt-Thema und wollte anscheinend gleich loslegen. Also verschwand ich in den Pausen auf dem Jungenklo im Altbau, in das eigentlich nie jemand kam, weil es da komisch roch und selbst im Sommer arschkalt war, und machte einen auf Maulende Myrte. Nein, ich hab nicht geflennt. Was denkt ihr denn?   Als es nach der sechsten Stunde klingelte, machte ich, dass ich wegkam. Endlich raus aus dieser Hölle und nichts wie nach Hause, wo ich mich in Ruhe vor der Ungerechtigkeit der Welt verstecken konnte. Ich konnte mich nicht mal dazu aufraffen, mich in den Fahrradkeller zu schleppen, um dort vielleicht einen Blick auf Ts Hintern zu erhaschen. Ich ließ meine Klapperkiste, wo sie war, und machte mich auf den Weg zum Bus.   Mit gesenktem Kopf schlich ich durch die Fußgängerzone. Normalerweise machte es mir Spaß, nach der Schule noch hier langzuziehen und Leute zu beobachten, aber heute war das Einzige, was ich auf dem Weg zu sehen bekam, graue Steinplatten und meine Fußspitzen.   Im Bus ließ ich mich auf den erstbesten Sitz plumpsen und stierte aus dem Fenster. Das war doch echt behämmert. Was hatte mich denn nur geritten, so eine Chance zu vertun? Obwohl … war es denn wirklich eine Chance gewesen? Was, wenn T mich total doof fand? Wenn er froh war, stattdessen mit Oliver zusammenzuarbeiten? Und allem voran: Was, wenn er der Idee, mit einem anderen Jungen zu knutschen, sowieso so überhaupt rein gar nichts abgewinnen konnte? Es hieß zwar immer, die Guten wären schwul oder vergeben – und ich war mir ziemlich sicher, dass T nicht vergeben war, das hätte der Flurfunk schon überall verbreitet – aber immerhin war das nur ein dummer Spruch und mitnichten eine Garantie dafür, dass ich mir irgendwelche Hoffnungen machen konnte.   „Kacke“, fluchte ich halblaut vor mich hin. „Aber so was von“, bestätigte eine kratzige Stimme.   Ich drehte den Kopf und sah gerade noch, dass jemand an mir vorbei in den hinteren Teil des Busses ging. Der Kerl, der ein Stückchen kleiner war als ich, ließ sich auf die letzte Bank fallen und grinste mich von dort aus an. Er hatte dunkle, leicht lockige Haare und auf der Oberlippe einen Bartschatten. Auf nicht näher zu bestimmende Weise wirklich er prollig. Lag vielleicht auch daran, dass er jetzt die Füße auf die Sitzbank legte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte, als wäre er der Burger-King persönlich.   Das war mir dann doch zu blöd und ich wandte mich wieder meinem Fenster zu. Mich mit so einem Mini-Macho anzulegen, war genau das, was ich heute nicht noch brauchen konnte.   Als der Bus losfuhr, kramte ich kurzerhand mein Buch aus dem Rucksack und versank in der Welt von Isaak Asimovs Robotern und Androiden. Manchmal wünschte ich mir, meine Welt würde auch auf drei einfachen Gesetzen beruhen. Wenn man die befolgte, lief alles nach Plan und man musste sich nicht mit irgendwelchen Abweichungen und dummen, eiscremesüchtigen Herzen herumschlagen. Ach, was wäre das schön.   Ich näherte mich gerade der Stelle, an die Protagonistin nun endlich herausfinden sollte, welcher der vielen total identischen Roboter derjenige war, der aufgrund seiner von den drei Gesetzen abweichenden Programmierung potentiell in der Lage sein konnte, einen Menschen zu töten, als ein flüchtiger Blick aus dem Fenster mir verriet, dass ich gerade meine Haltestelle verpasst hatte. Fuckedifuck!   „Halt!“, schrie ich, sprang auf und raste zur hinteren Tür. „Ich muss hier raus!“ Zum meinem großen Erstaunen schienen der Tag und der Fahrer ein Einsehen mit mir zu haben. Der Bus hielt noch einmal an und die Türen öffneten sich für mich, während mir lediglich ein „Pass nächstes Mal besser auf!“ hinterher schallte. Ich nickte, winkte und stand im nächsten Moment wieder allein auf der menschenleeren Straße.   Na ja, fast allein. Auf der anderen Seite stand der Proll und grinste mich blöde an.   „Na? Eingeschlafen?“ „Muss an deiner reizenden Gesellschaft gelegen haben“, gab ich frostig zurück und würdigte ihn keines Blickes mehr, während ich die Straße überquerte und mich auf den Weg nach Hause machte.   Als ich Schritte hinter mir hörte, drehte ich mich um. Er ging hinter mir und hatte eine Kippe im Mund. Proll, eindeutig. Meine Mutter sagte immer, im Laufen Rauchen sei assig.   „Rennst du mir jetzt hinterher?“, blaffte ich ihn an. Er grinste nur umso breiter. „Und wenn? Ist doch ne nette Aussicht.“   Nette Aussicht? Auf was denn? Meinen Hintern etwa? Das fehlte mir gerade noch.   „Am besten machst du ein Foto, das hält länger“, knurrte ich und beschleunigte meine Schritte, um endlich von diesem Typen wegzukommen. Irgendwie war mir der gruselig. Vor allem hatte ich den noch nie hier gesehen. Wo kam der her?   Er musste etwa in meinem Alter sein, aber er war nicht mit mir zur Schule gegangen. Daran würde ich mich erinnern. Vielleicht neu zugezogen. Obwohl er irgendwie nicht wie jemand wirkte, der aufs Land zog. Andererseits konnte man sich das in unserem Alter natürlich nicht aussuchen. Er war also vermutlich von seinen Eltern hierher verschleppt worden und machte jetzt einen auf obercool, um bei der Dorfjugend Eindruck zu schinden.   Tja, Junge, da bist du bei mir an der falschen Adresse. Ich hab mit den ansässigen Mopedfahrern und Dosenbiertrinkern nichts am Hut. Also such dir jemand von deinesgleichen und schwirr ab.   Mister Oberlippenbart tat mir den Gefallen allerdings nicht, sondern latschte mir den gesamten Heimweg über nach, was mich mehr aufregte, als ich zugeben wollte. Ja, ich kniff hier den Schwanz ein. Und ja, ich hatte Vorurteile. Jede Menge sogar. Vielleicht war der Proll eigentlich ganz nett und hatte nur am Morgen keine Rasierklingen mehr im Haus, um sich dieses Scheusal aus dem Gesicht zu radieren, das ihn wirken ließ wie eine sehr schlechte Kopie von Kit Harington. Vielleicht las er in seiner Freizeit Sartre und Camus in Originalfassung und diskutierte am heimischen Herd über die globale Erderwärmung, gegen die er sich regelmäßig engagierte. Möglich war ja alles.   Als ich endlich unser Haus erreichte, bog ich trotzdem schneller als sonst auf die gekieselte Einfahrt ein. Meine Schritte knirschten auf den weißen Steinen, während Pseudo-Kit am Haus vorbeiging und so tat, als wäre er mir nicht gerade drei Straßenzüge lang nachgedackelt. Na gut, dann eben nicht. Du interessierst mich nämlich auch nicht die Bohne. Arschloch!   Ich schloss die Haustür auf und streifte mir gleich die Schuhe von den Füßen. Meine Mutter war da echt pingelig trotz der Tatsache, das fast überall im Haus Fliesen mit Fußbodenheizung lagen. Leicht zu reinigen und schnell wieder trocken. Aber nein, Schuhe mussten leider draußen bleiben.   „Honey, I'm home!“, rief ich, obwohl ich wusste, dass meine Mutter den Witz nicht verstehen würde. „Wir sind hier oben“, klang ihre Stimme aus dem Wohnzimmer.   Moment mal. Wir?   Ich stutzte und sah aus dem Fenster. Oh nein, bitte nicht. Ich hatte auf der Flucht vor Billy the Kit leider total das Auto übersehen, das vor unserem Haus auf der Straße parkte. Es gehörte meiner liebreizenden Schwester, die mich auch gleich entsprechend unserer hervorragenden Beziehung begrüßte, als ich die Treppe hochkam.   Sie fing an zu heulen.   Okay, das war jetzt doch ein bisschen übertrieben. Ganz so schlimm stand es um uns nämlich nicht. Ich meine, wir zickten uns ordentlich an, weil sie mich für kindisch hielt und ich sie gerne mal eine blasierte Pute nannte, aber zum Weinen hatte ich sie eigentlich schon lange nicht mehr gebracht. Das letzte Mal war, als ich ihr Lieblings-T-Shirt als Tusch-Lappen missbraucht hatte. Da war ich acht!   „Was ist denn los?“, fragte ich meine Mutter, die mich anstrahlte wie ein Honigkuchenpferd. „Stell dir vor, Benedikt. Diana bekommt ein Baby!“   Ach du grüne Neune! Na dann, Schwesterchen: Willkommen im Club der Leute, die heute einen echten Scheißtag haben. Ich geh dann mal eben die Eiscreme holen. Kapitel 3: Von hysterischen Schwestern und einsamen Spielplätzen ---------------------------------------------------------------- Uff. Nun hockte ich also hier in unserem Wohnzimmer und sah meiner Schwester dabei zu, wie sie ein Taschentuch nach dem anderen vollheulte und dabei regelmäßig zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt schwankte. Zusammenfassend ließ sich ihr Problem ungefähr folgendermaßen beschreiben:   Sie war ungeplant schwanger und hatte Angst, dass ihr Freund sie deswegen sitzen ließ. Der wusste zudem noch nichts von seinem bevorstehenden Vaterglück und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm das verklickern sollte.   Unsere Mutter hingegen versuchte ihr Möglichstes, sie auf die positiven Seiten einer Schwangerschaft in ihrer jetzigen Situation aufmerksam zu machen, ihr zu versichern, dass wir sie ganz doll unterstützen würden und ohnehin alles nicht so heiß gegessen würde, wie es gekocht wurde. Außerdem fand sie den Gedanken, so jung Großmutter zu werden, total prima.   Ich saß während des gesamten Gesprächs irgendwie ein bisschen dumm daneben und fühlte mich unhilfreich. Was sollte ich auch groß machen? Ich hatte Diana zwar angeboten, dass ich den Kerl verprügeln würde, wenn er sich aus dem Staub machte, aber da hatte sie mich nur angefaucht, dass ich mich da gefälligst raushalten solle. Und meine Mutter hatte gemeint, dass ich das nicht verstehen würde. Stimmt, verstand ich auch nicht. Also ja, so rein theoretisch schon. Ein Kind ist ja ne Menge Verantwortung und so. Und ehrlich gesagt konnte ich mir Diana auch nicht so recht mit einem vorstellen. Aber andererseits würde sie zumindest die Familientradition fortsetzen, wenn sich ihr Kerl verpisste. Immerhin waren sie und ich auch auch ohne den jeweiligen Erzeuger aufgewachsen und aus uns war doch auch was geworden. So mehr oder weniger.   „Ich werde uns mal einen Tee machen“, verkündete meine Mutter und stand auf.   Wie? Was? Wollte die mich jetzt etwa mit dieser Hormonbombe von einer Schwester allein lassen? No way!   „Soll ich dir was helfen?“, bot ich an und sprang ihr hinterher. „Oder ich mach gleich den Tee, dann könnt ihr sitzen bleiben.“ „Ach, das ist lieb, Benedikt. Würdest du so freundlich sein?“   Klar war ich das. Hauptsache sie ließ mich nicht mit Frankensteins Tochter allein. Diana sah momentan nämlich echt zum Fürchten aus. Ihr Gesicht war total rot und verquollen und ihr blonder Bob stand an Stellen ab, an denen er es definitiv nicht sollte. Meine Mutter wirkte hingegen wie immer wie aus dem Ei gepellt aus. Sie war quasi das ältere Abbild meiner Schwester, nur weniger rot und deutlich gelassener. Der Umgang mit Menschen in verschiedenen Stufen der Vorhochzeits- oder Mein-Ausweis-ist-abgelaufen-aber-ich-fahre-doch-morgen-in-den-Urlaub-Panik zahlte sich vermutlich hier mal wieder aus.   „Soll ich auch Kuchen besorgen?“   Ja, ich gebe es zu, das war jetzt nicht so ganz uneigennützig. Aber erstens hatte ich immer noch nichts zum Mittagessen gehabt und zweitens war das hier vermutlich die Gelegenheit, meiner Mutter mal ein Stück Erdbeerkuchen aus den Rippen zu leiern, von dem sie sonst immer behauptete, er wäre zu teuer und würde um diese Jahreszeit eh noch nicht schmecken. Und dieser Tag heute schrie geradezu nach einem Stück Erdbeerkuchen. Noch besser wäre warmer Apfelstrudel mit Eis und Schlagsahne gewesen, aber man konnte eben nicht alles haben.   Ich kochte also Wasser, goss den Tee auf, stellte Kanne, Tassen und Zucker auf ein Tablett und brachte alles ins Wohnzimmer. Diana war gerade in einer Freu-Phase angekommen und philosophierte mit meiner Mutter darüber, ob die Drei-Zimmer-Wohnung, die sie mit ihrem Freund bewohnte, wohl ausreichen würde und wenn ja, wie lange.   „Hier, dein Tee,“ sagte ich und stellte ihr die Tasse mit der Ente hin, aus der sie immer getrunken hatte, als sie noch zu Hause gewohnt hatte. Als sie das Ding sah, fing sie gleich wieder an zu flennen und wollte mich zu allem Überfluss auch noch umarmen. Ich trat hektisch die Flucht nach hinten an und machte mich auf den Weg zum Bäcker.   Draußen erwarteten mich Vogelgesang und Sonnenschein. Meine Sweatjacke wurde mir bald zu warm, also zog sie aus und knotete sie mir um die Hüfte. Dabei fielen mir meine eigenen Probleme wieder ein. Ob ich mir mir in Zukunft wohl lieber Kaschmir-Pullover um die Schulter drapieren und darunter pastellfarbene Polohemden tragen sollte? Machten Schwule das nicht so? Oder musste ich anfangen Nagellack und Lippgloss zu tragen und affektiert mit den Händen in der Gegend herumzuwedeln? Ich hatte keine Ahnung. Blöderweise kannte ich nämlich niemanden, der schwul war. Klar, es gab das Internet, aus dem man so so ziemlich alle Informationen zu dem Thema holen konnte, die sich finden ließen. Unter anderem so tolle Kaffeesatzwahrheiten wie „Steh zu dir“ oder „Sei ganz du selbst“ und ähnlichen Quatsch. Das mochte funktionieren, wenn man in Berlin oder Hamburg plötzlich entdeckte, dass man schwul war, aber nicht in einem schleswig-holsteinischen Kuhkaff, wo jeder jeden kannte und der Höhepunkt des dörflichen Soziallebens im jährlich stattfindenden Tanz in den Mai bestand. Das kam bestimmt total prima, wenn ich da jemanden anlaberte. Nicht.   Nachdem ich mich einmal quer durch den Kuchenbestand unseres Dorfbäckers gekauft hatte, machte mich schwer beladen wieder auf den Rückweg, während ich mir einredete, dass der Fußmarsch und das ausgefallenen Mittagsessen bestimmt die zusätzlichen Kalorien wieder wettmachten. Es war jetzt nämlich nicht so, dass ich dick war, aber eben auch kein Strich in der Landschaft. Und wegen des Judos musste ich immer ein bisschen gucken, dass ich im Gewicht nicht zu hoch kam. Vor Wettbewerben hungern zu müssen war nämlich echt eine Tortur.   Ich lud meine Fracht bei Diana und meiner Mutter ab und verzog mich dann mit meinem Teil der Beute in mein Zimmer. Auf dem Weg zum Bett schob ich mit dem Fuß ein paar Klamotten der Kategorie „noch zu sauber zum Waschen“ aus dem Weg, schlängelte mich am „dringend reinigen“ Haufen vorbei und ließ mich auf die Matratze fallen. Ich warf einen halben Blick auf das Chaos. Vermutlich sollte ich mal wieder aufräumen und ne Waschmaschine anschmeißen. Das „durfte“ ich nämlich im Zuge meiner modernen Erziehung selber machen. Ich räumte auch mein Geschirr selber weg, putzte jede Woche eines der Badezimmer und konnte dank der verlängerten Arbeitszeit meiner Mutter jeden Donnerstag sogar einigermaßen anständige Mahlzeiten zusammenschustern. Wenn man auf Nudeln mit Tomatensoße und matschige Bratkartoffeln stand, versteht sich. Es war eben noch kein Meister vom Himmel gefallen.   Ich mümmelte also Erdbeerkuchen und starrte aus dem Fenster. Dabei kehrten meine Gedanken zu der unseligen Sache mit dem Zettel zurück. Was zum Henker hatte dieser Blick von T zu bedeuten gehabt? Hatte er sich etwa darauf gefreut, mit mir zusammenzuarbeiten? Wäre er vielleicht gerne mal hergekommen?   Der Kuchen schmeckte plötzlich nicht mehr, also stellte ich ihn auf den neben dem Bett stehenden Schreibtisch, drehte mich auf den Bauch und vergrub den Kopf in den Kissen. Man, das wäre was. T jetzt hier bei mir. Wuff! Allein der Gedanke bereitete mir eine Gänsehaut. Wie er hier liegen und mich ansehen würde mit seinen seeblauen Augen. Er konnte bestimmt total gut küssen. Und andere Sachen würden sich bestimmt auch gut anfühlen. Zum Beispiel seine Hand an meinem Schwanz. Ich konnte förmlich spüren, wie sich seine Finger unter meinen Hosenbund schoben und dann …   Scheiße. Jetzt hatte ich ne Latte. Ob ich mal … Nee! Nicht während meine Schwester da war. Ich vermied es ja sogar, selbst Hand anzulegen, wenn lediglich meine Mutter im Haus war. Notfalls wartete ich halt, bis sie schlief und entsorgte die Spuren gleich draußen in der Mülltonne. Ich hatte nämlich so gar keinen Bock auf die Wiederholung des „Dein Körper wird jetzt langsam reifer“-Gesprächs, was wir irgendwann mal geführt und beide am liebsten gleich wieder vergessen hätten. Ich konnte mit meiner Mama echt über vieles reden, aber über Sex? Das war einfach nicht drin. Wir hatten uns dann drauf geeinigt, dass ich mich meldete, wenn ich was wissen wollte. Funktionierte bis jetzt auch ganz gut. Schließlich hatte ich ja keinen Sex und somit auch keine Fragen.   Das Problem mit der Latte blieb jedoch und schien sich auch nicht einfach so verflüchtigen zu wollen. Ob ich im Bad? Auch ne ganz schlechte Idee. Wir hatten zwar zwei Badezimmer, aber Schwangere mussten doch angeblich alle fünf Minuten aufs Klo. Bei zwei Frauen im Haus, die gerade eine ganze Kanne Tee vernichtet hatten, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine von den beiden ausgerechnet dann reinwollte, wenn ich mir da drinnen ein bisschen Abhilfe verschaffte. Die Möglichkeit fiel also auch aus. Aber wenn ich hier im Bett liegenblieb, würde die Vorstellung von Ts Hand an meinem besten Stück wohl hartnäckig bestehen bleiben. Es blieb also nur Hausaufgaben machen und das verführerische Bett ignorieren oder rausgehen. Ich entschied mich für Letzteres.   „Mama, ich bin nochmal weg.“ „Okay, Schatz. Ich mach dann nachher Abendbrot, also komme nicht zu spät.“ „Geht klar.“   Als wenn ich hier irgendwie abhanden kommen könnte. Ich erwähnte die Sache mit dem Kuhkaff ja bereits. Wobei der Ort jetzt nicht sooo klein war. Es gab hier ein Rathaus, in dem auch meine Mutter arbeitete, einen Einkaufsladen, Grundschule, Postamt, Bank und sogar einen winzigen Schuhladen, in dem aber außer arthritischen Omas bestimmt nie einer einkaufte. Zumindest ließen die orthopädischen Schuhe im Schaufenster darauf schließen.   Normal würde ich mir in so einem Fall wohl mein Rad schnappen und ein bisschen zwischen den Feldern rumfahren. Dabei bekam man gut den Kopf frei. Einfach nur treten und lenken und aufpassen, dass einen kein Trecker in den Graben schubste. Aber leider stand mein Drahtesel ja sicher verwahrt im Fahrradkeller der Schule. Andernfalls hätte ich vielleicht auch mal zu diesem Feld fahren können. Da gab es mitten im Acker so einen Hügel. Wenn man auf den draufstieg und sich hinlegte, konnte man von der Straße aus nicht gesehen werden. Der perfekte Ort um ein bisschen... Ach scheiße. Da war es wieder, das Problem.   Ich zuckte zusammen, als ich plötzlich Schritte hinter mir hörte. Oh nein, wer war das denn jetzt? Wenn das die Alte mit dem Hund von der Ecke war, konnte ich einpacken. Die war zwar bestimmt total kurzsichtig, aber trotzdem konnte ich ihr wohl kaum mit einer Beule in der Hose gegenübertreten. Zum Glück tauchte gerade vor mir der kleine Spielplatz auf, der bei uns in der Nähe lag. Der wurde, soweit ich wusste, kaum noch genutzt, seit die Gemeinde einen schöneren, modernen in der Neubausiedlung hatte errichten lassen. Ohne lange zu überlegen bog ich also ab, ignorierte gekonnt das „nur für Kinder bis 12 Jahre“-Schild und schlug mich in die Büsche.   Der Platz war nur ungefähr so groß wie eines der umliegenden Einfamlienhaus-Grundstücke und verfügte als einzige Attraktionen über eine Schaukel und eine Wippe. Alle beide aus so dicken Bohlen, die im Laufe der Zeit vergraut waren und kaum noch jemand hinter dem Ofen vorlockten. Im hinteren Teil gab es noch eine Liegewiese, die niemand regelmäßig mähte, und drumherum standen jede Menge Büsche und Bäume. Zwischen denen stand ich jetzt und hoffte, dass die Alte ihren Hund dabei hatte und sich im Gegensatz zu mir an das Schild hielt, das auch besagte, dass für Hunde hier Betreten verboten war.   Ich lehnte rückwärts an einem Baum und lauschte dem Klopfen meines Herzens, als ich plötzlich Stöcke knacken hörte. Wirklich? Omma kam mir nach, um mich auszuschimpfen? War jetzt nicht ihr Ernst. Aber wenigstens hatte sich so mein Problem erledigt. Ich holte tief Luft, kam aus meinem Versteck und erstarrte. Vor mir stand nicht die Oma, sondern mein Verfolger von heute Mittag. Er grinste.   „Na, Rotkäppchen, hat du dich verlaufen?“   Rotkäppchen? Und wer war er dann? Etwa der große, böse Wolf? Wohl kaum bei dem spärlichen Bartwuchs. Der sollte sich nur ja nichts einbilden.   „Nee, ich wollte nur pissen.“ „Und? Schon fertig?“   Ob er sich verzog, wenn ich Nein sagte?   „Nee, noch nicht. Du hast mich gestört.“ „Dann mal los. Lass dich nicht aufhalten.“   Sein Blick glitt tiefer zu meinem Schritt. Irrte ich mich oder glotzte der mir gerade auf den Schwanz?   „Das geht nicht.“ „Warum nicht?“ „Weil ich keinen Bock habe, dass du mir zusiehst.“ „Hast du was zu verbergen?“ „Hast du noch mehr so blöde Fragen auf Lager?“   Er kam plötzlich auf mich zu und ehe ich wusste, was geschah, hatte er sich so nahe vor mich gestellt, dass ich nicht mehr wegkonnte. Was albern war, da ich, wie gesagt, ein bisschen größer war als er. Trotzdem hatte der Blick seiner Augen irgendwie etwas Zwingendes. Sie waren braun, wie ich jetzt erkennen konnte, mit ganz schön großen Pupillen.   „Eigentlich nur eine“, führte er unser Gespräch fort. „Hat dir schon mal jemand einen geblasen?“   Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke und konnte nur mit knapper Not verhindern, in einen peinlichen Hustenanfall auszubrechen.   „W-was?“, brachte ich mühsam krächzend hervor. „Ob dir schon mal jemand einen geblasen hat.“ „N-nein.“ Warum sagte ich das? „Soll ich?“ „Wie bitte?“   Ich glaube, ich sah in dem Moment einem Auto ähnlicher als sonst was. Hatte der Kerl mich gerade gefragt, ob er mir einen blasen konnte? Wo waren wir denn hier? In einem Porno? Und hätte er mich dann nicht wenigstens erst mal fragen müssen, warum hier eigentlich kein Stroh lag?   Unfähig zu antworten, schüttelte ich nur stumm den Kopf. Leider fand ein Teil meines Körpers, dass das im Grunde genommen eine Super-Idee war. Und noch blödererweise konnte der Typ das so aus nächster Nähe natürlich nicht übersehen.   „Sicher?“, fragte er und ließ seinen Blick spöttisch nach unten wandern. „Dein kleiner Freund da scheint das anders zu sehen.“   Ja, tat er, der Verräter. Mit dem würde ich später noch ein ernstes Wort reden.   „Ich kenn dich ja nicht mal“, stieß ich hervor. Leider brachte mich das nicht im Geringsten aus der Schusslinie. „Manuel“, sagte er und grinste mich rotzfrech an. „Kann's jetzt losgehen?“ „Was? Nein!“   Mein Gehirn – ich meine mein richtiges Gehirn – übernahm wieder die Kontrolle über meinen Körper und brachte ein ganzes Stück Abstand zwischen mich und diesen notgeilen Triebtäter. Wo kamen wir denn da hin? Ich zog doch nicht vor jedem Hans oder Franz oder Manuel die Hosen runter. Obwohl es das ja vielleicht gar nicht gebraucht hätte. Es würde doch bestimmt reichen, wenn ich ihn nur rausholte … Nein, nein, halt Stopp! Ganz verkehrte Richtung! Geh endlich weg, du Scheißständer!   Manuel lehnte mittlerweile gegen einen Baum und beobachtete mich sichtbar amüsiert. Er griff in die Tasche, holte ein Päckchen Zigaretten heraus und zündete sich eine an. Anschließend sog er den Rauch tief ein und stieß ihn ganz langsam wieder aus.   „Ich hab's mir überlegt?“, verkündete er dann.   Was denn überlegt? Dass du mich doch lieber an einen Baum binden und mir gleich die ganze und nicht nur die orale Unschuld rauben willst?   „Ich nenn dich lieber Bambi.“ „Bambi?“, echote ich dümmlich.   Anscheinend war immer noch nicht wieder alles Blut an seinen ursprünglichen Platz zurückgekehrt.   „Ja. Weil du schaust wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Ist wirklich zum Schießen.“   Er grinste wieder und nahm noch einen Zug aus seiner Zigarette.   „Bambi hat aber braune Augen“, murrte ich nicht besonders schlagfertig. „Ach, ein Klugscheißer bist du also auch noch.“ Er machte einen Rauchkringel und dann noch einen. „Und wie soll ich dich nennen?“ „Wie wäre es mit meinem Namen?“ „Und der wäre?“   Ach Mist, jetzt hatte er mich ausgetrickst.   „Benedikt?“, gab ich zögernd zu wissen.   Was wollte der Kerl eigentlich von mir? Er hätte mir ja wohl kaum wirklich einen geblasen, wenn ich Ja gesagt hätte. Oder? War der etwa schwul? Irgendwas in mir begann zu flattern.   Ich musterte ihn unauffällig, was ziemlich schwierig war, da er mich ja beobachtete. Das T-Shirt und die Jeans hatten definitiv schon bessere Tage gesehen, aber sie waren sauber und ohne Löcher. Er wirkte auch ganz gepflegt, wenn man mal von diesem Bart-Verbrechen absah. Eigentlich sah er gar nicht mal so übel aus, wenngleich er definitiv nicht mein Typ war. Mein Typ war ja immerhin groß und blond. Trotzdem übte der Gedanke, dass der Kerl da erreichbar war, irgendeine merkwürdige Anziehung auf mich aus. „Noch Jungfrau, was?“, fragte er plötzlich aus dem Blauen heraus und bevor ich es verhindern konnte, war ich puterrot angelaufen. Also nicht, dass ich wirklich etwas dagegen hätte machen können, aber ich hätte es wenigstens versuchen können. Oder weglaufen. „Das geht dich gar nichts an.“ „Also ja.“   Er nahm noch einen Zug aus der Zigarette und trat sie dann auf dem Boden aus. Anschließend kam schon wieder näher und leckte sich über die Lippen. „Schon mal nen anderen Kerl geküsst?“   Nein, und mit dir fang ich auch bestimmt nicht damit an.   „Du hast geraucht“, sagte ich stattdessen. Als wenn ich sonst darüber nachgedacht hätte. Was tat ich denn hier? Er grinste. „Ich hab Kaugummi.“ „Das reicht nicht.“ „Und das weißt du woher?“   Als er noch näher trat, konnte ich ihn riechen. Er stank tatsächlich ziemlich nach Zigaretten. Aber dazwischen konnte ich noch was anderes riechen. War das After Shave? (Von welcher Rasur?) Deo? Waschmittel?   Er sah mich geradeheraus an. „Also, Benedikt. Wie sieht's aus? Hast du Lust auf ne Runde körperliche Aktivität?“ „Mit dir?“, krächzte ich sinnentleert. „Ja sicher. Oder siehst du hier sonst noch wen?“ „Aber …“ „Wenn du jetzt 'Aber du bist doch ein Junge' sagst, tret ich dir in die Eier. Ich weiß genau, dass du es auch willst.“   Ach ja?   Wollte ich sagen.   Konnte ich aber nicht.   Denn ein nicht unwesentlicher Teil von mir wollte es tatsächlich. Ich wollte tatsächlich mal einen Kerl küssen. Nicht diesen Kerl, aber spielte das grade eine Rolle? Der hier war immerhin hier und anscheinend nicht abgeneigt. Ich brauchte mich nur ein Stück vorzulehnen und meine Lippen auf seine zu pressen. Es wäre ganz leicht und …   „Ich kann nicht“, sagte mein Mund, ohne mich gefragt zu haben. Gleichzeitig bewegten mich meine Füße zur Seite und damit ein ganzes Stück von ihm weg. „Ich muss … nach Hause. Meine Mutter wartet.“ Er grinste. „Alles klar. Dann eben beim nächsten Mal, Bambi. Schlaf schön heute Nacht. Und angenehme Träume wünsche ich.“   Ich antwortete nicht mehr, sondern machte, dass ich von dem Spielplatz wegkam. Kaum, dass ich außer Sichtweite war, begann ich zu rennen. Heilige Scheiße, was war dann denn gewesen? Der hatte mich echt angegraben. Mich! Von allen ahnungslosen Schwulen dieser Welt musste Mister Oberlippenbart sich ausgerechnet mich als Opfer aussuchen. Das konnte doch alles nicht wahr sein.   Dummerweise erwies sich seine Prophezeiung als nur zu wahr. Ich hatte in der Nach tatsächlich ziemlich angenehme Träume. So angenehm, dass ich am nächsten Morgen klammheimlich die Bettwäsche wechseln musste. Was zum Henker hatte der Kerl bloß mit mir angestellt? Und wann würde ich ihn wiedersehen? Kapitel 4: Von weißen Rosen und schmutzigen Kitteln --------------------------------------------------- „Ey, Benedikt, hörst du mir überhaupt zu?“ „Hä?“, machte ich und beantwortete damit auch gleich Mia-Maries Frage.   Nein, ich hatte nicht zugehört. Ich hatte den ganzen Tag schon nicht zugehört. Ein kompletter Fünf-Stunden-Schultag war irgendwie an mir vorbeigerauscht, ohne dass ich nennenswert etwas davon mitbekommen hatte. In Physik hatte ich mich sogar ganz entgegen meiner Gewohnheit, irgendwo im unauffälligen Mittelfeld zu spielen, in die letzte Reihe verzogen, obwohl ich dort neben Oliver saß, den unser Physiklehrer, Herr Wittke, schon aufgegeben und deswegen an den Rand verbannt hatte, damit er nicht störte. Dort hatte ich gesessen und mir, statt mir irgendwas über harmonische und disharmonische Schwingungen anzuhören, Gedanken über Schwingungen ganz anderer Art gemacht. Zum Beispiel über die zwischen mir und Manuel.   Woher zum Henker hatte der Typ gewusst, dass ich schwul war? Immerhin fragte man nicht einfach mal irgendeinen fremden Kerl, ob man ihm einen blasen konnte. Da gab es bestimmt genug, die das nicht mit einem netten „Nein, danke“ sondern vielmehr mit einem Schlag in die Fresse beantwortet hätten. Hörte man ja immer wieder. Irgendwelche Freaks, die zum „Schwulen klatschen“ loszogen und Leute vermöbelten, deren Lebens- und Liebensweise sie nicht verstanden. Ich glaubte zwar nicht, dass in unserer Gegend eine große Szene solcher Pappnasen vorhanden war, aber wenn man einen Kerl so direkt anging, durfte man in den meisten Fällen wohl eher mit einem Klatschen rechnen, das wenig mit Applaus zu tun hatte. Manuel jedoch schien sich seiner Sache ganz sicher gewesen zu sein und ich hatte keinen Schimmer warum. Vielleicht sendete ich tatsächlich irgendwelche „Wellen“ aus, von denen ich nichts wusste und für die er ein unfehlbares Messgerät hatte. Wenn ja, war ich wohl echt am Arsch.   Diese ganze Überlegerei hatte dazu geführt, dass ich mich in Französisch ganz unbedacht neben Mia-Marie gesetzt hatte und jetzt hatte ich den Salat. Sie hatte mich für die unerwartete Freistunde in der sechsten zur Projektarbeit verhaftet. Wobei die ausgefallene Stunde eigentlich nicht wirklich unerwartet kam. Frau Phillips, unsere Musiklehrerin, war ein ziemlich zartes Pflänzchen, wie man so schön sagte, weswegen ihre Stunden mit schönster Regelmäßigkeit ausfielen. Das war am Montag ja noch ganz praktisch, weil man da eher nach Hause gehen konnte, aber donnerstags hatten wir am Nachtmittag noch eine Doppelstunde Chemie und mussten deswegen die Zeit bis dahin totschlagen. Damit hatte Mia-Marie mich an den Eiern gehabt und ich saß jetzt mit ihr an einem der Tische in der Pausenhalle und besprach unser Projekt. Das hieß, eigentlich besprach Mia-Marie und ich hörte zu. Mehr oder weniger.   „Man, Benedikt, nun reiß dich mal zusammen. Du stehst doch in Geschichte auch nicht gerade gut da. Das hier könnte deine Note echt rausreißen.“ „Ich will aber nicht über irgendwelche blöden Blumen referieren“, murrte ich und ließ den Kopf auf den Tisch fallen. „Du hast so gar keine Ahnung, oder?“, wollte sie wissen und lachte plötzlich.   Ich schielte von meiner Tischplatte aus hoch und sah, wie sich ihr breites Gesicht fröhlich verzog. Wenn ich es mir so recht überlegte, lachte Mia-Marie eigentlich ziemlich viel. Es war mir ein absolutes Rätsel, wie sie das anstellte. Außerdem hatte sie neben einem freundlichen Gesicht mit vielen Grübchen echt tolle Haare. Keine Ahnung, warum mir das ausgerechnet jetzt auffiel. Die waren ganz lang und dunkel und glänzten im einfallenden Sonnenlicht wie in einer Shampoo-Werbung. Außerdem hatte sie braune Augen. Genau wie dieser Manuel. Mist!   „'Die weiße Rose' war eine studentische Widerstandsgruppe im Dritten Reich. Die bekanntesten Mitglieder waren die Geschwister Hans und Sophie Scholl. Von denen wirst du doch schon mal gehört haben, oder?“   Komischerweise hatte ich das. Vermutlich, weil man nach den beiden irgendwelche Straßen und Schulen benannt hatte. Vielleicht sollten sie nach solchen Leuten mal Burger bei McDonald’s benennen. So mit entsprechenden Kurztexten auf dem Burgerpapier. Das würde die Allgemeinbildung der Bevölkerung bestimmt ungeheuer erhöhen.   „Und was haben die so gemacht?“, fragte ich halb interessiert, weil Mia-Marie das Thema echt zu begeistern schien. „Sie haben zum Beispiel Flugblätter verteilt, mit denen sie die Menschen auf die Ungerechtigkeiten aufmerksam machen wollten, die Hitler angeordnet hatte. Sie konnte die Ausgrenzung von ganzen Gruppen von Leuten, die anders sind, einfach nicht weiter mit ansehen, und wollten, dass die Leute aufwachen. Sie sollten nicht länger einfach hinnehmen, was ihren Mitmenschen widerfuhr, sondern sich dagegen wehren. Ich finde das total bewundernswert.“   Ich auch. Musste ich ja neidlos zugeben. Wenn ich damals gelebt hätte, hätte ich vermutlich auch einfach mitgemacht. Kopf einziehen, Maul halten und nicht auffallen. Klassischer Mitläufer.   „Darf ich dich mal was fragen?“   Die Frage schreckte mich aus meiner nicht eben schmeichelhaften Selbstbetrachtung auf. Ich sah nach oben und somit Mia-Marie direkt in die Augen. Das war mir irgendwie unangenehm, deswegen guckte ich schnell wieder weg. „Warum hast du mit Oliver getauscht?“ „Äh …“   Okay, das war jetzt nicht sehr eloquent. Aber woher wusste sie das? „Woher weißt du das?“ „Er hat’s mir gesagt. Hat gemeint, dass du ganz heiß drauf warst, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich wollte einfach wissen, ob er Mist erzählt hat oder ob da was dran ist.“   Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie ein bisschen rot geworden war. Kacke! Wieso hatte Oliver ihr das denn erzählt? War der irre? Jetzt hatte sie bestimmt einen total falschen Eindruck von der ganzen Aktion. Aber ich konnte ihr ja nun auch schlecht sagen, dass ich nur mit Oliver getauscht hatte, weil ich Schiss hatte, dass T mitbekam, dass ich auf ihn stand, und deswegen den Schwanz eingezogen hatte. „Er hat über dich rumgelabert, da kam mir die Idee, mit ihm zu tauschen.“   Das war jetzt nicht vollkommen gelogen. Immerhin war mir die Idee ja erst nach Olivers blödem Spruch gekommen. Ein Hoch auf Halbwahrheiten.   Mia-Marie sah mich prüfend an. Sie war immer noch ein bisschen rot um die Nase, aber es wurde langsam besser. „Was hat er denn gesagt?“ „Na was Gemeines halt. Ist doch nicht so wichtig.“ „War es wegen meiner Figur?“   Ich druckste noch ein bisschen rum, bevor ich es zugab. Das Thema war mir peinlich. Mia-Marie hingegen schien nicht überrascht.   „Oliver ist ein blöder Sack“, sagte sie. „Stimmt. Aber ich glaube, er hat einfach Probleme zu verstehen, wie zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren. Wahrscheinlich haben seine Eltern vergessen ihm zu erklären, dass man andere Kinder nicht mit dem Schäufelchen auf den Kopf hauen darf. Deswegen verhält er sich wie ein Arsch, weil er nicht weiß, wie er anders mit seiner Umwelt kommunizieren soll.“   Hatte ich das gerade tatsächlich gesagt? Ich hing definitiv zu viel mit Anton ab.   Mia-Marie sah mich mit großen Augen an. „Du verteidigst ihn noch? Dabei hast du doch am meisten unter ihm zu leiden.“   Das stimmte schon. Da ich neben Oliver saß, bekam ich den größten Teil seines Sackgesicht-Verhaltens ab. Er benutzte meine Stifte, ohne mich zu fragen, versteckte meine Schultasche, rempelte mich an und vor allem bekam ich ständig seine Blödheit aus absoluter Nähe mit. Allerdings wusste ich inzwischen auch, wie ich ihn zu nehmen hatte. Meistens. Auf so Sachen wie „Wenn du nochmal mein Radiergummi anfasst, ramme ich dir den frisch gespitzten Bleistift in die Handfläche“ reagierte er ganz gut, nachdem er mitbekommen hatte, dass ich das auch tatsächlich so meinte, wie ich es sagte. In der Zeit, bis die Mine wieder rausgewachsen war, hatte er mir gegenüber nicht einen dummen Spruch gebracht. Und er hatte mich nicht verpetzt, was ich ihm ziemlich hoch anrechnete. Für Oliver-Verhältnisse. „Na ja, ich hab heute meinen großzügigen Tag. Einmal dumm kommen darf mir heute jeder mal.“   Ich grinste und Mia-Marie schüttelte nur den Kopf „Du bist komisch.“ „Haha-komisch oder Halten-Sie-mal-das-Salz-ich-glaube-mein-Aquarium-klingelt-gerade-komisch?“, wollte ich wissen und grinste noch ein bisschen mehr.   Den Insider verstand sie vermutlich nicht, aber gut geklaut ist schließlich besser als schlecht selber gemacht. Ich konnte mir solchen Scheiß einfach unglaublich gut merken. Besser als Geschichte allemal.   Jetzt lachte sie wirklich. „Beides.“   Entschlossen klappte Mia-Marie das Buch zu und ich verzeichnete das als Sieg auf der ganzen Linie. Ich hatte ein peinliches Gespräch überstanden und musste nicht mehr weiter Geschichte lernen. Juhu! „Isst du in der Kantine?“, fragte sie und stand auf. Vermutlich um in eben jene Kantine zu gehen. „Da gibt’s heute Pizza.“ Pizza klang verlockend, aber ich war leider versorgt. „Nee, hab ein Brot mit. Leberwurst. Ist auch nur ein ganz kleines bisschen zermatscht, weil ich vorhin versehentlich mal draufgesessen hab.“ Wieder lachte Mia-Marie. „Du bist vielleicht ein Vogel. Aber gut, dann ess ich eben ohne dich Pizza. Man sieht sich.“   Sie winkte mir zu und trollte sich in Richtung unserer kleinen Schulcafeteria. Die zwei Damen, die da arbeiteten, machten sich echt total viel Mühe. Ständig gab es irgendwelche besonderen Sachen wie getoastete Sandwiches oder Waffeln oder so was in der zweiten großen Pause zu kaufen. Die langen Schlangen, die da immer standen, sprachen für sich. Einige schlichen sich sogar früher aus dem Unterricht, damit sie auch wirklich was abbekamen. Ich ging allerdings nur sehr selten da hin, um mir was zu holen, denn erstens hasste ich Anstellen und zweitens hatte ich ja meine Brote.     Nach der Mittagspause trudelten wir alle nach und nach vor den Chemieräumen ein. Zum Glück konnte man den Flur inzwischen wieder betreten. Vor ein paar Wochen hatte einer der Oberstufler aus Versehen mit Buttersäure rumgekleckert, irgendeiner seiner Mitschüler war reingetreten und hatte den Geruch nach frischer Kotze so in den Flur getragen, wo er langsam am Lehrerzimmer vorbei in Richtung Sekretariat weitergewabert war. Irgendwann hatten sich dann auch die letzten Reste verflüchtigt, aber bis dahin war das Gebiet größtenteils Sperrzone gewesen. Das hatte echt abartig gestunken.   Ich ließ mich auf dem pieksigen Nadelfilz nieder, der in den neueren Gebäudeteilen überall auf dem Fußboden lag, und stupste Anton an. Der war über Mittag nach Hause gegangen, weil er in der Nähe wohnte und seine Mutter es besser fand, wenn er mittags zu Hause aß. Wahrscheinlich damit sie ihm heimlich ein Aspirin ins Essen schmuggeln und mal eben Fieber messen konnte. Nur so für alle Fälle. „Na, was gab’s heute?“ „Willst du das wirklich wissen?“, fragte er zurück. Typisch Anton. „Nein, ich wollte nur höflich sein.“ „Brauchst du nicht. Es gab Spargel.“   Bäh. Mit dem Zeug konnte man mich ja jagen. Meine Mutter war nicht böse darüber und verputzte diese ekligen Stänglein mit Genuss auch allein, wenn sie denn mal welchen kaufte. So zu Ostern zum Beispiel, wenn es mal was Besonderes sein sollte. Bei Anton zu Hause spielte Geld aber wohl nicht so die Rolle. Sein Vater war Anwalt und verdiente damit so viel, dass seine Mutter zu Hause bleiben konnte, um sich um Heim und Garten zu kümmern. Und statt sich wie alle anderen gelangweilten Hausfrauen ein Hobby zu suchen, hatte sie Anton.   Herr Wilkens, unser Chemie-, Bio- und Klassenlehrer erschien auf der Bildfläche und scheuchte uns wie einen Haufen entlaufener Hühner in den Raum. Ich musste mir, wie immer, meinen Stuhl noch runterstellen, da vor mir regelmäßig irgendein Zwerg darauf zu sitzen schien, der das Ding immer bis zum Anschlag hochschraubte, sodass ich meine Beine nicht unter den Tisch bekam. Ich war also noch am Rumdrehen, als Herr Wilkens bereits zur Ruhe rief. „So, ihr Schluffis, jetzt mal ein bisschen zügig. Wir haben heute einiges vor. Benedikt, setz dich endlich. Corinna möchte heute noch was anderes zu sehen bekommen als deinen Hintern.“   Ich hörte einiges Gekicher, während ich mich auf meinen immer noch zu hoch eingestellten Stuhl pflanzte. Mir wurde leicht warm. Man, was konnte ich denn dafür, dass der andere Kerl oder die Kerlin so klein war? Vielleicht sollte ich das nächste Mal einfach mit Anton die Stühle tauschen. Er musste seinen nämlich immer hoch drehen. Warum waren wir da nicht schon früher drauf gekommen?   Ich wollte Anton gerade meinen genialen Plan mitteilen, als Herr Wilkens schon wieder das Wort an sich riss. Der hatte heute aber anscheinend wieder mal das gute Zeug zum Mittagessen erwischt. Im ersten Halbjahr hatte er uns regelmäßig vollgenölt, weil, wer auch immer den Stundenplan schrieb, ihn offenbar hasste und ihn dazu verdonnert hatte, gleich zwei zehnte Klassen am gleichen Tag im gleichen Fach zu unterrichten. Er musste somit den gleichen Mist einmal in den ersten beiden und dann noch mal in den letzten Stunden eines jeden Donnerstags vorführen und zwar so lange, bis die andere Klasse es endlich geschafft hatte, uns zu überholen, sodass ihm jetzt immer eine ganze Woche Zeit blieb, bevor er den Stoff nochmal wiederkäuen durfte. Das hatte seine Laune erheblich gebessert. Außerdem hatte er sich in den Weihnachtsferien den Bart abrasiert und kam neuerdings mit dem Fahrrad zu Schule, wie ich seit meinen Auflauerungs-Versuchen für T wusste. Ich vermutete ja mal ganz stark eine Midlife-Crisis, aber Anton meinte, dafür wäre er noch zu jung.   „Also dann, Lauscher auf! Bevor wir mit dem Unterricht anfangen, werden wir noch aussuchen, wo dieses Jahr unsere Klassenfahrt hingeht. Ihr habt die Wahl zwischen Paddeln auf der Altmühl oder Fahrradfahren in Dänemark. Wir stimmen per Handzeichen ab.“   Sofort schoss Sandras Hand in die Höhe. Dabei hatte die Abstimmung noch nicht mal angefangen.   „Herr Wilkens, ich bin dafür, dass wir eine geheime Wahl machen. Ich würde auch die Stimmzettel anfertigen.“   Ben stieg natürlich sofort darauf ein.   „Das ist doch Papierverschwendung“, rief er dazwischen, ohne sich zu melden. „Außerdem dauert das viel zu lange.“ „Das denke ich auch“, gab Herr Wilkens Ben recht und der grinste daraufhin Sandra breit an, während die ein Gesicht zog, als hätte sie noch was von der Buttersäure erschnüffelt. „Also los jetzt, mal ein bisschen dalli. Wer ist für Kanu?“   Ich wusste nicht so recht, für was ich stimmen sollte. Mir war es eigentlich egal, ich stellt mir beides so semilustig vor. Beides würde Zelten und sportliche Aktivitäten beinhalten, also was soll’s?   Unauffällig versuchte ich mich nach T umzusehen. Er saß ganz außen auf der anderen Seite des Klassenraums und hatte die Hand unten. War ja eigentlich klar. So ein Radfreak wie er würde bestimmt lieber damit unterwegs sein. Obwohl die Vorstellung von T in Badehose auch was hatte. Aber vielleicht war es ja in Dänemark zu der Zeit auch schon warm genug zum Baden.   „Okay, jetzt Hände hoch für Dänemark.“   Ich hob gehorsam meine Hand und schielte noch mal zu T, ob er auch sah, dass ich ihn in seinem Wunsch unterstützte. Mir wäre allerdings fast alles aus dem Gesicht gefallen, als ich merkte, dass er mich tatsächlich ansah. Schnell ruckte mein Kopf wieder nach vorne und ich war froh, dass Herr Wilkens so fleißig die Stimmen auszählte und mich somit nicht fragen konnte, warum ich so rot geworden war.   „Gut, das wäre eindeutig. Wir fahren nach Dänemark. Jetzt holt euch die Kittel aus dem Schrank, wir machen heute einen Versuch.“   Großes Gejohle und Gewühl war die Folge. Während ich wartete, dass sich das Knäuel vor dem Kittelschrank auflöste, hatte ich auf einmal das Gefühl, dass sich jemand genau neben mich stellte. Ein Blick nach links bestätigte mir diese Vermutung. Mit meinen Spinnensinnen war somit alles in Ordnung. Zu dumm nur, dass diese bei der Erkenntnis, wer genau da gerade neben mir stand, total durchdrehten. Es war T. Scheiße!   Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte, mein Herz und meine Knie unter Kontrolle zu bekommen. Jetzt bloß nicht durchdrehen, keine Panikattacke kriegen und schon gar nicht dem total bekloppten Wunsch nachgeben, noch ein Stückchen näher ranzurücken und ihn etwa zu berühren. So ganz zufällig mit der Hand gegen seine Hand kommen oder so. Allein die Vorstellung ließ eine Riesengänsehaut meine Arme raufmarschieren. Ich bildete mir sogar ein, ihn zwischen all dem Muff der völlig versifften Chemiekittel riechen zu können. Er roch nach frischer Luft, grünem Gras und sonnengeküsster Haut.   21 … 22 …   Okay, jetzt war es amtlich. Ich hatte den totalen Sockenschuss und zog in Gedanken total schwule Kitschromanvergleiche, wenn es um T ging. Das war definitiv nicht normal und musste sofort aufhören.   Möglichst unauffällig rutschte ich ein Stück von ihm weg, bevor ich doch noch etwas Dummes tat, und griff mir einen der letzten, verbliebenen Kittel. Als ich mich umdrehte, stand T direkt vor mir.   „Oh, ist der für mich?“, fragte er doch glatt und grinste mich an.   Mit dem Lächeln hätte er alles von mir verlangen können. Sogar mein höchstgeheimes Notsparbuch und meinen alten Lieblingsteddy, den ich natürlich überhaupt fast gar nie mehr mit ins Bett nahm. Aber das wollte er alles gar nicht. Nur einen schäbigen Laborkittel verlangte er von mir, auf den noch dazu jemand hinten einen Pimmel draufgemalt hatte. WTF?   „Hol dir gefälligst selber einen“, knurrte ich jedoch und stampfte mitsamt meinem Kittel nebst Pimmelbild an ihm vorbei. Hatte ich das jetzt gerade gemacht, um ihn vor der Schmach zu bewahren, mit dem Ding rumzulaufen? Oder war das so eine dumme Übersprungshandlung gewesen, in der ich mal wieder genau das Gegenteil von dem tat, was ich eigentlich wollte, wenn es um T ging. Ich wusste es nicht, ich verstand es nicht und ich hatte auch keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, weil Oliver in diesem Moment „Penis!“ quer durch die Klasse schrie und auf mich zeigte. Und natürlich drehten sich alle zu mir um und brachen in schallendes Gelächter aus. Am lautesten lachte Jo, der T dabei immer wieder in die Seite stieß.   „Ihr könnte mich alle mal“, murmelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart und machte mich daran, diese Säure-Basen-Experiment aufzubauen, dass Herr Wilkens vorne an die Tafel gemalt hatte. Anton half mir dabei und schien gar nicht mitbekommen zu haben, worum es eigentlich ging. Manchmal mochte ich meinen Nerd-Freund wirklich gerne.     Nach der Chemiestunde, die natürlich noch jede Menge Theorie darüber beinhaltet hatte, warum und weshalb Oliver nun eigentlich sein Reagenzglas um die Ohren geflogen war, machte ich, dass ich in den Fahrradkeller kam. Ich wollte meinen fahrbaren Untersatz endlich wieder zu Hause haben und außerdem fuhr nach der achten Stunde der Bus eh so blöd, dass ich mit dem Rad allemal schneller zu Hause war.   Ich fummelte gerade an meinem Schloss herum, als ich zwei Leute den Gang zum Keller herunterkommen hörte. Ich spitzte die Ohren und erkannte sie beide. Eine der Stimmen gehörte unserem Klassenlehrer und die andere … T! Mist. Ich musste echt hier weg.   Mit geradezu grober Gewalt rupfte ich das Zahlenschloss endlich auseinander und wollte mein Rad schon aus dem Ständer zerren, als es sich ausgerechnet jetzt im Nebenrad verkeilte. Ernsthaft? Ich rüttelte und machte, aber die Schutzbleche hingen irgendwie aneinander fest und als ich sie endlich voneinander gelöst hatte, sah ich Herrn Wilkens schon zum Keller rausfahren.   Ich schluckte und meine Gedanken überschlugen sich. T war bestimmt schon weg. Ganz bestimmt war er das. Er musste schließlich in eine ganz andere Richtung als Herr Wilkens. In meine nämlich.   Ich dreh durch. Los, sei einfach nicht mehr da, wenn ich jetzt losfahren will. Sei weg. Bitte!   Ich drehte mich um und er war nicht weg. Im Gegenteil. Er hatte sein Rad in der Hand und kam langsam auf mich zugeschoben. Was denn jetzt noch?   „Benedikt?“   Oh man, diese Stimme. Wie plüschigster Samt schlängelte sie sich in mein Ohr und ließ die kleinen Haare in meinem Nacken hochstehen. Das war ein krasses Gefühl. Wenn ich jetzt irgendwas aus Metall anfasste, kriegte ich bestimmt einen Schlag. Das war garantiert nicht gesund. Ich sollte damit mal zum Arzt gehen. „Herr Doktor, ich bin zu schwul. Können Sie mir da irgendwas verschreiben?“   „Ich wollte dich nur eben was fragen.“   Nein, sorry, tut mir leid. Die Fragestunde hat heute wegen akuter Unzurechnungsfähigkeit geschlossen. Wenn ich jetzt den Mund öffnete, kam nämlich garantiert nur „Blupp“ oder so raus. Dicht gefolgt von „Willst du mich heiraten?“ Ich war mir nicht ganz sicher, was davon schlimmer gewesen wäre.   „Oliver hat erzählt, dass du mit ihm bei der Auslosung in Geschichte die Zettel getauscht hast. Stimmt das?“   Man, wem hatte der Spacko das denn noch alles gesteckt? Wollte er vielleicht ne Anzeige in der Zeitung aufgeben oder ne Plakatwand mieten? Wenn Sandra davon Wind bekam, würde sie bestimmt eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen oder so. „Ja, das stimmt.“   T nickte bloß. Er wollte sich gerade umdrehen, als er doch nochmal stehenblieb, mich genau ansah und fragte: „Und warum?“   Öhm. Hatte ich was mit den Ohren oder klang T gerade irgendwie ein bisschen ärgerlich? Konnte ja nicht sein. Wobei … wahrscheinlich passte das einfach nicht in sein Weltbild. Normal mussten sich doch alle nach ihm die Finger lecken und ne Freudenparty schmeißen, wenn sie ihn als Partner bekamen. Wobei er natürlich nicht wissen konnte, dass ich das tatsächlich fast getan hätte, bevor ich ihn weiterverschenkt hatte. Allerdings enthob mich diese Tatsache nun nicht des Problems, dass T immer noch vor mir stand und eine Antwort erwartete. Also tat ich das Einzige, was mir einfiel. Ich erzählte ihm die gleiche Geschichte wie Mia-Marie.   „Er hat so dumme Sprüche über Mia-Marie gemacht, da dachte ich mir, ich tausche mal lieber mit ihm. Die beiden zusammen, das wäre voll fürchterlich geworden.“   Okay, das war jetzt ein bisschen mehr als das, was ich Mia-Marie erzählt hatte. T stand da und verarbeitete die Info anscheinend noch, als ich anfügte: „Tut mir leid, dass du jetzt Oliver deswegen an der Backe hast.“   Er hob den Blick – Hilfe, mein Herz! – und sagte dann bloß: „Ist okay. Ich komm klar.“   T wendete sein Rad, stieg auf und wollte gerade losfahren, als er sich nochmal umdrehte. „Hey, Benedikt?“ „Ja?“ „Hast du gut gemacht.“   Das gab er noch mal eben so von sich, bevor er sich auf sein Rad schwang und mit Leichtigkeit die Steigung rauffuhr, auf der ich meinen Drahtesel lieber schob, um nicht gleich nach zehn Metern aus der Puste zu sein.   Ich glotzte ihm hinterher – ja auch wegen des Hinterns – und versuchte, meine eigenen Beine ebenfalls in Bewegung zu setzen. Leider war das vollkommen unmöglich, weil die gerade zu Pudding geworden waren und meine Hände so stark zitterten, dass meine Fahrradklingel leise im Takt dazu schepperte. Ich musste wohl wirklich dringend mal zum Arzt. Dieses Verliebtsein war definitiv nicht gut für meine Gesundheit. Kapitel 5: Von guten Müttern und schlechten Geheimnissen -------------------------------------------------------- Als ich nach Hause kam, erwarteten mich zwei handgeschriebene Zettel von meiner Mutter. Der eine besagte, dass sie Lasagne vorbereitet und in den Kühlschrank gestellt hatte. Anscheinend hatte sie ihre Mittagspause überzogen und war extra nach Hause gefahren, um mein Lieblingsessen zuzubereiten. Vermutlich mal wieder aus einem Anfall von mütterlicher Überfürsorglichkeit heraus. Die hatte sie manchmal, wenn sie das Gefühl hatte, dass es Diana oder mir an irgendetwas mangelte, weil sie es nicht geschafft hatte, unsere werten Erzeuger an sich zu binden. Wobei, wenn sie Dianas behalten hätte, gäbe es mich ja gar nicht. Oder ich wäre ganz anders. Das war auch der Grund, warum ich ihr nicht erzählte, dass ich schwul war. Ich fürchtete, dass sie sich die Schuld daran geben könnte und das wollte ich nicht. Nicht, bevor ich die Sache nicht selbst ein bisschen besser im Griff hatte.   Auf dem anderen Zettel bat sie mich, den Rasen zu mähen. Natürlich. Dass ich donnerstags immer erst so spät kam und dann noch Hausaufgaben machen musste, interessierte ja nicht. Na gut, die machte ich eh meist erst irgendwann abends, von daher konnte ich wohl im Austausch gegen die bestimmt beste Lasagne der Welt mal ein bisschen die grüne Matte da draußen bearbeiten. Ich musste ja nicht alles auf einmal machen. Die Hälfte würde reichen, um bis zum Wochenende meine Ruhe zu haben.   Ich zog mir also alte und kürzere Klamotten an und wuchtete den Rasenmäher aus dem Gartenhäuschen. Das Ding war jetzt nicht uralt, aber es hatte keinen eigenen Motor und musste deshalb schön geschoben werden, weswegen diese Aufgabe natürlich mir zukam. Meine Mutter war nicht gerade die Größte – wenn es nicht ums Lasagnemachen ging – und Rasenmähen war in ihren Augen sowieso mal „Männersache“. Ebenso wie Glühbirnen wechseln, Löcher in die Wand bohren und Auto waschen. Auf Letzteres legte sie zum Glück nicht so viel wert und das mit der Bohrmaschine … na sagen wir mal, ich übe noch. Ein Heimwerker ist an mir nämlich auch nicht unbedingt verloren gegangen.   Weil ich wusste, dass meine Mutter Wert auf die Meinung der Nachbarn legte, entschloss ich mich, vor dem Haus mit dem Mähen anzufangen. Ich mühte mich mit Kabeltrommel und dem unhandlichen Ding ab, bis es endlich losgehen konnte und ich die ersten Bahnen auf dem Rasen zog. Immer schön gerade. Das hier war zwar nicht das Wembley Stadion, aber ordentlich sollte es ja schon sein. Wenn nicht, würde ich es nämlich nochmal machen müssen, wie ich aus leidiger Erfahrung wusste.   Das zweite, was an dem Rasenmäher echt nervte, war der winzige Auffangkorb, den ich vom vorderen Rasen schön nach hinten zum Kompost schleppen musste. Da heute obendrein auch noch die Sonne ziemlich von oben runterknallte, kam ich bereits beim zweiten Mal Rennen reichlich ins Schwitzen. Einen Moment lang erging ich mich in der Fantasie, mit eindrucksvoll freiem Oberkörper den Rasen mähend reihenweise hübsche Jungs vor den Gartenzaun zu locken. Als Nächstes stellte ich mir T dabei vor. Das war definitiv besser, auch wenn ich dadurch etwas langsamer laufen musste. Man, was für ein Anblick. Dieser schlanke, gebräunte Oberkörper, die tiefsitzenden Jeans, dazu der feste, runde H…   „Schicke Shorts.“   Hä? Wo kam das denn jetzt her? Von mir jedenfalls nicht.   Ich sah mich um und ließ vor Schreck den Bügel des Rasenmähers los. Der Motor erstarb und ermöglichte mir, das leise Lachen zu hören, dass da vom Zaun kam. Also nicht vom Zaun selbst, sondern von dem Kerl, der mit einer Kippe im Mund dagegen lehnte und mich unverhohlen anstarrte. Manuel.   In dem Moment war ich ziemlich froh, dass ich mein T-Shirt angelassen hatte. Jetzt gerade hatte ich nämlich das Gefühl, dass er mich förmlich mit den Augen auszog, und irgendwie war ich da um jedes Kleidungsstück froh, das ich am Leibe trug. Gleichzeitig hinterließ sein Blick ein eigenartiges Prickeln auf meiner Haut, das sicherlich nicht nur vom Schweiß und den daran festklebende Rasenkrümeln stammte. „Hey“, grüßte ich ein bisschen lahm und zögerte immer noch mit dem Griff des Rasenmähers in der Hand. Sollte ich hingehen und mich mit ihm unterhalten? Wenn ich es nicht tat, war das unhöflich, oder? Außerdem sah er nicht so aus, als würde er sich in nächster Zeit dort wegbewegen und ich hatte wenig Lust, hier den Affen im Zoo zu geben. Oder wohl eher den Wasserbüffel bei der Arbeit.   Ich ließ also den Rasenmäher Rasenmäher sein und schlenderte möglichst lässig in Richtung Zaun. Kurz davor stoppte mich ein dummes Problem. Direkt vor mir standen jede Menge Rosen und wenn ich mich da jetzt durchdrängelte, würde das garantiert unschöne und schmerzhafte Kratzer auf meinen Waden hinterlassen. So viel zu dem Plan, mich ebenso cool an den Zaun zu lehnen wie mein nicht so wirklich subtiler Bewunderer. Stattdessen stand ich jetzt wie bestellt und nicht abgeholt auf dem noch nicht gemähten Rasenstück rum. Man! Wieso verhinderte eigentlich alles in meinem Kackleben, dass ich mal nicht wie ein beschränkter Vollidiot rüberkam? Sogar die Rosen hatten sich gegen mich verschworen. Liebessymbol am Arsch!   Ich steckte also die Hände in die Hosentaschen und zog die Nase kraus. „Was machst du?“, fragte ich und hätte mir gleich darauf mit der flachen Hand gegen die Stirn schlagen können, als natürlich genau die Antwort kam, für die ich gerade die Steilvorlage geliefert hatte. „Ich guck dir zu.“ „Das sehe ich. Aber was willst du hier?“   Okay, das klang jetzt irgendwie unfreundlich, aber Manuel ging nicht darauf ein. Er grinste nur.   „Ich dachte, das hätten wir geklärt.“   Ich blinzelte ihn an. Sein Mund verzog sich noch weiter und dann leckte er sich doch tatsächlich ganz langsam und demonstrativ über die Lippen. Mein Herz hüpfte und etwas anderes tat das auch. Fuck! Der meinte das wirklich ernst.   „Ich … äh … muss noch den Rasen mähen.“ Musste ich ja wirklich. „Und danach?“   Danach? Danach hatte ich Zeit. Zeit um … mir von einem vollkommen Fremden einen blasen zu lassen? Mein Magen machte komische Verrenkungen bei dem Gedanken und mein Hirn schrie rum, dass das vollkommener Schwachsinn war. Allerdings war die Stimme der Vernunft seltsam gedämpft. War vielleicht gerade etwas unterversorgt, die Gute.   „Danach hätte ich Zeit.“   Manuel grinste und trat seine Zigarette direkt vor unserem Grundstück auf dem Gehweg aus. „Fein, dann bis später, Bambi. Du weißt ja, wo du mich findest.“   Ich konnte immer noch nicht so ganz glauben, dass ich mich anscheinend gerade mit ihm verabredet hatte, um … na ja, ihr wisst schon, und glotzte ihm noch nach, bis er irgendwann um die Ecke verschwunden war. Erst dann kam wieder Leben in mich und ich brachte es doch tatsächlich fertig, den Rasenmäher erneut anzuwerfen und den Rest des Vorgartens einigermaßen schlangenlinienfrei hinter mich zu bringen. Danach verfrachtete ich das Ding wieder ins Gartenhäuschen – ich würde Ärger kriegen, wenn ich ihn draußen ließ und es anfing zu regnen – und checkte die Uhr.   Es war kurz vor fünf. Wenn ich jetzt erst noch duschte, wäre meine Mutter eine gute, halbe Stunde später zu Hause, wenn ich am Spielplatz ankam. Außerdem hatte ich inzwischen beschlossen, dass ich mich nicht einfach so auf Manuels Avancen einlassen würde. Dort frisch geduscht anzukommen würde garantiert das falsche Zeichen setzen. Ich zog mir also lediglich meine normale Jeans und ein frisches T-Shirt an, benutzt mal kurz mein Deo und machte mich dann auf den Weg.   Als ich am Spielplatz ankam, saß Manuel auf einer der Schaukeln und rauchte. Schon wieder. Diese ekligen Bilder, die auf den Schachteln zu sehen waren, schienen ihn wenig zu beeindrucken. Wenn er die Frequenz aufrecht erhielt, verbrauchte er bestimmt zwei Schachteln am Tag.   Ich atmete noch einmal tief durch und ging dann möglichst normal auf ihn zu. War gar nicht so einfach wegen des Sandes und des Blicks, mit dem er mich fixierte, aber ich schaffte es immerhin bis zu ihm zu kommen, ohne mich auf die Fresse zu legen. Bevor er reagieren konnte, hatte ich mich auf die zweite Schaukel gepflanzt, damit er ja nicht auf die Idee kam, mich gleich ins Gebüsch zu zerren.   „Na, fertig gemäht oder hast du den Rest selbst gefressen?“   Ich musste einen Augenblick überlegen, was er meinte.   „Ach so“, antwortete ich und lachte ein wenig verlegen. „Du meinst wegen des Spitznamens. Nein, ich hab’s gemäht. Gibt nachher noch Lasagne.“ „Schön für dich.“   Er nahm noch einen Zug aus der Zigarette und schmiss sie dann in den Sand. Als er aufstehen wollte, hielt ich ihn zurück.   „Wollen wir erst noch ein bisschen reden?“   Was hieß denn hier 'erst'? Hatte ich nicht gerade noch beschlossen, dass hier jetzt nichts laufen würde? Aber Manuels Anwesenheit schien irgendwelche Synapsen in meinem Gehirn, die für solche Entscheidungen zuständig waren, vollkommen lahmzulegen. Plötzlich war ich aufgeregt und mein Herz klopfte wie blöd in meiner Brust.   Er zog die Augenbrauen hoch. „Reden? Worüber denn?“ „Na … keine Ahnung. Wo du herkommst zum Beispiel. Ich hab dich hier vorher noch nie gesehen.“ Er ließ sich wieder auf die Schaukel fallen. Seine Augen waren irgendwo auf den Horizont gerichtet. Es kam ziemlich klar rüber, dass ihm das gerade auf den Sack ging. „Ich wohn seit drei Wochen hier. Bin ursprünglich aus Hamburg.“ „Und wo da?“ „Wilhelmsburg.“   Das sagte mir nichts, allerdings kannte ich mich in Hamburg auch nicht besonders gut aus. Als ich nicht reagierte, fügte er noch hinzu: „Das liegt auf der anderen Seite der Elbe.“ „Ach so.“ Ich schielte zu ihm rüber. „Und warum bist du jetzt hier?“ Er knurrte unwillig. „Willst du jetzt reden oder ficken?“ „Ähm …“   Ich schwieg. Anscheinend hatte ich es verbockt. Da ging sie hin, die Chance auf den ersten Blowjob meines Lebens. Ich winkte ihr ein bisschen rührselig nach. War nett, dich gekannt zu haben.   „Sorry“, kam es da plötzlich von ihm. „Ich hab vergessen, dass du ja noch unberührt bist.“ Ich bohrte meinen Turnschuh in den Sand. „Na ja. Ist jetzt auch nix, auf das ich unbedingt stolz bin.“ „Schon okay. Wenn ich von hier wäre, hätte ich von Tuten und Blasen vermutlich auch keine Ahnung.“   Er grinste mich jetzt wieder frech an und ich lächelte vorsichtig zurück. Plötzlich stand er auf.   „Los, komm mit.“ Er sah mich auffordernd an und ich erhob mich tatsächlich, um wie an die Leine gelegt hinter ihm her ins Unterholz zu tappen. Dort angekommen drehte er sich um und winkte mich näher. Ich trat noch einen Schritt vor, bis wir so nahe voreinander standen, dass ich ihn wieder riechen konnte. Zigaretten und Waschmittel.   Ich schluckte. „Bist du dir sicher, dass du das machen willst?“ „So sicher wie das Amen in der Kirche. Aber du dir anscheinend nicht, Bambi. Hast du Schiss? Ich beiße auch nicht.“   Er grinste wieder, aber ich musste diese dumme, kleine Frage trotzdem loswerden, die da so hartnäckig in meinem Hinterkopf herumschwirrte.   „Aber warum? Und warum ich?“   Er lachte leise. Das Geräusch jagte mir kleine Schauer den Rücken runter. „Das ist doch ganz einfach. Ich bin geil und du bist heiß. Brauch ich da noch mehr Gründe?“ „Ja aber … laberst du immer einfach so irgendwelche Leute an, um mit ihnen zu schlafen?“   Er seufzte und wandte sich zum Gehen und ich bekam Panik.   „Hey, jetzt warte doch mal. So war das nicht gemeint.“   Ich hatte tatsächlich den Arm ausgestreckt, um ihn aufzuhalten. Er sah auf meine Hand herab. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich seine nackte Haut berührte. Es war zwar nur sein Unterarm, aber Haut war Haut oder nicht? Sehr, sehr vorsichtig zog ich ihn wieder näher zu mir.   „Ich … ich bin das einfach nicht gewohnt, okay? Das sollte keine Anschuldigung sein. Ich hab mich nur gefragt, warum du dir so sicher warst, dass ich dir nicht einfach eine reinhaue.“   Er antwortete nicht, sondern trat einfach noch näher. Ich wich zurück und hatte im nächsten Augenblick schon wieder einen Baum im Rücken. Er ließ sich davon nicht aufhalten und dann spürte ich plötzlich eine Hand zwischen meinen Beinen. Sie rieb meinen Schwanz durch die Hose hindurch.   „Ich hab’s nicht sofort gewusst“, gab Manuel zu, während er nicht aufhörte, Blut aus meinem Gehirn abzuzapfen. „Aber du hast gut regiert, also hab ich einfach mal geguckt, wie weit ich komme.“   Ich wollte noch was darauf erwidern, aber ich war definitiv zu abgelenkt. Jemand – Manuel! – fasste meinen Schwanz an. Der Wahnsinn. Ich konnte nicht anders, ich schloss die Augen und ließ den Kopf gegen den Baum sinken. Ich glaube, ich habe sogar gestöhnt. Auf jeden Fall tat ich das, als im nächsten Moment meine Hose geöffnet wurde, und Manuels Hand gleich zwei Stofflagen tiefer wanderte. Haut auf Haut auf meinem Schwanz. Heilige Scheiße! Das war so gut.   „Gefällt dir, was?“, fragte er an meinem Ohr und ich konnte nur nicken und inkohärente Laute von mir geben. „Es wird gleich noch besser.“   Ich wollte fragen, wie das noch besser werden konnte, als er sich vor mir auf die Knie sinken ließ, meine Hose nach unten zog und im nächsten Moment sein Lippen um meine Eichel legte. Was zum … ja! Ja es konnte noch besser werden. Feucht und heiß und hart und weich und alles gleichzeitig und das an meinem Schwanz. Ich biss mir in den Handrücken, um nicht laut zu schreien. Allein der Gedanke, dass Manuel tatsächlich gerade tat, was ich wusste, dass er tat, weil ich es ja alles live und in Farbe spüren konnte, waren schon fast zu viel. Wie von selbst legte sich meine andere Hand auf seinen Hinterkopf und streichelte ein bisschen hilflos durch die dunklen Locken, während er meine knallharte Latte mit Lippen und Zunge so formvollendet bearbeitete, dass ich schon bald das Ende nahen fühlte.   Oh nein, Mist, das sollte noch nicht aufhören. Dazu fühlte es sich viel zu gut an.   „Langsam“, keuchte ich daher.   Aber Manuel kannte kein Erbarmen. Als ich kurz davor war, ließ er von mir ab, kam hoch und seine rauen Finger begannen, meine Erektion in einem schnellen Rhythmus zu pumpen. Ich kam mit einem langgezogenen Stöhnen und spritzte die Ladung vor mir auf den Boden. Danach sackte ich ein bisschen in mich zusammen und lehnte mich schweratmend an ihn. Er ließ mich los und schob mich zurück gegen den Baum. Als ich die Augen öffnete, grinste er mich an.   „Und? Hab ich zu viel versprochen?“   Ich schüttelte den Kopf. Das war wirklich fantastisch gewesen. Allerdings holte mich bald die Erkenntnis ein, wo wir waren und dass ich wohl besser daran tat, meinen inzwischen nur noch halbgaren, kleinen Freund ordentlich zu verpacken. Außerdem musste ich feststellen, dass ich so gar keine Ahnung hatte, was die Etikette in so einem Fall als Nächstes vorsah. Manuel hatte mir gerade einen geblasen. Und jetzt? Musste ich das nun ebenfalls tun? Oder reichte es, wenn ich ihn anfasste? Wollte ich das eigentlich? „Und du?“, fragte ich und merkte, dass ich ihm auf den Schwanz starrte. Er war ohne Zweifel ebenfalls hart, also schien ihm das Ganze immerhin gefallen zu haben. Das beruhigte mich irgendwie.   „Was du möchtest.“   Ich schluckte und fühlte, wie mir die Wärme ins Gesicht kroch. Schon allein damit er mich nicht mehr so anstarren konnte, trat ich näher zu ihm, lehnte mich vor, nahm meinen Mut zusammen und küsste ihn. Er roch immer noch nach Zigaretten. Ich fühlte ihn grinsen, bevor er den Mund öffnete und mit der Zunge über meine Lippen strich.   Oh Himmel, gleich mit Zunge? Was, wenn ich was falsch machte? Und überhaupt … war das komisch, ihm jetzt einen Zungenkuss zu geben, wo er doch gerade …? All diese Gedanken waren nicht eben förderlich für meine Performance. Ich rutschte irgendwie mit meinen Lippen zu seinem Mundwinkel ab. Er lachte leise und fing meine Lippen wieder ein. „Hiergeblieben, Bambi. Wir sind noch nicht fertig.“   Im nächsten Moment nahm er einfach meine Hand und dirigierte sie zwischen seine Beine. Oh wow. Das fühlte sich … echt geil an. Diese harte Beule, die da gegen meine Handfläche gerieben wurde, war das verdammt nochmal Interessanteste, was ich je gefühlt hatte. Gleich nach dem, was Manuel vorher getan hatte. Dass er obendrein noch seine Zunge in meinen Mund schob, überforderte mich allerdings etwas. Ich konnte mich nicht darauf konzentrieren, was ich da unten anstellte, also unterbrach ich den Kuss, um mich an seiner Hose zu vergreifen. Ich öffnete sie, während er mir zusah und schon wieder grinste. Blödmann.   „Vielleicht hilfst du mir mal?“, maulte ich, als der dumme Reißverschluss im unteren Drittel plötzlich klemmte. „Klar.“   Er half mit tatsächlich, indem er die Hose samt darunterliegender Boxer einfach nach unten schob und mir seinen steifen Schwanz präsentierte. Oh fuck! Ich musste einfach hinsehen. Das war so viel besser als auf den Fotos. Ich merkte, wie ich selbst schon wieder hart wurde.   „Wenn du noch länger nur guckst, muss ich Eintritt verlangen.“ „Sorry“, murmelte ich und streckt langsam die Hand aus.   Dass ich jetzt sehen konnte, wie ich ihn anfasste, machte das Ganze auf eigenartige Weise nur noch realer. Wie Porno zum Mitmachen. Nur geiler. Und komplizierter. Ich wusste nicht so recht, wie ich meine Hand halten sollte, damit es gut wurde und ich weder ihm noch mir was abbrach. Aber mit der Zeit wurde es besser, auch wenn ich gerne meinen Daumen mehr benutzt hätte. Anscheinend reichte es ihm aber, wenn ich einfach nur meine Hand darum legte und sie hin und her bewegte. Trotzdem fühlte sich das so herum total merkwürdig an.   Deswegen und weil ich mir auf einmal viel zu bewusst war, dass nicht nur ich ihn sondern auch er mich ansah, hob ich den Kopf und begann wieder, ihn zu küssen. Ich änderte meine Handhaltung und auf einmal ging es viel leichter. Das war fast so, wie wenn ich es mir selbst machte. Nur immer noch viel, viel geiler.   Auch Manuel schien diese neue Gangart zu gefallen, denn sein Atem wurde schneller, seine Hand krallte sich in mein Shirt und plötzlich kam er. Er kam tatsächlich, weil ich ich ihm einen runtergeholt hatte. Sein Schwanz zuckte in meiner Hand, er keuchte in den Kuss und ich schwebte mit den Kopf irgendwo in den Wolken. Wow, so fühlte sich das also an. Ich verstand plötzlich, was er daran fand. Das Gefühl, jemand zum Orgasmus gebracht zu haben, war wirklich berauschend. Und es hatte mich wieder spitz wie Nachbars Lumpi gemacht. Hätte er mich jetzt nach einer zweiten Runde gefragt, ich wäre dabei gewesen. Allerdings sah es nicht danach aus. „Gar nicht mal schlecht, Bambi“, murmelte er, bevor er sich die Hose wieder hochzog und sich von mir entfernte. Ich stand ein bisschen dumm – und hart – an dem Baum und wusste nicht, was ich jetzt tun oder sagen sollte. Das war irgendwie nicht wirklich so gelaufen, wie ich das geplant hatte.   Stumm sah ich dabei zu, wie er sich eine neue Kippe anzündete. Als er den Rauch ausblies, drehte er sich endlich wieder zu mir um und lächelte mich an. Dieses Mal war es wirklich ein Lächeln und nicht sein übliches Grinsen, auch wenn das ein bisschen mit durchschimmerte. „Wiederholen wir das mal?“, wollte er wissen. „Klar“, sagt ich. „Wann immer du willst.“ „Fein, ich freu mich drauf.“ Damit drehte er sich um und ließ mich einfach stehen. Ich sah ihm nach und wusste nicht so recht, wie ich mich jetzt fühlen sollte. Ein bisschen benutzt vielleicht, obwohl das ja eigentlich nicht so ganz richtig war. Immerhin war Manuel ziemlich in Vorleistung gegangen.   Mein erster Blowjob.   Der Gedanke ließ mich schließlich grinsen und ich machte mich, nachdem die Freude darüber sich irgendwann nicht mehr ganz so stark manifestierte, auf den Rückweg nach Hause. Meine Mutter war zum Glück noch nicht da, sodass ich eben schnell noch die Lasagne in den Ofen schieben und mich anschließend im Badezimmer verbarrikadieren und unter die Dusche stellen konnte, bevor sie nach Hause kam und womöglich noch Manuels Zigaretten an mir roch oder so. Denn es stand außer Frage, dass ich nie irgendjemandem davon erzählen konnte. Das war und würde mein ganz eigenes Geheimnis bleiben.     Beim Abendessen war meine Mutter seltsam ruhig. Anhand der Neuigkeiten von gestern und ihrer Lasagne-Aktion hatte ich angenommen, dass sie mich heute Abend mal wieder mit Tonnen an ungeteilter Aufmerksamkeit überschütten würde, aber dem war nicht so. Stattdessen betrieben wir nur mäßige Konversation knapp oberhalb von „Gibst du mir bitte mal das Salz.“ „Wie läuft’s eigentlich in der Schule?“, fragte sie schließlich, während wir den Tisch abräumten. „Och, ganz gut. Ich hab ein Projekt in Geschichte an der Backe und wir fahren mit der Klasse nach Dänemark.“ „Toll! Wann denn?“ „Ende Mai oder so.“ „Okay.“   Irgendwann hielt ich es doch nicht mehr aus. Meine Mutter hatte ganz klar etwas auf dem Herzen und ich wollte wissen was. Nicht, dass doch irgendwas mit Diana und dem Baby war. Als ich sie danach fragte, schüttelte sie jedoch nur den Kopf.   „Nein, mit Diana ist alles in Ordnung. Obwohl ich mir schon ein bisschen Sorgen um sie mache. Aber gemeinsam werden wir das Kind schon schaukeln.“ Sie wollte schon einfach weitermachen, aber so leicht gab ich mich nicht geschlagen. „Und was ist dann passiert?“ Sie seufzte. „Ich habe mich heute mit Herrn Möller gestritten." Ach daher wehte der Wind. Ich kannte diesen Herrn Möller zwar nicht persönlich, aber wenn meine Mutter von ihm erzählte, bekam sie manchmal so einen kieksigen Ton und rosige Wangen. Ich glaube, sie stand irgendwie auf den. "Warum denn?", hakte ich nach. "Der Leiter des neuen Wohnheims war heute da und hat sich wegen irgendwelcher fehlender Zuwendungen beschwert, woraufhin ihn Herr Möller nicht besonders freundlich darauf hingewiesen hat, dass irgendwo auf Seite drei seines Antrags ein Kreuzchen fehlte und er das Ganze deswegen erneut einreichen müsse. Tja und ich habe dann gefragt, ob man da nicht mal eine Ausnahme machen könne. Vor dem Antragsteller. Das geht natürlich gar nicht. Einem Kollegen in den Rücken fallen, das gehört sich einfach nicht. Mir taten nur in dem Moment einfach die Kinder so leid. Die können ja schließlich nichts dafür." „Was denn für ein Wohnheim?“, wollte ich wissen und hatte plötzlich eine ganz dumme Vorahnung. „Das hab ich doch bestimmt mal erzählt, oder? In dem alten Bauernhaus an der Ecke zur Gärtnerei wurde vor ein paar Wochen ein Wohnheim für schwer erziehbare Jugendliche eröffnet. Inzwischen sind die ersten Bewohner eingezogen, aber es hapert wohl noch an allem Möglichen, um das Projekt so richtig ins Rollen zu bringen.“ Sie sah mich an und lächelte. „Aber keine Sorge, Schatz, die kriegen das schon hin. Nur tu mir bitte den Gefallen und halt dich ein bisschen von diesen Kids fern, ja? Die kommen nämlich teilweise aus wirklich zerrütteten Verhältnissen. Drogen, Alkohol, häusliche Gewalt. Nicht, dass du dich nachher noch in Schwierigkeiten bringst.“ „Ist gut, Mama“, antwortete ich, aber in meinem Kopf kreiste eigentlich nur ein Gedanke.   Um mich fernzuhalten war es wohl leider schon ein kleines bisschen zu spät.   Kapitel 6: Von verdrängten Problemen und technischen Schwierigkeiten -------------------------------------------------------------------- Erinnert ihr euch noch an die Geschichte mit dem Schmetterlingskostüm und daran, dass ich sagte, dass das nicht gerade eine sozialentwicklungstechnische Meisterleistung von mir war? Oder daran, dass ich mich immer an die Freunde meiner Schwester rangemacht habe? Das sind so zwei Sachen, die mir im Nachhinein ziemlich peinlich sind. Aber hey, das eine wird bestimmt irgendwann mal zu so einer witzigen Kindheitserinnerung, die man in Zeitungen zum 30. Geburtstag mit verwackeltem Foto abdruckt, damit auch ja jeder sieht, wie Panne das war, und das andere fällt wohl in die Kategorie „denn sie wissen nicht, was sie tun“. Aber das, was ich nach der Eröffnung meiner Mutter mit Manuel abgezogen habe, das ist nochmal ein ganz anderes Kaliber, wenngleich auch genauso peinlich. Ich hab mich nämlich … versteckt.   Ja, ich weiß, was ihr jetzt denkt. Das ist ja mal so was von überhaupt nicht erwachsen und über Probleme soll man doch reden und all der Käse. Aber die Wahrheit ist, ich hab mich nicht getraut. Weder konnte ich meiner Mutter sagen, dass ich bereits einen dieser Typen aus der Chaoten-WG kennengelernt und sogar Dinge mit ihm gemacht hatte, noch konnte ich Manuel damit konfrontieren, dass ich wusste, was bei ihm im Busch war, da er mir das ja ziemlich offensichtlich nicht hatte sagen wollen. Das konnte nur zu Problemen führen. Das Beste wäre also gewesen, ihm beim nächsten Zusammentreffen einfach zu sagen, dass ich nicht interessiert war und gut wär’s gewesen. Das Blöde war nur, dass das nicht stimmte. Ich war interessiert, Scheiße nochmal. Sobald mein Gehirn ein bisschen Leerlauf hatte, musste ich wieder an das Gefühl seiner Lippen an meinem Schwanz denken, was natürlich zu nicht unbedingt unpeinlichen Situationen führte. In einer davon musste ich mir beim Abendessen dreimal nachnehmen, bis meine Latte endlich weg war und ich aufstehen konnte, ohne dass meine Mutter was merkt. Oder Mathestunden. Der Horror. Vor allem, wenn ich auch noch T auf der anderen Seite der Klasse vor mir hatte und mir unwillkürlich vorstellte, wie es wohl wäre, wenn er … Na prima! Jetzt hab ich das Scheißproblem schon wieder. Wenn ihr also bitte so freundlich wärt? Ich erzähl das jetzt mal der Reihe nach und ihr guckt einfach woanders hin, ja? Prima.     Am Freitag fuhr ich kurzerhand wieder mit dem Fahrrad zur Schule aber dieses Mal nicht, um T im Fahrradkeller abzupassen, sondern um nicht nach der sechsten Stunde mit dem Bus nach Hause fahren zu müssen. Danach hielt ich mich fast das gesamte Wochenende nur im Haus auf und mähte den Rasen am Samstag bereits in aller Herrgottsfrühe, was sich natürlich als eine totale Scheißidee entpuppte, weil das Gras da noch nass war und ständig die Rotorblätter verklebte. Ich hatte aber insofern Erfolg damit, als dass Manuel nicht aus dem Morgennebel auftauchte, um mich ins nächste Gebüsch zu zerren oder gar mit mir zu reden. Von daher war die elende Plackerei nur ein kleiner Preis für die Wahrung meines mehr als fragilen Seelenfriedens. Vor lauter Verzweiflung – und um nicht dauernd mit einem Ständer rumzurennen – machte ich sämtliche Hausaufgaben, räumte auf, wusch Wäsche, saugte im ganzen Haus Staub, nahm meiner Mutter das lästige Badputzen ab und lernte am Sonntagnachmittag, als mir so gar nichts mehr einfiel, sogar für Geschichte. Ich hätte natürlich auch nur vor dem PC hängen und zocken können, aber … So eine Maschine mit Internetanschluss war, wie ich bereits früher schon hatte feststellen müssen, nicht eben förderlich, um seine Gedanken von Sex wegzubekommen. Die Versuchung, nach dem einen oder anderen zu googlen oder schlichtweg Pornos zu gucken, war einfach zu groß, also ließ ich das Ding aus und ignorierte die höhnischen Blicke, die es mir zuwarf, während ich einen auf fleißiger Hausmann machte.   Die Probleme fingen eigentlich erst an, als meine Mutter mich fragte, ob ich sie zu Diana und ihrem Freund begleiten wollte, um das Gespräch zu führen. Im Grunde genommen wäre es wohl fair gewesen, Dianas Freund ein bisschen männliche Unterstützung angedeihen zu lassen. Aber falls der Typ sich entschloss, sich wie ein Arsch zu benehmen, dann verdiente er es eigentlich auch, die geballte Ladung weiblichen Zorns ganz allein abzukriegen. Außerdem wollte ich dann nicht im gleichen Zimmer wie Diana und unsere Mutter sein. Ich lehnte daher dankend ab und war somit eine Viertelstunde später allein zu Haus. Zusammen mit meiner überschäumenden Libido und einem Computer, der mir verschwörerisch zuzwinkerte. Ich zeigte ihm den Mittelfinger und versuchte, mich mit meinem Deutschbuch abzulenken, aber nachdem ich dieselbe Seite nun schon zum dritten Mal gelesen hatte, gab ich auf. Ich schmiss mich auf meinen Schreibtischtstuhl und fuhr den Rechner hoch. Das Erste, was ich tat, war, mir einen runterzuholen. Alles andere wäre eh vergebene Liebesmüh gewesen, denn solange der Gedanke daran durch mein Hinterstübchen tobte – ich meine meinen Kopf, ihr Ferkel! – konnte ich eh an nichts anderes mehr denken. Danach begann ich, mich über Techniken fürs Blasen schlau zu machen. Die meisten Seiten, die ich fand, waren zwar an Frauen gerichtet, aber so weit ich das beurteilen konnte, gab es zwischen männlichen und weiblichen Mündern nicht unbedingt einen Unterschied. Was für die einen recht war, sollte also für die anderen nur billig sein. Vor der Sache mit Manuel hatte ich mich eigentlich noch nie so wirklich dafür interessiert. Ich fand es zum Zuschauen nicht unbedingt spannend und die Vorstellung war mir auch ein bisschen komisch vorgekommen. Aber seit ich wusste, wie sich das anfühlte, wollte ich das unbedingt auch mal an jemandem ausprobieren. Total schwul, schon klar, aber wir wissen ja, von wem wir hier reden.   Natürlich hatte ich vorher auch schon Sachen nachgeschaut. Vom obligatorischen „Kann es sein, dass ich schwul bin“ bis hin zu „Wie funktioniert das mit zwei Männern im Bett“. Und ja, ich hatte mich auch zu Risiken belesen, die es dabei gab. Angefangen von Verletzungen durch den unsachgemäßen Gebrauch von Gegenständen, über Geschlechtskrankheiten bis hin zu Aids. Das war noch so ein Punkt, weswegen ich Manuel auswich. Er machte auf mich einen ziemlich erfahrenen Eindruck und wenn ich bedachte, wie es sozial um ihn bestellt war, machte ich mir Gedanken darüber, ob er mich wohl eventuell mit irgendwas anstecken könnte. Und obwohl ich wusste, dass diese Bedenken vermutlich vernünftig waren, fühlte es sich gleichzeitig ziemlich mies und von oben herab an. Klar wäre es sinnvoll gewesen, ihn einfach danach zu fragen, aber … äh … ich traute mich nicht. Wie sollte ich das denn bitte anstellen? Einfach hingehen und sagen: „Hey, bevor wir weiter miteinander rummachen, hätte ich gerne ein Gesundheitszeugnis von dir?“ Wie scheiße war das denn? Die Reaktion darauf konnte ich mir bildlich vorstellen. Und einfach die Klappe halten und auf Kondomen bestehen? Auch beim Blasen? Gummi im Mund war bestimmt total widerlich. Allein wie die Dinger rochen! Natürlich war das Risiko für eine HIV-Infektion dabei ohnehin ziemlich gering, aber da gab es ja auch noch andere Sachen, die man sich dabei einfangen konnte. Kurz, mein Kopf und mein Schwanz waren sich nicht einig und ich saß mittendrin und wusste nicht, was ich tun sollte. Also ging ich dem Problem, so gut ich konnte, aus dem Weg.   Das klappte auch am Montag noch ganz gut. Ich fuhr mit dem Rad zur Schule, blieb ansonsten zu Hause und lauschte meiner Mutter, die mir lang und breit davon erzählte, dass Dianas Freund ja so ein Süßer wäre und sich nach dem ersten Schreck total über das Baby gefreut hätte. Wir hätten bestimmt noch weiter geplaudert, doch dann rief Diana an, um meiner Mutter zu erzählen, dass Björn – so hieß ihr Macker übrigens, falls ich das noch nicht erwähnt haben sollte – ihr doch tatsächlich ein kleines Paar Babyschuhe gekauft und darin einen Ring versteckt hatte, sodass jetzt neben einem neuen Erdenbürger auch noch eine Hochzeit ins Haus stand. Herzlich willkommen in Kitsch Haven. Da ich wusste, dass das mit dem Telefongespräch dauern konnte, verzog ich mich in mein Zimmer um zu lernen. Es endete damit, dass ich schon wieder vor dem PC hockte, mir irgendwelche Let’s Plays reinzog und mich nicht dazu aufraffen konnte, etwas Sinnvolles zu tun. Bis zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter reinkam und ich schnell den Browser schloss, damit sie nicht mitbekam, dass ich lediglich rumgammelte. Sie packte Wäsche in den Schrank, die sie als Ausgleich für meinen Fleiß am Wochenende für mich zusammengelegt hatte. Während sie mir noch den Rücken zudrehte, ging mir plötzlich auf, dass vor dem leeren Bildschirm sitzen höchstverdächtig wirken würde. Also rief ich schnell die Suchmaschine auf und gab das erste Thema ein, das mir in den Sinn kam. „Die weiße Rose“ spuckte mir jede Menge Suchergebnisse aus, von denen ich einfach das erste anklickte, das nicht Wikipedia war, und zu lesen begann. Ich merkte, wie meine Mutter hinter mich trat.   „Na, Schatz, machst du Hausaufgaben?“ „Ja, Geschichte. Das Referat, das wir halten sollen. Ich recherchiere ein bisschen.“ „'Die weiße Rose'? Das ist ja ein tolles Thema und heute noch so aktuell wie damals. Grad letztens hab ich irgendwo ein Interview mit einem Autor gesehen, der ein neues Buch über Hans Scholl geschrieben, in dem er dessen Lebensgeschichte ganz neu beleuchtet. Ich glaube, es hatte irgendwas damit zu tun, dass der schwul war.“   Ich blinzelte den Monitor an und konnte es nicht glauben, was meine Mutter da gerade gesagt hatte. Hans Scholl war schwul gewesen? „Aber sitz nicht wieder den ganzen Tag drinnen rum, ja? Ab morgen soll das Wetter schlechter werden, da kannst du noch genug vor der Mattscheibe hocken.“ „Ja, Mama, ist gut“, gab ich ganz automatisch zur Antwort, während ich nur darauf wartete, dass sie verschwand und ich mich näher mit dem Thema befassen konnte. Vielleicht würde das Referat ja doch nicht ganz so langweilig werden, wie ich gedacht hatte.     Am nächsten Tag regnete es tatsächlich wie aus Eimern, sodass ich mich notgedrungen wieder mit dem Bus zur Schule wagen musste. Allerdings war Manuel in dem vollgestopften Teil nicht auszumachen und ich schaffte es, mich unbemerkt in die Schule zu mogeln. Vollkommen fertig von dem ganzen Stess ließ ich mich neben Anton fallen, während Herr Vogel noch irgendwas mit Sandra besprach, was mir ganz recht war, denn von der Doppelstunde Deutsch würde noch genug Zeit übrigbleiben, um mich zu Tode zu langweilen. „Unterm Rad“ war jetzt nämlich nicht unbedingt die spannendste Lektüre aller Zeiten. Ich fand es umständlich geschrieben und die Tatsache, als Schüler von einem Kerl zu lesen, der den ganzen Tag quasi nix tat außer zu lernen, war eine reichlich deprimierende Sache. Und als er endlich mit der Paukerei fertig war, ging er doch tatsächlich zum Angeln. Spannend! Nicht.   „Hast du das nächste Kapitel gelesen?“   Das Grinsen, das Oliver bei der Frage auf dem Gesicht hatte, ließ mich nichts Gutes ahnen. Zumal mir in dem Moment auch noch einfiel, dass ich über die ganze Sache mit Manuel und dem schwulen Scholl – der übrigens bisexuell war, das nur mal am Rande – tatsächlich vergessen hatte, es zu lesen. Scheiße! Bei meinem Glück würde Herr Vogel garantiert mich dran nehmen und mich dann wieder mit diesem Blick ansehen. Aber Oliver würde ich das bestimmt nicht auf die Nase binden. „Klar“, gab ich deswegen zurück und versuchte, Oliver danach zu ignorieren. Das war allerdings ungefähr so einfach, wie eine Mücke in einer heißen Sommernacht nicht zu beachten. Du versuchst dir einzureden, dass da nix ist, aber insgeheim horchst du trotzdem hin, ob da nicht was summt. Und wie Oliver summte.   „Uuuunnnd?“, fragte er gedehnt. „Wie hat dir der Kuss gefallen. Da ist dir doch bestimmt einer abgegangen, wenn die da so rumschwulen?“ „Hä?“, machte ich und klatschte mir innerlich mit der Hand gegen die Stirn. Hatte ich nicht geheimhalten wollen, dass ich das Kapitel nicht gelesen hatte? „Na Hans und Hermann. Die haben sich geküsst und wer weiß was noch.“   Oliver sah mich mit einem derart triumphierenden Gesichtsausdruck an, dass ich nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte. Was wollte der denn jetzt von mir? Hatte er etwa … Verdacht geschöpft? Oder nervte er mich einfach nur damit, weil er sich schon so dran gewöhnt hatte? Ich wollte gerade den Mund öffnen, um wenigstens irgendwas, wenn schon nichts Geistreiches, dazu zu sagen, als Anton mich rettete. Lieber, guter, schlauer Anton.   „Oliver, du bist so ein Honk“, erklärte er und schob seine Brille zurecht. „Der Kuss besiegelt lediglich den Beginn ihrer Freundschaft. Hans verliebt sich später noch in Emma, die Nichte des Schuhmachers. Das hat sexuell gesehen eine viel größere Bedeutung für ihn.“ „War ja klar, dass du Streber schon wieder das ganze Buch gelesen hast“, unkte Oliver und machte Anstalten, sich Anton zu nähern. Ohne zu überlegen, erhob ich mich von meinem Stuhl und stellte ich mich dazwischen. „Lass deine Finger von ihm“, grollte ich. „Warum? Hast du Angst, dass ich deinem Liebchen was tue? Knutscht ihr etwa auch heimlich rum?“   Wieder war es Anton, der mich davor bewahrte, etwas Dummes zu tu , wie zum Beispiel Oliver eins auf die Nase zu geben.   „Selbst wenn wir das getan hätten, wäre das nichts Ungewöhnliches. Jungen machen oft zunächst homoerotische Erfahrungen, bevor sie sich an Mädchen heranwagen.“ Anton schob erneut seine Brille nach oben. „Hattest du eigentlich schon mal eine Freundin oder befindest du dich auch noch in der Experimentierphase? Oder gar noch in der Vorpubertät? Wenn man dein Verhalten so betrachtet, könnte dieser Eindruck auf jeden Fall entstehen. Also geh und spiel mit was Giftigem und lass Benedikt endlich in Ruhe.“   Oliver klappten den Mund auf und wieder zu, ohne einen Ton von sich zu geben. Dass Anton ihm derart Paroli bot, damit hatte er wohl nicht gerechnet. Ich hingegen hätte meinen persönlichen Chicken Little am liebsten an meine Brust gedrückt, doch Herr Vogel war der Meinung, dass wir uns jetzt dann doch lieber seinem Unterricht zuwenden sollten. Also setzte ich mich neben Anton und wartete ab, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab, um ihm ein „Danke“ rüberzuflüstern. Er sah nicht von seiner Textaufgabe auf, sondern nickte nur und das war das.     Ich langweilte mich durch Mathe und Bio, während ich versuchte, sämtliche schwulen Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Das funktionierte relativ gut, bis wir in Erdkunde in einen anderen Raum beordert wurden. Die Tische dort standen ganz anders als unsere, weil die Klasse vorher wohl einen Test geschrieben hatte. Lauter einzelne Zweiertische, von denen ich mir zusammen mit Anton einen im mittleren Randfeld schnappte. Dummerweise setzten sich T und Jo genau vor uns.   „Man, die ist auf jeden Fall scharf auf mich“, schwadronierte Jo gerade. „In der Mittagspause frag ich sie, ob sie mal mit mir ins Kino geht. Irgendwas Gruseliges, dann kann sie sich im Dunkeln schön an mir festhalten.“ Er lachte blöd und T nickte nur. „Gute Idee.“ „Ja, oder? Also, kommst du mit, wenn ich sie frage?“ „Kannst du das nicht alleine?“ „Doch schon, aber du musst mir Anne vom Leib halten. Die klebt ständig an Mia dran und ich krieg nie ne vernünftige Antwort von ihr.“   Vielleicht, weil sie einfach nicht auf dich steht, dachte ich und feixte mir eins. Inzwischen hatte ich mir zusammengereimt, dass es wieder oder immer noch um „nur Mia“ aus der a ging. Jo hatte anscheinend keinen Stich bei ihr, war aber zu dumm, um das einzusehen, und missbrauchte deswegen den armen T dazu, ihm die Lampe zu halten.   „Und, machst du’s?“, flüsterte Jo, während unsere Erdkundelehrerin schon Stellung bezog. „Ja, klar“, antwortete T. „Ich lass dich doch nicht hängen.“   Ich seufzte innerlich. Also nicht wegen Jo. Es war mehr so ein Aufseufzen, weil ich das absolut sü… äh, anständig von T fand, dass er seinem Freund beistand, obwohl der sich in einer so hoffnungslosen Lage befand. Ich schielte zu Anton rüber, der bereits sein Buch auf der richtigen Seite aufgeschlagen hatte und aufmerksam nach vorne sah. Seine Brille war mal wieder runtergerutscht und ich wartete nur darauf, dass er sie wieder nach oben schob. Da, noch ein Stückchen. Gleich musste es kommen. Dieser typische Griff mit dem rechten Mittelfinger, der mich immer an japanische Animefiguren erinnerte. Ob er das extra machte, so wie ich mal eine Weile lang geübt hatte, nur eine Augenbraue nach oben zu schieben?   Plötzlich drehte er sich zu mir rum und ich sah zu, dass ich meinen Blick wieder nach vorne richtete. Dummerweise führte das dazu, dass ich genau in Ts Augen schaute, der mich erwartungsvoll ansah. „Ist was?“, blaffte ich ihn an. Oh man, das war jetzt irgendwie ganz schön unfreundlich gewesen. „Gib her“, antwortete an seiner Stelle Anton und nahm T die Arbeitsblätter aus der Hand, die der mir hatte geben wollen. Ähm … Mist. Absoluter Mist.   T schüttelte den Kopf und drehte sich wieder nach vorn und ich knirschte mit den Zähnen, weil ich mich mal wieder voll lächerlich gemacht hatte. Um mich abzulenken, wandte ich mich dem Arbeitsblatt zu, aber mein Blick wurde immer wieder wie magisch von Ts Nacken angezogen, der sich über seinen Tisch beugte und eifrig schrieb. Ich hatte das Bedürfnis, mich bei ihm zu entschuldigen, aber dafür war es wohl inzwischen zu spät. Wahrscheinlich hatte er das Ganze eh schon wieder vergessen, denn in seiner Welt existierte ich ja quasi nicht.   „So, meine Lieben, nachdem wir das Thema China nun erfolgreich abgeschlossen haben, werden wir nächste Stunde mit Japan beginnen. Um euch an das eigenständige Arbeiten zu gewöhnen, werden wir dafür Referats-Themen verteilen und jeder von euch wird dann einen kleinen Vortrag halten.“   Och nee, schon wieder ein Refarat? Hoffentlich wieder eine Gruppenarbeit, die würde ich dieses Mal ganz bestimmt mit Anton zusammen machen. So wie ich unsere Lehrerin einschätzte, mochte die es nämlich lieber unkompliziert. Frau Kuntze war eine ganz Liebe, auch wenn sie eher aussah wie ein Seebär auf Landgang. Ich schwöre, mit einem Rollkragenpullover und einer Schiffermütze wäre die glatt als Hein oder Piet durchgegangen. Naja. Konnte halt nicht jeder so schön sein wie T, der sich gerade ausgiebig streckte, sodass unten an seinem Shirt ein Streifen nackter Haut zu sehen war. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Ich musste hier weg. Sofort. Sonst würde was ganz Schlimmes passieren.   Also meldete ich mich. „Ach Benedikt, sehr schön. Dann übernimmst du also gleich den ersten Vortrag nächste Stunde über die Klimazonen.“ „Äh, was?“ Eigentlich hatte ich nur fragen wollen, ob ich mal aufs Klo konnte. Beim Begaffen meines Klassenkameraden hatte ich offenbar verpasst, dass gerade die Referats-Themen verteilt wurden und jetzt hatte ich die Arschkarte gezogen und durfte als Erster anfangen. Och nö.   „Geht klar, Frau Kuntze“, sagte ich stattdessen und schrieb mir brav auf, dass ich bis Freitag irgendwie rauskriegen musste, was für Wetter die da in Japan hatten. Konnte ja nicht so schwer sein. Wetter gab es schließlich auch hierzulande und Regen war Regen oder nicht? „Du musst nur einen Überblick liefern, wir gehen dass dann noch im Detail durch. Zehn bis 15 Minuten sollten reichen.“ „Okidoki“, meinte ich noch und hörte, wie Jo mich nachäffte. Spinner. Kein Wunder, dass Mia den nicht leiden konnte.   Den Rest der Stunde verbrachte ich damit, mir einen Zeitplan zu entwerfen. Heute würde ich nicht dazu kommen, noch was für das Referat zu tun. Am Nachmittag hatten wir noch Unterricht und dann stand Training an, von dem mich meine Mutter immer mit dem Auto abholte. Danach Abendessen, Hausaufgaben und ab ins Bett. Das Gute daran war, dass ich so garantiert Manuel nicht begegnen würde. Das Blöde war, das Morgen bereits Mittwoch war und ich somit nur noch zwei Tage Zeit hatte, mich auf mein Referat vorzubereiten. Aber das würde schon werden. Auf jeden Fall dachte ich das, bis ich abends nochmal meinen PC anwerfen wollte um nachzusehen, ob ich irgendwelche Emails hatte, und sich genau nichts tat, als ich auf den großen Knopf drückte. Ich checkte die Stromversorgung, aber da war alles in Ordnung. Der Rechner ging nur einfach nicht an. „Ach scheiße, was denn jetzt schon wieder?“ Ich schloss genervt die Augen. „MAMA!“ „Ja“, rief sie von irgendwo zurück. „Warst du an meinem Computer?“ „Ja Schatz. Ich hab da nach ein paar Ideen für Dianas und Björns Hochzeit gesucht. Wieso?“ „Weil er nicht angeht.“   Ich hörte Schritte und gleich darauf stand meine Mutter in der Tür. Sie hatte die Stirn gerunzelt. „Das ist eigenartig. Heute Mittag ging er noch.“ „Du hast ihn aber runtergefahren, bevor du die Steckdose ausgestellt hast, oder?“   Meine Mutter war großer Verfechter des Sparens von Geld, Strom, Wasser und Nutella. Deswegen kaufte sie nie welches.   „Ja natürlich“, entgegnete sie entrüstet, aber ich sah ihr an der Nasenspitze an, das sie log. „Mamaaaa?“ Sie nestelte nervös an ihrem Pullover herum. „Da lief irgendsoein Updatedingens und meine Mittagspause war doch schon rum. Da hab ich ihn einfach ausgemacht.“   Ich stöhnte und ließ den Kopf auf die Tischplatte fallen.   „Ist er jetzt kaputt?“ „Vielleicht“, knurrte ich. „Warum hast du ihn nicht einfach laufen lassen?“ „Aber dann hätte er ja ganz umsonst Strom verbraucht.“ Ich gab es auf. „Ja, Mama, schon gut. Ich frag Anton, ob er mir hilft, das wieder hinzukriegen.“ „Ach, das ist toll Schatz. Es tut mir echt leid.“   Ich stöhnte noch einmal gegen die Tischplatte und entschloss mich, ins Bett zu gehen. Heute würde ich hier eh nichts mehr reißen und es war schon spät genug, um nicht mehr als früh durchzugehen. Außerdem hatte ich nach den letzten, etwas unruhigen Nächten Schlaf bitter nötig.   Während ich im Bett lag, machte ich mir Gedanken über meine Probleme. Ich versuchte immer noch, Manuel aus dem Weg zu gehen, der vermutlich Morgen wieder mit dem Bus nach der sechsten Stunde fahren würde, und ich hatte bis Freitag ein Referat vorzubereiten aber keinen PC, um dafür zu recherchieren. Für beides gab es eine wunderbare Lösung, die mir förmlich mit dem Arsch ins Gesicht sprang. Ich würde den morgigen Nachmittag in der Bücherei verbringen und entweder dort die Computer nutzen oder es auf die altmodische Art machen und mein Referat aus einem Buch rausschreiben. Alles ganz easy, hatte ich gedacht, doch es sollte ganz anders kommen. Kapitel 7: Von tollen Plänen und feuchten Träumen ------------------------------------------------- Der nächste Tag begann großartig. Ich hatte zwar Probleme, aber ich hatte auch einen Plan, was ich dagegen unternehmen konnte, und den würde ich durchziehen. Außerdem hatte ich den Plan noch um einen weiteren Punkt ergänzt: Ich würde aufhören, in T verliebt zu sein.   Mal ehrlich, da machte ich mich heimlich über Jo lustig, weil der an „nur Mia“ rumgrub und nicht begriff, dass er chancenlos war, und ich machte genau das Gleiche. Mit dem Unterschied, dass ich noch nicht mal in Erwägung zog, T um ein Date zu bitten, weil: Er war nun mal hetero. Er stand nicht auf mich und würde das niemals tun. In seiner Welt existierte ich quasi nur als bedeutungslose Randfigur, deren einzige Aufgabe es war, ihn noch besser aussehen zu lassen, und es würde kaum eine gute Fee vorbeikommen und meinen Kürbis in eine Kutsche verwandeln. Mal abgesehen davon, dass mir babyblau nicht stand und ich mir Schuhe aus Glas echt unbequem vorstellte. Also war es vollkommen sinnlos, sich da weiter in etwas zu verrennen. Prinz Charming würde Grizabella heiraten oder wie diese hässliche Stiefschwester hieß, und ich mir einen einigermaßen passablen Bauernburschen suchen, der mich tagsüber auf Händen trug und mir nachts im Bett das Hirn rausvögelte. Jetzt musste ich diesen Plan nur noch in die Tat umsetzen und alles war paletti.     Der Beginn meines neuen Lebens lief eigentlich auch ziemlich gut. Ich lavierte mich heute mal ohne große Schwierigkeiten durch den Schultag, schilderte Anton mein Computerproblem, von dem er sofort versprach, es sich am Wochenende mal anzusehen, gönnte mir in der Pause ein gegrilltes Sandwich mit Schinken und Ananas – nein warme Ananas ist nicht eklig! – und schlug gut gelaunt gegen halb zwei in der Bücherei auf, um mich einem weiteren Nebenpunkt auf meiner Liste zu widmen: meine Schulleistungen zu verbessern. Wenn ich schon kein Liebesleben hatte, konnte ich die Zeit, die andere dafür aufwendeten, auch sinnvoll nutzen. Zumal mich mehr lernen davon abhalten würde, Zeit an Orten zu verbringen, an denen mich Manuel erwischen konnte. Ich schätzte ihn nicht als großen Büchereigänger ein, selbst wenn das bestimmt ein ganz böses Vorurteil war.   Als ich durch die erste, große Glastür des Windfangs trat, der die Bücherei vor dem grauseligen Schietwetter schützte, das draußen herrschte, konnte ich es bereits sehen. Mein Reich. Regale über Regale vollgestopft mit Büchern, die es noch zu lesen galt. Wenn man reinkam, sah man nämlich als Erstes die Erwachsenenabteilung und ich hatte, wenn ich ehrlich war, bisher eigentlich eher bei den Kinder- und Jugendbüchern geschmökert. Ich liebte Abenteuer- und Detektiv-Geschichten und, auch wenn das vielleicht ein bisschen peinlich ist, ich vergötterte so Bücher mit „dem Auserwählten“. Damit meine ich jetzt nicht nur Harry Potter und dessen griechisch-römische Version, Percy Jackson, sondern eigentlich alle Romane, in denen ein jugendlicher Held auf einmal in eine magische Welt entführt wurde, die er nach allerlei Irrungen und Wirrungen am Ende dann doch noch rettete. Natürlich sprang ich jetzt nicht auf dem Spielplatz rum und focht mit Stockschwertern imaginäre Kämpfe aus – wie wir wissen, machte ich auf Spielplätzen ja neuerdings ganz andere Sachen – aber ich sah den Helden gerne dabei zu, wie sie sich abrackerten, um dann am Ende Erfolg zu haben. Das war so furchtbar befriedigend, dass ich glatt überlegte, erst noch einen Abstecher in diese Abteilung zu machen, als mich nach dem Durchqueren der zweiten Tür fast der Schlag traf. Die Bücherei war voller Kinder!   Ach du Scheiße, wer hatte die denn hier reingelassen? Sie belagerten den kompletten vorderen Teil der Bücherei, rannten zwischen den Regalen herum, besetzten die bequeme Sitzecke, brachten alles durcheinander und vor allem aber waren sie laut. In einer Bücherei war man nicht laut. Man schlich ganz ehrfürchtig auf Zehenspitzen zwischen den Bergen von Papier herum und hoffte, dass man beim Umblättern auch wirklich niemanden störte. Hatte denen das denn keiner beigebracht?   Die dunkelhaarige Dame, die an dieser Aufgabe offenbar gescheitert war, saß mit geröteten Wangen mitten unter den Zwergen und las ihnen irgendwas vor. Also den drei Hanseln, die auch zuhörten und nicht damit beschäftigt waren Chaos zu stiften.   Ich prallte entsetzt zurück und wollte schon fast flüchten, als mir einfiel, dass momentan eh kein Bus fuhr und ich die nächsten zwei Stunden hier in der Stadt festsaß. Wenn ich also nicht draußen durch den Nieselregen laufen wollte, musste ich mir eine trockenen Unterkunft suchen. Und diese Unterkunft hieß nun mal Bücherei, ob mir das nun passte oder nicht.   Ich schlüpfte also aus meiner feuchten Jacke, hängte diese ordnungsgemäß an einen Haken – ja, ich hab gesehen, dass einige von euch Teppichratten ihre Klamotten einfach auf den Boden geworfen oder in den Schirmständer gestopft haben – und machte mich hocherhobenen Hauptes auf den Weg zu der Ecke, wo der altersschwache Suchcomputer der Bücherei stand. Es gab weiter hinten zwar noch eine Arbeitsecke, in der auch Rechner mit Internetzugang standen, aber dafür würde ich an den Tresen gehen und mir das aktuelle Passwort holen müssen, was wiederum bedeutete, dass ich mir von den Bibliothekarinnen so einen mahnenden Blick einfangen würde mit dem Hinweis, dass nur jugendfreie Inhalte abgerufen werden durften.   Hallo, was dachten die denn? Nur weil ich ein bis über beide Ohren mit Hormonen vollgestopfter Teenager war, hieß das noch lange nicht, dass ich mein Sexualleben in aller Öffentlichkeit zelebrierte. Ich hatte ja schließlich auch meinen Sto… Oh, okay, vergesst es einfach und lasst uns bitte nicht mehr von Spielplätzen reden, ja? Das war wirklich eine saudumme Idee und wird definitiv nicht wieder vorkommen.   An dem PC, der sich ganz in der Nähe der Toiletten befand, saß eine ältere Dame und tippte mit spitzen Fingern auf der angegrauten Tastatur herum. Also eigentlich hackte sie eher wie ein leicht irrer Raubvogel im Zehn-Sekunden-Takt darauf ein, sodass ich mich unwillkürlich fragte, ob ihr wohl gleich eine der Tasten entgegenspringen würde. Nach zwei Minuten überlegte ich, ob ich sie fragen sollte, ob ich ihr helfen kann. Nach fünf Minuten überlegte ich, ob ich einfach mal auf gut Glück in die Fachbuch-Abteilung gehen sollte und mich anhand der Beschriftungen durchwühlen konnte. Nach zehn Minuten ließ ich Miss alterndes Adlerauge mit ihrem blöden Computer alleine und trollte mich zwischen die Buchreihen. Alte Leute waren manchmal wirklich sowas von rücksichtslos!   Kurz darauf stand ich vor einem Regal, an dem groß „Geographie“ dranstand und das vollgepackt war mit dem, was ich suchte. Na ja gut, mit einer kleinen, aber feinen Auswahl mit Büchern über Japan. Also genauer gesagt waren es fünf. F-ü-n-f!   Ich starrte auf die magere Ausbeute und entdeckte damit nicht den ersten Fehler im System. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? In einer Bücherei zu suchen war doch mal total rückständig. Hier fand man ja nix! Ohne große Lust pulte ich ein schmales Büchlein aus dem Regal. Es war ein Reiseführer, der mich über die großartigen Insider-Geheimnisse des Lands der aufgehenden Sonne informieren wollte. Ich klappte es auf und fand Bilder von Suhsi, Geishas, Pagoden, Kirschblüten und … Klimadiagramme. Was zum …? Ha! Ein Treffer. Klein und kompakt stand dort alles, was ich für einen kurzen Überblick brauchen würde. Mein eben noch schlapp am Boden liegendes Weltbild blähte sich auf und stand im nächsten Augenblick wieder groß und leuchtend da wie eine Eins. Das war ja nicht zu fassen. Am besten, ich steckte das handliche Teil von der Größe eines schmalen Taschenbuchs gleich ein und dann konnte ich … nicht nach Hause, weil ja immer noch kein Bus fuhr. Fuck! Und mich ruhig in eine Ecke zu setzen um zu lesen, fiel auch aus, weil ja Schneewittchen und die 37 Zwerge fast das gesamte Areal belagerten. So ein Mist aber auch.   Ich seufzte abgrundtief und machte ich auf den Weg, um meinen Collegeblock aus meinem Rucksack zu holen. Eine Tasche mit hineinnehmen war nämlich nicht erlaubt, weil man ja was hätte einstecken können. Die Bücher waren zwar alle elektronisch gesichert, aber sicher war sicher. Vielleicht gab es die Regelung auch, damit niemand die Heiligen Hallen mit Essen oder Trinken verschmutzte. Ich fügte mich murrend und schlurfte in Richtung Arbeitsecke, um mein Referat einfach dort anzufertigen. Ich würde alles Wichtige rausschreiben, eines von diesen putzigen Diagrammen abpauschen und fertig war der Lack.     Im hinteren Bereich der Bücherei herrschte himmlische Stille und die Schreie der verzogenen Gören hallten nur noch ganz leise an mein Ohr. Meine Schritte wurden beschwingter, je weiter ich mich von ihnen entfernte, ich schwebte geradezu um die Ecke, nur um dann wie angewurzelt stehenzubleiben.   Das war nicht deren Ernst. Was hatte ich bitte irgendwem da oben getan, dass er mich so quälte? Dass er mich mit dem milden Glanz der Hoffnung köderte, nur um mir dann hinterrücks den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Was? Warum? Das war doch einfach nicht fair und ich hatte das bestimmt nicht verdient. Nicht, wenn ich nicht in irgendeinem früheren Leben ein ganz übles Arschloch gewesen war. Was, wenn ich es mir recht überlegte, ja vielleicht der Fall gewesen war. Ich musst das dringend mal in Erfahrung bringen.   Jetzt jedoch stand ich erst mal vor dem Problem, dass alle Plätze der Arbeitsecke besetzt waren. Normal war in diesem Teil der Bücherei so gut wie nichts los und die fünf Tische, die dort herumstanden, wo sie niemanden störten, fristeten ein recht friedliches Dasein. Heute jedoch waren anscheinend noch mehr Leute auf die Idee gekommen, sich vor den kleinen Monstern hier zu verstecken, und einer von ihnen war T. Er saß an dem Tisch, der blöderweise auch noch genau in der Mitte des Raumes stand und vier Stühle aufwies. Vermutlich, um dort Platz für angeregte Diskussionsrunden zu bieten oder so. Er jedoch hatte den ganzen Platz allein belegt, ungefähr eine Million Bücher dort verteilt und arbeitete.   Ich stand wie an den Fleck genagelt da und wagte nicht zu atmen. Wenn er jetzt den Kopf hob, würde er mich genau ansehen. So wie in der Schule. So wie in der Mathestunde, als ich mich in ihn verknallt hatte. Ich sah es quasi vor mir, wie sich seine blauen Augen auf mich richteten, der Funken des Erkennens darin aufglomm und er den Mund öffnete, um mich anzusprechen. „Hallo Benedikt!“   Hä? Was? Oh, Scheiße! Das war ja gar kein Traum. Er sah mich wirklich an und ich spielte Karpfen auf dem Trockenen. Nicht cool. Absolut nicht cool! Konnten die kichernden 13-jährigen nicht mal eben ihren Tisch räumen, der hinter T lag, damit ich mich dort hinsetzen und wieder unsichtbar werden konnte? So wie immer wenn wir zusammen in einem Raum waren. Er machte, was er eben machte, und ich … sabberte natürlich nicht in mein Heft, sondern konzentrierte mich ganz professionell auf mein Referat und … Scheiße! Jetzt begann er auch noch, seine Bücher zuzuklappen.   „Wenn du möchtest, kannst du dich zu mir setzen.“   Weia. Aschenputtel hatte eine Einladung ins Schloss bekommen. Dabei hatte ich doch gar kein Ballkleid dabei. Nur Jeans, ein Band-Shirt von den Killers und ausgelatschte Turnschuhe.   Ich schluckte und ging im Kopf meine Optionen durch. Ich konnte jetzt einfach verneinen, mich umdrehen und flüchten. Allerdings wäre das eine ziemlich durchschaubare Lüge gewesen, denn schließlich hielt ich den Beweis für meine Absichten deutlich sichtbar in Händen. Ich konnte sagen, dass ich ihn nicht stören wollte und mich nach einem anderen Platz umsehen. Bei den Zwergen war bestimmt noch ein Tisch frei und so kompliziert konnte die Sache mit dem Wetter nicht sein. Allerdings hatte ich dazu so gar keinen Bock und außerdem war das vielleicht die Gelegenheit, ihn endlich mal ein bisschen näher kennenzulernen. Ich wusste doch im Grunde genommen nichts von ihm, außer dass er in meiner Klasse war. Vielleicht entpuppte sich Prinz Charming ja beim genaueren Hinsehen doch als die Flachpfeife, für die ich ihn die ganze Zeit gehalten hatte. Es ging schließlich nicht nur um das Äußere. Die inneren Werte waren schließlich viel wicht… ach scheiße, wem machte ich hier eigentlich was vor? Ich lechzte nach seiner Aufmerksamkeit und wollte nichts lieber, als mich an diesen Tisch setzen. Also tat ich das, bevor die Stimme der Vernunft wieder anfing rumzuplärren, dass das gegen den Plan war.   „Danke“, bekam ich schließlich heraus, bevor ich Block und Buch auf meiner Ecke des Tischs ausbreitete. Dabei versuchte ich zu erkennen, was er gerade machte. Da waren jede Menge Landkarten, Texte in dieser altdeutschen Schriftart, die kein Schwein lesen konnte, und obendrein ein dicker, grauer Wälzer, der aussah, als wäre er noch aus dem vorletzten Jahrhundert.   „Geschichte?“, fragte ich sinnigerweise, obwohl das ja nun wirklich offensichtlich war. „Ja. Bodenreform. Total spannend.“   Er lächelte mich an, bevor er sich wieder seinen Karten zuwandte und mit dem Finger darauf herumfuhr, als suche er etwas. Ich wusste, ich sollte nicht starren, aber ich konnte nicht anders, als die Bewegungen seiner Hand verfolgen, die da so sanft über die Seiten fuhr. Wow, er hatte so schöne Hände. Lange, schlanke Finger die sich gegen die weißen Seiten und vor allem das weiße Langarmshirt abhoben, das er trug. Es strahlte geradezu und ich fragte mich, wie er das wohl machte, dass das so blütenweiß war. Jeder normale Mensch hätte nach einem Schultag Schmutzränder an den Ärmeln gehabt, aber er nicht. Er sah aus wie aus dem Ei gepellt. Alles an ihm sah einfach wundervoll aus. Die dunkelblonden Haare, die ihm wie immer ein bisschen ins Gesicht fielen, die schmale, fast aristokratisch wirkende Nase mit der randlosen Brille, der Mund, dessen Unterlippe ein bisschen voller war als die obere, das ausdrucksstarke Kinn, auf dem nicht ein einziger Pickel zu sehen war, der durchtrainierte Körper, den, wie ich wusste, zwar kein Sixpack zierte, dafür aber eine breite Brust und lange, wohldefinierte Beine und eben dieser wundervolle, knackige Hintern, den ich momentan zwar nicht sehen, mir aber lebhaft vorstellen konnte.   Wenn ich nicht aufpasste, fing ich doch gleich an zu sabbern.   Um mich abzulenken, schlug ich meinen Reiseführer auf und kam mir gleich noch ein bisschen unscheinbarer vor. Er arbeitete hier mit hochwissenschaftlichen Quellen wie ein Student, während ich in einem Reiseführer schmökerte. Ach Käse. Ich konnte ihm eben einfach nicht das Wasser reichen. Außerdem war da immer noch das Problem, dass an meinem Körper Dinge fehlten, die er vermutlich anziehend fand, während ich andere Dinge hatte, die er bestimmt nicht berühren wollt. Also zumindest nicht bei anderen Jungs … Männern … wie auch immer.   Ich stopfte das Bild, wie T sich selbst anfasste ganz, ganz, ganz tief in mein schmutziges Unterbewusstsein zurück und begann zu lesen. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinbekommen würde.   Wie sich herausstellte, war das mit dem Wetter in Japan dann doch nicht so einfach, weil dieser dämliche Inselstaat sich über sage und schreibe sechs verschiedene Klimazonen zog, aber ich sollte ja nur einen Überblick liefern. Also schrieb ich für jede Zone ein paar Stichpunkte auf, malte mir eine ungefähre Karte von dem Ganzen ab und war innerhalb kürzester Zeit tatsächlich fertig. Der Hammer. Ich hatte es geschafft, mein Referat fertigzukriegen, obwohl T mir gegenübersaß und auf wirklich obszöne Weise an seinem Bleistift kaute. Gott, wie gerne wäre ich jetzt an Stelle dieses Stifts gewesen. An mir hätte T auch gerne mal rumknabbern dürfen …   Fuck! Wie oft hatten wir das mit dem „keine versauten Gedanken wenn man vorhatte gleich vom Tisch aufzustehen“ jetzt schon? Genau. Viel zu oft. Und ich fiel jedes Mal wieder darauf rein. Himmel nochmal! Also gut, ich saß jetzt hier fest und musste aufhören, Ts Lippen, Mund, Finger oder was auch immer von ihm anzusehen und mir vorzustellen, wie er mich auf der Bücherei-Toilette gegen die Wand drückte und mich besitzergreifend küsste. Dabei war das so eine nette Vorstellung, die mich unwillkürlich grinsen ließ.   In diesem Moment sah er hoch. „Ist was?“ „Äh, ach, ich hab nur gerade an was denken müssen.“   Schnell guckte ich auf die Seite, die ich vor mir liegen hatte. Sitten und Gebräuche. Was? In Japan brachte es Unglück, wenn sich die Geschenkbänder überkreuzten? Das war ja mal interessant! „Und an was?“   Ich blinzelte T an. Er lächelte freundlich.   „Hä?“ „An was du denken musstest.“ „Ich … äh … an meine Mutter. Die steht total auf Kriegsfuß mit dem Einpacken von Geschenken. Vor allem mit dem Geschenkband. Als Kind musste ich immer den Daumen drauftun, wenn sie das zuknoten wollte, und wenn es meine eigenen Geschenke waren, musste ich mir dabei noch die Augen zuhalten.“   Gott, BENEDIKT! Reiß dich zusammen und hör auf zu schwafeln. Das interessiert keine Sau und T schon gar nicht. Er guckt schon so, als wärst du ein bisschen plemplem.   „Und … ich … in Japan … also da dürfen keine Knoten in den Geschenkbändern sein, weil das Unglück bringt. Meine Mutter sollte vielleicht dahin auswandern.“ Ich lachte dümmlich.   Okay, das war’s, ich konnte mich einweisen lassen. Am besten kaufte ich mir ein Ticket nach Australien und fing an, dort Koalabären zu züchten oder so. Damit wäre ich bestimmt erfolgreicher als mit dem Versuch, mit T ein vernünftiges Gespräch zu führen.   Doch was war das? Er lachte leise. Das war so sexy, dass es mir am ganzen Körper eine Gänsehaut verpasste.   „Da kann sie meine Mutter gleich mitnehmen. Die kann das auch nicht.“ Er sah mich an und mein Magen machte Purzelbäume. Scheiße, wie war noch der Plan gewesen? Mich entlieben? Wie sollte ich das denn bitte anstellen, wenn er hier wie frisch vom Himmel gefallen vor mir saß und so … so war?   T schaute plötzlich zur Uhr, die an der Wand hing. „Oh, ich muss los.“ „Ich auch“, rief ich, obwohl das gar nicht stimmte. Ich wollte einfach nur noch ein bisschen in seiner Nähe bleiben. „Musst du auch in die Stadt?“ „Ja.“ „Cool, dann komm doch mit.“   Wir packten unsere Sachen zusammen, ich räumte meinen popeligen Reiseführer wieder weg, während er seine Quellen zurück ins Geschichtsregal verfrachtete, und gingen anschließend gemeinsam zum Ausgang.   T zog sich seine Jeansjacke über, wobei sein Shirt schon wieder hochrutschte. Man, machte der das extra? Wusste er denn nicht, dass er damit vollkommen falsche Signale in meine Richtung sendete und ich nichts lieber wollte, als diesen Streifen nackter Haut zu berühren, ihn zu küssen und vielleicht noch was ganz anderes mit ihm anzustellen? Ob das wohl schon mal ein Mädchen bei ihm gemacht hatte? Bestimmt. Aber was, wenn nicht? Was, wenn ich der Erste wäre? Würde er mich das tun lassen? Würde ihm das gefallen? „Kommst du?“   T sah mich erwartungsvoll an und ich kämpfte meine schon wieder erwachende Erektion nieder. Ich musste echt aufhören an so was zu denken, wenn ich in der Öffentlichkeit war.   Zu meinem Erstaunen griff er nach einer großen Tasche, deren Form keinen Zweifel an ihrem Inhalt ließ. Ich hob beide Augenbrauen. „Du spielst Gitarre?“ „Ja, hab gleich Unterricht.“   Okay, feuchter Traum, nächstes Level. Man stelle sich bitte T auf einer Bühne vor, mit nacktem Oberkörper, ich in der ersten Reihe und dann … Bämm, Gitarrensolo, er kommt nach vorne, die Menge tobt, aber während er spielt, sieht er die ganze Zeit nur mich an.   Ich glaubte, gleich in Ohnmacht fallen zu müssen.   „Spielst du gut?“, krabbelte ich. „Na ja, es wird. Fürs Lagerfeuer reicht’s schon.“   Der feuchte Traum wechselte von der Bühne ans Feuer.   „Ich würd dich gerne mal spielen hören.“   Äh was? War ich denn bescheuert? So was sagten Mädchen zu ihrem Schwarm, aber doch keine Jungs. Das war doch total schw… Ach vergesst es doch einfach. Er lächelte. „Mal sehen. Vielleicht nehm ich die Gitarre mit auf die Klassenfahrt. “ „Gute Idee.“ Gute Idee? GUTE IDEE? Die Idee war brillant mit dem kleinen Haken, dass ich dann an seinen sprichwörtlichen Lippen hängen würde, während die ganze Klasse es sehen konnte. Oh, ich hörte förmlich schon Oliver rumblöken. „Benedikt steht auf Theodor! Benedikt steht auf Theodor!“ Ja wirklich, ganz tolle Idee, Benedikt. Einsame Spitzenklasse.   „Äh, sag mal, kann ich dich um einen Gefallen bitten?“ T wirkte ein bisschen verlegen. Einen Gefallen? Welchen? Sollte ich mir die Haare abrasieren? Mich nackt ausziehen? Von der nächsten Brücke springen?   „Ich muss nochmal zu Söndersen rein was abholen, aber mit der Gitarre ist das voll blöd, weil es da so eng ist. Ob du mir da wohl mal eben helfen könntest? Du musst doch in die Richtung, oder?“ Söndernsen war ein kleiner Schreibwarenladen in der Fußgängerzone und lag somit genau auf meinem Weg. Es war also nicht auffällig, wenn ich das machte und außerdem hatte er mich ja schließlich danach gefragt. „Na klar.“ „Danke, das ist nett von dir.“   Tja, so war ich eben. Nett. Und anscheinend leicht masochistisch veranlagt. Warum zum Geier drückte ich mir die Nase am Wurstwarenladen platt, wenn ich gerade beschlossen hatte, Vegetarier zu werden? Das war doch nicht normal.     Draußen hatte es aufgehört zu nieseln. Die Luft war zwar noch kalt und feucht, aber man wurde wenigstens nicht gleich ganz nass. Ich zog meine Jacke zu und bemerkte, dass T das nicht tat. Er lief einfach weiter rum wie ein verdammtes Jeansmodenmodel mit der Gitarre auf dem Rücken und dem Fahrrad neben sich. Vermutlich fror er nicht mal. Die Welt war einfach nur ungerecht. Während wir nebeneinander herliefen, bildete ich mir ein, ihn die ganze Zeit spüren zu können. Als würde er ständig so kleine Erdbebenwellen aussenden und ich wäre ein verdammter Seismograph, der jede noch so kleine Bewegung aufzeichnete. Keiner von uns sagte was. Ich, weil ich beschlossen hatte, lieber den Mund zu halten, bevor da noch mehr Gülle rauskam, und er wahrscheinlich, weil ihm nichts einfiel, das es wert war, mir von ihm mitgeteilt zu werden.   Vor dem Geschäft nahm er die Gitarre ab und reichte sie mir.   „Dauert nicht lange“, versprach er und ging in den Laden. Ich starrte von draußen durch das Fenster an Kugelschreibern und Druckerpapier vorbei und versuchte, seinen blonden Schopf nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei klammerte ich mich an seine Gitarre, als wäre sie ein Rettungsring. Dieses Teil würde er also nachher zärtlich in den Arm nehmen und ihr mit seinen geschickten Fingern sanfte Töne entlocken. Hatte die ein Glück.   Als mir aufging, dass ich gerade eifersüchtig auf eine Gitarre war, seufzte ich schwer. Ich war so ein Riesenrindvieh, das ging auf keine Kuhhaut. Ich musste mich wirklich ganz, ganz dringend am Riemen reißen, bevor ich doch noch etwas Dummes tat wie ihm einen Liebesbrief zu schreiben oder ein Dutzend rote Rosen zu schicken oder so. Womöglich noch mit einer Karte mit meinem Namen darauf. Das Gelächter aus unserer Klasse würde man vermutlich noch bis an das andere Ende der Ostsee hören.   T kam wieder aus dem Laden und lächelte mich an. „Danke, du warst wirklich mein Retter in der Not.“ „Ach, kein Ding, hab ich gern gemacht.“ Er nahm mir die Gitarre ab, hängte sie wieder auf seinen Rücken und holte sein Rad aus dem Ständer. „Na dann“, meinte er und nickte mir noch einmal zu. „Wir sehen uns Morgen.“   Oh, ich würde ihn wahrscheinlich schon heute Nacht in meinen Träumen sehen, aber das sagte ich ihm natürlich nicht. Ich sagte gar nichts, außer „Ja, Tschüß dann“ und sah ihm sehnsüchtig nach, wie er auf sein Rad stieg und verbotenerweise durch die Fuzo radelte. Dabei hatte er es offenbar eilig, denn er stand in den Pedalen, weswegen sein Hintern so richtig schön auf und ab hüpfte und bei mir schon wieder zu erhöhtem Speichelfluss führte. Dieser Kerl würde mich irgendwann noch in ein frühes Grab bringen, wenn er so weitermachte.   Während ich T noch nachstarrte, trat jemand neben mich. Ich bemerkte das erst gar nicht so, bis der Kerl plötzlich aufseufzte und meinte:   „Ach ja. Die besten sind eben immer vergeben oder hetero.“   Ich nickte zustimmend, bevor mir aufging, was derjenige gerade gesagt hatte. Im nächsten Augenblick zuckte ich zusammen, drehte mich herum und sah mich einem Paar belustigt funkelnder, blauer Augen gegenüber.   „Hi“, sagte der Besitzer besagter Augen und streckte mir die Hand entgegen. „Ich bin Julius.“   Kapitel 8: Von roten Hosen und fehlender Unterwäsche ---------------------------------------------------- „Hi, ich bin Julius“, sagte er und lächelte mich an. Und ich? Ich nahm seine Hand und schüttelte sie.   „Benedikt“, sagte ich, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte. Oder doch? In dem Moment war ich noch ein bisschen verwirrt und geschockt, dass man mich anscheinend schon wieder als schwul identifiziert hatte.   Julius schien das nicht so zu stören. Er nickte mit dem Kopf in die Richtung, in die T verschwunden war und meinte. „Kennst du den Schnuckel näher?“   Ich nickte und schüttelte gleich darauf mit dem Kopf, der immer noch versuchte, das Bild zusammenzusetzen, das sich mir gerade bot und von dem ich mir spätestens seit der Verwendung des Wortes „Schnuckel“ sicher war, dass es schwul war. Es war nicht so, dass ich jetzt zwingend gesagt hätte, dass jemand, der aussah und sich kleidete wie Julius, unbedingt schwul sein musste. Aber da dieser Sachverhalt ja quasi schon festzustehen schien, fügte sich das eine oder andere Detail durchaus ins Bild. Da hätten wir beispielsweise die Tatsache, dass er eine bordeauxfarbene Hose trug.   Ja, ja, ich weiß, was ihr jetzt denkt. Dass ich weiß, dass sich dieser Farbton Bordeaux nennt, ist auch ganz schön schwul. Das hängt in diesem Fall aber eher mit meiner Mutter zusammen, die ziemlich was für Inneneinrichtung und so übrig hat. Wir hatten für jede Tischdecke farblich passende Sets, die Vorhänge spiegelten sich in den Sofabezügen und die Dekoration kam ebenfalls aus der gleichen Farbpalette. Ihr versteht. Dieses Faible, das sich übrigens auch auf ihren Kleiderschrank bezog, hatte sie erfolgreich an meine liebreizende Schwester weitervererbt, die da noch pingeliger war als sie.   Tja und wenn du eben diese große Schwester morgens um halb sieben, noch bevor sie richtig wach ist, in Überzimmerlaustärke ankackst mit: „Du dämliche Kuh hast schon wieder deinen scheißroten Pullover mit in die Wäsche gepackt“ und die dann in schönster Banshee-Manier zurückkreischt: „Der ist nicht rot, der ist bordeaux!“, dann hast du halt rosa Unterwäsche und verwechselst nie wieder rot mit bordeaux. So einfach ist das.   Aber zurück zu Julius. Der stand also da und hatte eine farbige – ha, nehmt das! – Jeans an. Ich meine, es hätte schlimmer sein können. Es hätte eine weiße Jeans sein können. Oder hauteng. Oder ne Lederhose. Ebenfalls hauteng. Von daher war er mit der Hose schon nicht so eindeutig unterwegs, aber da war ja noch mehr. Er trug, obwohl er nicht viel älter sein konnte als ich, einen Mantel und einen Schal. Also keinen Winterschal, sondern so ein eigentlich-ist-es-ein-Halstuch-aber-dafür-viel-zu-lang-Ding. Den hatte er sich irgendwie kunstvoll um den Hals gewürgt und wirkte damit mindestens mal … metrosexuell. Können wir uns darauf einigen? Die Schuhe passten zum Mantellook. Lederschuhe und relativ elegant, sodass ich mir ein bisschen blöd vorkam mit meinen ausgelatschten Tretern. Und dann war da noch sein Gesicht.   Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Julius’ Gesicht war … weich. Jetzt nicht, dass er aussah, als wäre er Brotteig. Ganz und gar nicht. Aber er wirkte nett. Freundlich, mit seinen dunkelblonden Locken, den blitzenden blauen Augen, die einen Stich ins Grünliche hatten, und dem Lächeln, das mich immer noch warm beschien. Einen Ohrring hatte er auch, wie ich feststellte. Einen kleinen, goldenen Ring und nur in einem Ohr. War da nicht irgendwas mit einem Code gewesen? Links ist cool und rechts ist schwul? Oder war das andersrum? Ich hatte es vergessen.   Das alles zusammen genommen mit dem Umstand, dass er T gerade einen „Schnuckel“ genannt und sich darüber beschwert hatte, das Typen wir er leider nie für Schwule zur Verfügung standen, ließ mich dann doch annehmen, dass ich trotz so überhaupt nicht existentem Gaydar wohl gerade einem „Leidensgenossen“ gegenüberstand. Nur dass er eindeutig nicht litt. „Ich freue mich auf jeden Fall, dich kennenzulernen“, strahlte er mich an. Dann wurde er plötzlich ernster. „Oh man, tut mir leid. Ich überfahre dich gerade ziemlich, oder?“   Ich nickte. Er lächelte wieder.   „Tja, weißt du, ich hab dich hier stehen sehen mit der Gitarre und ich dachte mir: 'Was macht der da bloß?' Aber dann kam da dieser Typ raus, den du mit diesen riesengroßen Herzchen in den Augen angesehen hast, dass mir so ziemlich klar war, was da gerade abging. Und als du dann so verloren da gestanden hast, wollte ich einfach … ich wollte dich damit nicht allein lassen.“   Julius unterbrach sich. Er grinste, wenngleich dieses Mal auch ein wenig schief. „Sorry, ich rede immer noch zu viel, oder? Passiert mir manchmal. Ist ’ne Berufskrankeit, fürchte ich.“ „Wieso, was bist du denn?“ „Kaufmann.“ Er lachte schon wieder. „Also noch nicht. Ich arbeite dran. Ist ’ne etwas längere Geschichte. Wenn du willst, erzähle ich sie dir, aber vielleicht lieber irgendwo, wo es wärmer ist. Hast du Lust auf einen Kaffee?“   Ich blinzelte ihn an. Hatte der mich gerade gefragt, ob ich mit ihm einen Kaffee trinken gehe? Mich? Nachdem er gerade T live und in Action gesehen hatte, bat er wirklich mich, mit ihm einen Kaffee trinken zu gehen? Aber noch während ich begann, komische Höhenflüge zu bekommen, fiel mir wieder ein, was er vorher gesagt hatte. Dass ich ihm leidgetan hatte und er mich nicht alleine lassen wollte. Das war ja furchtbar nett von ihm, aber Almosen brauchte ich nun wirklich keine.   Ich sah auf die Uhr, die an einem kleinen Turm vor der Bank prangte. „Tut mir leid, ich muss los. Mein Bus.“ Das war nicht mal unbedingt gelogen. Der fuhr in 25 Minuten und so schnell konnte man ja keine Kaffee trinken, nicht wahr?   Julius nahm es gelassen. „Okay, schade. Ich hätte mich gefreut. Aber wenn du mal … ich weiß nicht … reden willst oder, kannst du ja mal im Monopoly vorbeikommen. Ich arbeite da Dienstag und Donnerstag abends und an den Wochenenden.“ „Ja, vielleicht“, gab ich unverbindlich zurück. Ich wusste gerade einfach nicht, was ich davon halten sollte, dass er mich so mir nichts, dir nichts ansprach und mich zum Kaffee einlud, nur um mit mir zu quatschen.   „Also dann, Benedikt. Ich hoffe, man sieht sich mal wieder.“   Er lächelte noch einmal, drehte sich dann um und ging in die genau entgegengesetzte Richtung davon wie T zuvor. Und ich stand dumm in der Gegend rum und wusste gleich gar nicht, wo ich jetzt hingehen sollte. Plötzlich wünschte ich mir, ich hätte Julius’ Einladung angenommen. Ich stellte es mir nett vor, mit ihm in einem Café zu sitzen – vielleicht nicht mit Kaffee, heiße Schokolade war da eher meins – und einfach mal ein bisschen zu reden. Vielleicht hätte mich das von meinem Problem mit T abgelenkt. Aber jetzt war es zu spät und er war weg.   Ich seufzte und warf mir meinen Rucksack über die Schulter. Im Grunde genommen war der Tag doch gar nicht so schlecht gewesen. Ich hatte die Schule gut überstanden, mein Referat fertig, mich – vielleicht – nicht total vor T blamiert und hatte noch dazu eine Einladung von einem eigentlich ganz hübschen, schwulen Kerl bekommen, der mich gerne mal wiedersehen wollte, und würde nicht den Bus verpassen. Alles in allem hätte ich es schlechter treffen können, fand ich. Jetzt musste nur noch der Rest des Tages einigermaßen glimpflich über die Bühne gehen, dann kam er definitiv auf die Haben-Seite.     Als ich bei uns aus dem Bus stieg, wusste ich sofort: Das war die Strafe für meinen Optimismus. Nicht nur, dass zu dieser Uhrzeit der einzige Bus, den man nehmen konnte, unser Dorf nur so ganz am Rande touchierte und ich somit Glück hatte, dass man mich auf der Bundesstraße nicht einfach während der Fahrt aus dem Fenster geworfen hatte, und nicht nur, dass ich ja quasi am anderen Ende des Ortes wohnte und somit einen mindestens fünfzehnminütigen Fußmarsch vor mir hatte, nein, es goss obendrein auch noch wie aus Kübeln. Und natürlich hatte ich keinen Schirm, weil Jungs in meinem Alter nunmal keinen Schirm haben. Das wäre ja schwul. Haha!   All das half jetzt jedoch nichts, ich musste durch dieses mobile Schwimmbecken auf Rädern nach Hause laufen. Ich zog also den Kopf ein, hielt meinen Rucksack an mich gepresst und rannte durch die verlassenen Straßen, um wenigstens noch halbwegs trocken zu Hause anzukommen. Es blieb bei dem Versuch. Das Einzige, was mich dabei noch aufrechterhielt, war der Gedanke, dass ich durch dieses Opfer immerhin Manuel erfolgreich aus dem Weg gegangen war. Zumindest dachte ich das, bis ich kurz vor unserem Haus den Kopf hob und die Gestalt sah, die an unserem Gartenzaun lehnte.   Scheiße, was? Das war doch nicht sein Ernst. Etwa einen halben Meter vor ihm blieb ich stehen und glotzte ihn an, als wäre er gerade vom Mond gefallen. Dadurch, dass er unter einem Baum stand, der bei uns an der Grundstücksgrenze wuchs – eine Zierkirsche, auf die meine Mama ziemlich stolz war – sah er nicht ganz so durchgeweicht aus wie ich, aber nass war er trotzdem. Nicht mal seine Zigarette brannte noch, er hatte nur noch die vom Regen gelöschte Hälfte davon im Mund. Als er mich kommen sah, nahm er sie raus und warf sie auf unsere Auffahrt.   „Hi“, grüßte er mich. „Lange nicht gesehen.“   Ja, weil meine Mama mir das verboten hat. Aber das konnte ich ihm ja wohl kaum erzählen. Der Gedanken ließ mich jedoch automatisch zum Haus gucken, woraufhin er sich vom Zaun löste und mit einem Grinsen auf mich zukam. „Deine Mutter ist nicht da“, sagte er. „Ist mit dem Auto weggefahren.“ Okay, das hieß dann wohl, dass sie Einkaufen war. Das tat sie mittwochs oft, weil sie da nachmittags freihatte. Trotzdem konnte ich hier nicht mit Manuel stehenbleiben. Wir hatten ja immerhin auch noch Nachbarn und irgendeiner von denen würde meiner Mutter bestimmt davon erzählen, dass ihr Sohn hier auf der Auffahrt mit einem von den Schwererziehbaren quatschte. Hatte sich da nicht gerade eine Gardine bewegt? Wahrscheinlich nur Einbildung, aber da war auch noch der Regen, der weiterhin in Strömen vom Himmel rauschte.   Ich holte Luft, um Manuel zu sagen, dass ich jetzt reingehen und Hausaufgaben machen würde oder etwas in der Art. Ich hatte es wirklich vor. Doch bevor ich dazu kam, war er noch das letzte Stück auf mich zugekommen und stand jetzt direkt vor mir. An seinen Wimpern hingen Regentropfen und seine Lippen waren leicht blau angelaufen. Zitterte er etwa?   „Wie lange stehst du schon hier?“, fragte ich leise. Er zuckte mit den Schultern. „Ne Weile. Ich hab auf dich gewartet.“   In meinem Magen kribbelte es, als er das sagte. Hieß das etwa, er riskierte hier tatsächlich eine Lungenentzündung, nur weil er mich sehen wollte? Das war ziemlich bescheuert, aber auch irgendwie süß. (Ja süß. Ich bin schwul, verdammt, ich darf das süß finden. Also geht mir nicht auf den Sack.) Ich seufzte.   „Na los, komm mit rein.“   Ohne mich nach ihm umzusehen, ging ich den Weg zur Haustür und schloss auf. Er folgte mir wie ein Schatten, durch den Essbereich, den Flur bis in mein Zimmer. Als er drinnen war, schloss ich die Tür hinter uns. Ein Blick nach unten verriet mir, dass er seine Schuhe einfach anbehalten hatte und das obwohl ich selbst meine nassen Sachen im Flur ausgezogen hatte. Mir war das schlichtweg entgangen, weil ich die ganze Zeit dem Gedankenkarusell in meinem Kopf zugehört hatte, in dem die ständig gleichen Fragen umeinanderkreisten, was ich denn hier nur tat und wie das zu dem Plan, Manuel aus dem Weg zu gehen, passen sollte.   Ich hub gerade an, um etwas zu sagen, als er auf mich zukam, die Distanz zwischen uns komplett überbrückte und mir die Möglichkeit etwas von mir zu geben ganz einfach verwehrte, indem er mich küsste. Es war nicht viel mehr als ein kurzes Streifen unserer Lippen, aber der Stromstoß, der dabei durch meinen Körper jagte, war nicht von schlechten Eltern.   Ich schluckte.   „Du … du bist ganz nass.“   Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. Er grinste. „Dann sollte ich mich vielleicht ausziehen.“   Und bevor ich ihn daran hindern konnte, tat er das. Er streifte die Jacke ab und ließ sie einfach fallen, dicht gefolgt von seinem Sweatshirt, unter dem er nicht etwa noch irgendwas drunter trug. Somit stand er jetzt mit nacktem Oberkörper vor mir und ich musste gleich noch einmal schlucken. Der Hammer! Er war jetzt nicht unbedingt muskulös, aber … athletisch. Und definitiv besser in Form als ich. Ich wusste plötzlich, warum man das Gebilde, das ich mir da gerade ansah, Waschbrettbauch nannte. Darauf konnte man wirklich Wäsche waschen. Ich wollte darauf Wäsche waschen. Dazu noch diese schrägen Bauchmuskel, die sich einem sich verjüngenden Dreieck gleich immer weiter nach unten zogen und in dem viel zu tiefhängenden Bund seiner ausgeblichenen, schwarzen Jeans verschwanden. Und nirgendwo war auch nur ein Zipfel Unterwäsche zu erkennen. Das war wie ein leuchtender, blinkender Pfeil, auf dem „hier geht’s lang“ stand. Ich wollte diesem Pfeil folgen.   Als ich meine Augen endlich wieder davon losreißen konnte, sah ich das selbstgefällige Grinsen auf seinem Gesicht „Was gefunden, das dir gefällt?“ „Ich … äh … sollte das da mal aufhängen. Zum Trocknen.“   Ich schnappte mir seine Sachen vom Boden und hielt sie wie ein Schutzschild vor mich. Mir war bewusst, dass meine Klamotten auch immer noch nass waren – zumindest die Jeans – aber erstens hatte ich gerade das Gefühl, innerlich zu verkochen, also würde meine Hose vermutlich auch so ziemlich gut trocknen, und zweitens würde, wenn ich sie auszog, ziemlich offensichtlich werden, wie gut mir der Anblick des halbnackten Manuel gefallen hatte. Das konnte ich nicht riskieren.   Mit erheblichem Kraftaufwand schaffte ich es, an ihm vorbei zur Heizung zu gehen. Dort stopfte ich Jacke und Sweatshirt irgendwie fest, sodass sie nicht mehr herunterfallen konnten. Ich atmete einmal tief durch und drehte mich herum, nur um sofort wieder direkt vor Manuel zu stehen, der mir offenbar gefolgt war. Er stützte sich rechts und links von mir auf dem Fensterbrett ab und nagelte mich damit regelrecht fest. „Läufst du schon wieder weg, Bambi?“ „N-nein?“ „Gut.“   Die Hand, die er daraufhin ohne Ansatz unter meinen Pullover schob, war kalt und klamm. Ich zuckte zusammen und sog scharf die Luft ein.   „Du hast kalte Hände.“ „Dann tu halt was, um mich aufzuwärmen.“   Die Art und Weise, wie er das sagte, zusammen mit der Tatsache, dass er seinen Unterleib mit einem gewissen Druck gegen meinen presste, ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, wie er das meinte. Um es mal auf Höhlenmenschisch aufzudrücken: Du, ich, Bett, Bunga-Bunga. Mein Körper sprach ziemlich gut Höhlenmenschisch. Mein Kopf allerdings zickte ein bisschen rum und bestand darauf, dass wir doch ein Plan hatten, der beinhaltete, nichts mit Manuel anzufangen. Mein Körper zeigte ihm den Stinkefinger und küsste Manuel einfach.   Nein ehrlich, ich weiß wirklich nicht, wie es dazu kam. Offenbar hatte ich einen Augenblick lang nicht aufgepasst und schon hing ich wieder an seinen Lippen und das dieses Mal definitiv nicht sprichwörtlich. Er schmeckte nach Zigaretten, aber nur ein bisschen. Der Rest war definitiv Minze. Kaugummi, schlussfolgerte ich und versuchte, ihn zu einem Zungenkuss zu bekommen, indem ich meinen Mund öffnete und mit meiner Zungenspitze ganz kurz gegen seine Lippen tippte. Er begann zu grinsen. „Also das musst du definitiv nochmal üben, Bambi. Du küsst wie ein Mädchen.“ „Ich hab halt nicht so viel Übung“, nuschelte ich. „Komm her, ich zeig’s dir“, flüsterte er zurück und das tat er dann auch.   Himmel, konnte der Kerl küssen. Wäre ich nicht vorher schon hart gewesen, jetzt wäre es definitiv passiert. Er nahm mein Gesicht zwischen beide Hände und ging mit einer Entschiedenheit vor, die ihresgleichen suchte. Dabei war er nicht etwa grob, allenfalls ein wenig ungestüm, aber er dominierte den Kuss auf eine Weise, die mich schwindeln ließ. Seine Lippen nahmen meine in Besitz, neckten und verführten sie. In einem Moment sanft und anschmiegsam, im nächsten fest und verlangend. Er leckte über meine Unterlippe, knabberte und saugte daran, ließ seine Zungenspitze über meine Mundwinkel wandern, nur um gleich darauf tief in mich einzutauchen und sich dann wieder zurückzuziehen, bevor er das Spiel erneut begann und mich damit vollkommen wahnsinnig machte. Ich wusste einfach nie, was als Nächstes passieren würde. Um irgendwie Halt zu bekommen bei dieser rasanten Achterbahnfahrt, legte ich meine Arme um ihn, meine Hände auf seinem Rücken, seiner nackten Haut. Er gab eine wohligen Laut von sich und kam noch ein Stück näher, als meine Hände langsam tiefer wanderten. Als sie schließlich auf seinem Hintern zu liegen kamen, und ich ihn an mich drückte, brach er keuchend den Kuss.   „Oh, Bambi, du machst mich so an,“, flüsterte er und sandte damit gleich noch eine Welle Blut aus meinem restlichen Körper an Stellen, wo es mehr Spaß haben konnte. Seine Lippen wanderten meinen Hals hinab, seine Hände fanden wieder ihren Weg unter meinen Pullover. Eine vorwitzige Fingerspitze glitt tastend unter den Bund meiner Jeans. Sofort musste ich an den Blowjob denken. Ob er wohl wieder …? Eigentlich war ich ja dran, aber … oh fuck!   „Oh fuck!“ Ich riss die Augen auf und drückte ihn entschieden von mir. „Meine Mutter!“ Tatsächlich hatte ich gerade gehört, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Das Klackern von Schritten hallten auf den Fliesen und mischten sich mit dem Rascheln der Einkaufstüten.   „Scheiße!“, fluchte ich ein wenig zu laut und sah Manuel panisch an. Der schien zumindest zum Teil zu begreifen, was hier gerade abging. In Windeseile war er in sein Sweatshirt geschlüpft. Das war schon mal besser, aber noch nicht gut. „Meine Mutter rastet aus, wenn sie dich hier sieht“, erklärte ich und sah mich um. Sollte ich Manuel jetzt im Schrank verstecken? Oder unter dem Bett? Hinter der Tür? Mein Blick fiel auf das Fenster!   Plötzlich war ich dankbar dafür, im Erdgeschoss zu wohnen. Und dafür, dass Manuel seine Schuhe anbehalten hatte. Ich fegte den Kram, der das Fensterbrett zumüllte, zu Boden und öffnete den rechten Flügel so weit, dass Manuel hindurchklettern konnte. Er stellte keine Fragen, sondern schwang sich sofort auf das Sims. Oben ging er in die Hocke und sah mich herausfordernd an.   „Und wann setzen wir das hier fort?“, fragte er. Seine Lippen waren rot und in wenig geschwollen. Ohne zu überlegen, lehnte ich mich vor und küsste ihn noch einmal. „Morgen. Morgen Nachmittag muss meine Mutter arbeiten, da stört uns keiner.“ Er grinste. „Cleveres Bambi. Selbe Zeit?“ Ich nickte, er zwinkerte mir zu und dann war er auch schon verschwunden.   Eilig schloss ich das Fenster, bevor noch mehr des hartnäckigen Regens hineinpladdern konnte, verteilte wieder etwas von dem Gedöns vom Fußboden auf dem Fensterbrett und schnappte mir ein Buch. Damit warf ich mich aufs Bett, klappte es auf und hielt es mir vors Gesicht. Ich las nie so, aber wenn meine Lippen genauso aussahen wie Manuels, musste ich verhindern, meiner Mutter so unter die Augen zu kommen. Wenigstens hatte sich mein Ständer inzwischen wieder verabschiedet, denn den hätte ich so unmöglich verstecken können.   Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis meine Zimmertür aufging. Ich senkte das Buch nur ein Stück weit und schaute meine Mutter über den Rand hinweg an. „Hallo Mama. Warst du einkaufen?“ „Ja, wie immer.“ Sie lachte. „Ich wollte dich fragen, was du essen willst.“ „Was hast du denn zur Auswahl?“ „Spaghetti Bolognese oder Pizza.“ „Pizza!“, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. „Hast du Hawaii mitgebracht?“ „Natürlich. Wie könnte ich es wagen, was anderes zu kaufen?“ „Du bist die Beste, Mama.“   Sie lächelte, auch wenn das dieses Mal etwas zögernder kam. Nanu, hatte sie etwas doch was bemerkt? Manuel war ihr doch wohl hoffentlich nicht noch im Vorgarten in die Arme gelaufen. Aber nein, dann wäre das Theater größer gewesen. Meine Mutter regte sich ja schon auf, wenn jemand auf der Straße vor unserem Haus parkte. Ein Fremder im Garten hätte somit vermutlich einen Polizeieinsatz zur Folge gehabt. Es musste also etwas anderes sein, doch bevor ich danach fragen konnte, hatte sie sich schon wieder umgedreht.   „Essen in einer halben Stunde“, rief sie noch aus dem Flur. „Geht klar, Mama.“   Während meine Mutter also in die Küche ging, um die Einkäufe auszuräumen, drehte ich mich auf den Bauch und ließ den Kopf in die Kissen sinken. Oh man, das war ja gerade nochmal gut gegangen. Jetzt würde ich nur noch abwarten müssen, bis sich mein Puls wieder beruhigt hatte und dann wäre alles wieder in … Meine Gedanken kamen schlitternd zum Stehen, als mich die Erkenntnis mit der Wucht einer fallenden Kokosnuss traf. Ich hatte mich verabredet. Für Morgen. Mit Manuel. Verdammt!   Kapitel 9: Von peinlicher Werbung und akzeptierten Herausforderungen -------------------------------------------------------------------- Wo waren eigentlich die Freistunden, wenn man mal welche brauchte? Ausgerechnet heute, wo ich fest damit gerechnet hatte, dass Frau Phillips ihrem Unterricht wie immer fernblieb, hatte die sich natürlich so weit berappelt, dass sie tatsächlich erschien und uns mit totlangweiligem Stoff quälte. Also, versteht mich nicht falsch. Ich mag Musik. Wirklich. Wenn ich nicht die Nase in einem Buch habe, stecken mir Kopfhörer in den Ohren. Und bestimmt haben diese ganzen Typen wie Brahms und Beethoven und wie sie alle heißen auch ganz töfte Musik komponiert, aber … sie spricht halt nicht mit mir. Ich find sie ganz hübsch als Untermalung für Waschmittel-Werbung, aber sonst? Nee, nicht meins. Trotzdem bestand unsere Lehrerin darauf, dass wir uns das Ganze reinzogen und danach totanalysierten, weil die dritte Note von links ja was ganz Besonderes war. Würg. Echt mal. Musik hatte man doch eigentlich eh nur, um es spätestens in der Elften abzuwählen. Ich jedenfalls und ungefähr zwei Drittel der restlichen Jahrgangsstufe ebenfalls.   Was mich heute jedoch besonders störte und alle zwei Minuten zur Uhr sehen ließ, war die Tatsache, dass ich noch was vorhatte, das ich aufgrund des außerplanmäßig stattfindenden Musikunterrichts nun in der halbstündigen Mittagspause erledigen musste. Was das war? Ähm … na ja … also ich wollte … Scheiße, ich will das nicht erzählen. Ihr lacht bestimmt. Oder findet es dämlich. Ich ja eigentlich auch, aber … Okay, ich sag’s euch. Aber nicht lachen. Wehe!   Ich wollte Kondome kaufen gehen. Ja siehste, ich hab doch gewusst, dass ihr lacht. Wahrscheinlich habt ihr das schon achtundreißigtausend mal gemacht und findet gar nichts dabei. Oder ihr braucht das nicht, weil ihr irgendwie anders verhütet oder einfach mal keinen Sex habt oder wie auch immer. Ich wollte ja eigentlich auch keinen haben. Also schon, aber halt nicht unbedingt heute. Nur … was, wenn es dann doch dazu kam? Hörte man ja immer wieder. „Oh, wir wollten eigentlich nicht und dann war es so schön und ist einfach passiert und jetzt bin ich schwanger.“ Das konnte mir natürlich nicht passieren, schon klar. Immerhin ein Vorteil, den ich den Mädchen gegenüber hatte. Und vermutlich würde mich auch keiner ne Schlampe nennen, wenn ich einfach mal so Sex hatte, weil ich Bock drauf hatte. Mal ganz davon abgesehen, dass ich das natürlich keinem erzählen würde, aber … Ich hatte trotzdem ein bisschen Schiss. Und gleichzeitig sorgte der Gedanke daran bei mir für Magenkribbeln und einem ziemlich nervigen Dauerständer, den ich so gut ich konnte zu ignorieren versuchte.   Weil nun also durchaus die Möglichkeit bestand, dass ich mir bei meinem nachmittäglichen Date mit Manuel plötzlich Kondome herbeiwünschte und diese sich ja bekanntlich nicht von allein in Nachttischschubladen materialisierten, hatte ich beschlossen, dass ich einkaufen gehen musste. Kondome und Gleitgel, denn dass ich das brauchen würde, wusste ich ebenfalls mit hundertprozentiger Sicherheit. Außerdem … nur weil ich die Sachen schon heute besorgte, hieß das ja nicht, dass sie auch sofort zum Einsatz kommen mussten, nicht wahr? War doch bestimmt ne Weile haltbar der Kram. Zwei Jahre bestimmt. Und bis ich 18 wurde, würde ich es ja wohl geschafft haben, nicht mehr Jungfrau zu sein. Also gab es keinen Grund, sich das nicht schon mal auf Halde zu packen. So für alle Fälle.   Jetzt gab es nur noch das Problem, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, das Zeug in der Drogerie auch wirklich aufs Band zu legen. Ich weiß nicht, ob ihr noch diesen uralten Werbespot mit Hella von Sinnen kennt. Das Ding lief irgendwann lange vor meiner Geburt mal im Fernsehen. Da geht so ein Pannetyp in den Supermarkt und will ein Päckchen Kondome kaufen. Ganz verschämt versteckt er die irgendwo zwischen Milch und Sellerie auf dem Band, weil die Omma von nebenan schon die ganze Zeit so guckt, aber als die Kassenfrau die Dinger entdeckt, weiß sie den Preis nicht. (Damals hat man die noch per Hand in die Kasse getippt. Ja, ich war auch ganz erstaunt.) Und dann brüllt die Trulla plötzlich durch den ganzen Laden:   „TINA! Was kosten denn die KONDOME?“   Daraufhin drehen sich alle, aber auch wirklich ALLE in dem Laden zu den armen Kerl um, der sich daraufhin ein sehr, sehr großes Loch in den Fußboden wünscht, in das er sich verkrümeln kann. Natürlich reagierten danach noch alle ganz cool und selbst die heiße Schnalle an der Kasse vor ihm war total begeistert von seinem Verantwortungsbewusstsein und blupp, aber so ungefähr stellte ich mir das auch bei mir vor. Nur schlimmer.   Das nächste Problem stellte die Tatsache dar, dass ich nach der Schule nicht die Zeit haben würde, Kondome und Gleitgel in verschiedenen Drogerien zu kaufen. Das mag jetzt paranoid klingen, aber ich bildete mir ein, dass, wenn ich beides zusammen kaufte, sofort klar wäre, dass ich schwul bin. Also hatte ich den Plan gefasst, das einfach in verschiedenen Märkten zu kaufen. Wozu hatte man schließlich die tolle Auswahl der freien Marktwirtschaft? Nur würde das definitiv mehr Zeit kosten, als ich heute nach Unterrichtsschluss hatte, wenn ich den Bus noch rechtzeitig erwischen wollte. Somit musste ich das Ganze in der Mittagspause erledigen und hoffen, dass mich dabei niemand aus meiner Klasse, Schule, Dorf oder gar dem Landkreis sah.   Nun sollte man ja meinen, dass solche guten Vorsätze belohnt würden, aber nee, wurden sie nicht. Stattdessen überzog Frau Phillips ihre tolle Musikstunde sogar noch um fünf Minuten, sodass ich anschließend wie ein Irrer die gefühlten 300 Treppen des Altbaus runterstürmte, um wenigstens noch vor dem großen Pulk der Schüler die Fußgängerzone zu erreichen, was ich natürlich nicht schaffte.   Bereits in der ersten Drogerie sah ich die unendlich lange Schlange, die sich bis hinter das Teeregal erstreckte. Lauter Schüler, die auf dem Weg zum Bus mal eben noch ein Heft, einen Stift oder ein Gummiaufblastier kaufen mussten. Was weiß ich denn. Es war auf jeden Fall voll und ich machte postwendend am Eingang wieder kehrt. Na gut, dann würde ich eben zuerst zu der Filiale am Ende der Fußgängerzone gehen und meinen zweiten Einkauf auf dem Rückweg erledigen. Ganz easy. Notfalls kam ich halt ein bisschen zu spät zu Chemie. Kein Problem. Mein Klassenlehrer würde mir schon nicht gleich den Kopf abreißen.   Ich enterte also die zweite Drogerie, die zum Glück außerhalb der üblichen Route zwischen Schule und Bus-Bahnhof lag. Die Gefahr, das hier jemand auftauchte, den ich kannte, war damit verhältnismäßig gering. Ich wuselte also an Duschgel und Babynahrung vorbei in den hinteren Bereich, wo ich die Kondome vermutete. So ganz genau wusste ich es nicht, weswegen ich erst mal im Gang mit der Damenhygiene landete – ich gebe zu, hiervon was kaufen zu müssen, wäre noch schlimmer gewesen – und fand um die Ecke davon endlich die Auslage mit den Kondomen.   Uff, das waren … viele. Verschiedene.   Ich blinzelte und sah mich kurz um, ob mich jemand beobachtete, bevor ich zu lesen begann. Heilige Scheiße, so viele Sorten gab es? Woher sollte ich denn jetzt wissen, welche ich brauchte? Ganz bestimmt würde ich nicht die mit dem peinlichen Namen und dem Fruchtaroma nehmen. Das konnte ja nur furchtbar sein. Wer wollte schon Kondome, die nach Banane rochen? Widerlich. Aber was dann? Gefühlsecht, extra dünn, mit Noppen, XXL, extra feucht? Letzteres schloss ich mal aus, denn dafür hatte ich ja das Gleitgel. Und mussten es Markenkondome sein oder reichten die günstigeren? Die hatten nämlich nicht so eine auffällige Verpackung. Aber was, wenn die dann kaputtgingen? Und die da? Die Sorte in der quietschgrünen Verpackung hieß „Einfach drauf“ und versprach besonders leichte Handhabung. Klang vielversprechend, aber war das nicht irgendwie auch ein bisschen peinlich, wenn man Kondome kaufte, die auch der letzte Idiot benutzen konnte? Was würde Manuel da von mir denken? Der hielt mich doch sowieso schon für ein ahnungsloses Landei, was ich zwar war, aber darauf musste ich ihn ja nun nicht noch extra hinweisen. Am besten ich nahm einfach die Packung, in der verschiedene Sorten drin waren. Damit konnte man ja wohl kaum was falsch machen. Ein Blick auf die Rückseite verriet mir zwar, dass da auch welche mit Himbeer- und Erdbeerduft dabei waren, aber die musste ich ja nicht unbedingt benutzen. Und selbst wenn: Erdbeer ist schließlich nicht Banane!   Ich wollte mich gerade mit meinem Fund auf dem Weg zur Kasse machen, als natürlich genau das passierte, was nicht hätte passieren dürfen. Ich drehte mich schwungvoll um und stand vor jemandem aus meiner Klasse. Ach man. Warum immer ich?   „Hi“, sagte Mia-Marie und blickte neugierig auf die Packung in meinen Händen.   Nee, echt jetzt? Wo war denn nun dieses Loch, in das ich mal eben verschwinden konnte? Ich merkte, wie ich knallrot anlief.   „Hi“, krächzte ich zurück.   Normalerweise hätte ich vielleicht einfach die Flucht ergriffen, aber erstens wäre das nicht minder peinlich weil mega-auffällig gewesen und zweitens … na ja. Wir hatten ja schon darüber gesprochen, dass Mia-Marie nicht ganz schlank war, und um an ihr vorbeizukommen, hätte ich sie quasi aus dem Weg rammen müssen. Das ging nun wirklich nicht. Zumal sie mich ganz freundlich anlächelte.   „Find ich gut“, sagte sie und hatte den Anstand, wenigstens auch ein bisschen rot zu werden. Da fühlte ich mich gleich nicht mehr ganz so bescheuert. Allerdings hatte ich auch keinen Schimmer, wovon sie sprach.   „Was meinst du?“, fragte ich daher. „Na, dass du Kondome kaufst. Einige Jungs sind ja der Meinung, dass die Mädchen allein für die Verhütung zuständig sind, aber ich finde, dass das beide was angeht.“ „Äh ja … genau“, stammelte ich.   Ich hatte mir da zwar noch nie Gedanken drüber gemacht – warum auch? – aber eigentlich hatte sie Recht. Warum sollte denn nur einer durch dieses peinliche Prozedere durchmüssen? Nur würde „das nächste Mal“ bei der 24-Stück-Packung, die ich da in Händen hielt, womöglich noch ne Weile hin sein. Hoffentlich hatte Mia-Marie das nicht gesehen. Die hielt mich nachher noch für sexsüchtig.   „Also dann“ Sie lächelte und schaute nun doch ein bisschen unbehaglich. „Ich werd dann mal mein Shampoo holen. Die Hausmarke hier ist ohne Silikone.“   Ich nickte, obwohl ich keine Ahnung hatte, wovon sie sprach, und atmete ein bisschen auf, als sie endlich am Ende des Ganges abbog und somit aus meinem Gesichtsfeld verschwand. Gut, ich hatte also jetzt Kondome und brauchte nur noch Gleitgel. Ein Blick auf mein Handy verriet mir allerdings, dass ich es nicht schaffen würde, noch in den anderen Laden zu gehen. Also entschloss ich mich, das Gleitgel eben doch gleich hier zu kaufen. Es würde schon nicht so schlimm werden. Tschaka, du schaffst das!   Während ich an der Kasse stand, wo vor mir erst eine Oma diskutieren musste, warum sie nun nur fünf Dosen Haarspray im Angebot kaufen durfte, und danach eine junge Mutter ungefähr eine Million Windeln und Babybreigläschen bezahlte, hörte ich auf einmal eine bekannte Stimme hinter mir. „Oh Mist, ich hab mein Geld vergessen.“   Ich drehte mich um und sah Mia-Marie, die hinter mir stand und in ihrer Tasche kramte. In ihren Händen hatte sie allerhand Fläschchen und Döschen. Ich wollte am liebsten flüchten, weil sie ja nun doch noch sehen würde, dass ich nicht nur Kondome kaufte, und verfluchte mich innerlich dafür, dass ich nicht einfach zur Tarnung noch ein bisschen was anderes gekauft hatte, als mir auf einmal eine Superidee kam.   „Hey, wenn du willst, bezahl ich deins mit. Kannst es mir ja dann wiedergeben.“   Sie sah auf und strahlte mich an. „Das würdest du machen? Danke, das wäre echt lieb von dir. Sonst muss ich morgen extra nochmal herlaufen und ich wohn doch in die andere Richtung.“ „Klar, leg's einfach hin.“   Mia-Marie lud daraufhin ihren ganzen Einkauf auf das Kassenband und ich schummelte einfach meine Kondome und das Gleitgel dazu, die in dem Gewühl gar nicht mehr so auffielen. Und auch wenn die Kassiererin vermutlich jetzt dachte, dass Mia-Marie und ich vorhatten, die Lümmeltüten gemeinsam zu benutzen, war mir das gerade ziemlich wurst. Ich war eben ein verantwortungsvoller Freund, das war alles. Kondome kaufen war nicht schwul, sondern cool. So sah’s aus.   Als Mia-Marie allerdings nach dem Bezahlen den Kassenbon haben wollte, weigerte ich mich, ihn ihr zu geben. Ich hatte die Hoffnung, dass sie das Gleitgel vielleicht nicht bemerkt hatte, und wollte sie nicht noch mit der Nase darauf stoßen.   „Okay, dann sag mir einfach, was du bekommst.“ „Klar, mache ich.“     Wir gingen gemeinsam zurück und unterhielten uns sogar ganz normal trotz der peinlichen Einkaufsarie gerade. Mia-Marie fragte mich, ob ich schon was für unser Referat gemacht hatte, und ich meinte nur, dass ich noch dran arbeiten würde. „Also nein“, lachte sie. „Doch“, protestierte ich. „Ich bin nur letztens ein bisschen über Hans Scholl versackt. Der Kerl war wirklich interessant.“ „Ach echt? Erzähl mal.“   Ich wusste nicht so recht, was ich jetzt sagen sollte. Damit, dass ich mich nur so auf das Thema gestürzt hatte, weil meine Mutter mir erzählt hatte, dass dieser Scholl schwul gewesen war, konnte ich ja nun schlecht rausrücken. Zu meinem Glück rettete mich … Oliver. Ich glaube, ich war ihm noch nie so dankbar für sein blödes Gequatsche gewesen. „Hey, seht mal, da kommt unser neues Traumpaar“, grölte er durch den ganzen Gang vor den Chemieräumen. Mia-Marie rollte nur mit den Augen und ich tat es ihr nach. Der Typ war einfach nur dumm.   „Ich wusste gar nicht, dass du auf Fette stehst“, johlte Oliver, allerdings als Nächstes, als er keine Reaktion bekam. Ich wollte auffahren, aber Mia-Marie hielt mich am Arm zurück.   „Lass ihn. Der provoziert doch nur.“ „Ja, aber das ist doch scheiße. Das darfst du doch nicht auf dir sitzen lassen.“ Sie zuckte nur mit den Achseln. „Er hat ja recht. Ich bin dick. Und solange er nur die Wahrheit sagt und keine Lügen verbreitet, soll mir das recht sein.“   Ich wollte noch etwas sagen, aber sie hatte sich schon umgedreht und setzte sich zu den anderen Mädchen. Ich warf einen letzten, grimmigen Blick auf Oliver, der sich immer noch über seinen eigenen Witz kaputtlachte, bevor ich mich ebenfalls fallenließ und ganz automatisch nach meinem Rucksack griff. Anton war noch nicht da, weil er vermutlich wie üblich bis zur letzten Minute in der Bücherei hocken würde, und so konnte ich die Zeit noch nutzen, um ein bisschen zu lesen. Ich öffnete meinen Rucksack und streckte die Beine aus, die dabei allerdings jemanden trafen, der mir gegenübersaß.   „Sorry“, murmelte ich ohne hinzusehen, während ich gerade die Gleitmittelpackung ertastete. Mhm, hoffentlich lief die nicht aus. Ob ich vielleicht noch … „Kein Ding“, antwortetet mir eine tiefe Stimme. Ich fuhr auf und fand mich T gegenüber, der mich über den Gang hinweg musterte. Für einen Augenblick war ich nicht in der Lage, mich zu rühren. Die Situation war so surreal – ich mit der Tube Gleitgel in der Hand keinen halben Meter von meinem Schwarm entfernt, der davon nicht den leisesten Schimmer hatte – dass ich einfach grinsen musste. Wie er wohl reagiert hätte, wenn er gewusst hätte, was ich hier hatte? Bei dem Gedanken musste ich noch mehr grinsen. T war zunächst verwundert, erwiderte dann aber mit einem Lächeln, bevor er sich wieder der Zeitschrift zuwandte, die er im Schoß hatte. Ich wollte gerade noch einen Blick darauf erhaschen, was er wohl las, als Jo um die Ecke geschneit kam und T sofort mit Beschlag belegte. Ich seufzte und machte mich nun endgültig daran, mein Buch rauszuholen, obwohl sich das vermutlich gar nicht mehr lohnte. Aber es war immer noch besser, als mir Gedanken über T und Gleitmittel zu machen, denn das würde mit ziemlicher Sicherheit zu einer weiteren, peinlichen Situation führen und von denen hatte ich nun wirklich schon genug gehabt für heute.       Später im Bus versuchte ich es noch einmal mit der Taktik des „Lesens, um mich abzulenken“, aber es klappte nicht. Je näher wir meinem Zuhause kamen, desto nervöser wurde ich. Am Ende stand ich schon einen Kilometer vor dem eigentlichen Ziel von meinem Sitz auf, um nur ja nicht die Haltestelle zu verpassen. Nicht auszudenken, wenn ich aus dem nächsten Dorf hätte nach Hause laufen müssen.   Während des gesamten Wegs durch das Dorf überlegte ich mir, was ich wohl sagen sollte und was wir wohl machen würden. Ich versuchte mir zu sagen, dass ich es einfach auf mich zukommen lassen sollte, aber das fiel mir mit jedem Meter schwerer. Ich meine, im Grunde genommen war ich ja vorbereitet. Ich hatte noch mein Zimmer aufgeräumt, zwei Gläser und ne Flasche Wasser dort deponiert – was anderes Cooles wie Cola oder so hatten wir leider nicht da – und jetzt war ich sogar für den totalen Ernstfall im Besitz von Kondomen und Gleitgel. Eigentlich konnte mich doch jetzt nichts mehr unvorbereitet treffen, oder?   Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass Manuel nicht da war, als ich heimkam. Es regnete heute nicht, daher hatte ich eigentlich angenommen, dass er wieder vor der Tür auf mich warten würde. Als ich in unser Straße einbog, sah ich allerdings bereits von Weitem, dass der Platz unter der Zierkirsche leer war. Nun, das musste noch nichts heißen, aber irgendwie wunderte es mich doch. Vor dem Haus blieb ich noch einmal stehen und sah mich nach allen Seiten um, aber er war weit und breit nicht zu sehen. Also ging ich schließlich hinein, um drinnen weiter zu warten.   Die ersten fünf Minuten hing ich am Fenster und behielt die Straße im Auge, um nach ihm Ausschau zu halten. Die nächsten zehn Minuten verbrachte ich damit, mich in meinem Zimmer irgendwie abzulenken, was nicht besonders gut funktionierte. Danach versuchte ich eine Viertelstunde lang ernsthaft, meine Hausaufgaben zu machen, bevor ich wieder Posten am Fenster bezog. Man, wo blieb der denn? Nach weiteren 20 Minuten war ich mir sicher, dass er mich versetzt hatte. Wirklich sauer war ich nicht, denn vielleicht war ihm was dazwischen gekommen und wie hätte er mir das mitteilen sollen? Wir hatten ja keine Telefonnummern getauscht oder so. Trotzdem fühlte es sich ein kleines bisschen scheiße an und ich war ziemlich enttäuscht.   Wie sehr merkte ich allerdings erst, als es Viertel nach vier dann doch noch klingelte. Draußen stand Manuel. Als ich ihn sah, wollte ich ihn eigentlich fragen, ob seine Uhr kaputt war oder so was. Ich wollte sauer sein, ihm sagen, dass er zu spät war oder irgendwas. Stattdessen lächelte ich ihn nur an.   „Hi, Bambi“, grüßte er mich, bevor er einfach auf mich zukam und mich küsste. An der Haustür. Oh mein Gott!   „Komm rein“, sagte ich und zerrte ihn förmlich nach drinnen. Mist, hoffentlich hatte das keiner gesehen. Also konnte eigentlich nicht, weil der Hauseingang seitlich lag und er ja schon drinnen gewesen war, als er mir den Kuss verpasst hatte, aber trotzdem schlug mir mein Herz bis zum Hals.   Ohne lange zu fackeln bugsierte ich ihn in mein Zimmer und schloss die Tür hinter uns.   Er grinste. „Na du hast es ja eilig.“   Ich wollte etwas darauf erwidern, aber da stand er schon vor mir. Ich sah ihm in die Augen und atmete tief ein. Zigaretten und Waschmittel wie immer. Es war seltsam, wie vertraut mir der Geruch schon war, obwohl wir uns doch erst … wie oft getroffen hatten? Drei Mal? Trotzdem wollte ich gerade nichts lieber, als meine Nase darin versenken und mich vollkommen fallen lassen.   „Ich hab dich vermisst“, sagte ich leise. Er lächelte. „Ich hab auch an dich denken müssen.“ „Und jetzt?“, fragte ich. „Jetzt machen wir da weiter, wo wir gestern aufgehört haben.“   Damit lehnte er sich vor, schlang die Arme um mich und küsste mich. Ich erwiderte den Kuss und als er die Lippen öffnete um mich mit seiner Zungenspitze zu sich einzuladen, folgte ich ihm nur zu gerne. Ich versuchte mich zu erinnern, was er am Tag zuvor mit mir gemacht hatte und ahmte den Kuss nach. Nicht ganz so dominant wie er, aber trotzdem nicht ganz so zurückhaltend und vorsichtig, wie ich zu Anfang gewesen war. Ihm schien das zu gefallen. Sein Atem wurde schneller und als er sich ein wenig enger an mich presste, spürte ich seine Erektion an meinem Bein. Instinktiv erwiderte ich die Berührung und erhöhte damit den Druck noch ein bisschen mehr. Er keuchte leise in den Kuss.   Oh man, das war so geil. Ich war zwar selbst total hart, aber die Gewissheit, dass das, was ich hier gerade tat, Manuel anmachte, war einfach der Wahnsinn. Dabei hatte ich nicht mal viel gemacht. Wie er wohl reagieren würde, wenn ich ihn anfasste? Langsam schob ich meine Hand unter seinen Sweatshirt und streichelte seinen unteren Rücken. Die Haut dort war weich und warm und ich fühlte, wie er mir noch weiter entgegenkam und jetzt ebenfalls unter mein Shirt griff. Allerdings nicht, um mich zu streicheln, sondern um es anzuheben und mir über den Kopf zu ziehen. Ich ließ ihn gewähren und war somit dieses Mal derjenige, der zuerst oben ohne war. Ich spürte seinen Blick auf mir.   „Lecker“, sagte er und grinste. Dabei ließ er seine Hand über meine Brust wandern. Als er eine meiner Brustwarzen streifte, atmete ich scharf ein. Die waren echt empfindlicher, als ich gedacht hatte. Sein Grinsen wurde breiter und plötzlich beugte er sich ein Stück runter und nahm meinen einen Nippel in den Mund.   „Scheiße, was …“   Der Rest des Satzes ging in einem erregten Laut unter, den ich jetzt hier nicht wiedergeben kann. Es hörte sich auf jeden Fall sehr danach an, als wenn es mir gefiele, denn das tat es. Das Gefühl seiner Lippen, das sanfte Saugen, die weiche Zunge, die sich auch noch mit einmischte, und schließlich seine Zähne, die mich ganz, ganz leicht zwickten, sandten einen Schauer nach dem nächsten durch meinen Körper, die alle nur ein Ziel hatten. Meinen Schwanz.   „Bett?“, murmelte Manuel immer noch mit dem Mund an meiner Brust. Ich nickte nur, raubte mir noch einen Kuss und nahm dann seine Hand, um ihn zum Ort des Geschehens zu führen. Dort angekommen ließ ich schnell noch die Jalousien runter, denn auch wenn die Nachbarn keine Fenster auf dieser Seite ihres Hauses hatten, gab es ja immer noch die Möglichkeit, dass sie ihren Garten besichtigen wollten, und dabei sollten sie nicht gleich noch eine Peepshow geboten bekommen.   Als das erledigt war, drehte ich mich wieder zu Manuel um, der bereits auf dem Bett lag. Er musterte mich von oben bis unten, wobei sein Blick definitiv ein wenig länger auf der ziemlich deutlich sichtbaren Beule in meiner Hose verweilte.   „Ziehst du dich aus?“, wollte er wissen.   Ich zögerte kurz. Eigentlich hatte ich es ja langsam angehen lassen wollen. Zumal er auch noch vollkommen bekleidet war. Allerdings war meine Jeans schon ziemlich eng und die Aussicht, mich von dem drückenden Ding zu befreien, recht verlockend.   „Wenn du möchtest.“ „Ich bestehe darauf.“ Der Blick, mit dem er mich bei dem Satz maß, war der Wahnsinn. Er fand mich wirklich scharf. So richtig, richtig scharf und ich konnte nicht leugnen, dass sich das gut anfühlte. Also öffnete ich den obersten Knopf meiner Jeans und wollte gerade nach dem Reißverschluss greifen, als er plötzlich hochkam und sich auf das Bett kniete.   „Lass mich das machen“, sagte er und langte nach meiner Hüfte. Ich ließ mich näher ranziehen und sah mit leicht geöffnetem Mund zu, wie sich sein Kopf meinem Schritt näherte und er doch tatsächlich mit den Zähnen nach meinem Reißverschluss angelte, um ihn sehr, sehr langsam nach unten zu ziehen, während er mich die ganze Zeit ansah. Ich schwöre, in dem Moment wäre ich beinahe gekommen. Er ließ den Reißverschluss los und begann, meine Jeans nach unten zu schieben. Dabei kam sein Mund meinem Bauch und vor allem meinem pulsierenden Schwanz so nahe, dass ich glaubte, seinen Atem auf meiner Haut spüren zu können. In meiner Unterhose zuckte es und in meinen Ohren rauschte das Blut. Oh fuck, wenn das so weiterging, musste ich wirklich gleich nach den Taschentüchern greifen, die schon auf dem Nachttisch bereitlagen. Gleichzeitig wollte ich jetzt endlich auch mal zum Zug kommen. Ich wollte ihn anfassen, ihn auch dazu bringen, dass er nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Also wich ich ein Stückchen zurück, entledigte mich schnell meiner Jeans und trat wieder zum Bett. Bevor er reagieren konnte, hatte ich jetzt unter den Saum seines Sweatshirts gegriffen und es ihm ebenfalls ausgezogen. Mehr wagte ich nicht, weil ich befürchtete, dass er wieder keine Unterwäsche anhatte. Also schubste ich ihn zurück aufs Bett und legte mich neben ihn.   Ich begann, ihn zu küssen und gleichzeitig meine Hände über seinen Körper zu schicken. Alles an ihm war warm und fest und ich hätte mich stundenlang damit aufhalten können, ihn einfach nur zu küssen und zu streicheln. Allerdings machte die Bewegung, die er mit seinem Unterkörper gegen meinen vollführte ziemlich deutlich, was er wollte, wo ich ihn anfasste. Daher ließ ich meine Hand langsam über seine Brust und den durchtrainierten Bauch nach unten wandern. Ich hielt mich nicht damit auf, die Hose erst noch zu öffnen, sondern ließ meine Hand einfach hineingleiten, bevor ich den Mut wieder verlor, der sich hier meiner gerade bemächtigt hatte. Er stöhnte auf und ich merkte, dass er tatsächlich keine Unterwäsche trug. „Oh Bambi“, keuchte er, als sich meine Finger um seinen harten Schaft schlossen. „Benedikt“, sagte ich und küsste ihn erneut. „Mein Name ist Benedikt. „Wie du meinst, Bambi.“ Ich biss ihm in die Unterlippe und hörte auf, seinen Schwanz zu streicheln. „Was muss ich machen, damit du aufhörst, mich so zu nennen?“ Der Schalk glitzerte in seinen Augen, als ich das fragte. „Blas mir einen“, lautete die Antwort, die mich nicht so sehr überraschte, wie sie gesollt hätte. „Und dann nennst du mich endlich bei meinem richtigen Namen?“, hakte ich nach. „Wenn du gut bist.“   Ich konnte nicht anders, ich musste lachen.   „Also schön, Challenge accepted. Aber ich muss dich warnen, das ist mein erstes Mal.“ „Ich bin mir sicher, du kriegst das hin.“     Was soll ich sagen … ich kriegte es tatsächlich hin. Wie dusselig ich mich nun genau angestellt habe, nachdem ich ihn erst mal aus seiner Hose befreit und mich auf seinen vollkommen nackten und absolut anbetungswürdigen Körper gestürzt hatte, kann ich nicht sagen. Ich versuchte an die Tipps zu denken, die ich gelesen hatte, mich zu erinnern, was sich bei ihm gut angefühlt hatte, und ansonsten einfach mal mit dem Flow zu gehen. Angesichts der Tatsache, dass er die Augen geschlossen hatte, die Hände in mein Kissen krallte und sichtlich bemüht war, nicht einfach in meinen Mund zu stoßen, war es wohl nicht ganz schlecht. Bei einem war ich mir jedoch zu 100% sicher. Ich fand’s hammergeil. Zwischendurch schoss mir mal durch den Kopf, dass ich jetzt wohl tatsächlich ein „Schwanzlutscher“ war, aber das war mir in dem Moment vollkommen egal. Es fühlte sich gut an, das zu machen, und ich wollte am Schluss nur noch eins: Ihn zum Kommen bringen.   Als sein Atem nochmal schneller wurde und seine Eier begannen, sich an den Körper zu ziehen, wusste ich, dass er gleich so weit war. Er wollte mich wohl vorwarnen, aber ich schob seine Hand weg, mit der er meinen Kopf aus der Gefahrenzone bringen wollte, und legte noch einen Zahn zu, sodass er schließlich in meinem Mund abspritzte.   Nachdem das Zucken zwischen meinen Lippen verebbt war, überlegte ich nochmal ganz kurz, ob ich das Nächste jetzt auch konnte, aber da die Antwort „Ja“ lautete, schluckte ich die warme, ein bisschen bittere Pampe einfach runter. Als ich mich erhob, sah er mich mit großen Augen an. „Hast du gerade … geschluckt?“   Ich nickte ein bisschen verlegen. Ich hatte zwar gelesen, dass die meisten Jungs drauf standen, wenn Mädchen – oder andere Jungen – das machten, und hatte mir wirklich gut überlegt, ob das nun ein Risiko war, dass ich eingehen konnte und wollte, und so schlimm war es dann wirklich nicht gewesen, aber ich war mir nicht sicher, wie Manuel es finden würde. Immerhin hatte er es ja nicht mal mit dem Mund zu Ende gebracht beim ersten Mal.   Er wusste das wohl auch nicht, allerdings schien er mehr zwischen Verblüffung und Freude zu schwanken. Um die Situation irgendwie wieder in Gange zu kriegen, stand ich auf und holte mir erst mal das Wasser. Nach einem großen Schluck hielt ich ihm die Flasche hin. Scheiß auf Gläser, ich hatte meinem … Freund (?) gerade einen geblasen, da durfte ich auch aus der Flasche trinken. Er nahm sie entgegen, schaute kurz darauf, wischte sie mit der Handfläche ab und trank ebenfalls. Mhm, er stand wahrscheinlich einfach nicht auf Sperma im Mund. Auch okay.   Als er mir die Flasche wieder zurückgegeben hatte, legte ich mich wieder zu ihm. Er betrachtete mich einen Augenblick, bevor er sich vorlehnte und mich küsste. Ich erwiderte den Kuss und zog ihn dann in meine Arme. Ich meine, ja, ich hatte auch noch einen Ständer und ein bisschen Aufmerksamkeit dafür wäre ganz schön gewesen, aber jetzt gerade genoss ich eigentlich eher, ihn so an mich gekuschelt zu haben. Er schien sich richtig zu entspannen, während ich langsam über seinen Rücken streichelte. Das war schön.   „Warum warst du eigentlich so spät?“, fragte ich irgendwann, als meine Erektion anscheinend eingesehen hatte, dass hier heute nichts mehr zu holen war. „Hatte ein bisschen Stress.“ „Zu Hause?“, fragte ich und wartete gespannt ab, was er sagen würde. Er brummte jedoch nur und ich ließ es dabei bewenden. Er würde mir schon davon erzählen, wenn er soweit war.   Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach halb sechs. „Ich muss dich gleich rausschmeißen. Meine Mutter kommt nachher von der Arbeit und, na ja, sie weiß nicht, dass ich …“   Ich ließ den Rest des Satzes offen. Es war ein bisschen feige, ich weiß, aber er war ja schließlich auch nicht mit der Wahrheit herausgerückt. Irgendwann würden wir schon noch darüber sprechen. „Okay, Bambi.“ Ich knuffte ihn in die Seite. „Hey, ich dachte, das hätten wir geklärt.“ Er grinste. „Wer sagt, dass du gut warst?“ Als er meine Miene sah, wurde sein Grinsen weicher. „Hey, war nur Spaß. Das war krass vorhin. Du hast wirklich Talent.“   Das Grinsen, das daraufhin auf meinem Gesicht erschien, wollte gar nicht wieder verschwinden. Mir taten schon richtig die Wangen weh, als ich ihn irgendwann kurz danach an der Haustür verabschiedete, nachdem wir noch Nummern ausgetauscht hatten. Nur in Shorts und T-Shirt, das ich mir eben übergezogen hatte, ließ ich mich wieder auf mein Bett fallen, das jetzt ziemlich intensiv nach Manuel roch, und versenkte meine Nase tief in den Kissen. Der Wahnsinn. Mein erster Blowjob und ich war gut gewesen. Schwul sein war vielleicht doch gar nicht so schlecht. So überhaupt nicht schlecht. Kapitel 10: Von französischen Bäumen und verdächtigen Pfannkuchen ----------------------------------------------------------------- Wisst ihr, was die Steigerungsform von Plusquamperfekt ist? Nein? Ich schon. 'Le plus-que-parfait', also der gleiche Quatsch nochmal auf Französisch. Himmel, war das Scheiße. Vor allem mit den dämlichen, reflexiven Verben. In der Verneinung. Argh! Wenigstens hatte mir meine Mutter mal eine nette, kleine Geschichte erzählt, mit der man sich die berühmten „14 Verben der Bewegung und des Verweilens“, die ihre Formen mit 'être' bilden, merken konnte. Für den Rest die ganze Chose dann mit 'avoir' und man konnte nicht mehr so viel verkehrt machen. Natürlich nur, wenn man nicht eine der vielen Ausnahmen vor sich hatte, wo sich ein direktes Objekt auf eines der Bewegungs-Verben bezog. Alles klar? Nein? Bei mir auch nicht.   Ich brütete also über meinen Französisch-Aufgaben und versuchte nicht dran zu denken, dass ich in der übernächsten Stunde mein Referat halten musste. Es war ja nicht so, dass das, was ich zu erzählen hatte, besonders schwer verständlich war. Ich war halt nur nicht so der Typ, der sich vor die ganze Klasse stellte und was vortrug. Mochte ich noch nie. Vielleicht war das der Grund, warum ich in der Fünften und Sechsten immer schön meine Hausaufgaben erledigt hatte. Dort mussten wir nämlich, wenn wir die dreimal vergessen hatten, ein Gedicht lernen und vortragen. Ich musste das einmal machen, das hat mir gereicht. Vor allem, weil ich jetzt immer noch einen Teil von „Brabbel-Berta und das rasende B“ auswendig konnte. Hatte ich erwähnt, dass ich mir so was gut merken kann?   Immerhin hatten wir inzwischen eine einigermaßen nette Französisch-Lehrerin. Die erste war eindeutig unfähig gewesen und irgendwann von einem Referendar abgelöst worden, der erstens super aussah und mich zweitens nicht leiden konnte. Keine Ahnung, warum dieser Alain-Delon-Verschnitt mich immer auf dem Kieker gehabt hatte. Vermutlich wollte er die Mädels aus dem Kurs für sich allein haben. Das war wirklich so Klischee; der gut aussehende Französischlehrer, der sie alle aufseufzen ließ, wenn er sich zur Tafel umdrehte, um seinen absolut perfekten Hintern in der reichlich was zu engen Jeans zu präsentieren. Ich konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft eine meiner Mitschülerinnen ihn wohl irgendwelchen Mist gefragt und immer eine très chamant Antwort darauf bekommen hatte, während er mir, als ich in einer Klassenarbeit mal gefragt hatte, ob er mir mal eben sagen könnte, was Kleiderschrank auf Französisch heißt, geantwortet hatte, dass er mir das natürlich sagen oder sich stattdessen ein Loch ins Knie bohren und heißen Himbeersirup durchgießen könnte. Ich hab an der Stelle nicht so gelacht, wie man sich vielleicht vorstellen kann. Allerdings musste ich zugeben, dass er das Aufholen des versäumten Stoffes einigermaßen durchgezogen hatte, sodass das mit der zweiten Fremdsprache inzwischen nicht ganz so schlecht lief. Frau Bertram, die jetzige Lehrerin, wirkte auf jeden Fall ganz zufrieden, wie sie da so vor uns stand, und uns frohgemut eröffnete:   „Ihr Lieben, bevor wir jetzt schließen, habe ich noch eine Überraschung vorbereitet. Ich möchte mit euch vor den Sommerferien noch ein kleines Theaterstück einüben. Hier ist ein Buch mit drei Stücken zur Auswahl, das ich euch zur Ansicht dalassen möchte. Bitte gebt sie im Kurs herum, damit wir dann nächste Woche entscheiden können, welches Stück wir spielen.“   Ich glaube, mein Kopf entging nur haarscharf einer Kollision mit der Tischkante. Theaterspielen? Auf Französisch? Ach bitte nicht doch. Na vielleicht gab es da ja auch eine Rolle, wo man nicht sprechen musste. Einen Baum oder so. Das würde mir gefallen. Ich lächelte still in mich hinein.   „Warum grinst du so?“, wollte Mia-Marie wissen, während sie ihre Sachen zusammenpackte. „Ich hab mich gefragt, ob ich da wohl auch einen Baum spielen kann.“ „Das kannst du tatsächlich.“   Ich blinzelte verwundert und sah mich um, woher diese Stimme kam. Also ich wusste eigentlich, wem sie gehörte, aber sie hatte noch nie mit mir geredet, glaube ich. Vor mir stand „nur Mia“ und hielt das Buch in Händen, das Frau Bertram ausgegeben hatte. Dazu muss ich wohl kurz erklären, dass die Klassen während des Unterrichts für die zweiten Fremdsprache gemischt wurden, sodass sich alle Exoten, die Französisch gewählt hatten, bei uns im Klassenraum trafen, während der Rest sich in den zwei Latein-Kursen auf die Füße trat. Somit war mir dreimal die Woche die absolute Eifersucht von Jo gewiss, da ich mit „nur Mia“ dieselbe Luft atmen durfte. Sie war übrigens ein Ass in Französisch und sie lächelte mich an. „In einem der Stücke geht es um ein Kind, das sich in einem Wald verirrt hat, in dem die Bäume sprechen können. Wenn wir das auswählen könntest du eine Pappel, eine Birke oder eine Weide spielen. Bei 'sorbier' bin ich mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, das ist eine Vogelbeere.“ „Äh ja“, machte ich. „Eine Vogelbeere. Klingt toll. Ich überleg’s mir.“ „Fein“, sagte „nur Mia“ und schwebte von dannen. Mia-Marie sah mich an. „Du wolltest eigentlich gar nicht reden, oder? Deswegen wolltest du einen Baum spielen.“ „Wie hast du das nur erraten, Chérie?“, fragte ich gespielt erstaunt und grinste sie an. Sie grinste zurück und dann machten wir uns wieder zurück auf den Weg zu unseren angestammten Plätzen.   Während ich meine Deutschsachen auspackte, amüsierte ich mich immer noch über den Gedanken. Eine Vogelbeere. Im Ernst? Dann doch lieber eine richtige Sprechrolle.   „Warum lachst du?“   Ich schwöre, Anton war eigentlich von der Enterprise. Der konnte sich einfach so neben dir materialisieren, ohne dass du ihn kommen sahst.   „Ich soll vielleicht ne Vogelbeere spielen.“   Anton sah mich an, als wartete er auf den Witz an der Sache. Menschlicher Humor schien ihm manchmal fremd zu sein.   „In Französisch. Ein Baum in einem Theaterstück.“   Er nickte nur. „Die Sorbus aucuparia, auch bekannt als Eberesche, ist eine wirklich bemerkenswerte Pflanze. Sie ist nicht, wie der Name vermuten lässt, mit den Eschen verwandt, sondern gehört zur Gattung der Mehlbeeren, einer Unterart der Rosengewächse. Ihre Früchte sind entgegen des landläufigen Glaubens nicht giftig und wurden früher gerne als Mittel gegen Skorbut eingesetzt. Darüber hinaus wird die Eberesche in vielen Kulturen als Abwehr gegen Hexen, Krankheiten oder böse Geister verwendet.“   Hatte ich erwähnt, das Antons zweiter Vorname „Wikipedia“ lautete?   „Mir wäre eine Abwehr gegen Oliver lieber“, knurrte ich und ging vorsichtshalber in Deckung. Der Knilch hatte sich heute anscheinend mit Jo verbündet. Auf jeden Fall standen die beiden im Eingang rum und blockierten ihn so für alle Nachkommenden. Als sie auch noch zu mir hersahen, tat ich beschäftigt. Sicher war sicher.   „Hey, Benedikt, ich hab ganz vergessen, dass du noch Geld von mir bekommst.“   Ich zuckte zusammen. Stand Mia-Marie jetzt ernsthaft vor meinem Tisch mit ihrem Portemonnaie in der Hand? Für alle sichtbar? „Ich, äh, hab noch nicht ausgerechnet, wie viel es war.“   Am Abend zuvor war ich nämlich leicht abgelenkt gewesen. Zum Glück hatte meine Mutter beim Abendessen nicht auf großartigen Gesprächen bestanden, sodass ich mich nach dem Abräumen gleich in mein Zimmer verzogen und Musik gehört hatte, bis ich mich irgendwann kurz vor dem Schlafengehen doch noch dazu hatte durchringen können, schnell ein paar Hausaufgaben hinzuklieren. Frau Bertram würde mich vermutlich darauf aufmerksam machen, dass die drei neuen, grauen Haare in ihrem ansonsten braunen Schopf auf mein Konto gingen, Herr Vogel würde mich strafend ansehen und Herr Boysen, unser Englischlehrer, einfach ein „C-“ unter meine Schmiererei setzen, aber zu mehr war ich gestern einfach nicht mehr in der Lage gewesen.   Jetzt jedoch hatte ich ganz andere Probleme. Namentlich Oliver, der Mia-Maries Auftritt natürlich zum Anlass nahm, wieder irgendwelche Gehässigkeiten von sich zu geben. Als er jedoch laut und deutlich mutmaßte, dass mich Mia-Marie dafür bezahlen würde, damit ich mit ihr ausging, platzte ihr der Kragen. „Ich hab es nicht nötig, irgendwen dafür zu bezahlen“, fauchte sie ihn mit hochrotem Kopf an. „Außerdem hat Benedikt eine Freundin.“   Der Gesichtsausdruck von Jo war es fast wert, so von Mia-Marie geoutet zu werden, aber eben nur fast.   „Mia“, zischte ich und warf ihr einen mörderischen Blick zu. Sie sah mich immer noch wütend an. „Na ist doch wahr, oder nicht? So verliebt wie du hier den ganzen Morgen schon rumtänzelst.“   Ich? Verliebt? Öhm …   „J-ja“, stotterte ich und wurde auch fast gar nicht rot bei der Lüge, die noch dazu doppelt infam war, denn erstens wusste ich ja gar nicht, ob Manuel und ich nun eigentlich „zusammen“ waren, und zweitens war er mit ziemlicher Sicherheit kein Mädchen. Ich wusste das, ich hatte nachgesehen. „Benedikt hat eine Freundin?“   Oh na prima, jetzt hatte die Klatschpresse auch noch davon Wind bekommen. Ich sah schon, wie Mia-Sophie und die anderen ihre Hälse vorstreckten wie Hyänen, die Beute gewittert hatten. Zum Glück kam Herr Vogel in diesem Moment rein und rettete mich mit Hesses tollem Machwerk vor weiteren Fragen über mein Liebesleben.   In der großen Pause flüchtete ich mich gleich zu den Nerds, die an solchen Dingen zum Glück vollkommen uninteressiert waren, und in Erdkunde durfte ich ja mein tolles Referat halten, sodass ich nicht die Verlegenheit kam, mich allzu viel mit irgendjemandem unterhalten zu müssen. Es lief sogar verhältnismäßig gut und Frau Kuntze gab mir für das Ganze eine schwache Zwei, was mich mich mit einem recht zufriedenen Grinsen wieder auf meinen Platz setzen ließ. Das verging mir allerdings, als Jo sich zu mir umdrehte – warum genau saßen wir schon wieder hinter ihm und T ? – und mir zuzischte: „Das mit deiner Freundin war doch ein Witz, oder?“ Ich versuchte cool zu bleiben. „Warum soll das ein Witz sein?“ „Wenn du wirklich eine abgekriegt hast, dann sag mir doch mal, wie sie heißt, woher sie kommt und wie sie aussieht.“ „Alter, das geht dich gar nichts an.“ „Also doch ne Lüge.“   Ich funkelte ihn wütend an. Jetzt hatte ich also die Wahl als Lügner dazustehen oder tatsächlich zu lügen. Oder die volle Wahrheit zu sagen, aber das kam definitiv nicht in Frage.   „Man, du kennst sie nicht, also halt jetzt endlich die Klappe.“ „Ich glaube dir nicht.“ „Dann halt nicht, ist mir auch egal.“   Jo wollte offenbar noch was sagen, aber T mischte sich in die Unterhaltung ein. „Lass gut sein. Ob er ne Freundin hat oder sich nur ausdenkt, kann dir doch vollkommen egal sein.“   Daraufhin drehte Jo sich wieder nach vorne um und ich konnte wunderbar Ts Hinterkopf anstarren. Was sollte das denn jetzt? Glaubte er mir etwa auch nicht? Blöder Wichser. Und in den war ich verliebt gewesen? Gab es ja gar nicht. Was bildete der sich denn eigentlich ein? Dass nur er und sein Gefolge auf dieser Welt das Recht hatten, sich fortzupflanzen?   Ich erinnerte mich noch, wie er mal gesagt hatte, dass man den Anti-Flynn-Effekt auch Corinna-Effekt nennen könnte, weil der immer eintreten würde, wenn sie den Raum betrat. (Wer’s nicht weiß: Der gute Herr Flynn hat die Beobachtung gemacht, dass der IQ in den Industrieländern Jahr für Jahr ansteigt; der Anti-Flynn-Effekt bezeichnet somit die Stagnation dieses Anstiegs beziehungsweise den Rückgang des durchschnittlichen IQs.)   Ich meine, gut, Corinna war tatsächlich dumm wie Brot und das konnte im Gegensatz zu ihr wenigstens schimmeln. Sogar ihre beste Freundin hatte mal mit leicht genervter Stimme erzählt, dass sie bei einem Übernachtungsbesuch allen Ernstes von sich gegeben hatte, dass sie das Licht nicht ausmachen könne, weil ihre Nägel noch nicht trocken seien. Als wenn die nicht auch im Dunkeln trocknen würden. Aber trotzdem war sie ja nun immer noch ein Mensch. Ein ziemlich einfältiger Mensch, der jede Woche in irgendwen anders verknallt war und dieses lang und breit auf ihren Collegeblock malte oder auf Instagramm postete, dessen einziger, privater Lesestoff vermutlich aus der Bravo bestand und der mit ziemlicher Sicherheit davon träumte, später mal Filmstar, Influencer oder Supermodell zu werden, wenn das mit dem Abi nicht klappte, aber deswegen musste man sie ja nun nicht gleich blöd anmachen. Für den Rest der Stunde, beschäftigte ich mich damit, T doof zu finden und ansonsten immer mal auf mein Handy zu schielen, ob Manuel mir auf meine Nachricht von heute morgen geantwortet hatte. Das erste klappte ganz gut, das zweite eher weniger. Man, war es denn wirklich so schwierig, auf ein „Guten Morgen“ was zurückzuschreiben? Anscheinend schon. Am Ende der Stunde gab ich auf, schmiss das Handy in den Ranzen und trollte mich nach draußen.     „Wann kommst du morgen?“, wollte Anton wissen, während wir zurück zum Klassenraum gingen.   Ach ja, die Verabredung wegen meines Computers. Die hatte ich bei all dem auch irgendwie vergessen.   „Ich hab meine Mutter noch nicht gefragt, ob sie mich fahren kann. Aber ich denke so gegen drei?“ „Okay. Denk dran, ich brauch nur den Rechner, den Rest kannst du zu Hause lassen.“ „Geht klar.“ Der Rest des Tages plätscherte so vor sich hin, wobei ich das Gefühl hatte, dass Mia-Sophie und ihr Gefolge mich beim Sport die ganze Zeit beobachteten. Da war es mir ganz recht, das unser Sportlehrer mal wieder zu faul gewesen war und einfach den Aufbau der vorherigen Sportgruppe übernommen hatte, sodass wir schön im Kreis rennen und Zirkeltraining absolvieren konnten. Ich konzentrierte mich so sehr auf die Übungen, damit ich auch ja nicht in Versuchung kam, mich nach T umzusehen, dass ich sogar richtig ins Schwitzen kam, was mein Sportlehrer dummerweise wohlwollend zur Kenntnis nahm. „Seht ihr, Benedikt hat sich heute richtig angestrengt und die Übungen durchgezogen und nicht nur so getan. So will ich das sehen.“   Oh ja, danke. Natürlich war es mein absoluter Wunschtraum, mit hochrotem Kopf und Schweißflecken unter den Armen als gutes Beispiel herangezogen zu werden. Herzlichen Dank auch dafür.   „Dafür bist du heute mal vom Abbauen befreit. Schönes Wochenende.“   Ach echt? Cool! Ich grinste, grüßte nochmal in die Runde und sah zu, dass ich mich vom Acker machte, bevor ich noch einen blöden Spruch kassierte. Manchmal sorgte das Leben eben doch für Gerechtigkeit.   In der Umkleide riss ich mir die Klamotten vom Leib. War ja keiner da und selbst wenn, wäre der Einzige, den ein spärlich bekleideter, männlicher Hintern interessiert hätte, ja schließlich ich selbst gewesen. Für einen Augenblick liebäugelte ich tatsächlich damit, duschen zu gehen, aber da ich kein Handtuch dabei hatte und die Duschen in den Umkleiden meiner Meinung nach sowieso nur der Vollständigkeit halber eingebaut worden waren, beließ ich es dabei, mich kurz an einem der Becken zu waschen und mich mit dem T-Shirt abzutrocknen, bevor ich wieder zurück in die Umkleide ging. Dort jedoch blieb ich wie angewurzelt stehen. Mitten im Raum stand niemand anderer als T und wartete auf mich. Was zum … ?   „Hey“, sagte er und war anhand meines Aufzugs mal so gar nicht peinlich berührt. Ich bemühte mich sehr, es auch nicht zu sein, denn schließlich waren wir ja beide Jungs, nicht wahr? Und er hatte schließlich was an. „Ich wollte dir nur nochmal sagen, dass es mir leidtut. Wegen des blöden Spruchs vorhin.“ „Welchem?“ Ich war immer noch so damit beschäftigt, mir nicht präsent werden zu lassen, dass ich fast nackt war, dass ich im ersten Moment nicht wusste, wovon er sprach. T wirkte plötzlich doch nervös. „Na der von Jo. Er ist momentan einfach ein bisschen …“ „Abgeblitzt?“, fragte ich in gehässigem Tonfall.   Mir war gerade wieder eingefallen, dass er ja „nur Mia“ hatte nach einem Date fragen wollen. War wohl nicht so gut gelaufen und seinen Frust darüber hatte er anscheinend an mir auslassen müssen. Komischerweise schien T das sehr zu amüsieren. Er grinste.   „Ja, könnte man so sagen. Also nimm’s ihm bitte nicht krumm, ja?“ Ich brummte etwas, das man mit viel Wohlwollen als Zustimmung werten konnte. T atmete tief durch und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. „Na ja, also … ich geh mal lieber zurück, bevor die mich vermissen.“ „Klar.“   Er lächelte mich noch einmal kurz an, bevor er sich einfach umdrehte und den Raum verließ. Und ich? Ich starrte ihm nach und wusste nicht, was ich davon jetzt halten sollte. Erst benahm er sich wie ein Arschloch und jetzt kam er sich entschuldigen? Für was, was er gar nicht gemacht hatte? Ich verstand das nicht und erst recht nicht das Magenflattern, das das Zusammentreffen mit ihm bei mir ausgelöst hatte. Der Kerl war einfach nur … argh! Ich wollte ihn nicht. Ich wollte Manuel. Ich hatte Manuel, verdammt. Manuel, der im Übrigen immer noch nicht auf meine Nachricht geantwortet hatte, obwohl sie längst als gelesen markiert worden war. Wir hatten bereits Viertel vor eins, aber ein Blick auf mein Display zeigte mir, dass mein Nachrichteneingang immer noch leer war. Für einen Moment erwog ich, ihm noch einmal zu schreiben. Ihn vielleicht nach einem weiteren Treffen zu fragen. Da ich aber keine Ahnung hatte, wann und wo das stattfinden sollte, ließ ich es dann doch sein. Ich musste mir das erst nochmal in Ruhe überlegen. Und mich anziehen, bevor mich noch jemand hier in Unterwäsche stehen sah. Mein Bedarf an Peinlichkeiten war für heute hinreichend gedeckt. Jetzt war erst mal Wochenende angesagt.     „Hey, Mama, ich bin zu Hause.“ „Ich bin in der Küche, Schatz.“   Tatsächlich stand meine Mutter dort und machte Pfannkuchen. Pfannkuchen! Sie hasste Pfannkuchen. Na gut, hassen war vielleicht ein bisschen übertrieben, aber es gehörte nicht gerade zu ihren Lieblingsgerichten. Zu meinen allerdings schon, was mich wiederum stutzig werden ließ. Das war jetzt schon das dritte diese Woche. (Für gestern hatte sie doch tatsächlich aus dem Hackfleisch für die Spaghettisoße Königsberger Klopse gemacht, was sie sonst auch nur höchst selten tat, da ihr das immer zu aufwendig war. Mich hingegen hatte das nach Manuels Besuch zum Glück vom Kochen befreit.) Normalerweise wäre spätestens heute so was wie Gefüllte Paprikaschoten oder so dran gewesen, die ich nun wieder nicht leiden konnte, aber nein, es gab schon wieder was aus der Sparte „Wie krieg ich Benedikt dazu, was für mich zu machen, auf das er absolut keinen Bock hat.“ Och nee, sie wollte doch wohl nicht etwa schon wieder ein neues Beet anlegen, oder? Dafür durfte ich dann nämlich immer die Knochenarbeit leisten und ich sage euch, Garten umgraben war bei Lehmboden einfach mal nur verflucht anstrengend. „Pfannkuchen, Mama?“ Ich versuchte dabei möglichst misstrauisch und vorwurfsvoll zu klingen. Prompt lief sie um die Nase herum ein bisschen rosa an. Also doch, ich hatte es gewusst.   „Ja, Schatz, ich wollte die restlichen Klopse lieber für Morgen aufbewahren, weil … also … ich bin morgen Abend nicht da, weißt du? Und da brauchst du ja was zu essen, daher hab ich mir gedacht …“   Ihre Stimme erstarb und ich wunderte mich. Meine Mama ging nie aus. Nie. Ich konnte mich zumindest nicht erinnern, dass sie das jemals getan hatte. Maximal mit Diana und mir zusammen zu irgendwelchen Geburtstagen oder so. Zum letzten Muttertag hatte ich ihr mal einen Kino-Gutschein geschenkt, den sie bis jetzt immer noch nicht eingelöst hatte. Also … warum dann jetzt? Und mit wem? „Wo willst du denn hin?“, fragte ich möglichst unbeteiligt, während ich mir Unmengen Zucker und Zimt auf den Pfannkuchen streute, was sie normalerweise zu einem strafenden Blick oder sogar einem Kommentar verleitet hätte, aber heute ging sie einfach so darüber hinweg. Hatte sie es überhaupt bemerkt?   „Ach, wir gehen mit den Kollegen zusammen Essen und dann vielleicht noch was trinken. Es kann also spät werden. Du kannst dich also im Wohnzimmer ausbreiten und Netflix gucken bis zum Umfallen.“   Sie lächelte und ich hätte den Köder fast geschluckt. Das klang wirklich traumhaft. Aber in meinem Kopf maulte ein hartnäckiges, kleines Stimmchen herum, dass an der Geschichte was faul war. Wenn es nur ein Essen mit Kollegen war, warum war ihr das dann so peinlich?   Ich wollte gerade erneut nachhaken, als mir auffiel, dass das die Gelegenheit für ein Treffen mit Manuel war. So ein richtiges, wo wir ein bisschen zusammen abhängen und uns vielleicht besser kennenlernen konnten. Allerdings ging das, bei aller Liebe, nicht mit Königsberger Klopsen. Schon gar nicht zusammen mit aufgewärmten Kartoffeln.   „Legst du noch ne Pizza drauf?“, fragte ich scheinheilig. Mal sehen, wie tief ihr schlechtes Gewissen ging. „Schon wieder?“ Sie runzelte die Stirn. Hatte ich es übertrieben? Aber nein, sie seufzte. „Na meinetwegen. Aber nur eine tiefgekühlte.“ „Okay, gebongt.“ Der popelige Pizza-Service aus dem Dorf war eh nicht der Bringer. Außerdem würden wir vielleicht ja gar nicht so zum Essen kommen. Ich grinste mir eins und schaufelte meinen Pfannkuchen in mich hinein. Gleich nach dem Essen würde ich Manuel schreiben und dieses Mal würde er antworten. Ganz bestimmt.   Kapitel 11: Von verspäteten Ankünften und interessanten Auskünften ------------------------------------------------------------------ Samstagmorgen, 10.08 Uhr und ich war bereits fertig mit der Welt. Ganz ehrlich, ich brauchte vielleicht einen Terminkalender, um meine neuerdings geballt auftretenden Sozialkontakte zu koordinieren, aber meine Mutter brauchte eine neue Uhr. Am besten eine, die im Minutentakt die Zeit ansagte. „Mamaaaa, wir müssen loo~hoos!“ Was die Untertreibung des Jahrhunderts war. Eigentlich hätten wir vor einer halben Stunde losgemusst, aber da war sie noch ungeschminkt und unfrisiert durchs Schlafzimmer gehüpft auf der Suche nach einem passenden Gürtel zu einer Hose, die sie noch nie angehabt hatte, weswegen das Ganze ein bisschen länger dauerte. Wobei sich mir der Sinn auch nicht so ganz erschloss, warum sie sich überhaupt großartig zurechtmachte. Schließlich hatte sie nur um halb elf einen Friseurtermin und sollte mich auf dem Weg noch eben bei Anton vorbeibringen. Somit standen ich und mein PC bereits seit zwanzig Minuten abfahrbereit an der Haustür, weil es da geheißen hatte „ich komme gleich“. Ja nee, ist klar.   „Bin gleich da, Schatz.“   Dieses Mal stimmte es tatsächlich und wir saßen fünf Minuten später im Auto.   „Wo muss ich hin?“ „Fahr mich einfach zur Schule, den Rest laufe ich dann.“ „Aber Benedikt, ich kann dich doch …“ „Fahr einfach, Mama.“   Also echt. Manchmal fragte ich mich, wie die Frau jemals verbeamtet werden konnte. Die vom Amt sind doch angeblich immer so pünktlich. Das konnte bei meiner Mutter kein Einstellungskriterium gewesen sein. Wenn ich einen Euro bekommen hätte für jedes Mal, wo ich der Letzte war, der irgendwo abgeholt wurde, wäre ich mindestens Millionär. Dafür mutierte sie jetzt hinter dem Steuer wieder zur Schnecke. Ich zählte bereits die Monate, bis ich auch endlich mit Fahrstunden anfangen konnte. Das war doch nicht normal, diese Kriecherei. Vor allem aber konnte ich mir schon genau vorstellen, wie Anton mich angucken würde, wenn wir zu spät bei ihm aufschlugen.   Ich hatte ihn am gestrigen Abend noch angerufen, um ihm mitzuteilen, dass ich leider Samstagnachmittag keine Zeit hatte – Grund dafür war, dass meine Mutter es zu stressig fand, mich vor ihrer Verabredung noch hinzubringen und abzuholen – und ihn zu fragen, ob ich stattdessen am Sonntag kommen konnte. Das jedoch ging gar nicht, weil im Hause Wischnewsky sonntags Familientag war. Verabredungen wurden nur in Ausnahmefällen gestattet, wie beispielsweise ein spontanes Ableben am Montag, das aber auch nur mit dreiwöchiger Vorankündigung, so viel Zeit musste sein. Also blieb entweder das Ganze auf nächste Woche zu verschieden oder aber auf den Samstagvormittag, wobei Anton zu bedenken gab, dass wir dann rechtzeitig kommen müssten, damit das Mittagessen pünktlich stattfinden könne. Tja, pünktlich und meine Mutter ging aber nun mal nicht zusammen. Nicht mal, wenn das gleichzeitig auch ihre Termine in Gefahr brachte.   „Wo wohnt Anton denn nun?“, fragte meine Mutter, als wir fast an der Schule waren.   Ich gab auf und nannte ihr die Adresse, sodass sie mich schließlich doch noch die zwei Ecken weiter fahren konnte. Dort flüchtete ich mitsamt PC aus dem Auto und sah zu, dass sie mir nicht noch über die Füße fuhr, während sie auf einmal mit erstaunlicher Geschwindigkeit um die nächste Ecke verschwand. Es war eine Minute vor halb elf.   Ich ging auf das Häuschen zu, das mir in originellem Blassgelb entgegen strahlte. Dazu muss man vielleicht wissen, dass hierzulande ein ziemlich großer Teil der Häuser verklinkert ist.   (Für diejenigen, die das nicht kennen: Das ist eine zusätzliche Schicht aus speziellen, meist roten Steinen, die vor die eigentliche Wand gemauert werden und sie vor Wind und vor allem Nässe schützen sollen. Davon gibt’s hier in der Gegend ja ne ganze Menge, meistens von oben oder quer von links. Ich erzähle das nur deswegen, weil ich selbst mal sehr erstaunt war, als ich nach Süddeutschland fuhr und dort die Häuser auf einmal alle weiß oder gar bunt waren. Dafür hatten dann die Kühe nur noch braunes Fell statt ganz normal weiß mit schwarzen Flecken auf der Weide zu stehen. Mir kam das damals sehr seltsam vor.)   Nun, es gab auf jeden Fall auch hier Häuser mit glatter Fassade, die auf mich immer ein bisschen spießig wirkten, was in diesem Fall vielleicht gar nicht so weit hergeholt war. Im streng auf Kante gemähten Garten stand ein Gartenzwerg und es war keiner von der unanständigen Sorte, sondern wartete mit grenzdebilen Grinsen und einer kleinen Schubkarre auf. Daneben standen abgezählte und vermutlich mit dem Zirkel gepflanzte Tulpen in einer Reihe. Ich seufzte noch einmal und drückte auf den Klingelknopf. Es schrillte unangenehm. Zwei Sekunden später wurde die Tür geöffnet.   „Hallo Frau Wischnewsky, entschuldigen Sie bitte die Verspätung“, sagte ich artig, bevor Antons Mutter noch irgendetwas von sich geben konnte. Sie war blass, groß und ziemlich dünn. Vermutlich ernährte sie sich von Salat und Vitaminpillen. Und Spargel. „Ah, du musst Benedikt. Komm rein, aber benutz bitte vorher noch einmal das Desinfektionsbecken, ja? Nur damit du keine Keime mit den Schuhen hereinträgst.“   Ich trat also gehorsam in die kleine Wanne mit den Gumminoppen, wischte mir ordentlich die Schuhe ab – ja, ich hatte dabei die ganze Zeit meinen PC im Arm – und durfte dann die heiligen Hallen aka Flur betreten. Dort musste ich meine Jacke und die gerade erst desinfizierten Schuhe ablegen und wurde gleich noch mal ins Gästebad geschickt, um mir die Hände zu waschen. (Diesmal ohne PC, der durfte draußen bleiben. Ich lege allerdings nicht die Hand dafür ins Feuer, dass sie ihn nicht noch heimlich mit einem Desinfektionstuch abgewischt hat.) Zum Glück hatte mich Anton über das ganze Prozedere schon aufgeklärt, sodass ich es einfach über mich ergehen ließ, bevor ich von Frau Wischnewsky nach oben begleitet wurde. An Antons Tür klopfte sie leise an. „Anton, Spätzchen, dein Besuch ist da. Denk bitte daran, dass wir Punkt 12 essen.“   Anton Spätzchen bemühte sich, darauf nicht allzu genervt zu reagieren, und schloss mit entschiedener Geste die Tür vor der Nase seiner Mutter. Erst dann widmete er mir seine Aufmerksamkeit.   „Du bist zu spät“, stellte er mitleidlos fest. „Ja, meine Mutter ist mal wieder nicht fertig geworden. Tut mir leid.“ Er ließ das unkommentiert, sondern hieß mich stattdessen, den PC abzustellen, woraufhin er ihn gleich an alle möglichen Kabel anschloss wie einen Komapatienten an die Lebenserhaltung. Ohne ein weiteres Wort zu sagen begann er mit der Arbeit.   Ich sah mich derweil in seinem Zimmer um, das kleiner und dunkler war als meins. Es hatte eine Dachschräge und wirkte insgesamt irgendwie vollgestopft, obwohl es eigentlich aufgeräumter war. Eine der Wände mit Schräge wurde von einem maßgeschneiderten Bücherregal beherrscht, an der anderen stand sein Bett, auf dem ich jetzt saß. Die Wand gegenüber von Fenster, Schreibtisch und dem Regal mit seinen Modellflugzeugen beherbergte einen Kleiderschrank und die Tür, die sich just in dem Moment öffnete, als Anton anfing, mir zu erklären, was meine Mutter genau mit meinem PC veranstaltet hatte. Gleichzeitig begann seine Mutter auf ihn einzureden und ihm, glaube ich, eine Tasse Tee andrehen zu wollen. Das Gespräch klang dann für mich ungefähr so: „Anton, Spätzchen …“ „… das Update unterbrochen …“ „… Löwenzahntee …“ „… zu rebooten …“ „… gut für die …“ „… Mainboard …“ „… blutreinigend …“ „… plattmachen.“ „WAS?“   Letzteres stammte von mir und richtete sich an Anton. Der schob seine Brille nach oben und wiederholte geduldig: „Ich muss deinen Rechner vielleicht komplett neu aufsetzen. Ich versuche aber erst mal zu retten, was zu retten ist.“   Statt weiter mit ihrer Teetasse zu wedeln, fasste mich Antons Mutter jetzt scharf ins Auge. „Benedikt, würde es dir was ausmachen, dich auf den Boden zu setzen? Straßenkleidung ist bei uns im Bett nicht erlaubt.“ „Oh, ja, natürlich, sofort.“   Ich ließ mich auf den Boden plumpsen und sah von dort zu Antons Mutter auf. Sie wirkte gleich noch länger und dünner. Allerdings auch eine Spur freundlicher, denn nun bot sie mir die Tasse Tee an, die Anton durch schlichtes Ignorieren verschmäht hatte. Ich nahm dankend an und bereute es in dem Moment, als ich das Gebräu probiert hatte. Igitt, das schmeckte wie aufgebrühter Misthaufen inklusive Hühnerkacke. Ich würgte es unter ihrem strengen Blick trotzdem herunter und gab ihr etwas verkrampft lächelnd die Tasse zurück. Endlich zufrieden, ihre Teemission erfüllt zu haben, stolzierte sie von dannen. Als die Tür endlich zu war, meldete sich Anton wieder zu Wort. „Die Toilette ist die zweite Tür links.“ „Äh, wie bitte?“ Der Tee war zwar furchtbar gewesen, aber so furchtbar, dass ich mich übergeben musste, nun auch wieder nicht. „Der Tee, den du gerade getrunken hast, wirkt harntreibend. Du wirst daher vermutlich innerhalb der nächsten halben Stunde nach der Toilette fragen. Ich habe dir die Information daher schon jetzt zur Verfügung gestellt, für den Fall, dass ich zum Zeitpunkt deiner Frage zu beschäftigt bin, um dir zu antworten. Das könnte unangenehme Folgen für dich und/oder das Parkett haben.“ „Äh ja, danke, Spock.“ „Gerne.“   Die in meiner Aussage enthaltene Ironie war an ihm abgeprallt wie Regen von einer Ölhaut. Nun ja, so kannte und liebte ich ihn. Ich liebte ihn sogar noch ein kleines bisschen mehr, als ich zwanzig Minuten später tatsächlich aufs Klo musste und er mir auf mein geflüstertes „Anton, ich geh mal eben“ nicht antwortete, sondern weiter auf seine Tastatur einhämmerte. War vielleicht doch ganz gut gewesen, dass er mir das schon vorher gesagt hatte.   Auf dem Rückweg vertrieb ich mir die Zeit damit, die Bilder anzusehen, die im Flur vor Antons Zimmer hingen. Auch hier gab es eine Dachschräge und der Gang war insgesamt recht schmal. Irgendwer war jedoch auf die gute Idee gekommen, das Ganze mit hellem Holz zu verkleiden und dank eines Dachfensters fiel genug Licht herein, damit es nicht zu düster wirkte. Kurz fragte ich mich, warum Antons Eltern eigentlich in so einem kleinen Häuschen wohnten – immerhin waren sie im Gegensatz zu meiner Mutter doch ziemlich wohlhabend – bevor ich mich erinnerte, dass Anton mal irgendwas davon erzählt hatte, dass dies ursprünglich das Haus seiner Oma gewesen war und somit das Elternhaus seines Vaters, das dieser aus Pietätsgründen weiter bewohnte.   Besagte Oma thronte auf einem der Bilder auf einem löwenfußgeschmückten Lehnstuhl, während sich die restliche Familie um sie herum drapiert hatte und in die Kamera lächelte. Ich fand Anton sofort anhand seiner riesigen Brille und wusste nun auch, warum er so klein war. Sein Vater war quasi Antons Ebenbild nur mit grauen Haaren und beginnender Glatze. Kein Wunder, dass er in diesem Haus für Zwerge wohnen mochte. Noch seltsamer war allerdings, dass er sich so eine große Frau gesucht hatte. Sie überragte ihn um mehr als Haupteslänge. Vielleicht, damit wenigstens irgendwer an die oberen Regale herankam.   Ein seltsames Paar, dachte ich noch, als mein Blick plötzlich von einem Gesicht auf der anderen Seite des Lehnstuhls angezogen wurde. Es wurde von dunkelblonden Locken umrandet und kam mir unheimlich bekannt vor.   „Julius?“   Ich ging näher heran, aber es bestand kein Zweifel. Das da war tatsächlich Julius, wenngleich auch deutlich jünger als bei unserem Zusammentreffen vor drei Tagen. Auf dem Bild hatte er noch keinen Ohrring. Was zum Geier machte Julius auf einem Familienfoto von Anton?   Damit mich jetzt keiner für blöd hält: Ich kam natürlich selbst drauf, dass sie wohl irgendwie verwandt sein mussten. Nur hatte Anton noch nie was von Julius erzählt. Ich beschloss, dass ich herausfinden musste, warum das so war.   Als ich wieder in Antons Zimmer kam, war der immer noch in seine Analysen verstrickt. Ich hoffte, dass er nicht irgendwie in der Lage war, Inkognito-Suchverläufe nachzuvollziehen, und beschäftigte mich noch ein wenig damit, sein Bücherregal in Augenschein zu nehmen. Einiges kannte ich bereits, anderes war mir definitiv zu hoch. Manchmal fragte ich mich wirklich, warum sich Anton eigentlich mit mir abgab. Gut, ich war ziemlich fit in Mathe und den restlichen Naturwissenschaften, was mich wohl so ein kleines bisschen nerdig machte, aber im Grunde genommen spielte ich trotzdem nicht in seiner Liga. Vielleicht war ich so eine Art Ersatz für den Hund, den er aufgrund seiner Allergien nicht haben konnte.   Ich wollte gerade mein Handy rausholen, um mir nochmal die Nachricht von Manuel durchzulesen – er hatte für heute Abend tatsächlich zugesagt – als Anton sich plötzlich zurücklehnte und verkündete, er sei fertig.   Ich hob erstaunt beide Augenbrauen. „So schnell?“ „Ich hab es doch noch zurücksetzen und dann wieder komplett updaten können. War eigentlich gar nicht so schwer.“   Na wenn Anton das sagte …   „Danke, Kumpel. Hast was gut bei mir.“   Er musterte mich durch seine Brillengläser hindurch, als wäre ich ein interessanter Käfer, von dem er gerade erst entdeckt hatte, dass er seit über einer Stunde erfolglos versuchte, durch die Scheibe nach draußen zu krabbeln. Vielleicht tat ich ihm unrecht, aber manchmal … Na lassen wir das. Ich hatte Wichtigeres zu klären.   „Sag mal, der Typ draußen auf dem Foto. Du weißt, das mit deiner Oma in dem protzigen Stuhl.“ „Ihr 80er Geburtstag. Wir haben im Schloss gefeiert.“   Natürlich. Wo auch sonst ging man mit Omma hin, wenn die 80 wurde? In Antons Familie auf jeden Fall in „Schloss“, das eigentlich ein Museum war, aber auch für Veranstaltungen gemietet werden konnte. Zu sehr exklusiven Preisen, wie ich gehört hatte.   „Ähm ja, also der Kerl da auf der anderen Seite von deiner Oma, der mit den Locken, wer ist denn das?“ Anton schob seine Brille nach oben „Du meinst Julius?“ „Wenn er so heißt.“   Okay, ich geb’s ja zu, das war jetzt ein ganz kleines bisschen geflunkert.   „Ein Cousin zweiten Grades. Seine Großmutter war die Tante meines Vaters. Er wohnt auch hier in der Stadt.“   Ich überlegte kurz, was ich darauf sagen sollte und entschied mich für die halbe Wahrheit.   „Ah ja, das erklärt, warum ich ihn letztens in der Fuzo gesehen habe.“   Und wie kriegte ich jetzt noch mehr aus Antons heraus? Dass die beiden verwandt waren, wenigstens um ein paar Ecken herum, war jetzt noch nicht so der Burner.   „Was macht er denn so? Er sah nicht aus, als würde er noch zur Schule gehen.“   Anton legte die Stirn in Falten. „Ich glaube, er macht gerade sein Fachabitur nach, aber genau weiß ich es nicht. Wir haben nicht besonders viel miteinander zu tun.“ „Ach so, ja, verstehe.“   Besonders effektiv war Anton heute ja nicht als Informationsquelle.   „Wir sehen uns alle Jubeljahre mal auf den Geburtstagen meiner Großmutter. So richtig kennengelernt habe ich ihn eigentlich erst, als seine Mutter mal mit ihm vorbeikam, um meinen Vater um eine Rechtsauskunft wegen des Mobbings zu bitten.“   Nun wurde ich doch hellhörig.   „Wieso Mobbing?“ „Er hat sich damals an seiner Schule geoutet und wurde danach wohl ziemlich schikaniert. Als mein Vater jedoch meinte, dass die Aussicht auf eine erfolgreiche Klage aufgrund der schwierigen Beweislage recht gering sei, hat er stattdessen die Schule abgebrochen und stattdessen eine Lehre gemacht. Ich glaube, es war als Gärtner.“   Na wenn das mal keine Story war.   „Er ist also schwul?“, hakte ich vorsichtshalber nochmal nach. Anton schob wieder seine Brille nach oben. „Das sagte ich doch gerade.“   Okay, dann wäre das also geklärt. Ich schielte zu Anton und versuchte herauszufinden, wie er über die Sache dachte. Also über das Schwulsein seines Cousins. Leider war an Antons Gesicht nicht viel abzulesen.   Weil noch ein bisschen Zeit war, bis ich abgeholt werden würde, fragte ich Anton, ob er die Hausaufgaben schon gemacht hätte, und für die nächsten zwanzig Minuten befanden wir uns wieder auf sicherem Terrain. Dann kam seine Mutter herein. „Anton, wir essen in fünf Minuten. Benedikt sollte jetzt gehen.“   Benedikt, der das gehört hatte, stand brav auf und versicherte, dass er sofort weg wäre. Sie lächelte und verschwand wieder. „Also dann, ich werde mal meinen Kram nehmen und verschwinden.“ „Du kannst auch noch bleiben, bis du abgeholt wirst. Ich sag meiner Mutter einfach, dass ich heute später esse.“   Ich blinzelte. Hatte ich mich verhört oder hatte Anton mir gerade angeboten, meinetwegen gegen die Wischnewskyschen Hausregeln zu verstoßen? Wollte er etwa nicht, dass ich ging? „Das ist nett, aber deine Mutter wird doch bestimmt sauer, wenn ich zu lange bleibe. Ihr esst doch pünktlich.“ „Ja, aber deine Mutter ist immer zu spät und es wäre unhöflich, dich einfach vor der Tür stehen zu lassen. Meine Mutter wird das verstehen.“   Ich bezweifelte, dass Antons Mutter das tun würde, aber zum Glück fuhr gerade in diesem Moment das kleine, rote Auto meiner Mutter vor. Vielleicht wollte sie sich ja so dafür entschuldigen, dass sie vorhin so spät dran gewesen war. „Mein Taxi ist da“, sagte ich und deutete nach draußen. „Okay“, sagte er und klang nicht enttäuscht. Er klang einfach nur nach „Information angekommen“. Manchmal hörte ich vielleicht wirklich die Flöhe husten.   Anton brachte mich noch zur Tür, wo ich meine Jacke (desinfiziert? imprägniert? chemisch gereinigt?) und Schuhe zurückbekam und beides anzog.   „Na gut, wir sehen uns dann am Montag.“, sagte ich und schnappte mir den reparierten Rechner. „Alles klar, bis dann.“   Ich verabschiedete mich noch von Antons Mutter und ging dann zum Auto, wo meine Mutter mir schon die Tür aufhielt. Ich verlud den PC und setzte mich auf den Beifahrersitz. Als meine Mutter nicht losfuhr, sah ich sie an. Sie machte ein fragendes Gesicht.   „Und?“ „Was und?“ „Na meine neue Frisur? Wie findest du sie?“ „Oh ja, sieht gut aus. Die wird Herrn Möller gefallen.“   Ich weiß nicht, warum ich das sagte, aber meine Mutter wurde doch tatsächlich zuerst blass und dann rot. Und dann fuhr sie ganz schnell los und wäre beinahe über eine rote Ampel gerast. Himmel, da hatte ich aber in ein Wespennest gestochen. Ob meine Mutter vielleicht …? Nein! Soweit ich wusste, war dieser Möller doch verheiratet. Oder etwa nicht?   Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln, konnte aber nichts Verdächtigeres feststellen als vorher schon. Stattdessen fing sie an, von Dianas letztem Arzttermin zu erzählen und dass das Baby schon einen Herzschlag habe und wie groß es sei und so weiter und so fort. Ich schaltete irgendwann geistig ab und konzentrierte mich darauf, mein Treffen mit Manuel heute Abend zu planen. Ein ganzer Abend nur mit ihm. Das würde bestimmt toll werden. Kapitel 12: Von verliebten Zombies und verpatzten Gesprächen ------------------------------------------------------------ Je näher der Samstagabend kam, desto nervöser wurde ich.   Oh, ich weiß, was ihr jetzt denkt. Man, Benedikt, du hast ein Date, ja, aber verhalt dich doch einfach so, als hättest du einen Kumpel eingeladen. Bisschen chillen und den Rest auf dich zukommen lassen. Seht ihr und genau da fing mein Problem an. Ich hatte so richtig keine Erfahrung mit so was, weil … okay, das ist jetzt ein bisschen peinlich, aber … ich hatte keine Freunde. Also klar, ich hatte Anton, aber wie wir ja schon festgestellt hatten, war der nicht so der Typ für „Pizza-und-Netflix“-Abende. Und natürlich hab ich früher nicht alleine im Sandkasten gesessen. Ich hatte das mit dem Sandförmchen-Abgeben schon ganz gut drauf im Gegensatz zu gewissen Klassenkaspern. Aber mit der Zeit wurde die Decke an Leuten, mit denen ich Zeit verbringen konnte und wollte, immer dünner.   In der Grundschule war das ja alles noch nicht so das Problem. Bei uns im Dorf gab es ein Mädchen, bei dem sich irgendwie immer alle getroffen haben. Ihr Eltern fanden das okay, die hatten einen riesigen Garten und immer ne Schüssel mit Süßigkeiten, die wir plündern durften, also alles prima. Ich war beim Fußball, in der Flötengruppe und na ja. Lief bei mir. Aber ich sag es jetzt mal so: Der Zeitraum, in der du als Junge Flöte spielen kannst, ist begrenzt. Irgendwann ist es halt nicht mehr niedlich, wenn du zusammen mit lauter Mädchen zu Weihnachten in der Kirche vor dich hin piepst. Und Fußball war irgendwann auch nicht mehr so meins. Weiß auch nicht, wieso.   Meine Mutter wollte mich dann im Jugendmusikverein anmelden wegen der Gemeinschaft und weil es ja so schade gewesen wäre, wenn ich kein weiteres Instrument mehr gespielt hätte. Leider waren die ganzen, einigermaßen coolen Instrumente bereits besetzt und ich sollte doch tatsächlich Posaune lernen. Posaune! Falls ihr Posaune spielt, entschuldigt bitte an dieser Stelle meine Meinung, aber Posaune ist einfach mal nur lahm. Saxophon oder Schlagzeug oder so hätte ich ja ganz nett gefunden, meinetwegen wäre ich auch mit nem Triangel rumgelaufen, aber Posaune? Ich wollte nicht, wirklich nicht, aber der Musiklehrer und meine Mutter haben so lange auf mich eingeredet, bis ich Ja gesagt habe. Als ich dann zur ersten Unterrichtstunde sollte, bin ich stattdessen mit dem Fahrrad in den Wald gefahren und habe mich da versteckt, bis die Zeit um war. Hinterher hab ich das meiner Mutter dann gebeichtet, sie hat angerufen und sich für mich entschuldigt und seitdem hat nie wieder einer ein Wort übers Musikmachen gesprochen. Nur auf Sport hat sie bestanden, weswegen ich jetzt einmal die Woche zum Judo gehe. Das ist ganz cool, man trifft nochmal ein paar andere Leute als in der Schule, aber wenn die Stunde vorbei ist, geh ich halt wieder allein nach Hause.   Ich war auch nie zu Geburtstagen eingeladen, wenn nicht sowieso die halbe Klasse kam. Und das war auch okay, ihr braucht jetzt also nicht die große Dose Mitleid aufzumachen. Ist ja nicht so, dass mir was gefehlt hätte. Ich kann mich super allein beschäftigen. Nur wie man einen Abend mit Besuch verbringt, davon hatte ich mal so überhaupt keine Ahnung. Wen hätte ich denn auch einladen sollen? Ein Freund war, wie gesagt, nicht vorhanden und ein Mädchen … na ich denke, das erklärt sich jetzt irgendwie von selbst. Von daher hatte ich leider keinerlei praktische Erfahrung, wie so was abläuft. Auch der große, weise Ratgeber, das Internet, schwieg sich diesbezüglich ziemlich aus. Da gab es zwar tolle Vorschläge, was Jungs mit ihren Freundinnen unternehmen konnte, was diese romantisch fanden und wie man sie beeindrucken konnte, aber wie das mit Jungs lief und was man tat, wenn man quasi im Haus festsaß, weil das obendrein auch noch keiner wissen durfte, das stand da nicht. Und genau deswegen war ich so nervös.   Zum Glück war ich nicht der Einzige, der gerade, gelinge gesagt, Panik schob. Meine Mutter verbrachte jetzt bereits anderthalb Stunden im Badezimmer und ich fand, dass sie so langsam mal fertig werden konnte, denn die Zeit, die ich Manuel genannt hatte, rückte immer näher und schließlich sollte sie zu ihrem Date ja auch nicht zu spät kommen.   Ja, ihr habt richtig gehört, Date. Ich mag ja vielleicht nicht so viel Ahnung von dem ganzen Quatsch haben, aber dass meine Mutter nicht einfach nur mit Kollegen zum Essen ging, also ich sag mal, das hatte ich inzwischen auch geschnallt. Da steckt mit ziemlicher Sicherheit dieser Möller dahinter. Mochte ja sein, dass sie in größerer Runde unterwegs waren, aber für Frau Reinhold vom Ordnungsamt machte sie sich bestimmt nicht so schick. Zumal die ungefähr 20 Jahre älter war als meine Mutter und somit kurz vor der Rente stand. Die Chancen hätten also eh denkbar schlecht gestanden.   Als ein Auto vor unserer Einfahrt hielt, brüllte ich dementsprechend nach oben: „Mama, Besuch für dich!“   Mir antwortete ein spitzer Schrei, gefolgt von der Bitte, mal eben die Tür aufzumachen, sie wäre gleich da. Also tat ich ihr den Gefallen und ging nach vorne um ihren Fahrer hereinzubitten. Als die Tür aufging, verschlug es mir allerdings kurz mal die Sprache. Da stand ein „Herr“ vor der Tür. Also tatsächlich nicht einfach ein Mann, sondern ein Herr so mit Jackett, Brille und Schnurrbart. Ein ausgewachsener Schnurrbart! Mit nach oben gezwirbelten Enden!! Hallo? Falsches Jahrhundert, Junge! „Ist deine Mutter zu Hause, junger Mann?“   Ich war kurz davor mich umzudrehen und zu gucken, mit wem er spricht. Wie alt war ich denn? Fünf? Da allerdings kam meine Mutter schon die Treppe hinuntergeschwebt. In einem Kleid! Meine Mutter trug nie Kleider, es sei denn, jemand heiratete oder war gestorben. „Ich bin schon da, Armin. Ich hol nur noch meine Tasche.“   Armin?Ich glaube, es hackt. Per du war sie also mit diesem Schnösel auch noch. Ich sagte allerdings nichts dazu, ließ noch den Sermon an Ermahnungen, die Pizza nicht anbrennen zu lassen und nicht zu spät ins Bett zu gehen, über mich ergehen und bedachte währenddessen den Schnurrbart mit finsteren Blicken. Ja, pass nur auf du! Bissiger Teenager auf 12 Uhr. Nicht mit mir hier!   „Benedikt, Schätzchen, nun schau nicht so. Ich komme auch nicht so spät heim.“ „Na, das wirst du ja wohl noch selbst entscheiden können, nicht wahr, Sabine?“   Danke, ich weiß, wie meine Mutter heißt. Aber schön, dass du es auch weißt und sie nicht aus Versehen Jutta genannt hast oder wie auch immer deine Frau heißt. Der Ehering an seiner Hand war nämlich nicht zu übersehen bei den breiten Wurstfingern.   Meine Mutter lächelte – nein strahlte – ihn an.   „Natürlich. Sollen wir dann? „Bitte nach dir.“ Meine Mutter winkte mir noch einmal zu, bevor sie sich an Armins – würg – Arm zum Auto führen ließ. Ich starrte ihnen noch eine Weile nach und beschloss, dass ich diesen Möller nicht leiden konnte. Allein wie der mich angesehen hatte. Wie etwas, das ihm unterm blank geputzten Lederschuh klebte. Vielen Dank, aber so was hätte ich bestimmt auch mit meinem echten Vater haben können. Der hatte sich ja schließlich auch nur per Vaterschaftstest und Gerichtsbeschluss überhaupt zu einer leidlichen Anerkennung meiner Person durchringen können. Wobei er wenigstens zahlte im Gegensatz zu Dianas Vater, der mehr so der Typ Lebemann gewesen war, den Schmuck meiner Mutter für seine Eskapaden versetzt hatte und am Schluss irgendwo im Ausland verschollen war. Also nein, vielen Dank, wir kamen hier gut ohne irgendwelche Männer klar, die meinten, meiner Mutter den Hof machen zu müssen.   Ich wollte mich gerade noch ein bisschen weiter echauffieren, als es plötzlich im Gebüsch neben mir raschelte. Ich schrak zusammen und stand im nächsten Augenblick einem grinsenden Manuel gegenüber. „Alter, erschreck mich doch nicht so. Sein Grinsen wurde breiter. „Warum nicht? Ich steh drauf, wenn du für mich springst.“ Ich schnaubte nur. „Sabbel nicht und komm lieber rein.“   Während er sich doch tatsächlich die Schuhe auszog – ich war begeistert! – wies er mit dem Kopf in Richtung Tür.   „Wer war das denn?“ „Der Typ? Kollege meiner Mutter. Die gehen heute Abend essen.“ „Heißt das, wir haben sturmfrei?“ „Äh … ja klar.“   Das Funkeln, das daraufhin in seine Augen trat, jagte mir einen Schauer den Nacken rauf und gleich danach wieder runter, als er mich mitten im Flur küsste. Und mir sein Knie zwischen die Beine schob, während er mich an sich zog. Ich verlor kurzzeitig die Orientierung, schloss einfach die Augen und ließ mich küssen. Küsste zurück. Erst nur Lippen, dann mit Zunge. Wow, das fühlte sich so gut an. Ich hätte das stundenlang machen können. War ich vielleicht irgendwie oral veranlagt, weil ich da so drauf abfuhr?   „Wollen wir nicht erst mal was essen?“, fragte ich, nachdem ich meine Lippen irgendwann doch wieder von seinen gelöst hatte. Am liebsten hätte ich meine Nase ganz tief an seinem Hals vergraben, aber ich musste hier dringend ein bisschen Tempo rausnehmen. Wer wusste schon, wo das nachher noch hinführte. In meinem Schritt pochte es.   „Mhm, hast du Hunger?“, schnurrte er. (Ich schwöre, anders konnte man diesen Tonfall nicht beschreiben.) „Mir wäre gerade eher nach was anderem.“   Das merkte ich, denn seine Hände bahnten sich zielstrebig ihren Weg unter meine Kleidung. Dabei waren wir noch nicht mal aus dem Flur rausgekommen. Ich beschloss, den Spieß kurzerhand umzudrehen und ließ meine Lippen seinen Kiefer entlang bis zu seinem Ohr streichen.   „Ich habe Pizza“, raunte ich möglichst verführerisch. „Mhm, ich mag es, wenn du mir so versaute Sachen sagst.“ „Wieso? Die Pizza ist doch ganz und gar ohne Schweinefleisch.“ Ich schnappte kurz nach seinem Ohrläppchen. „Magst du Thunfisch?“ „Du isst Pizza mit Katzenfutter?“ „Du nicht?“ „Nur über meine Leiche.“   Okay, da hatte ich wohl die falsche Wahl getroffen. Der Einkaufsladen hier war halt nicht eben gut sortiert und Salami mochte ich nicht.   Ich lächelte tapfer. „Tut mir leid, ich hab nur die.“ Er grinste, als er mein Gesicht sah. „War ein Witz. Thunfisch geht klar.“   Ich atmete auf. Die erste Hürde war schon mal genommen.   Während er seine Jacke auf einen der Stühle im Essbereich schmiss, machte ich mich am Backofen zu schaffen, um die Pizza reinzuschieben. Im nächsten Moment wanderten ein paar sehr interessierte Hände über meinen Hintern. „Sorry, Bambi“, tönte es hinter mir. „Du sahst einfach zu verführerisch aus. „Wolltest du nicht aufhören, mich so zu nennen?“ „Ich? Nein. Du wolltest das.“   Ich schüttelte den Kopf und brachte es doch tatsächlich fertig, die Pizza in den Ofen zu befördern, bevor er mich gegen die Küchenzeile drängte. Wir küssten uns wieder und ich war ziemlich froh, dass ich dran gedacht hatte, die Jalousien bereits runterzulassen. So konnten uns keine neugierigen Nachbarn dabei beobachten, wie wir hier hemmungslos rummachten   „Mhm“, machte er gegen meinen Hals, während seine Hand verdächtig nahe an meinem Hosenbund vorbeiglitt. „So ne Pizza dauert doch ne Weile, oder?“ „Ja, schon, aber nicht so lange.“ „Ich kann auch schnell sein.“   Oh ja, das konnte ich mir vorstellen, aber auf ne „schnelle Nummer“, wie man so schön sagte, hatte ich keine Lust, obwohl das mit der Lust schon nicht so weit hergeholt war. Ich musste mich wirklich beherrschen, um meine Hände nicht ebenso auf Wanderschaft zu schicken wie er. „Erst Essen …“, begann ich. „Dann Sex?“, unterbrach er mich sofort. Ich spürte, wie ich rot wurde. „Also das, ich, äh...“ Er lächelte. „Ich bin auch ganz vorsichtig.“   Er kam näher und küsste meinen Hals, begann daran zu saugen. Oh bitte, keinen Knutschfleck! Wie sollte ich den denn meiner Mutter erklären? Entschieden schob ich ihn von mir.   „Ich muss wirklich erst mal was essen. Mein Magen hängt mir schon in den Kniekehlen.“   Stimmte nicht. Ich hatte den ganzen Tag schon keinen richtigen Hunger gehabt. Lag vielleicht an dem komischen Tee von Antons Mutter oder so. Trotzdem war ein bisschen was im Magen sicherlich keine schlechte Idee. Und ein bisschen Abstand. Um mich abzukühlen.   „Willst du was trinken?“, fragte ich daher und holte schon mal zwei Gläser aus dem Küchenschrank. „Was hast du da?“ „Wasser, Cola und Apfelsaft.“   Er kommentierte das nicht, aber ich sah, wie seine Mundwinkel zuckten. Okay, ich gebe ja zu, die Auswahl war nicht eben prickelnd. Bisschen wie beim Kindergeburtstag. Aber was anderes hätte meine Mutter nicht abgesegnet und ich mochte Bier oder so auch nicht besonders. Außerdem war ich wir ziemlich sicher, dass das bei ihm „zu Hause“ auch verboten war, deswegen hatte ich mich gar nicht erst auf irgendwelche dummen Gedanken bringen lassen und nur alkoholfreie Sachen eingepackt.   „Und?“, hakte ich nach. „Cola. Hält wenigstens wach.“   Er zwinkerte mir zu und ich musste grinsen. Warum musste ich nur dauernd grinsen?   „Und jetzt?“, fragte er, nachdem er mir das Glas Cola abgenommen und einen winzigen Schluck getrunken hatte. Ich zuckte mit den Achseln. „Hast du Lust, einen Film zu gucken?“ „Klar. Was hast du da?“ „Wir können ja mal gucken, was es so gibt.“     Ich lotste ihn erfolgreich ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher an. Als er das Netflix-Logo aufleuchten sah, wanderten seine Augenbrauen kurz nach oben. Ich reichte ihm die Fernbedienung. „Such du was aus.“   Zwei Minuten später bereute ich die Entscheidung wieder. Manuel durchsuchte die Horrorfilme. Gerade las er sich die Beschreibung von irgendwas durch, auf der eine halbnackte Frau blutüberschmiert und schreiend durch die Gegend lief und wenn mich nicht alles täuschte, hatte der Mann da im Hintergrunde eine … nein, ich wollte es gar nicht wissen. Das Einzige, was mich tröstete, war, dass der Film ab 18 war und wir ihn somit sowieso nicht gucken konnten. Ich hätte zwar den Code raussuchen können, mit dem man die Filme freigab – ich war ja schließlich auch nicht ganz doof – aber im schlimmsten Fall würde ich das eben als Ausrede benutzen.   Der nächste Film, den er begutachtete, sah noch schlimmer aus und war ab 16. Na prima. „Ich, äh … ich bin eigentlich nicht so der Horrorfan“, wagte ich einzuwerfen. Mich traf ein amüsierter Blick. „Hast du Schiss?“ „Nein, natürlich nicht, aber … ich mag das halt nicht so.“   Irgendwie war mir das jetzt peinlich. Warum hatte ich das gesagt? Ich hätte doch einfach was nicht so Splatteriges mitbestimmen können. Mussten ja nicht gleich drei Millionen Liter Kunstblut fließen. Aber ich … okay, vielleicht hatte ich doch ein bisschen Schiss. Also nicht wirklich, aber ich fand das Meiste davon einfach nur furchtbar und eklig. Ich erinnerte mich noch lebhaft daran, wie mir Maja, unser Klassengrufti, mal ihre Lieblingsstellen aus Saw aufgezählt hatte. (Weiß der Kuckuck, wo sie die herhatte.) Ich fand’s ganz schlimm, auch wenn ihr mich jetzt deswegen auslacht. Das ist einfach nicht meins. Wirklich nicht.   „Der hier wird dir gefallen. Ist auch was Romantisches.“ „Na wenn du meinst“, entgegnete ich zögerlich und ließ zu, dass er ein bisschen näher heranrutschte und einen Film startete, dessen Titel eher nach Soft-Porno klang.   Ne gute halbe Stunde und eine Pizza später musste ich zugeben, dass der Film gar nicht so übel war. Okay, der Zombie hatte das Gehirn eines Jungen gefressen und war deswegen jetzt in dessen Freundin verknallt, aber ansonsten war das schon irgendwie witzig. Die meisten der Zombies waren auch eher dumm als gefährlich. So konnte ich das aushalten. Vor allem mit Manuel an meiner Seite.   „Ich geh mal eine rauchen“, verkündete der allerdings nach dem letzten Stück Pizza. Ich stoppte den Film und brachte die Teller in die Küche, während er nach draußen verschwand.   Unschlüssig stand ich anschließend im Flur rum. Manuel war noch nicht wieder zurück und ich wollte nicht einfach wieder ins Wohnzimmer gehen und dort auf ihn warten. Raus wollte ich aber auch nicht, weil ich mir dann hätte was überziehen müssen und das lohnte sich bestimmt nicht mehr. Also wartete ich einfach, bis er wieder reinkam. Als er mich da so stehen sah, lachte er leise. „Vermisst du mich etwa schon?“ Ich lächelte zurück. „Immer.“   Er kam näher und roch nach frischem Rauch. Das war aushaltbar.   „Wollen wir weitergucken?“, fragte ich. Er grinste und legte die Arme um mich. „Ich kann dir auch verraten, wie der Film ausgeht, dann könnten wir was anderes machen.“ „Und was?“ „Rate.“   Das war wieder dieses Magenkribbeln, als er mich an sich zog und mich küsste. Rauch und Pfefferminz.   „Du weißt, dass ich dich scharf finde, oder?“   Ich schluckte und nickte. Viel zu nah.   „Warum gehen wir dann nicht zu dir und gucken mal, wie weit wir kommen?“   Manuels Worte machten einen komischen, kleinen Knoten in meinen Magen.   „Wie meinst du das?“ „Wie meine ich was?“ „Na was meinst du mit 'wie weit wir kommen'? Womit denn?“   Er lächelte und küsste mich noch mal. „Kannst du dir das nicht denken?“ „Du willst … mit mir …?“ „Mhm-mhm.“   Seinen Lippen brachten mich ganz durcheinander. Das Ziehen wanderte aus meinem Magen eine Etage tiefer.   „Willst du nicht?“ „Doch schon. Es ist nur … ich hab doch noch nie.“ „Ich zeig’s dir. Komm schon, Bambi. Es ist keine große Wissenschaft und du wirst es mögen.“   Würde ich das? Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust. Ich … also ich wollte. Scheiße, klar wollte ich. Aber … mein Magen machte trotzdem diese Knoten bei dem Gedanken. Einen nach dem anderen.   Er knabberte an meinem Hals, leckte darüber. Das weckte Erinnerungen an seine Zunge an ganz anderer Stelle. Hart war ich sowieso schon und so wie ich das beurteilte, musste Manuel das spüren. Ich spürte das bei ihm nämlich auch. Gleichzeitig kam ich mir echt bescheuert vor, wie ich da so rumzickte. Er fand mich scharf, er wollte … mit mir schlafen. Der Gedanken gefiel gewissen Körperteilen von mir. Sollte ich es da nicht einfach tun? Ich war doch schließlich kein Mädchen, das man erst noch bequatschen musste, damit man ihr mal an die Brust fassen durfte. Über die Stufe waren wir obendrein schon hinaus. Ich hatte sogar Kondome gekauft. Es konnte also quasi nichts schiefgehen. Warum also machte ich dann nicht einfach mit?   „Weißt du, ich würde lieber warten, bis wir uns noch ein bisschen besser kennengelernt haben.“   Feigling!   Manuel schnaufte, rückte von mir ab und musterte mich.   „Wirklich jetzt, Bambi?“ „Ja, ich … ich wüsste gerne noch ein bisschen mehr über dich. Wo du herkommst, was du so machst und so.“ „Und das ist interessant warum?“ „Na weil …“   Ich fühlte mich ein bisschen überfordert von der Frage. Er seufzte.   „Vielleicht geh ich besser wieder.“ „Nein, ich … bleib doch noch.“ „Also hast du doch Lust?“ Ich sah ihn an. „Ich … ich hab Lust, okay? Sehr sogar. Aber ich würde halt gerne …“ Plötzlich lachte er. „Du hast Schiss.“   Na toll, jetzt lachte er mich schon wieder aus. Ich war wirklich eine Memme.   „Ich hab keinen Schiss, aber ich will heute noch nicht mit dir schlafen, okay?“ „Noch nicht?“ „Nein, noch nicht. Aber …“, ich zog ihn näher an mich, „wir können gerne was anderes machen, wenn du möchtest.“ „Ich bin ganz Ohr.“     Gut, die Ohren waren vielleicht auch ein bisschen an der Sache beteiligt, aber eigentlich hatten wir eher andere Körperteile eingesetzt, bevor wir beide hinterher nackt zusammen in meinem Bett lagen. Dieses Mal waren wir beide gekommen und er hatte meinen Schwanz sogar nochmal in den Mund genommen. Ich stand total drauf, wenn er das tat. Meinetwegen dreimal am Tag. Natürlich hatte ich mich revanchiert und jetzt lagen wir Arm in Arm da, Manuels Kopf an meiner Schulter, sein Bein zwischen meinen Beinen, sein Arm über meiner Brust.   „Dir sei übrigens verziehen“, brummelte er und gähnte. „Verziehen? Was denn?“ „Dass du mich immer noch nicht ranlässt. Dafür bläst du wirklich gut.“ „Ich, äh, danke“, murmelte ich. „Ich mach das gerne.“ „Mhm, merkt man.“ Er gähnte nochmal. „Ich muss noch mal eine rauchen. Kann ich hier?“ „Ich weiß nicht. Meine Mutter dreht durch, wenn sie das riecht.“   Er schnaufte und machte Anstalten, sich aus dem Bett zu rollen. Ich hielt ihn fest und zog ihn an mich.   „Willst du jetzt wirklich da raus?“, fragte ich und nickte mit dem Kopf Richtung Rollo. „Kannst mich ja hier rauchen lassen. Wenn wir das Fenster aufmachen?“   Ich überlegte. Wenn ich hinterher gut lüftete, würde es wohl gehen, oder? Meine Mutter würde, wenn sie heimkam, schon nicht in mein Zimmer kommen, und bis Morgen früh hatte sich der Rauch bestimmt verzogen.   „Na gut, aber nur am Fenster. „Klasse, Bambi. Bist der Beste.“   Er drückte mir noch einen Kuss auf den Mund, bevor er sich seine Zigaretten schnappte und Anstalten machte, das Fenster zu öffnen.   „Halt, zieh dir erst was an.“ „Wieso? Ich dachte, du stehst drauf, wenn ich nix anhabe.“   Er grinste und reckte sich und ich … ich starrte. Auf so ziemlich alles, aber besonders auf seinen Bauch und … naja, das da drunter. Er war auch in dem Zustand nett anzusehen, fand ich.   „Wie kriegt man eigentlich solche Bauchmuskeln?“ „Training?“, schlug er lachend vor. „Schon klar, aber wo trainierst du? Studio oder wie?“   Er zog sich die Hose über, öffnete das Fenster, steckte die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.   „Studio lassen die mich noch nicht rein. Ich mach einfach so Übungen. Sit-Ups, bisschen Hanteltrainig. Das … entspannt.“ „Mhm, kenne ich. Also das Entspannen beim Sport. Ich geh einmal die Woche zum Judo.“ „Ach echt? Ich hab mal Kickboxen gemacht. Musste dann aber aufhören.“   Ich beobachtete ihn, wie er da so am Fenster stand. Er schien gut drauf zu sein, also vielleicht …   „Warum musstest du aufhören?“ Er zuckte mit den Schultern. „Hatte keinen Bock mehr.“   Ich runzelte die Stirn. So ganz glaubte ich ihm das nicht. Er hatte doch gesagt, dass er aufhören musste.   „Wegen des Umzugs?“, fragte ich daher. Er sah mich fragend an. „Dass du aufgehört hast.“ „Ja genau.“   Okay, er wollte also nicht damit rausrücken, was bei ihm los war. Aber wie lange sollten wir das Spiel denn bitte noch spielen? Ich kam mir blöd vor, weiter so zu tun, als wenn ich von nichts wusste. Ich warf noch einen Blick auf ihn, nahm meinen ganzen Mut zusammen, und … „Du, Manuel, hör mal, ich … ich weiß, wo du wohnst. Meine Mutter hat mir von dem Wohnheim erzählt.“   Ich sah, wie sich sein Körper leicht versteifte, bevor er den nächsten Zug aus seiner Zigarette nahm. „Ach ja? Hat ja lange gedauert.“ Er sah mich nicht an. „Ich … du … du musst dich deswegen nicht schämen.“ „Schämen?“ Er fuhr herum und funkelte mich an. „Wer sagt, dass ich mich dafür schäme? Du bist doch derjenige, der alles vor Mami geheimhalten will.“ „Ja, weil sie mir verboten hat, mit jemandem … mit euch …“   Ich spürte förmlich, wie das Eis unter mir nachgab.   Er lächelte, aber es war kein nettes Lächeln. „Mit jemandem wie mir. Sag’s ruhig, Bambi. Mit so ’nem asozialen Schmarotzer, der sich auf Staatskosten ein schönes Leben macht. Ich weiß nämlich auch einiges über dich. Unter anderem, dass deine Mutter sich hier auf dem Amt den Hintern breitsitzt.“ „Das stimmt doch gar nicht.“ „Ach nein? Ich hab den Typ erkannt, der sie abgeholt hat. Das ist der, der Jens so einen Stress gemacht hat. Als wär’s sein Geld, der Arsch.“   Er nahm noch einen Zug aus seiner Zigarette und schmiss den Rest in hohem Bogen raus in den Garten. Danach sah er mich voller Abscheu an. „Weißt du, ich hätt’s wissen müssen, dass so ein reiches Bonzensöhnchen wie du nichts für mich ist. Wahrscheinlich muss ich dir deinen Arsch erst noch mit Goldstaub pudern, damit wir ficken können. Aber weißt du was, das ist mir zu blöd. Ich hau ab.“ „Aber ich hab doch gar nichts gesagt.“ „Brauchst du auch nicht. Dein Blick hat vollkommen gereicht. Spar dir dein Scheißmitleid für jemand anderen auf.“   Er riss seine Pullover vom Boden, zog ihn grob über den Kopf und funkelte mich noch ein letztes Mal an.   „Du weißt nichts über mich, Bambi, und das wird auch so bleiben. Ich such mir wen anders, der mich nicht so zutextet und über seine Gefühle reden will und so ne Scheiße.“   Ich wusste in dem Moment nicht, was ich sagen sollte. Ich war wie gelähmt und erst, als die Haustür hinter ihm zukrachte, erwachte ich aus meiner Starre. Ich lief zur Tür, aber auf dem Weg wurde mir bewusst, dass ich immer noch nackt war. Ich blieb stehen und starrte unseren Flur entlang, bis ich mich langsam umdrehte und wieder zurück in mein Zimmer ging.   Hier war noch alles zerwühlt; das Bett, das bestimmt nach Manuel roch, meine Sachen auf dem Boden, das offene Fenster, durch das kühle Nachtluft hereinwehte und langsam den Zigarettenrauch vertrieb. Wie in Trance griff ich nach Shirt und Boxer, zog beides über und ging dann zurück ins Wohnzimmer. Dort lief immer noch der Film, den wir vorhin angefangen hatten, im Standbild. Zwei Gläser auf dem Tisch, Pizzakrümel auf dem Boden. Ich schob sie mit dem Fuß zur Seite, als ich mich aufs Sofa fallen ließ und einfach die Playtaste drückte. Der Zombie fing wieder an, seiner großen Liebe hinterherzuschlurfen, von der keiner seiner Zombiefreunde was wissen durfte, damit sie sie nicht auffraßen, und ich sah ihm dabei zu, wie er wieder zu einem normalen Menschen wurde, sich von ihrem Vater ne Kugel fing und am Ende trotzdem das Mädchen bekam. Erst als die Credits über den Bildschirm liefen, merkte ich, dass meine Augen feucht waren. Da sah man es mal wieder. Sogar Zombies kriegten das mit der Liebe besser hin als ich. Was für ne verdammte Scheiße. Kapitel 13: Von sinnlosen Tagen und halbstarken Affen ----------------------------------------------------- Gestern Abend war ich noch neidisch auf einen Zombie. Heute Morgen lief ich selbst wie einer herum, nachdem ich mich die halbe Nacht schlaflos herumgewälzt hatte. Ich … weiß auch nicht. Der ganze Tag erschien irgendwie so sinnlos.   Zum Glück war meine Mutter auch erst ziemlich spät und ziemlich angeschickert nach Hause gekommen und schlief daher heute lange, sodass ich meine Ruhe hatte. Ich stand auf, machte mir einen Marmeladentoast und starrte ohne davon zu essen aus dem Fenster, wo sich ein so gar nicht zu meiner Stimmung passender, warmer Frühlingstag ausbreitete. Perfekt für eine Verabredung im Freien. Bisschen Reden, bisschen Spazierengehen, bisschen … Knutschen. Scheiße. Ich vermisste ihn. Ich vermisste das Gefühl, das ich hatte, wenn ich mit ihm zusammen war. Ich wusste, dass ich Mist gebaut hatte, und hielt deswegen ungefähr zwei Dutzend mal mein Handy in der Hand, um ihm zu schreiben, dass es mir leidtat. Dass ich das so nicht gemeint hatte. Dass es mir egal war, wo er herkam und dass ich ihn wiedersehen wollte. Doch dann löschte ich die Nachricht jedes Mal wieder. Die vielen Worte und Buchstaben, die wenigen Worte und die Smileys. Einfach alles. Ab und an sah ich auf seine Statusanzeige, ob er mal online gewesen war, aber da war nicht viel zu sehen. Was er wohl tat? „Hey Schatz, du bist ja schon wach.“   Meine Mutter war die Treppe heruntergekommen und sah aus, als könnte sie einen Kaffee und eine Dusche vertragen. Verrückt. Meine Mutter ging aus und machte Party und ich saß zu Hause rum und blies Trübsal.   „Und?“, fragte sie, während sie in der Küche herumrumorte. „War dein Abend schön?“ „Ja, alles prima, Mama.“   Hoffentlich bohrte sie nicht noch weiter nach. Am besten trat ich gleich die Flucht an, bevor ihr noch einfiel, nach Einzelheiten zu fragen. Oder mir welche von ihrem Abend zu erzählen. Mit Armin!   „Ich … ich will gleich noch ein bisschen rausgehen.“ Sie lächelte. „Mach das. Soll ich uns zum Mittag was kochen?“ „Nein, brauchst du nicht. Ich nehm mir einen Apfel mit.“   Ich ging nach vorne, zog meine Turnschuhe an, steckte einen Schlüssel ein und verließ das Haus. Draußen schlug mir die Natur ihre Lebensfreude um die Ohren. Sonnenschein, Vogelzwitschern und der Geruch von Raps, der von den Feldern über das Land geweht wurde. Dieses süße, schwere Aroma, das so typisch für die Jahreszeit war. Wenn es nach Raps roch, war der Sommer nicht mehr weit. Nur in mir … in mir war irgendwie eher Herbst oder vielleicht sogar Winter.   Ich atmete tief durch, nahm mir mein Rad und schwang mich in den Sattel. Einfach rumfahren, nicht mehr nachdenken. Nicht drüber nachdenken, dass in dem Haus, an dem ich rein zufällig vorbeifuhr, wahrscheinlich Manuel in seinem Zimmer saß oder lag und was auch immer machte. Ohne mich. Ob er da wohl Besuch kriegen durfte? Wie es ihm wohl ging? Und wann genau hatte ich angehalten, um hier wie ein komischer Stalker in der Gegend rumzustehen?   Von der anderen Straßenseite aus starrte ich auf das langgestreckte Gebäude mit dem gelben Klinker, den weißen Sprossenfenster, dem tiefhängenden Dach und der hellblauen Haustür. Ein Schild, das auswies, wer hier wohnte, gab es nicht. Ob es wohl noch mehr Bewohner gab? Wie lief so was ab? Wie so ne Art WG nur mit Betreuern? Ich hätt’s gerne gewusst. Wäre am liebsten rübergegangen durch den unordentlichen Vorgarten hinter dem bröckelnden Friesenwall und hätte mal geklingelt. Aber natürlich traute ich mich das nicht. Zumal Manuel ja deutlich genug gewesen war. Er wollte das nicht. Ich sollte mich raushalten aus seinem Leben. Er wollte mit mir schlafen und …   Ich unterbrach mich gedanklich. Er wollte nicht mit mir schlafen, er wollte mich ficken. Das hatte er selber gesagt. Und solange es in diese Richtung ging war er süß und charmant, aber wenn ich nicht mitmachte, verlor er das Interesse. Er lachte mich aus, machte sich über mich lustig, gab mir ständig das Gefühl total dumm zu sein.   Abrupt wandte ich mich ab, stieg wieder auf das Rad und begann zu fahren. Was bildete der sich eigentlich ein? Dass ich nur dafür da war, dass er was zum Poppen hatte? Ich war mitnichten der „Bonze“, für den er mich hielt, aber die Mühe das herauszufinden, hatte er sich ja gar nicht gemacht. Er hatte mich einfach in eine Schublade gesteckt, die ihm bequem erschien. Unwillkürlich begann ich, schneller in die Pedale zu treten. Und bei dem Arsch hätte ich mich fast entschuldigt.   Plötzlich ging ich scharf in die Bremsen, zerrte mein Handy hervor und rief meine Kontakte auf. Ich würde ihn jetzt hier gleich einfach aus meinem Leben löschen. Der Kerl war es doch gar nicht wert, dass ich ihm nachtrauerte. Ich kannte ihn ja kaum und das Einzige, was wir gemacht hatten, war uns gegenseitig an die Wäsche zu gehen. Das konnte ich doch mit jedem haben. Ich … ich ließ das Handy wieder sinken. Nein, konnte ich eben nicht. Und wollte ich auch gar nicht. Es war schön gewesen und ich wollte das wieder haben. Ich wollte ihn wiederhaben.   Langsam schloss ich die Augen. Das wurde so nichts. Ich musste aufhören, darüber nachzudenken. Also steckte ich das Handy weg, stieg wieder auf mein Rad und schlug den Weg zwischen die Felder ein. Vielleicht würde ich mal die Runde über die Dörfer machen. Da war ich ein paar Stunden unterwegs. Meine Mutter würde mich schon nicht vermissen und wenn ich wiederkam, würde ich Hausaufgaben machen, zu Abend essen, vielleicht noch einen Film gucken und dann schlafen gehen. Sonntag überstanden. Blieb nur noch der Rest meines Lebens, den ich irgendwie rumbringen musste, aber das würde schon gehen. Irgendwie. Hoffentlich.     Ich überstand den Sonntag tatsächlich. Sogar die aufgewärmten Kartoffeln am Abend, weil meine Mutter beschlossen hatte, dass es Zeit wurde, die Reste zu verwerten und sich das Neukochen deswegen gespart hatte. Ich überstand den restlichen Abend und die Versuche meiner Mutter, mich zum gemeinsamen Filmgucken zu überreden, die ich erfolgreich abwehrte und mich in meinem Zimmer verkroch. Ich überstand die Nacht, in der ich allem möglichen Mist träumte, und den Montagmorgen, der wie durch zähen Sirup gezogen schien. Ich überstand die ersten zwei Stunden und die große Pause, in der ich mich in eine Ecke verzog und mir Kopfhörer in die Ohren stopfte, um die Welt auszublenden. Es war erstaunlich, wie oft man „Numb“ in Dauerschleife hören und sich mit jedem Mal mehr so fühlen konnte, als wenn das Lied nur für einen selbst geschrieben worden wäre.   Als es zur dritten Stunde klingelte, stand ich auf wie alle anderen. Ich ging die Treppe rauf und rauf und rauf. Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen. Als ich oben ankam, war ich trotzdem irgendwie der Letzte. Im Gang lungerte bereits die Meute herum und wartete darauf, dass der Klassenraum wieder aufgeschlossen wurde. Lauter Arschlöcher, die ihre Füße in den Gang streckten, als gehöre ihnen die Welt. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre wieder gegangen.   „Hey, alles klar bei dir?“   Die Stimme riss mich aus meiner Lethargie. Mia-Marie sah mich fragend an. Anscheinend war ich doch nicht der Letzte, denn sie stand neben mir auf dem Treppenabsatz und atmete ein bisschen schwer. „Ja, alles bestens.“ Was sollte ich auch sonst sagen? Die Wahrheit wohl kaum.   „Na dann hör auf so zu gucken. Immerhin haben wir jetzt dein Lieblingsfach.“   Das stimmte. Mathe stand an und das war … einfach. Im Gegensatz zu dieser dämlichen Liebesgeschichte. Dort war leider nicht jede Gleichung eindeutig lösbar. Zu viele Variablen, zu viele Unbekannte. Kacke!   Ich gab mir einen mentalen Tritt und ging hinter Mia-Marie her. Herr Schrader war inzwischen aufgetaucht, sodass ich mich einfach hinten anstellen und mich mit dem Strom treiben lassen konnte. Zumindest so lange, bis sich ein Fuß vor meinen schob und mich beinahe zu Fall brachte. Ich rempelte meinen Vordermann an und bemühte mich nicht mal mehr, mich zu entschuldigen. Stattdessen fuhr ich wütend zu Oliver herum. „Sag mal, hast du sie noch alle, du Penner?“   Er antwortete nicht, sondern grinste mich nur an. Überheblich und arschig wie immer. Und ich … ich wurde wütend. So wütend wie schon lange nicht mehr. Bevor ich es mir richtig überlegt hatte, hatte ich schon die Arme ausgestreckt und ihn geschubst. Hart. So hart, dass er durch den Gang rückwärts taumelte und unsanft mit der Wand kollidierte. Sein Versuch sich abzufangen wurde von weißem Rauhputz begrüßt. Tat bestimmt scheiße weh. Gut so! „Ey, geht’s noch?“, fauchte er sofort. Ballte die Fäuste, wollte sich auf mich stürzen, aber ich überlegte gar nicht. Bevor er wusste, wie ihm geschah, lag er auf dem Boden und ich auf ihm drauf. Ich verdrehte ihm den Arm. Er schrie und dann zerrte mich auch schon jemand von ihm runter. Als ich den Kopf hob, blickte ich in das Gesicht meines Mathelehrers. Er sagte irgendwas, von dem ich nur die Hälfte mitbekam. Ich war zu sehr damit beschäftigt, das Blut in meinen Ohren pulsieren zu hören.   „… das noch mal passiert, werde ich das melden.“   Der Rausch des Adrenalins ließ langsam nach und ich bekam endlich wieder mit, was um mich herum passierte. Der reichlich derangierte Oliver, der mich ansah, als würde er mich am liebsten erwürgen, mein Lehrer, der maßlos enttäuscht wirkte, die Gesichter der anderen, die ihre Neugier durch die Klassentür herausquellen ließen, und schließlich ein Paar sturmblauer Augen, die mich musterten mit einem Ausdruck, den ich nicht so recht zu deuten wusste. Scheiße, wieso hatte ausgerechnet er das mitbekommen müssen? Ich sah zu Boden. „Du entschuldigst dich jetzt bei Oliver.“ Ich ließ den Kopf noch tiefer hängen. „Tut mir leid.“   Damit schien die Sache erledigt, auch wenn Herr Schrader es für angebracht hielt, Oliver und mich ausnahmsweise mal nicht nebeneinander zu setzen, sondern ihm Leons Platz gab, der heute fehlte. Er saß somit direkt neben Jo, sodass ich meine beiden Lieblingsarschlöcher jetzt gleichzeitig im Blick hatte, die zu allem Überfluss auch noch anfingen miteinander zu tuscheln. Na prima.   „Er hat’s verdient.“ Anton schob seine Brille nach oben und schlug sein Heft auf. Ich seufzte und folgte seinem Beispiel. Kurvendiskussion die 873. Ich rechnete mechanisch und kam nicht umhin zu denken, dass ne Wiederholung in Stochastik vielleicht ganz gut gewesen wäre. Dann hätte ich berechnen können, mit welcher Wahrscheinlichkeit ich mein Leben noch weiter gegen die Wand fahren konnte. Vielleicht sollte ich doch damit aufhören, schwul zu sein. Mir ne Freundin suchen und einfach nicht mehr auf Jungs stehen. Bei Mädchen hatte ich wenigstens eine Entschuldigung, wenn ich sie nicht verstand. Daran waren schließlich schon Generationen von Männern gescheitert, einer mehr oder weniger fiel da bestimmt gar nicht auf.     „Hey T, wollen wir heute Abend ins Kino. Montags ist der Eintritt billiger.“ „Nö, hab schon was vor.“   Die viel zu nahe Stimme ließ mich zusammenzucken. Wir hatten Sport? Wann war das denn passiert? Und wann zum Geier hatte ich mich direkt neben T gestellt zum Umziehen? Das war etwas, das ich nach Möglichkeit dringend zu vermeiden versuchte, weil … na deswegen halt. Aus der Ferne ein bisschen spannen, war vielleicht moralisch nicht ganz einwandfrei, aber ja immerhin nichts, was ihm wehtat, wenn er es nicht merkte. Jetzt jedoch stand er direkt neben mir und zog sich sein Shirt über den Kopf. Sein nackter Rücken zum Greifen nahe. Ich hätte mich nicht mal großartig strecken müssen, um ihn anzufassen. Meine Augen folgten der Linie seiner Wirbelsäule bis zum Ansatz seiner Jeans, die er in diesem Moment begann, über seinen Hintern zu schieben. Seine enganliegenden Shorts rutschten dabei ein Stück weit nach unten, sodass ...   Ich schluckte und drehte mich eilig weg. So viel zu meinem schönen Plan, nicht mehr schwul zu sein. Das würde wohl nicht funktionieren. So gar nicht. Ich stand nun mal auf Männer und würde mich da durchwurschteln müssen, ob mir das nun passte oder nicht. Nur wie das funktionieren sollte, war mir schleierhaft, wenn ich schon bei der ersten Aussicht auf richtigen Sex den Schwanz einzog und noch dazu meinen Vielleicht-Beinahe-Freund beim ersten Date in die Flucht schlug.   „Hey, Benedikt, nicht träumen.“   Der Satz traf mich zusammen mit einem Rempler gegen meinen Rücken. Als ich mich umsah, grinste T mich an, während er zum Ausgang der Kabine ging. „Pass bloß auf“, tönte Jo von weiter hinten. „Der haut dich sonst auch noch um.“ „Kann er ja gerne mal versuchen“ gab T nicht im Geringsten beeindruckt zurück.   Die anderen lachten und folgten ihm nach und irgendwie blieb ich am Ende allein in der Kabine zurück. In meiner Kehle saß so ein dummer, fetter Kloß, der da einfach nicht weggehen wollte. Warum war das für die anderen immer alles so einfach? Von denen schien sich keiner darum Gedanken zu machen, wie er wohl rüberkam. Andererseits war von denen auch keiner schwul. Die machten einfach, würde schon richtig sein.   Ich atmete noch einmal tief durch und zog mich endlich auch um. Nicht, dass ich noch einen Eintrag ins Klassenbuch bekam. Zwei an einem Tag mussten nun wirklich nicht sein.     „Hey, Benedikt, steht da nicht so rum. Geh mal ran“, schnauzte Herr Jansen, als ich schon wieder einen Ball durchgelassen hatte, der in diesem Moment durch das orange Rund des Basketballkorbs schlüpfte „An Sandra?“, kicherte Mia-Sophie und ihr Hofstaat lachte dazu.   Ich kniff die Lippen zusammen und tat so, als hätte ich das nicht gehört. Ja, okay, vielleicht hatte ich ein bisschen mehr Hemmungen gehabt, weil Sandra den Ball geworfen hatte. Was Sandra vermutlich genauso ankotzte wie unseren Sportlehrer und meine Mannschaftskameraden, wenngleich auch aus anderen Gründen.   „Ich bin nicht aus Zucker“, meinte sie jetzt nämlich mit einem abschätzigen Blick, während sie zurücklief, um sich für die Verteidigung aufzustellen.   Man, was sollte ich denn machen? Ich hatte heute schon mal meine körperliche Überlegenheit ausgespielt und obwohl ja sogar Anton der Meinung war, dass Oliver das mehr als verdient hatte, war das nun mal scheiße. Aber anscheinend wurde mehr oder weniger erwartet, dass ich genau das tat um zu gewinnen. Um zu bekommen, was ich wollte. Selbst wenn ich nicht mal wirklich wusste, was das eigentlich war. „Na los, sei nicht so ne Memme“, rief jetzt Jo, den ich dankenswerterweise mal wieder in meiner Mannschaft hatte. So ein Glück aber auch. „Vielleicht sollten wir ihm lieber ein Röckchen und ein Paar Pompoms besorgen. Dann kann er uns anfeuern.“   Ich versuchte, auch Oliver zu ignorieren. Der hatte schon wieder die ganz große Klappe. Und ich fühlte schon wieder das Bedürfnis in mir aufsteigen, ihm genau da reinzuschlagen. Aber Gewalt war keine Lösung, das wusste ich selber. Zumal es auch nicht besonders gut zu funktionieren schien. „Oh, jetzt heult er gleich“, machte Oliver weiter. Er breitete die Arme aus. „Willst du auf den Arm?“ „Ieh, bist du schwul oder was?“, lachte Jo auf und kassierte dafür von Oliver eine Faustschlag gegen den Oberarm. Fehlte nur noch, dass sie sich wie die Gorillas gegen die Brust schlugen und Uh-Uh-Rufe von sich gaben.   Unwillkürlich sah ich mich nach T um. Der hatte sich schon mit dem Ball in Position gestellt, um den Einwurf zu machen, und sah ziemlich ungeduldig aus, weil Jo und Oliver nicht aufpassten. Oder ging ihm dieses Gehabe auch auf den Sack?   „Hey, wird das heute noch was mit euch?“, rief er und hob auffordernd den Ball. „Wir wollen weiterspielen.“   Sofort gehorchten die beiden Halbaffen und gingen auf ihre Plätze. Er war halt eben doch der Boss und somit unter Garantie nicht schwul. Da musste ich mich anderswo umsehen.     Meine Hoffnung, Manuel im Bus zu sehen, wurde leider nicht erfüllt. Das ließ mir genug Zeit, mich in meinem Französischtext zu vergraben, um mein Gehirn mit genug Futter von dummen Gedanken abzulenken. Wir hatten doch tatsächlich ein Stück ausgewählt, in dem es um sprechende Bücher ging. Ich hatte auch eine Rolle bekommen. Die Mädchen hatten beschlossen, dass das „Buch der Beleidigungen und Kraftausdrücke“ unbedingt von mir verkörpert werden musste. Im Klartext hieß das, dass ich nur drei Sätze zu sagen hatte, die zur Hälfte aus „Scheiße“ bestand, und dann für den Rest des Stücks nur noch dekorativ aussehen musste. War mir sehr recht. Ich hatte schon fast befürchtet, dass mich jemand für den Gedichtband vorschlagen würde, der dem Geographiebuch – gespielt von „nur Mia“ – am Ende lieblich ins Ohr säuselte. Mal ehrlich, dann hätte ich mich auch gleich outen können.   Zu Hause erwartete mich ein leeres Haus. Das war normal und jeden Montag so, aber heute fuchste mich das irgendwie. Ich wollte nicht alleine sein. Während ich an meinem Käsebrot herummümmelte, das ich mir mangels anderen Aufschnitts geschmiert hatte, holte ich mal wieder mein Handy heraus. Manuel war zwischendurch online gewesen. Ob ich ihm doch einfach mal schreiben sollte? Ihn fragen, ob er vorbeikommen wollte? Aber was dann? Wir konnten ja schlecht einfach da weitermachen, wo wir aufgehört hatten, selbst wenn er sich inzwischen vielleicht wieder beruhigt hatte. Und gesetzt dem Fall, dass wir geklärt kriegten, dass es mir völlig egal war, wo er herkam und wie verkorkst seine Familienverhältnisse waren, war da immer noch die Sache, dass ich meiner Mutter noch nicht gesagt hatte, dass ich schwul war. Und sogar wenn sie das einigermaßen auffassen würde – was ich bezweifelte – würde sie es wohl kaum gutheißen, dass ich mich ausgerechnet mit Manuel traf. Die einzige Möglichkeit, mit ihm zusammenzusein, war also, es weiter geheimzuhalten. Und das würde mir garantiert irgendwann um die Ohren fliegen. Vielleicht war es doch einfach eine Schnapsidee gewesen, mich auf ihn einzulassen. Eigentlich hatte er mir ja nicht einmal besonders gut gefallen. Allein dieser lächerliche Bartverschnitt.   Sagte der Fuchs, dem die Trauben zu hoch hingen, höhnte eine Stimme in meinem Kopf. Ich fauchte sie an, ruhig zu sein. Zu hoch hängende Trauben waren anscheinend mein Schicksal. Entweder verliebte ich mich in Traumtypen, die hetero waren und somit unerreichbar, oder in irgendwelche Problemkerle, die nur mit mir pimpern wollten. Wobei letzteres ja so ganz nett war, aber halt irgendwie doch nicht alles, oder? War das jetzt schwul oder Mädchen oder ganz normal, dass man mehr wollte als das?   „Irgendwann werde ich das hoffentlich noch rausfinden“, murmelte ich und brachte das Käsebrot zurück in die Küche. Mir war bei dem ganzen Gedenke der Appetit vergangen. Kapitel 14: Von leeren Köpfen und hohlen Nüssen ----------------------------------------------- Wer hat eigentlich Kunstunterricht erfunden? Nein wirklich, wer war das? Irgendeiner von euch? Der soll sich warm anziehen, ich komm ihm da gleich mal rüber. Also nachdem mir irgendwas eingefallen ist, was ich in dieses dämliche Bild zeichnen kann, dessen Überschrift so superkreativ „Ich“ lautet.   Verstohlen sah ich zu Anton rüber, der doch tatsächlich was zeichnete. Wenn ich hätte raten müssen, waren das Modellflugzeuge, die um einen Turm aus Computern kreisten. So wie bei King Kong. Hey, das war witzig. Ich stieß ihn an und erntete ein gemotztes „Pass doch auf!“ Ich glaube, er hatte echt nicht kapiert, dass ich das mit Absicht gemacht hatte.   „Total cool“, sagte ich und deutete auf seine Zeichnung. Er schob die Brille nach oben, musterte für einen Augenblick mein Blatt und meinte dann nüchtern: „Du hast noch gar nicht angefangen.“ „Ach was“, giftete ich zurück und ließ ihn mit seinem tollen Bild wieder allein.   Statt zu arbeiten, guckte ich aus dem Fenster. Draußen regnete es schon wieder. Dieser dumme Spruch mit dem Wetter im April schien tatsächlich zu stimmen. Vielleicht sollte ich einfach Regentropfen in den Umriss meines Kopfes auf dem Blatt malen, der immer noch total leer war. Die Aufgabe? Ich sollte da was reinzeichnen, das mich beschrieb oder mir wichtig war. Ich hatte nur leider so gar keinen Plan, was das sein sollte.   Was war das überhaupt für ein beknacktes Projekt? Normal war das mit der Kunst und mir ganz einfach. Ich kriegte ne Aufgabe, bemühte mich, bekam ne ausreichende Punktzahl und mit Chance noch einen Ausführungspunkt obendrauf, weil ich rechtzeitig fertig geworden war. Mag ja sein, dass einige Eltern tatsächlich Mappen mit den Werken ihrer Sprösslinge hatten, die sie da drin für alle Ewigkeit konservierten oder so. Meine Mappe war groß und blau und wurde alle 14 Tage abgeholt. Nein wirklich. Ich hatte im Kunstunterricht noch nie etwas produziert, das sich aufzuheben lohnte, auch wenn meine Mutter das natürlich früher von irgendwelchen windschiefen Aschenbechern (sie rauchte nicht) oder Makramee-Schlüsselanhängern (hatten sich beim ersten Regen in ihre Bestandteile aufgelöst) behauptet hat. Sie hat auch immer brav geraten, was das Ding, das aussah wie ein geplatztes Sofakissen, wohl für ein Tier war. Muss man wohl als Mutter.   Die einzige Ausnahme davon war das Stillleben, das wir letztes Jahr kurz vor Weihnachten hatten zeichnen müssen. So Mandeln und Nüsse und ein Tannenzweig bisschen nett hingelegt, damit es nach was aussah. Das war tatsächlich ganz gut geworden und sogar in den Gängen vor den Chemieräumen ausgestellt worden. Ich bin da immer mal langgegangen, um mir anzugucken, dass da wirklich was von mir in nem Rahmen hängt. Ja, auch als es da nach Buttersäure gestunken hat. Für ne gewisse Zeit kann man schließlich durch den Mund atmen. Natürlich hingen da noch mehr solcher Bilder; die meisten waren von irgendwelchen Mädchen, weil die eh immer bessere Kunstnoten hatten. Aber meins hing da halt auch und das war … ich weiß auch nicht. Cool halt. Ach ist ja auch egal.   Zurück zu der beknackten Aufgabe, was über mich in diesen Kopf reinzumalen. Ich hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Ich hätte es natürlich so wie Anton machen und ein Buch zeichnen können. Viele Bücher, einen ganzen Haufen, und obendrauf einen Höhlenmenschen, der sich an seinem Hintern kratzte (weil pornographische Bilder von vorne bestimmt nicht erlaubt waren). Gepasst hätte es. Aber erstens sah das dann aus wie Antons Bild und zweitens konnte ich keine Menschen malen … zeichnen … whatever.   Frau Poel, unsere Kunstlehrerin, ging gerade durch die Reihen und guckte sich an, was wir so machten. Noch war sie am anderen Ende des Raumes, aber bis sie hier war, sollte ich wenigstens irgendwas angefangen haben. Der Druck regte mich auf und ich merkte, wie sich meine Finger fester um meinen Bleistift schlossen. Weil ich diese blöde Aufgabe nicht hinkriegte. Weil ich wusste, dass sie nach diesem dummen Stillleben neuerdings Wunder was von mir erwartete. Weil ich in diesem dämlichen Kunstraum mit diesem beschissenen, leeren Blatt festsaß, statt nach der sechsten mit dem Bus nach Hause fahren zu können und mit Chance dabei auf Manuel zu treffen. Weil ich immer noch nicht wusste, was ich ihm sagen sollte. Und weil ich heute nach dieser ganzen Kacke auch noch Judo hatte. Ich hatte keinen Bock. So gar keinen.   Irgendwann fing ich an, Blumen zu malen. So kleine Blüten immer mit fünf Blütenblättern. Eine ganze Menge davon und als ich genug hatte, bastelte ich irgendwie einen Ast dazwischen. Jetzt sah es aus wie ein …   „Ist das ein Kirschbaum?“ Frau Poel stand auf einmal hinter mir. Ich schrak zusammen und verbockte das letzte Ende des Astes. Egal, kam da halt noch ne Blüte dran.   „Ähm...ja?“, antwortete ich etwas verspätet und so gar nicht aussagekräftig. Man, wieso musste ich bei Kirschbaum nur gleich wieder an Manuel denken? Blöder Sack!   „Und was willst du damit aussagen?“   „Dass mal jemand seine Kirsche pflücken soll“, krähte es irgendwo hinter mir und ich wusste genau, dass das von Jo kam, dem Blödarsch. Der sollte nur ruhig sein. Schließlich sah sein Kopf aus wie ein riesiger Fußball. Zum Glück hatte unsere Lehrerin es nicht so mit schlechten Englischübersetzungen.   Ich setzte gerade zu einer entsprechenden Antwort an, als ich so ein Prickeln im Nacken fühlte. Und ich wusste plötzlich, dass T mich ansah. Okay, vielleicht war es nur Einbildung, weil er nämlich hinter mir saß und ich das überhaupt nicht erkennen konnte, aber irgendwie fühlte es sich so an, als würde seine Brille gerade als Brennglas fungieren und mir Löcher in die Haut sengen.   Ich rieb mir über mein Genick und hatte plötzlich eine Idee.   „Das sind japanische Kirschblüten“, behauptete ich und sah vor meinem inneren Auge ein Foto aus dem Reiseführer, den ich so gründlich studiert hatte, während ich mit T in der Bücherei saß. „Ich würde gerne mal nach Japan fahren und mir das Hanami angucken und noch so einiges anderes. Das Land ist ja auch kulturell sehr interessant. Außerdem mache ich selbst eine japanische Sportart und würde gerne noch mehr über deren Ursprung erfahren.“   Frau Poel lächelte und nickte. „Das ist ein sehr schönes und vielfältiges Thema. Weiter so, Benedikt.“   „Weiter so, Benedikt“, äffte Jo unserer Lehrerin nach, die das zum Glück nicht gehört hatte. Ich zeige ihm meinen Mittelfinger über die Schulter hinweg und begann, die japanische Flagge neben die Kirschblüten zu zeichnen. Als ich nach meinem roten Stift griff, um den Punkt in der Mitte auszumalen, kribbelte es schon wieder in meinem Nacken. Dieses Mal konnte ich nicht anders. Ich drehte mich um.   Hinter mir saß T, arbeitete seelenruhig an seiner Zeichnung und guckte überhaupt nicht hoch. Ich hatte mich wohl geirrt. Vielleicht ein Mückenstich oder so. Allerdings konnte ich jetzt, da ich mich schon mal umgedreht hatte, doch auch gleich mal versuchen, einen Blick auf oder vielmehr in seinen Kopf zu werfen.   Was ich sah, überrascht mich nicht. Da war ein Fahrrad, eine Gitarre, die allerdings ziemlich cool am Rand des Bildes wegfloss wie diese berühmten Uhren von Dali. Wahrscheinlich, weil er zu groß angefangen und das Instrument deswegen nicht draufgepasst hatte. Leider konnte ich nicht erkennen, was er jetzt gerade malte, noch dazu weil Jo seinen Kopf dazwischen schob.   „Hey, wer ist denn die Alte?“, wollte er wissen und deutete auf Ts Bild. „Das ist die Freiheitsstatue, du Pappnase.“   Okay, jetzt sah ich es auch, und, seien wir mal ehrlich, so wirklich gut konnte T auch nicht zeichnen. Also zumindest keine Freiheitsstatuen. Aber ich sah jetzt, dass daneben auch noch andere Sachen abgebildet waren. Diese Dreiecke da waren mit Sicherheit die Pyramiden. Und daneben der Turm, das war doch …   „Ach, und ich dachte, du willst die flachlegen. Das Ding da sieht aus wie dein Schwanz“, sagte Jo und zeigte auf das schräge Teil. „Das ist der schiefe Turm von Pisa.“   Sagte ich.   Warum sagte ich das?   Und warum auch noch so laut, dass Jo und vor allem T es hörte? Der grinste jetzt und schlug Jo gegen den Arm.   „Siehste, Benedikt hat’s erkannt.“ „Nur weil er nicht weiß, wie dein Schwanz aussieht“, schoss Jo zurück und erntete dafür einige Lacher.   Allerdings nicht von mir. Ich hatte mich nämlich ganz schnell wieder umgedreht und zeichnete höchst konzentriert die japanische Flagge. Ach, was war so ein roter Kreis doch schwierig zu malen. Da musste man sich echt anstrengen, während man darauf wartete, dass der eigene Kopf wieder eine andere Farbe als die des Buntstifts annahhm.   Hinter mir hörte ich Ts tiefe Stimme, der Jo jetzt ziemlich ernsthaft erzähle, dass er schon ein paar Mal mit seinen Eltern in Italien gewesen war, es aber noch nie geschafft hatte, sich den Turm in Pisa anzusehen. Und dass es so beeindruckend sei, diese ganzen alten Gebäude mal live zu bestaunen und sich vorzustellen, dass man gerade irgendwo steht, wo vor tausenden von Jahren schon mal irgendwelche Römer langgelaufen sind. Oder mal die Aussicht vom Petersdom genossen hat, weil der ja alle naslang in irgendwelchen Filmen zu sehen ist und so weiter. Und ich saß da, hatte mein Bild vergessen und lauschte. Stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich jetzt dort drüben mit am Tisch säße – mit Anton selbstverständlich – und zu dem illustren Kreis dazu gehören würde, der sich Ts Freunde nannte. Dass ich ihm nahe sein konnte, ohne mich ständig wie der letzte Depp aufzuführen oder rumzustottern oder rot zu werden, weil ich auch ein total cooler Typ war. War ich aber nicht. Ich war nur ich.   Ich sah auf mein Blatt runter und hatte mit einem Mal den Wunsch, es zu zerknüllen. Oder in tausend Fetzen zu reißen. Japan, was für ein Schwachsinn! Ich würde nie nach Japan kommen. Ich kam ja nicht mal nach Frankreich. Das Höchste der Gefühle war ein Urlaub in Dänemark, der aber auch schon ungefähr zehn Jahre her war und von dem ich mich nur noch an einen fetten Sonnenbrand erinnern konnte. Und von hier aus nach Dänemark zu fahren, das war ungefähr so, als wenn man von Baden-Württemberg nach Bayern reiste. Die Leute redeten komisch und alles war etwas teurer, aber im Endeffekt war es halt doch nicht viel anders als zu Hause.   Bevor ich mich allerdings wirklich an meinem „Kunstwerk“ verging, begann ich lieber, meine Stifte einzuräumen. Jeden einzeln. Das sollte reichen, um den Rest der Stunde zu überbrücken. Zu überbrücken hatte ich ohnehin noch eine Menge Zeit. Vom Schulschluss bis zum Beginn des Trainings waren es noch zwei Stunden. Die Zeit würde ich, wie üblich, in der Bibliothek rumbringen, meine Hausaufgaben machen oder einfach lesen. Vielleicht würde ich mir diesen Reiseführer noch mal anschauen. Immerhin brauchte ich noch ein paar Ideen, was ich hier nächste Woche hinmalen sollte.   Als es endlich klingelte und alle aufsprangen, beeilte ich mich dementsprechend auch nicht. Ich verabschiedete mich von Anton und trödelte rum.   „Hey, Schlafmütze, wenn du nicht aufpasst, wirst du gleich eingeschlossen.“   Ich sah auf und blickte in ein Paar blaue Augen unter einem wirren, blonden Pony. War das echt T, der da vor mir stand? Er deutete auf mein Bild, das irgendwie immer noch auf dem Tisch lag.   „War ne geile Idee. Ich hoffe, ich durfte mir die klauen.“   Klauen? Ich blinzelte und verstand erst nicht, bevor es mir dämmerte. Er hatte zugehört, was ich gesagt hatte? Und dann das Gesagte auch noch für würdig befunden, es für sein eigenes Bild zu übernehmen? Wow. Ich war in dem Moment so platt, dass ich nur noch nicken konnte.   „Du solltest es wegräumen. Wäre schade drum.“   Ich nickte erneut, nahm das Blatt und ging damit nach nebenan, wo wir einen Schrank hatten, in dem die halbfertigen Arbeiten bis zur nächsten Stunde aufbewahrt wurden. Und T? Der kam doch tatsächlich mit. Er blieb zwar an der Tür stehen, aber ich stand quasi allein mit ihm im Nebenraum des Kunstraums und … also sagen wir mal, meine Fantasie ging gerade etwas mit mir durch, während ich mein Bild verräumte. Dieser Ort mit den verhangenen Staffeleien, den hölzernen Gliederpuppen, den halbfertigen Plastiken und unzähligen Farbtöpfen schrie geradezu danach, von einem knutschenden Pärchen entweiht zu werden.   Okay, es war ein bisschen blöd, dass man von außen reinsehen konnte und dass obendrein unsere Kunstlehrerin uns gleich dazu auffordern würde, endlich rauszugehen, aber allein der Gedanke, wie T hinter mich trat, die Arme um mich schlang, ganz sanft seine Lippen auf meinen Nacken drückte und mir gestand, dass er darauf ja schon so lange gewartet hatte, ließ die Haare in eben jenem Nacken abstehen, als wäre ich unter Strom gesetzt worden. Und wenn ich mich dann umdrehte, ihm in die Augen sah und ihn tatsächlich küsste. Ich … scheiße, ich war immer noch in den Kerl verknallt. Das ging doch nicht. Ich hatte doch Manuel. Wie konnte ich denn da so eine Schnappatmung kriegen, nur weil T einen halben Meter hinter mir stand? Das war ganz und gar verkehrt. Und musste jetzt enden. Sofort.   Ich drehte mich um und wollte ihm irgendeinen dummen Spruch an den Kopf werfen, so vonwegen ob er nichts Besseres zu tun hätte oder so, aber ich konnte nicht. Wie er da so stand und mich anlächelte, das war einfach … einfach schön. So schön, dass ich zurücklächelte.   „Willst du wirklich mal nach Japan?“, fragte er mich. Ich zuckte die Achseln. „Ja schon. Aber das wird wohl nichts werden.“ „Warum nicht?“ „Weil … na ja. So ne Reise ist teuer. Ich hab kein Geld für so was.“ „Dann such dir nen Job.“   Ich blinzelte. Einen Job? Als ich die Frage laut wiederholte, grinste T.   „Ja, klar. Hab ich auch gemacht. Ich helfe ab und an bei Friedrichsen aus. Du weißt? Das Sportgeschäft unten am Kuhberg.“   Klar kannte ich das. In so ner kleinen Stadt gab es ja nicht so viele Geschäfte. Außerdem hatten wir da immer meine Anzüge fürs Judo gekauft.   „Wenn du willst, kann ich mal fragen, ob die noch jemanden brauchen.“   Ich schluckte und stellte mir das vor. Ich zusammen mit T. Außerhalb der Schule. Das war … das wäre ja …   „Klar, warum nicht?“, sagte ich jedoch nur und wunderte mich selbst darüber, wie cool ich dabei klang. So als wär’s mir zwar recht, aber eigentlich auch egal. Innerlich machte ich allerdings schon meterhohe Luftsprünge, bis …   „Jo und Leon arbeiten auch da.“   Ach da war der Haken.   „Macht ja nix“, sagte ich und mein Lächeln wurde ein bisschen tapferer. Nur nichts anmerken lassen.   „Wäre doch cool, wenn wir da alle zusammen abhängen würden. Allerdings teilen die meist nur zwei Leute für die Schichten ein.“   Mhm, das machte Sinn. So riesig war der Laden ja nicht. Das hieß, es bestand die Gefahr, dass ich mit Jo … lieber nicht darüber nachdenken. Eine Schicht mit T hörte sich da sehr viel besser an. Ungefähr tausend mal besser.   „Na wie gesagt, ich frag nachher gleich mal, ob die noch wen brauchen. Bin heute eh da.“ „Okay, danke“, brachte ich noch heraus, bevor er sich endlich umdrehte und ging und ich in Ruhe auf einem Hocker in mich zusammenbrechen konnte. Ach du Scheiße. Ich hatte ein Gespräch mit T geführt. Ich hatte mich bereit erklärt, Zeit außerhalb der Schule mit ihm zu verbringen. Ich war total bekloppt.   „Benedikt, kommst du dann? Ich muss abschließen.“ Frau Poel stand in der Tür. „Ist alles in Ordnung? Du bist so blass.“ „Jaaa, alles bestens. Ich muss nur … frische Luft. Die Farbe.“   Ich stürzte an ihr vorbei und zur Tür raus, während ich noch schnell meinen Rucksack vom Tisch riss und dann die Gänge entlang stürmte und mich bemühte, dabei nicht vom Boden abzuheben. Ich würde Zeit mit T verbringen. Ganz viel Zeit. Hurra! Und wenn die keine Stelle frei hatten, würde ich eben einfach Jo vom Turnhallendach schmeißen. Schade wäre es nicht ihm um. Hauptsache das klappte.       Während ich in der Bücherei versuchte, dem Reiseführer noch neue Ideen für mein Kunstprojekt zu entlocken, erwischte ich mich immer wieder dabei, stattdessen aus dem Fenster zu gucken. Hinter dem es regnete. Machte aber nichts, denn in mir drin waren ganz viele kleine, warme Blubberblasen, wenn ich daran dachte, wie T mich angelächelt hatte. Das hieß doch, dass er mich mochte, oder nicht? Das war toll, weil ich ihn auch mochte. So sehr, dass mir schon der Magen davon wehtat.   Man, Benedikt, reiß dich zusammen. Die dimmen noch das Licht, wenn du hier weiter so verstrahlt in die Gegend grinst. Komm mal wieder runter.   Ich wollte aber nicht runter. So gar nicht. Ich fand es toll hier oben in meinem rosaroten Wattebauschschloss und es war mir scheißegal, dass das schwul war oder sonst was. Am liebsten wäre ich jetzt gleich losgerannt um nachzuhaken, ob das mit der Stelle was wurde. Vermutlich wäre es ne gute Idee gewesen, erst mal meine Mutter um Erlaubnis zu fragen, aber die hatte bestimmt nichts dagegen. Also konnte ich mich doch eigentlich auch gleich selbst vorstellen gehen. Ich musste ohnehin in die Richtung, wenn ich zum Judo wollte, somit hielt mich doch nichts mehr hier. Und vielleicht bekam ich so noch die Gelegenheit, ein bisschen mit T zu quatschen. Der schien doch nicht abgeneigt zu sein, sonst hätte er mir das Angebot ja nicht gemacht. Ich lieh mir also kurzerhand den Reiseführer aus, schnappte mir meinen Rucksack und ab durch die Mitte. Draußen war der Regen inzwischen in ein gleichmäßiges Pieseln übergegangen, das bei einigermaßen Tempo vielleicht meine Jacke nicht ganz durchnässt haben würde, wenn ich an meinem Bestimmungsort ankam. Denn dass ich dafür bestimmt war, bei Friedrichsen zu arbeiten, dessen war ich mir sicher.   Mit eingezogenem Kopf rannte ich durch die verkehrsberuhigte Straße, an deren Seite einige Geschäfte lagen. Ganz am Ende war der Sportladen. Ich sah das Schild schon von weitem leuchten. Schlitternd kam ich davor zum Stehen. Mein Herz klopfte und ich war ganz schön außer Atem, aber ich war da und warf gleich einen Blick ins hell erleuchtete Innere. Tatsächlich war heute nicht viel los. Da war nur eine Kundin, eine junge Frau, die anscheinend neue Turnschuhe kaufen wollte. Zumindest standen einige Paare um sie herum auf dem Fußboden. Sie war momentan allein und ich wollte mich schon enttäuscht abwenden, als T plötzlich aus einer Tür kam, die vermutlich zu einem Lagerraum führte. In der Hand hatte er zwei Schuhkartons.   Als ich ihn sah, musste ich unwillkürlich grinsen. Wow, er sah so gut aus. Diese Lächeln, dieser Gang. Den hätte ich mir gerne mal von hinten angeguckt, aber dieses Geschenk wurde mir nicht gemacht. Stattdessen wandte er sich wieder seiner Kundin zu, die sein Lächeln genauso strahlend erwiderte. Er sagte etwas, sie lachte und ich musste auch lächeln. Doch je länger ich hinsah und je mehr von dem kalten Nieselregen auf mich niederging, desto mehr schwand meine Begeisterung. Er konzentrierte sich wirklich völlig auf die Kundin und meine Hoffnung, dass er mich vielleicht sehen und reinwinken würde, sank mit jeder Minute. Und mit jeder Minute, die ich ihn mit diesem weiblichen Wesen zusammen sah, wurde mir mehr klar, dass ich mir etwas vorgemacht hatte. Ja, ich würde vielleicht hier arbeiten können, aber ich hatte eine ganz entscheidende Kleinigkeit vergessen. T stand nicht auf Jungs. Ich weiß nicht, warum mir das erst jetzt wieder einfiel. Vielleicht, weil sich mein Zuckerwatteschloss gerade in eine klebrige Pfütze verwandelte und irgendwer all die wunderbaren Blubberblasen mit einer richtig fiesen Nadel namens Realität zerplatzen ließ. Ich war so eine hohle Nuss. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Mochte ja sein, dass ich in ihn verliebt war. Konnte ja angehen, dass er mich ganz nett fand und warum auch immer mit mir befreundet sein wollte. Aber er würde nie, nie, niemals mit mir irgendwelche Sachen machen wollen, die er nicht auch mit Jo oder irgendeinem anderen Jungen machte. Abhängen, rumblödeln, nebeneinander auf dem Sofa sitzen, um einen Film zu gucken und sich mit Erdnussflips bewerfen. Vielleicht sogar in einem Zelt zusammen übernachten und nackt baden gehen. Aber nicht mehr. Niemals mehr. Nicht in einer Million Jahren.   Auf einmal drehte er sich doch zum Fenster um. Ich wich ich hastig zurück und hoffte, das mich der große Aufsteller mit dem Tennismodel hinreichend verdeckte. Er sollte mich hier nicht sehen. Außerdem musste ich sowieso los. Ich hatte ja Judo und …   Als ich die nächste Straßenecke erreichte und zur Sporthalle abbiegen wollte, in der mein Training stattfand, fiel mir auf, dass etwas fehlte. Etwas ganz Entscheidendes. Wo zum Geier war meine Sporttasche? Schnell rekapitulierte ich meinen Gang in die Bücherei, aber da war sie auch schon nicht dabei gewesen. Mein Blick glitt den nassen Sandweg hinauf, den ich jeden Morgen nahm, wenn ich mit dem Bus hier ankam. Dort oben lag meine Schule und in der Schule lag meine Sporttasche. Neben dem Tisch im Kunstraum auf dem Boden, wo ich sie zu Beginn des Unterrichts abgeladen und dann vergessen hatte. So eine verdammte Scheiße.   Und jetzt? Was sollte ich denn jetzt machen? Ich war nass – so langsam weichte der gute, norddeutsche Nieselregen auch die dickste Sweatjacke durch – ich hatte kein Sportzeug, ich war unglücklich verliebt und ja, ausnahmsweise regnete es passend zur Stimmung auch immer noch weiter. Meine Mutter würde erst in anderthalb Stunden kommen um mich abzuholen und mein Trainer mir vermutlich den Kopf abreißen, weil ich ohne Anzug nicht trainieren konnte. Der versuchte nämlich seit Wochen mich zur nächsten Gürtelprüfung zu überreden und dafür musste ich eine bestimmte Mindestzahl an teilgenommenen Übungsstunden vorweisen. Da er wusste, dass ich die Prüfung eigentlich nicht machen wollte, würde er bestimmt annehmen, dass ich die Sachen mit Absicht nicht mithatte, um mich zu drücken. Verfickte Scheiße.   Ich ruf einfach an, dass ich krank bin, schoss es mir durch den Kopf. Oder ich schick ne Nachricht, das ist besser, da kann er mich nicht vollschnauzen.   Schnell zückte ich mein Handy und sagte das Training für heute ab. Das Piepsen, das mir die Ankunft einer Antwort signalisierte, ignorierte ich. Ich wollte das jetzt nicht lesen. Ich wollte gar nichts lesen. Ich wollte hier im Regen stehen und mich auflösen so wie mein Wattewolkenzuckerschloss. Allerdings war das vermutlich keine so gute Idee, denn dann würde ich früher oder später wirklich krank werden. Wie Manuel das nur machte, stundenlang im Regen zu stehen. Ich hatte keine Ahnung. Mir war lausekalt und ich wollte hier nur noch weg. Fluchend verzog ich mich in eine überdachte Einfahrt und starrte nach oben. Diffuses Grau, das mich nach kurzer Zeit blendete. Ich kniff die Augen zusammen und sah mich um. Nach hinten ging es weiter auf einen Innenhof und weil ich ohnehin nichts zu tun hatte, steckte ich die Hände in die Jackentaschen, zog die Nase hoch und lugte vorsichtig um die Ecke. Der Hof war größer, als ich gedacht hatte und mit roten und grauen Steinen gepflastert, die im Regen glänzten. Linker Hand stand ein Schuppen mit einem Fahrradständer und weiter hinten tropften hochgestellte Tische und Stühle vor sich hin. Ein zusammengeklappter Marktschirm vervollständigte das trostlose Bild eines gerade nicht genutzten Gartenrestaurants.   Moment … Restaurant?   Ich ging noch ein Stück weiter und konnte jetzt tatsächlich das Schild erkennen, das über der dunklen Eingangstür hing. „Monopoly“ stand da in schwarzen Buchstaben auf weißem Grund. Neben der Schrift war dieses kleine Männchen mit dem Zylinder abgebildet. Anscheinend hatte ich den Außenbereich des Restaurants entdeckt, in dem Julius arbeitete. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es da zwei Eingänge gab.   Unschlüssig blieb ich auf dem Hof stehen und überlegte. Hatte er nicht gesagt, er würde dienstags arbeiten? Heute war Dienstag und das Lokal schien bereits geöffnet zu haben. Ob ich vielleicht …   Neben mir wuchs ein großer Baum, um den herum jemand eine Sitzbank angelegt hatte. Das Holz war dunkel und feucht und ich wusste, dass ich mich dort nicht würde hinsetzen können, ohne einen nassen Hintern zu bekommen. Von oben tropfte es. „Ach scheiß drauf“, murmelte ich und bewegte mich endlich auf die Tür zu. Es war alles besser als weiter hier draußen im Regen herumzustehen. Kapitel 15: Von warmen Höhlen und kalten Füßen ---------------------------------------------- Im Monopoly war es dunkel. Natürlich nicht total dunkel. An den in dunklem Orange gestrichenen Wänden brannten dreieckige Wandleuchten und über den Tischen verbreiteten verschieden geformte Glaskuppeln ein weiches, gelbes Licht. Nicht zu vergessen, dass durch die Fenster einiges an Helligkeit hereinströmte, auch wenn draußen beständiges Nieselgrau herrschte. All das wurde jedoch fast vollständig von den ausschließlich dunklen Holzmöbeln geschluckt, die im schummrigen Licht beinahe schwarz wirkten. Auch die Rahmen der vielen Bilder waren schwarz ebenso wie die Treppe, die in den oberen Gastraum hinaufführte, und die Menutafel, die an der Wand hing und mit weißen Kreidestrichen irgendeinen Salat mit Putenstreifen und Spargel als Saisongerichte ankündigte. Sogar beim Fußboden, der eigentlich eine helle Terrakottafarbe aufwies, hatte man sich bemüht, diesen mit dunklen Fußmatten zu verstecken. Das Einzige, was aus dieser dunklen Höhle der Gemütlichkeit ein wenig herausstach, war die Bar, an der neben einem beleuchteten, bunt sortierten Flaschenregal die großen, goldglänzenden Zapfsäulen standen. Drei Stück gab es und hinter einer von ihnen mühte sich gerade Julius damit ab, der Masse an Schaum Herr zu werden, die ihm daraus entgegenspritzte.   „Scheiße“, hörte ich ihn fluchen, bevor er abtauchte und irgendwo unter der Theke weiter rumrumorte. Als er wieder zum Vorschein kam, wischte er sich mit der Hand über die Stirn und sah auf. Mir direkt ins Gesicht.   „Äh, hi“, machte ich, weil mir sonst nicht so wirklich was einfiel.   Für einen Moment musterte er mich verblüfft, bevor sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, das mit den goldenen Metallflächen um die Wette strahlte.   „Benedikt! Was machst du denn hier?“   Okay, er wusste noch, wer ich bin. Das war schon mal gut. Was allerdings seine Frage anging … Ich zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Bin zufällig hier vorbeigekommen und naja …“   Oh man, das klang ja mal selten dämlich. Als wäre es mir total egal, dass ich hier war.   Moment, war es das etwa nicht? Also klar, es war warm und trocken hier im Gegensatz zu diesem Pisswetter da draußen, aber wenn Julius mir nicht gesagt hätte, dass er hier arbeitete, wäre ich bestimmt nicht hier reingegangen. In ein Restaurant. Ich ging nie in Restaurants. Warum auch? Was sollte ich da? Also war ich eigentlich nur hier, weil er hier war. Irgendwie. Aber wenn ich ihm das jetzt sagte, klang das selbst in meinen Ohren nach was anderem, als es wirklich war.   Während ich so daran rumdachte, hatte er sich schon längst die Hände abgewischt und war um den Tresen herum gekommen. Heute war er weniger farbenfroh unterwegs. Er trug ein schwarzes Poloshirt und eine dazu passende, schwarze Jeans. Gekrönt wurde das ganze von einer schwarzen Schürze, die er sich um die Hüfte gebunden hatte. Eigentlich hätte er damit wohl aussehen müssen, als wenn er zu einer Beerdigung ginge, aber das tat er nicht. Er sah … gut aus. „Meine Güte, du bist ja total durchnässt.“ „Ja, es … regnet draußen.“   Argh! Geht’s noch ein bisschen dümmer? Ich fummelte am Tragegurt meines Rucksacks herum.   „Hast du denn keinen Schirm?“ Julius schien die Frage wirklich ernst zu meinen, wartete aber meine Antwort gar nicht erst ab, „Los, raus aus den nassen Sachen. Ich häng sie auf die Heizung.   Er streckte die Hände aus und ich konnte gar nicht anders, als meine Tasche auf den Boden zu stellen und ihm meine Sweatjacke auszuhändigen. Sein Blick glitt ganz kurz zu meiner Hose, die ebenfalls ziemlich nass war, aber bevor ich in die Verlegenheit kam herumzustotttern, dass ich die lieber anbehalten würde, hattet er sich schon herumgedreht und war mit der nassen Jacke zu einem der niedrigen (und braunen) Heizkörper gegangen und hatte sie dahinter gestopft. „So, die trocknet erst mal. Und du? Willst du was trinken?“   Ich sah mich um. Es waren noch keine Gäste da und bei dem Wetter draußen würde vermutlich um diese Uhrzeit auch nicht unbedingt jemand vorbeikommen. Dafür lag das Monopoly einfach zu weit ab vom Schuss.   „Ja, gerne, ich …“ „Kaffee, Tee, heiße Schokolade? Bei der Kälte brauchst du was Warmes. Und bei dem Gesichtsausdruck auch.“   Ich merkte, wie ich ein bisschen rot wurde. War das so offensichtlich oder war Julius einfach nur ein guter Beobachter?   „Ich nehm ne Schokolade“, murmelte ich, während ich mich auf einen der Barhocker gleiten ließ. Von da würde ich wenigstens schnell wieder verschwinden können, wenn das hier zu peinlich wurde. „Einmal heiße Schokolade, geht klar. Mit Sahne?“   Julius sah mich an und legte dabei den Kopf ein bisschen schief. Ich guckte an mir runter. „Vielleicht lieber ohne.“   Er wirkte einen Augenblick lang als, als wolle er dazu noch etwas sagen, aber dann drehte er sich um und begann an einem Vollautomaten herumzudrücken. Da ich nicht sehen konnte, was er da genau machte, wanderte mein Blick unwillkürlich ein bisschen tiefer. Uff. Die Hose, die er anhatte, war ganz schön eng. Und das, was ich da sah, ganz schön … schön.   Man, Benedikt. Krieg deinen Kopf wieder aus der Gosse! Du kannst doch nicht jedem Kerl auf den Hintern starren, selbst wenn der Kerl, der an dem Hintern dranhängt, indem Fall wirklich schwul ist. Es war echt zum Mäusemelken mit diesen dämlichen Hormonen. Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht und als ich die Augen wieder öffnete, stand ein weißer Becher mit dampfend heißer Schokolade vor mir. Mit Sahne. „Ich hatte doch gesagt …“ „Dass du keine Sahne willst. Ich hab’s gehört. Aber manchmal muss ein guter Kellner dem Gast eben bringen, was er braucht, und nicht das, was er bestellt.“   Ich war mir zwar ziemlich sicher, dass so ein Kellner nicht viel Trinkgeld bekommen würde, aber ich nahm die Tasse trotzdem.   „Danke“, nuschelte ich, während ich mir an meinem ersten Schluck fast die Zunge verbrannte. Himmel, war das heiß. Ich pustete auf die Sahne, was vermutlich gar nichts brachte, aber immerhin verhinderte, dass ich Julius ansehen musste. Warum hatte ich nochmal was zu trinken bestellt? Nun saß ich hier fest, bis ich die Tasse wenigstens anstandshalber zur Hälfte geleert hatte. Außerdem musste ich sie auch noch bezahlen. Am besten erledigte ich das gleich. Ich griff nach meinem Rucksack. „Was bekommst du?“, fragte ich, während ich nach meinem Geld suchte. „Geht aufs Haus“, bekam ich zur Antwort und sah Julius daraufhin dümmlich an. „Wie jetzt?“ „Na ich lade dich ein. Oder ist dir das nicht recht?“   Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und ich ließ meinen Rucksack wieder sinken. Was sollte ich jetzt tun? Mich einfach einladen lassen? Oder darauf bestehen, das Getränk zu bezahlen? Das war vermutlich albern. Immerhin kostete ihn das Ganze ja nichts. Also beschloss ich, es dabei bewenden zu lassen. „Okay, danke“, bekam ich in einem einigermaßen neutralem Ton heraus. Er strahlte mich wieder an. „Kein Ding. Möchtest du noch einen Schuss rein? So zum Aufwärmen? Oder musst du noch fahren?“   Ich schüttelte den Kopf und wollte gerade sagen, dass ich keinen Alkohol mochte, als mir klarwurde, was er da gerade gefragt hatte. Ich und fahren? So mit dem Auto und so? „Ich hab noch keinen Führerschein.“ „Ach, ich hab meinen auch noch nicht so lange. Kostet ja auch ein bisschen was, der Spaß.“ „Mhm, ja“, machte ich nur und sah wieder auf die Sahne, die langsam in sich zusammenfiel. Mit dem Finger strich ich über den Rand, der sich an der Tasse abgesetzt hatte und steckte ihn mir in den Mund. Als ich nach oben guckte, bemerkte ich, wie Julius’ Blick für einen Moment an meinen Lippen hängenblieb, bevor er mir wieder in die Augen sah. Er lächelte. „Und? Was führt dich her?“   Er lehnte sich auf den Tresen und musterte mich neugierig. Äh … ähm … mussten Barkeeper nicht irgendwie beschäftigt tun? So das obligatorische Glas putzen oder so, statt sich voll und ganz auf ihren einzigen Gast zu konzentrieren und dem Löcher in den Bauch zu fragen? „Eigentlich hätte ich jetzt Sport“, erklärte ich trotzdem. „Aber ich hab meine Sachen in der Schule vergessen und ohne Anzug kann ich nicht mitmachen. „Anzug?“ „Äh, ja. Ich mach Judo.“ Wieder antwortete mir ein Strahlen. „Wirklich? Cool. Ich war mal ne Weile beim Wing Tsun. An der Volkshochschule. Das ging allerdings auch mit normalen Sachen. War so ein Selbstverteidigungskurs.“   Er schwieg plötzlich und guckte runter auf seine Finger, die ziemlich ordentlich zurechtgemacht waren. Meine sahen nicht so aus. Also nicht, dass da jetzt Dreck drunter war, aber seine Finger wirkten irgendwie... zart. Hatte Anton nicht gesagt, er wäre mal Gärtner gewesen? Das konnte ich mir gerade so gar nicht vorstellen. Und dann war da ja noch die andere Geschichte. Das mit dem Mobbing und so. War er deswegen in dem Kurs gewesen?   „Brauchtest du denn so einen Kurs?“, höre ich mich plötzlich fragen.   Er schreckte hoch, als hätte er gerade an was anderes gedacht. Das Lächeln, dass er danach auf sein Gesicht legte, wirkte nicht vollkommen echt. „Ach, na ja. Wer kann das nicht brauchen? Gibt ja so viele Bekloppte heutzutage. Da ist es gut, wenn man vorbereitet ist.“   Plötzlich begann er doch, einen auf beschäftigter Kellner zu machen. Er holte sich einen Stapel Servietten und faltete sie zu kunstvollen Gebilden. Mit diesen Fingern, die angeblich mal in der Erde herumgewühlt hatten. Ich sah ihm eine Weile zu, bis ich beschloss, dass ich jetzt einfach mit der Wahrheit herausrücken würde. Ganz kurz musste ich an Manuel denken und was mir das das letzte Mal eingebracht hatte, aber einfach weiter schweigen wollte ich auch nicht. Allerdings sollte ich dieses Mal vielleicht etwas geschickter vorgehen und vor allem am Anfang der Geschichte anfangen.   „Ich bin übrigens in einer Klasse mit Anton. Anton Wischnewsky.“ Julis hörte auf Servietten zu falten und runzelte stattdessen die Stirn. „Mit Anton? Aber dann bist du ja erst …“ „Ich bin 16.“ Als er nichts sagte, fragte ich einfach: „Und du?“ „21.“   Oh. Na das war ja mal ne Hausnummer. Ich glaube, ich guckte ungefähr so intelligent wie ein Hund, der gerade an einen Elektrozaun gepinkelt hatte. Julius war fünf Jahre älter als ich? Also das sah man ja mal so gar nicht. Gut, wegen der Sache mit dem Auto war klar, dass er schon 18 sein musste, aber das? Der Hammer.   „Hast dich aber gut gehalten“, versuchte ich einen Scherz und nahm zur Sicherheit einen Schluck von der Schokolade, die inzwischen eine trinkbare Temperatur hatte. „Ich dachte, ab 20 kriegt man Falten und Haarausfall.“ „Nee, erst mit 25, aber auch nur, wenn man dann schon Oil of Olaz benutzt.“ „Und das hilft gegen Haarausfall?“ „Wenn man es lange genug einwirken lässt.“   Er grinste und ich grinste zurück. „Ich hab dich für älter gehalten“, gab er dann zu. „Das dachte ich mir, deswegen wollte ich das gleich mal richtig stellen.“ „Aber schwul bist du schon, oder?“   Ich verschluckte mich an meiner Schokolade. Ein Blick in sein Gesicht verriet mir, dass er gerade nicht ganz so locker drauf war, wie ich gehofft hatte. Irgendwo hinter der fröhlichen Fassade lag ein Schatten, den ich mir nicht so recht erklären konnte. Das Wing Tsun fiel mir wieder ein.   „Ja, ich denke schon“, antwortete ich ein bisschen verspätet. „Also ich meine, ich finde Männer scharf und wenn es da nicht noch mehr Kriterien gibt, die man erfüllen muss, dann bin ich es wohl.“   Er lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, das reicht. Ich wollte mir nur sicher sein, weil … na ja. Schlechte Erfahrungen halt.“   Sein Lächeln wurde kurz ein bisschen traurig, bevor es wieder genauso strahlte wie zuvor. „Aber genug von mir. Erzähl mir doch mal was von deinem süßen Mitschüler. Wenn ich gewusst hätte, dass bei euch so heiße Typen rumlaufen, hätte ich mich bei euch eingeschmuggelt.“   Ich grinste und versuchte, nicht allzu sehr an T zu denken und wie er mit der Frau in dem Laden umgegangen war. Es hatte ausgesehen, als würde er mit ihr flirten und sie war schließlich hin und weg von ihm gewesen. Er sprach mit Jo ständig über Mädchen, gab ihm Tipps und war der totale Schwarm sämtlicher weiblicher Wesen in 10 km Umkreis. Der konnte gar nicht schwul sein, sonst wären die doch gar nicht alle so auf ihn abgefahren.   „Ach, da ist Hopfen und Malz verloren. Der ist und bleibt hetero.“ Julius machte ein mitleidiges Gesicht. „Wie tragisch. Aber manche Dinge sollen eben nicht sein. Und sonst? Ist da kein anderer Kandidat in Sicht?“ Ich räusperte mich und guckte ein bisschen dumm in meine Schokolade.   „Na ja“, gestand ich langsam. „Ich … also … da ist schon jemand, aber … ach ich weiß nicht. Ich glaube, es passt nicht so richtig zusammen.“ „Und wieso nicht?“ „Weil …“   Ich merkte, wie ich rot anlief. Konnte ich Julius jetzt einfach so erzählen, dass ich Angst hatte, mit Manuel zu schlafen, obwohl der das so gerne wollte. Und dass ich außerdem noch total feige war und es nicht mal meiner Mutter gebeichtet hatte, dass ich vom anderen Ufer war. Immerhin war er ja geoutet. Andererseits hatte Anton erzählt, dass das nicht gerade gut gelaufen war. Wenn jemand dafür Verständnis hatte, dann doch bestimmt er. Er wusste schließlich, wie das war. „Es ist kompliziert“, sagte ich schließlich, weil Julius immer noch darauf wartete, dass ich weitersprach. „Wegen dir oder wegen ihm?“ „Wegen beiden?“   Julius nahm sich ein Glas, schenkte sich eine Fanta ein und nahm einen Schluck, bevor er mich wieder ins Visier nahm.   „Willst du drüber reden?“   Ich weiß nicht. Wollte ich? Eigentlich schon. Aber ich kannte ihn ja kaum. Andererseits … vielleicht war es ganz gut, mal jemandem davon zu erzählen. Also fing ich an. Ich schilderte ihm, wie ich Manuel im Bus getroffen hatte, wie er mich auf dem Spielplatz angegraben hatte, von unserem zweiten Treffen, wie ich wieder zum Spielplatz gegangen war …   „Und da …“ Ich kam ins Stocken, fühlte die Hitze in mein Gesicht schießen und verstummte. Julius ließ mir einen Augenblick Zeit, bevor er fragte: „Was ist dann passiert?“ „Er … er hat … erhatmireinengeblasen.“   Julius blinzelte. Und blinzelte noch einmal. Und ich kam mir plötzlich vor wie eine totale Schlampe. Warum hatte ich überhaupt davon angefangen? Warum hatte ich nicht erzählt, dass er aus völlig anderen Verhältnissen stammte und meine Mutter mir den Umgang mit ihm verboten hatte? Stattdessen rückte ich mit diesem Mist raus. Gott, ich war so dämlich. „Wow“, machte Julius irgendwann. „Im Ernst? Also, du meinst, er hat … so richtig?“ „Ja.“ „Bis zum Schluss?“ „Ja … also nein. Am Schluss hat er es mit der Hand gemacht. Er steht nicht so drauf, glaube ich.“ „Mhm, kann ich mir vorstellen. Das mögen nicht alle.“   Ich lief schon wieder rot an und Julius grinste plötzlich viel zu wissend. „Du schon, was?“   Ich stöhnte auf und ließ den Kopf auf meine Arme sinken. „Warum genau führen wir dieses Gespräch?“ „Weil wir beide schwul sind?“   Ich schielte von unten herauf zu ihm hoch.   „Reicht das als Grund?“ „Na ja, es tut manchmal gut, mit jemandem zu reden, der sich in einer ähnlichen Lage befindet. Oder kennst du sonst noch jemanden, der das mit dir teilt?“   Ich schüttelte den Kopf. „Wenn du möchtest, kann ich dich ja mal zum Stammtisch mitnehmen. Also nicht, dass das jetzt ne Riesenrunde wäre, aber neue Gesichter sind immer willkommen. Allerdings sind die meisten dort schon älter als du.“ Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: „Eigentlich auch älter als ich. Ich … naja … Die sind alle wirklich cool drauf, aber manchmal wünschte ich mir, das eher jemand in meinem Alter da wäre, mit dem ich …“   Er zuckte mit den Schultern und ich verstand. Es war so leicht, mit Julius zu reden. Ich wusste einfach, was er sagen wollte und umgekehrt.   Unser Gespräch wurde jäh unterbrochen, als sich plötzlich die Tür öffnete und ein älteres Pärchen hereinkam. Sie fragten in gebrochenem Deutsch, ob sie wohl einen Kaffee bekommen könnten, und Julius machte sich gleich ans Werk. „Urlauber aus Dänemark“, erklärte er mir, während er das Tablett vorbereitete. „Die trinken zu jeder Tages- und Nachtzeit Kaffee.“   Er packte noch einige Kekse auf einen kleinen Teller und brachte das Ganze dann zusammen mit zwei dampfenden Tassen an den Tisch. Die beiden bedankten sich und regierten erfreut, als er etwas zu ihnen sagte, dass ich nicht verstand. Als er zurückkam, fragte ich, ob er Dänisch spräche. Er schüttelte den Kopf. „Nur so ein paar Brocken, um die wichtigsten Sachen auf der Speisekarte zu übersetzen. Ansonsten bin ich, was Sprachen angeht, eine totale Niete.“   Er warf noch einen Blick zu seinen Gästen, beugte sich dann vor und flüsterte: „Und? Wie ging es dann mit euch beiden weiter?“ Ach ja, die Geschichte mit Manuel. Plötzlich kam es mir doch komisch vor, Julius diese ganzen Details zu erzählen. Das ging ihn ja eigentlich nichts an. Ich räusperte mich. „Na ja, ich hab ihn dann nochmal zu mir eingeladen, und … also wir hatten einen Streit. Er ist danach abgehauen und seitdem reden wir nicht mehr miteinander.“ „Und wer war schuld?“ „Woran?“ „An dem Streit.“   Ich überlegte. Irgendwie war es wohl mehr oder weniger meine Schuld. Ich hatte Manuel zu etwas gedrängt, zu dem er nicht bereit war. Als ich Julius das sagte, nickte er langsam. „Ja, das kenne ich. Das kann böse nach hinten losgehen.“ „Wieso? Was ist passiert?“   Jetzt war es Julius, der plötzlich herumdruckste. Er nahm noch einen Schluck Fanta, bevor er sich zu einem dieser traurigen Lächeln durchrang, die ich jetzt schon ein paar Mal gesehen hatte.   „Als ich so alt war wie du, war ich mit einem aus meiner Parallelklasse zusammen. Heimlich, keiner wusste davon. Das war total belastend, weil wir immer aufpassen mussten, dass auch ja keiner was merkt. Ich wäre so gerne einfach mal mit ihm Hand in Hand durch die Stadt gelaufen oder hätte ihn mit einer Umarmung oder einem Kuss begrüßt. Stattdessen gingen wir immer auf Abstand zueinander, wenn wir in der Öffentlichkeit waren. Das war … belastend. Na ja und an einem Tag, wir in die Klassen gingen, da hab ich einfach nicht dran gedacht. Ich hab ihn zum Abschied auf den Mund geküsst. Wahrscheinlich war ich so in Gedanken, weil wir an dem Tag ne total schwere Arbeit vor uns hatten. Natürlich hat das jemand gesehen, die haben uns zur Rede gestellt und da … da hab ich einfach gesagt, dass wir ein Paar sind. Ich hab ihn gar nicht gefragt.“ „Und wie hat er reagiert?“   Julius atmete kurz durch, bevor er fortfuhr.   „Nicht so gut. Er hat … er hat gesagt, dass das nicht stimmen würde, dass ich mir das alles nur ausgedacht hätte. Zuerst dachte ich ja, wir könnten das klären, aber er hat mich total abgeblockt. Zwei Tage später hatte er ne Freundin, mit der er öffentlich auf dem Schulhof rumgemacht hat. Als ich versucht habe, deswegen mit ihm zu sprechen, ist alles nur noch schlimmer geworden. Er hat die anderen aufgestachelt, hat Gerüchte über mich verbreitet. Einmal hat er sogar meine Telefonnummer an alle Klowände geschmiert. Du glaubst nicht, was da für Nachrichten reinkamen. Es war teilweise echt eklig. Ich hab mir dann ne neuen Nummer geholt, aber …“   Er verstummte und ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Das war echt krass. Dass der Kerl in dem Moment kalte Füße gekriegt hatte, konnte ich ja noch verstehen, aber die Aktion danach ging gar nicht.   „Bist du deswegen von der Schule gegangen?“ Als Julius mich erstaunt ansah, hob ich entschuldigend die Schultern. „Anton hat’s mir erzählt. Ich hab dich bei ihm zu Hause auf einem Foto gesehen und ihn nach dir gefragt.“   Er lachte. „Es erstaunt mich, dass Anton sich das gemerkt hat. Wir haben nämlich nicht so viel miteinander zu tun. Ich hatte eigentlich gedacht ...“ „Antons Kopf ist ein Computer. Der merkt sich alles. Ein Elefant ist ein Scheißdreck dagegen.“ Wieder lachte Julius und dieses Mal klang es fröhlich. „Na wenn Anton das gesagt hat, dann wird es wohl stimmen. Ich bin tatsächlich abgegangen und hab eine Lehre als Zierpflanzengärtner gemacht. Aber das war irgendwie nicht das Richtige. Als ich anfing, mehr und mehr im Laden der Gärtnerei zu arbeiten und dort die Bestellungen und am Schluss sogar die Buchhaltung zu machen, hat meine Chefin gemeint, ich solle unbedingt nochmal zur Schule gehen. Also hab ich das gemacht. Im Sommer bin ich endlich fertig und dann will ich ne Ausbildung zum Versicherungskaufmann machen.“ „Du willst Versicherungen verkaufen?“ Das konnte ich mir bei ihm noch viel weniger vorstellen. „Jaa, ich weiß“, antwortete er gedehnt. „Das klingt total dämlich, aber meine Mutter macht so was nebenberuflich und ich finde das sehr interessant. Beraten, den Leuten helfen. Man bekommt da echt viel von ihrem Leben mit und ein guter Berater ist in meinen Augen einfach wichtig. Viele gehen ja heutzutage in Internet und schließen da mal eben eine Versicherung ab, aber wenn dann was passiert, hängen sie ewig in irgendwelchen Hotlines in Timbuktu und sitzen am Ende mit dem Ärger allein da.“ Ich guckte immer noch nicht überzeugt. „Aber Versicherungsvertreter, das ist so … keine Ahnung. Ich würde das nicht machen wollen.“ Er seufzte. „Ich würde ja auch lieber sexy Feuerwehrmann werden, aber ich fürchte, dazu habe ich leider nicht die Statur.“ Er warf sich in Pose und winkelte die Arme an, um seine nicht vorhandenen Muskeln zu zeigen.   „Oder was meinst du? Hätte ich ne Chance?“ Ich lachte. „Als Maskottchen vielleicht.“ „Julius, der Feuerwehrhund?“ „Klingt doch prima. Du bekämst bestimmt auch so einen ganz niedlichen, kleinen Helm und dürftest am offenen Fenster sitzen, wenn die ausrücken.“ „Vor allem dürfte ich aber mit in die Dusche, wenn sie sich nach dem Einsatz den Ruß und den Dreck runterwaschen. Große, starke Männer vollkommen nackt unter prasselnden Wasserstrahlen.“   Er grinste anzüglich und wackelte mit den Augenbrauen. Ich grinste ebenfalls und versuchte, die nicht ganz jugendfreien Bilder in meinem Kopf zu ignorieren. Nackte Feuerwehrmänner … Oh man.   Um mich zu beruhigen, trank ich den letzten Rest meiner Schokolade. Dabei fiel mein Blick auf die Uhr. Was? So spät war es schon? Meine Mutter würde mich in zehn Minuten beim Sport abholen. Ich musste sie anrufen, damit sie mich nicht aus Versehen verpetzte. „Shit, ich muss los.“   Ich sprang von meinem Hocker und wollte meine Jacke holen, aber Julius war schneller. Mit einem breiten Lächeln hielt er sie mir ausgebreitet hin, damit ich hineinschlüpfen konnte.   Ach was soll’s, dachte ich mir und nahm dankend an. Während ich den Reißverschluss schloss, blieb er neben mir stehen. „Also dann“, sagte ich und wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. 'Es war nett mit dir' oder 'Lass uns das mal wiederholen' oder so was klang total abgedroschen. Er lächelte und wirkte mit einem Mal ebenfalls verlegen. „Ja, also dann … war nett mit dir.“ Ich grinste. „Lass uns das mal wiederholen?“ Sein Lächeln wuchs in die Breite. „Du findest das gerade genauso bescheuert wie ich, oder?“ „Allerdings.“   Er lachte und im nächsten Moment hatte er mich in eine kurze Umarmung gezogen, die aber so schnell vorbei war, dass ich gar nicht reagieren konnte.   „Komm mal wieder vorbei und erzähl mir, wie das mit dir und diesem Kerl weitergegangen ist. Vielleicht kriegt ihr es ja noch hin.“ „Ja, okay, das mache ich. Bis dann.“ „Bis dann, Benedikt.“   Ich winkte noch mal zum Abschied, bevor ich mich endgültig umdrehte und zurück in die nasse Wirklichkeit zurückkehrte. Noch im Laufen zog ich mein Handy heraus und schickte meiner Mutter eine Nachricht, dass sie mich heute woanders abholen sollte. Da sie eh immer zu spät war, würde ich dort zwar bestimmt ne Weile warten müssen, aber immer noch besser, als meinem Trainer in die Arme zu laufen. Als ich die Nachricht versendet hatte, drehte ich mich noch mal zum Monopoly um. Drinnen herrschte immer noch die gleiche, anheimelnde Atmosphäre, deren Reste mich wie eine wärmende Decke umgaben. Dass es nicht mehr nieselte, trug zwar sicherlich auch dazu bei, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das nicht alles war, was mich ein wenig zuversichtlicher in die Weltgeschichte blicken ließ. Mit Julius zu reden war definitiv etwas gewesen, dass sich gelohnt hatte. Und das ich bei Gelegenheit mal wiederholen würde.     Kapitel 16: Von tanzenden Herzen und verräterischen Ärschen ----------------------------------------------------------- Also, ich weiß ja nicht, ob ihr Harry Potter-Fans seid. Ich, wie erwähnt, schon. Ich hab die Bücher gelesen und auch die Filme alle gesehen. Könnte ich jedes Jahr einmal machen … Na egal. Im vierten Band hat Harrys bester Freund Ron sich auf jeden Fall in den Kopf gesetzt, eine der französischen Austauschschülerinnen um eine Verabredung für den Schulball zu bitten. (Nebenbei bemerkt, scheint da echt was dran zu sein. Also an Französinnen. Wir hatten letztes Jahr eine französische Austauschschülerin und alle – wirklich alle – Jungs hingen quasi an ihren Lippen. Sogar die Mädchen wollten mit ihr befreundet sein und am Schluss ist sie unter Tränen und Küsschen und mit einem Riesenpaket Schwarzbrot und Roter Grütze im Gepäck wieder abgereist und hat bestimmt drei gebrochene Herzen hinterlassen. War schon irre.) Na zumindest beschwert Ron sich bei Harry darüber, dass man die nie allein erwischen würde, um sie anzusprechen. Tja, ich wusste genau, wie er sich fühlte. Mir ging es nämlich mit T gerade genauso. Ich wollte unbedingt wissen, ob er was wegen des Jobs erreicht hatte, aber ständig hing eine Traube von Leuten um ihn herum und da ich ja nun mal nicht zu seinem Dunstkreis gehörte, konnte ich schlecht einfach hingehen und ihn fragen. Das hätte vermutlich so geendet wie bei Ron, was … äh … nicht so gut war. Nur würde im Gegensatz zu Ron bei mir vermutlich niemand kommen, um mir den Arm zu tätscheln und beruhigend auf mich einzureden. Erst hatte ich ja noch gedacht, dass ich T gleich beim Sport danach fragen könnte, aber da ich in der Umkleide vorsichtshalber ein bisschen Abstand gehalten hatte, hatte er sich bereits mit Jo zum Aufwärmen abgesetzt und ich konnte ja nun schlecht zu ihnen aufschließen, um ein Gespräch anzufangen. Vor Geschichte fachsimpelte er mit Jo und Leon über irgendwelche Spielzüge beim Basketball, sodass da auch kein Platz für meine Frage war und ich mich damit begnügen musste, mich mit Anton über Mathe zu unterhalten, wo heute eine Klassenarbeit anstand. Und in der großen Pause hatte T sich schließlich zu seinem Bruder verdrückt. Wie bitte? Das mit dem Bruder hatte ich noch gar nicht erwähnt? Oh, sorry, mein Fehler. Ja, T hatte auch noch einen großen Bruder, zwei Jahre älter als er und somit schon im Abiturjahrgang. Die hingen in den Pausen immer in einem ganz bestimmten Teil der großen Halle herum und als Unter- oder Mittelstufler war es einem nur nach schriftlicher Aufforderung in dreifacher Ausführung gestattet, sich ebenfalls dort aufzuhalten. Wann immer ein Jahrgang die Schule verließ, durfte der nächste aufrücken, und natürlich machten die dann gleich wieder von ihrem Recht Gebrauch, den Bereich für sich allein zu beanspruchen. Die rühmliche Ausnahme von dieser Regel war T, der durch seine Freunde aus seiner ehemaligen Klasse, die ja jetzt bereits in der 11. waren, und seinen Bruder jetzt einen doppelten Eintrittspass hatte. Die Welt war wirklich manchmal ungerecht. Missmutig starrte ich von meinem hart erkämpften Platz auf einer der wenigen Bänke auf dem Pausenhof nach drinnen. Das hieß, ich versuchte es, denn viel zu sehen war nicht, da sich lediglich der Pausenhof und meine Wenigkeit in den großen Scheiben spiegelten. Dafür pfiff der Wind hier um die Ecke und kroch unter meine Jacke. Eigentlich war der Tag ja ganz schön, aber durch den Regen der letzten Tage hatte es sich so abgekühlt, dass die Sonne erst mal wieder ein paar Tage scheinen musste, bis wieder an T-Shirt-Wetter zu denken war. Weiter hinten auf dem Hof hätte es sich bestimmt aushalten lassen, aber dazu hätte ich mich unter die Unterstufler mischen müssen, die dort herumsprangen und … was eigentlich? Fangen spielten? Waren die dafür nicht auch schon zu alt? Na egal. Das ging auf jeden Fall gar nicht. Was die Pausen anging, herrschte strenge Rassentrennung, um mal so eben im Geschichtsunterricht erlangtes Wissen anzuwenden. Der einzige Depp, der das nicht einzusehen schien, war Oliver. Der ging zwischen den Knirpsen herum und … Moooment. Hatte der den Kleinen da gerade geschubst? So ein … Ich sah mich um, aber die Pausenaufsicht war gerade in einem anderen Teil des Hofes unterwegs. War ja klar. Lehrer waren nie da, wenn man sie brauchte. Außerdem traute ich Oliver zu, dass er das vorher abgecheckt hatte. Jetzt verhöhnte er den Jungen auch noch, der ihm gerade mal bis zur Brust ging. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich bezweifelte, dass die Kleinen sich gegen ihn zu Wehr setzen würden. Und Petzen würde vermutlich auch keiner gehen. Aber was sollte ich tun? Mich als Rächer mit dem Cape dazwischen schwingen war ja nun auch mehr als lächerlich. Wenn ich ihn zur Rede stellte, würde er sowieso nur alles abstreiten. Aber ihn einfach weitermachen lassen konnte ich auch nicht. Bevor ich richtig wusste, was ich tat, war ich schon aufgesprungen und hatte mich grob in Richtung Oliver in Bewegung gesetzt. Der war anscheinend immer noch in einen Streit mit den Fünftklässlern vertieft und merkte gar nicht, dass ich kam. Als ich neben ihm stand, legte ich ihm den Arm um die Schultern. „Oliver! Dich suche ich ja schon überall. Hast du mal einen Moment für mich?“ Ich merkte, wie er sich neben mir versteifte und dann sofort auf Abstand ging. „Pfoten weg, du Schwuchtel“, schimpfte er. „Na du musst es ja wissen“, flötete ich zurück und grinste. „Was willst du damit sagen?“ „Nichts. Nur, dass du aufhören solltest, hier in der Sonne zu stehen. Das verträgt sich anscheinend nicht mit deinen Medikamenten.“ Er funkelte mich noch einen Augenblick lang an, bevor er sich tatsächlich in einen schattigeren Bereich trollte. Irgendwie war ich gerade froh, dass ich heute nicht mit dem Fahrrad da war. Das hätte nachher garantiert einen Platten gehabt. Ich wendete mich den Kleinen zu. „Alles klar bei euch?“ „Logisch. Und jetzt verzieh dich, du Lulatsch. Mit dem Spast wären wir schon klargekommen.“ Äh, wie bitte? Na da hörte sich doch alles auf. Da will man nett sein und dann traten einem diese Hosenscheißer auch noch gegens Knie. Undank war wirklich der Welt Lohn. Zum Glück läutete es in dem Moment und ließ meinen Rückzug weniger wie eine Flucht wirken. Also ehrlich, diese Jugend heutzutage … Als ich wieder an meinem Platz ankam, um mein Buch zu holen, dass ich dort zurückgelassen hatte, erwartete mich eine Überraschung. T stand da, hatte mein Asimov-Band in der Hand und las sich den Klappentext durch. Unwillkürlich wurde ich langsamer. Das war jetzt ja peinlich. Also eigentlich nicht, der Mann war schließlich ein Genie, aber T las bestimmt ganz andere Sachen als Geschichten über Androiden und Roboter. Ich stopfte die Hände in die Taschen meiner Sweatjacke und ging wieder ein bisschen schneller. Bloß nicht kneifen. „Hey“, sagte ich, als ich ankam. Er hob den Blick. „Hey. Ist das deins?“ „Ja, ich … hatte grad was mit Oliver zu bereden. Oliver und Bücher, das verträgt sich nicht so.“ T grinste. „Könntest du recht mit haben. Unser Projekt mache ich auch schon allein.“ Ich sah ein wenig unbehaglich zur Seite. Das hatte er ja quasi mir zu verdanken. T schien aber nicht besonders böse zu sein, sondern reichte mir nur mein Buch. „Weswegen ich eigentlich komme … Ich hab bei Friedrichsen nachgefragt. Holger hat gemeint, jetzt im Sommer könnte er tatsächlich noch wen gebrauchen. Mit der Saison kommen immer ne Menge Surfer.“ „Echt? Cool. Und … soll ich da mal vorbeigehen oder so?“ „Ich hab dir den Zettel für deine Eltern gleich mitgebracht wegen der Einverständniserklärung. Den füllt ihr aus und dann … ja, dann kann’s eigentlich losgehen.“ „Oh, äh … danke.“ Ich wusste nicht so recht, was ich jetzt machen sollte. Um uns herum hatte sich der Schulhof schon ziemlich geleert. Wir waren quasi die letzten. Hatte er das mit Absicht gemacht? Damit uns niemand zusammen sah? Plötzlich fiel mir auf, dass er erstaunlich oft allein mit mir sprach. Ob es ihm peinlich war, wenn das jemand mitkriegte? Aber dann hätte er doch nicht danach gefragt, ob ich in dem Laden arbeiten wollte, wo er zusammen mit den anderen … obwohl … Er hatte gesagt, da arbeiteten immer nur zwei Leute miteinander. Ob er vielleicht hoffte, dass wir beide …? Mein Herz begann plötzlich schneller zu schlagen. Scheiße, Benedikt, reiß dich zusammen. Das ist zu bescheuert, um wahr zu sein. Das kann gar nicht sein. Aber was ist, wenn doch?, wollte eine kleine, aufmüpfige Stimme wissen. Was, wenn er sich für dich interessiert? Nur als Freund!, schnauzte ich die Stimme an. Obwohl selbst das vermutlich noch zu hoch gegriffen war. Da konnte sich mein innerer Höhlenmensch dreimal auf die Hinterbeine niederlassen und den Mond anheulen. Ich stand da in jedem Fall drüber. „Wir müssen dann mal“, sagte ich und ging um die Bank herum, die die ganze Zeit zwischen uns gewesen war. Okay, und jetzt? An ihm vorbei, oder in die andere Richtung? Welche Tür nehme ich? Was sieht möglichst lässig aus? „Klar, los geht’s. Der Reichelt ist immer so pünktlich. Hast du Mathe gelernt?“ „Klar hab ich.“ „Natürlich. Wie konnte ich daran nur zweifeln?“ Er lachte und sah dabei unheimlich gut aus. Also so … glücklich irgendwie. Aber das war bestimmt nur Einbildung, genau wie die Tatsache, dass er ein bisschen zu nah neben mir die Treppe hochging. Totale Einbildung. Oder dass sich unsere Fingerspitzen berührten, als er mir noch schnell den Zettel gab, weil unser Philosophielehrer überraschenderweise doch noch nicht aufgetaucht war. Alles pure Einbildung. Sagte mein Kopf. Mein Herz hingegen schlug Purzelbäume und tanzte Polka. Ihr wisst schon, diese finnische von Loituma, die angeblich keiner hört, aber doch jeder kennt, und deren Text klingt, als würde man damit Dämonen aus dem dritten Kreis der Hölle beschwören. War mir egal. Ich war einfach gut drauf. Während Herr Reichelt uns versuchte, Platons Höhlengleichnis nahezubringen, schweiften meine Gedanken jedoch schon wieder ab. Ich sah mir den Animationsfilm an, den er uns mitgebracht hatte. Eine witzige Adaption der Geschichte mit irgendwelchen Knetmännchen. An der Stelle allerdings, an der das zurückkehrende Knetmännchen von seinen Höhlenkameraden angegriffen wurde, stellte ich mir auf einmal die Frage, ob es das wirklich wert war. War es das wert, das Richtige zu tun, wenn man dafür hinter aufs Maul kriegte und noch dazu allein dastand? Oder war es nicht eigentlich auch nett, zusammen mit den anderen Höhlenmenschen dumm und unwissend zu bleiben? Und welchen Preis war man bereit dafür zu zahlen, dass man anders war? Diese Frage hatte ich immer noch im Kopf, als ich früher als sonst am Busplatz ankam. Unser Klassenlehrer hatte heute noch irgendeinen Termin und uns deswegen früher rausgelassen. Ganz im Tran war ich einfach zum Bus gelatscht und jetzt war der Platz noch fast vollkommen leer. Fast. Ich sah Manuel schon von weitem an der Haltestelle sitzen. Er hatte sich eine der Bänke im Bushäuschen geschnappt, die Beine vorgestreckt und übereinandergeschlagen und rauchte. Er sah nicht in meine Richtung und bemerkte mich daher erst, als ich schon fast bei ihm war. Sein Blick irrte kurz zu mir, bevor er sich betont desinteressiert wieder den beiden Tauben zuwandte, die auf dem Kopfsteinpflaster des Haltestreifens nach irgendwelchen Krumen pickten. Ich blieb stehen. Die andere Bank war leer und bevor ich noch weiter dumm rumstand, setzte ich mich darauf. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er einen neuen Zug aus seiner Zigarette nahm. Der Geruch wehte zu mir herüber und ich bildete mir fast ein, dazwischen das Waschmittel zu riechen. Was für eine Sorte das wohl war? Ob seine Mutter das immer benutzt hatte? Oder war das einfach nur irgendeine billige Marke, die alle aus seiner WG nahmen. Nichts persönliches. Und warum machte ich mir über so einen Scheiß eigentlich Gedanken? Ich drehte den Kopf ein wenig und bemerkte, dass er neue Schuhe anhatte. Graue Sneaker. Keine Markenschuhe, aber definitiv neu. So sauber bekam man die weißen Sohlenseiten nie wieder. Auch der Rest von ihm wirkte irgendwie … zurechtgemacht. War das ein Hemd, was er da anhatte? Sah so aus. Es stand ihm. Und hatte er sich rasiert? Ja, definitiv. Dieser komische Bartverschnitt war ab. Das war im ersten Moment ungewohnt, im zweiten konnte ich nicht leugnen, dass mir das definitiv besser gefiel. Er warf erneut einen genervten Blick in meine Richtung, sah dann aber wieder weg. Ich riss mich zusammen und guckte auch woanders hin. So ein Mist. Da hatte ich auf einmal die Chance, unseren Streit aus der Welt zu schaffen, und jetzt wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte es doch nur richtig machen wollen. So wie das Knetmännchen, das die Wahrheit wissen wollte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, holte ich mein Handy raus. Ich öffnete den Messenger und tippte zwei einfache Buchstaben. Als ich auf Senden drückte, piepte es kurz darauf ganz in der Nähe. Ich hörte, wie Manuel sein Handy rauskramte. 'Hi', stand auf seinem Bildschirm. Hoffte ich zumindest, denn das hätte geheißen, dass er meine Nummer auch nicht gelöscht oder wenigstens nicht blockiert hatte. 'Was willst du?', kam es unfreundlich zurück. 'Reden?', schlug ich vor. Ich hörte ihn schnauben. „Das hatten wir doch schon.“ „Hat beim letzten Mal aber nicht so hingehauen.“ Er antwortete nicht mehr, sondern beschränkte sich aufs Rauchen. Der Busplatz begann sich langsam zu füllen. Bald würden auch hier die ersten Leute auftauchen. Das hieß, ich hatte nicht mehr viel Zeit. Also gab ich mir einen Ruck, stand auf, ging zu ihm rüber und deutete auf die Bank neben ihm. „Ist da noch Platz?“ Er zuckte mit den Schultern und meinte in gleichgültigem Ton: „Ist ein freies Land.“ Ich wertete das mal als „Ja“ und setzte mich neben ihn. Die hölzerne Bank in diesem Gebilde aus dunkelrot lackiertem Stahl und Plexiglas war nicht gerade groß und so saßen wir ziemlich eng zusammen. Unsere Arme berührten sich und wenn ich mich ein bisschen breitbeiniger hingesetzt hätte, wären unsere Oberschenkel zusammengestoßen. Er war bestimmt warm. Unter der Jacke und dem Hemd und allem war er bestimmt warm. Ich roch jetzt tatsächlich das Waschmittel zusammen mit dem frischen Rauch. Unwillkürlich atmete ich ein bisschen tiefer ein. Plötzlich stand er auf. „Ich brauch neue Kippen“, verkündete er und stiefelte los zur anderen Seite, wo sich in dem alten Bahnhofsgebäude ein kleiner Kiosk befand. Ich sah ihm hinterher und stellte fest, dass er heute wirklich ganz schön scharf aussah. Aber warum sagte er mir, dass er Zigaretten holen ging? Und ließ mich noch dazu so blöd hier sitzen, bevor ich ihm hatte sagen können, dass es mir leidtat. Man! Er hatte sich doch ebenso wenig mit Ruhm bekleckert wie ich. Wieder nahm ich mein Handy zur Hand. 'Ich bin kein Bonze!', schrieb ich und schickte die Nachricht ab, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Angriff war ja bekanntlich die beste Verteidigung. Keine 20 Sekunden später piepte es. 'Schön für dich', stand auf meinem Display. 'Du bist ein Arsch', schrieb ich. 'Ein Arsch der auf deinen Arsch steht ;)', kam postwendend zurück. Ich musste grinsen. Echt jetzt? Das schrieb er einfach so? Na warte. 'Mein Arsch gehört mir.' Ha, nimm das, du Blödmann! 'Ich will ihn ja auch nicht kaufen. Nur ausleihen.' Ich tippte noch an einer Antwort, als er noch hinterher schickte: 'Dein Arsch und ich könnten ne Menge Spaß zusammen haben.' Ich verzog das Gesicht. 'Und was mache ich derweil?' 'Kannst ja zugucken.' Ich stellte mir das bildlich vor und musste lachen. So ein … Arsch halt. Ich überlegte gerade, wie ich das kontern wollte, als sich zwei neue, grauweiße Sneaker in mein Sichtfeld schoben. Ich sah hoch und blickte Manuel direkt ins Gesicht. „Kannst natürlich auch gerne mitmachen. Dann wird das ein flotter Dreier.“ Ich grinste. „Was? Du, ich und mein Arsch?“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Ich hab das Gefühl, er wäre dafür.“ „Gar nicht.“ „Ach nein? Hast du ihn mal gefragt?“ Er legte den Kopf schief und sah mich immer noch an. Neben uns trudelten die ersten, anderen Fahrgäste ein. Ein Gespräch über meinen Hintern wollte ich jetzt bestimmt nicht mehr führen. Also am besten taktischer Rückzug. „Kommst du morgen vorbei?“ „Willst du wieder quatschen?“ „Müssen wir nicht.“ „Welche Zeit?“ „Wie immer?“ Er zog nochmal an seiner Zigarette und warf den brennenden Stummel dann in Richtung der Tauben. „Okay“, sagte er, während er den Rauch ausblies. Dann lehnte er sich vor und flüsterte: „Aber nur, wenn dein Arsch auch kommt. Den hab ich nämlich echt vermisst.“ „Spinner“, flüsterte ich zurück und versuchte, nicht zu grinsen. Und ihn nicht zu küssen, was mir gerade echt schwerfiel. Ich musste an das denken, was Julius erzählt hatte. Dass er sich so versehentlich geoutet hatte. Plötzlich verstand ich, wie ihm das passieren konnte. Manuel und ich würden da auch echt vorsichtig sein müssen. Besonders was meine Mutter anging. Der Gedanke, wie sie mich mit ihm im Bett erwischte, war definitiv kein guter. Zum Glück hatte unser Amt ja verlässliche Öffnungszeiten. Zu Hause erwartete mich mal wieder ein Zettel. Meine Mutter war zu Diana gefahren. Die beiden wollten eine Runde Baby- und Hochzeitspläne schmieden. Und danach wollte sie einkaufen. Na sollte mir recht sein, dann hatte ich das Haus für mich. Ganz kurz bedauerte ich, dass ich Manuel nicht schon heute eingeladen hatte. Im Bus hatten wir natürlich nicht zusammen gesessen, obwohl ich sehr in Versuchung gewesen war, mich neben ihn in die letzte Bank zu quetschen. Die kurze Berührung auf dem Busbahnhof hatte mir gezeigt, wie sehr ich es vermisste, mit ihm zusammenzusein. Und, wenn ich mal ehrlich war, ich wollte doch auch. Also irgendwas in Richtung Sex auf jeden Fall. Wobei ich mir noch nicht sicher war, war diese eine, letzte Schritt. Der Gedanke was reinzustecken, wo eigentlich was rauskam, erschien mir irgendwie … eigenartig. Andererseits schienen das ja ne Menge Leute ziemlich geil zu finden. Sogar Frauen. Die konnten doch nicht alle nur so tun als ob. Ob ich das mal … ausprobierte? So alleine? Um mal zu gucken, wie es sich anfühlte? Ich sah zu der Schublade ganz unten in meinem Schrank. Da lagen meine Socken drin und ganz hinten in ein Paar eingewickelt, dass ich nie trug, war die Tube Gleitgel. Die Kondome lagen hinter einigen Büchern im Regal. Nur zur Sicherheit. Aber von denen würde ich ja eigentlich keins brauchen. Oder ob ich … nein, ganz schlechte Idee. Keine Gegenstände, die da nicht reingehörten. Auch nicht mit Kondom drüber. Obwohl die Vorstellung sich irgendwie interessant anhörte, wie mein Schwanz plötzlich fand. Etwas missmutig sah ich auf den kleinen Verräter hinab, der jetzt nicht mehr ganz so klein war. Also war er generell nicht. Manuels war – ohne angeben zu wollen – auf jeden Fall kleiner. Aber der hier war gerade angetan von dem Gedanken, dass ich mir am Hintern rumspielte. War das pervers? „Ach was. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“ Ich schnappte mir also das Gleitgel und verzog mich in die Dusche. Da konnte ich auch bei zu früh heimkehrender Mutter sicher sein, dass sie mich nicht störte. Und Hände waschen war so auch kein Problem. Und alles andere auch gleich, wo ich schon mal dabei war. Und dann … mhm. Das war jetzt irgendwie nicht besonders. Drinnen fühlte es sich komisch an und auch sonst tat sich da eigentlich nicht viel, außer dass ich mir ziemlich lächerlich vorkam. Mein Schwanz wollte sich schon enttäuscht zurückziehen, als ich beschloss, ihm auch ein bisschen Aufmerksamkeit zu gönnen. War gar nicht so einfach und ich war heilfroh, dass mich hier gerade keiner sehen konnte bei diesen komischen Verrenkungen, aber mit ein paar Streicheleinheiten auf Vorder- und Rückseite, ließ sich das schon eher an. Und was, wenn ich jetzt mehr als einen Finger nahm? Und was, wenn ich mir dazu noch vorstellte, dass das eben nicht meine Finger waren, die sich da gerade in mir bewegten, sondern stattdessen Manuels Schwanz? Ich biss mir auf die Lippen und ließ mich auf den Boden gleiten, während ich die Beine weiter spreizte. Ja, das war definitiv anregend. Sehr sogar. Ich machte einfach weiter und weiter, bis ich irgendwann kam und die Spuren gleich von der Dusche beseitigt wurden. Als ich danach die Finger hinten rauszog, wurde mir doch ein bisschen anders. Allein die Vorstellung, dass die nun gerade dort gesteckt hatten, war irgendwie ein wenig ähm, naja … Ich griff nochmal zur Seife, bis alles wieder okay war. An der Feinausführung würde ich definitiv noch arbeiten müssen. Immer noch etwas wackelig auf den Beinen stieg ich aus der Dusche, trocknete mich ab und ging dann ins Bett, um mich dort zu verkriechen. Normal war ich nach dem Wichsen immer ziemlich entspannt, aber heute wirbelte es in meinem Kopf durcheinander wie in einer Schneekugel. Hatte mir das jetzt gefallen? Schon irgendwie, obwohl es eigenartig war, dass das jetzt noch so puckerte und mich daran erinnerte, was ich gerade getan hatte. Ob ich es also einfach mal auf einen Versuch ankommen lassen sollte? Klang nach dieser Erfahrung gerade gar nicht mehr so abwegig. Andererseits … da waren einfach Dinge, über die wir vorher sprechen mussten. Schlucken war ja eine Sache, aber das hier war nochmal eine andere Arsch anscheinend beschlossen, die Seiten zu wechseln und die Pro-Anal-Fraktion zu unterstützen. Ich stand also allein gegen Manuel, meinen Schwanz und meinen Hintern und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich diese Debatte in der Hitze des Gefechts glasklar verlieren würde. Die Frage war nur, ob ich das auch wollte. Ich schloss die Augen und musste wieder an dieses Knetmännchen denken. Das, das aus seiner Höhle rausspaziert war und nun nicht mehr zufrieden war mit dem, was es vorher hatte. Aber wo genau war ich denn nun eigentlich falsch abgebogen und wo würde dieser dumme Weg mich noch hinführen? Kapitel 17: Von schimmligen Toastbrot und sozialem Selbstmord ------------------------------------------------------------- Als ich am nächsten Tag aufwachte, wusste ich bereits, dass ich einen dieser gebrauchten Tage erwischt hatte. Ihr wisst schon. Einen von denen, die sind wie schon mal gekautes Kaugummi. Man kämpft und kämpft dagegen an, aber eigentlich ist der Geschmack schon lange verflogen und übrig bleibt nur eine graue, geschmacklose Masse, die man am liebsten in hohem Bogen von sich spucken würde. Geht aber nicht, weil niemand kommt und die Uhr mal eben zwölf Stunden vordreht, damit das Elend endlich ein Ende hat. Stattdessen läuft man die ganze Zeit mit einem emotionalen Belag auf der Zunge rum, der einfach nicht verschwinden will, egal wie oft man sich den Mund ausspült.     Nach einer Nacht, in der ich von Knetmännchen geträumt hatte, die höchst unanständige Dinge taten, begann der Morgen mit schimmeligem Toast. Grün und blau lachte mich der hübsche Pelz aus der Packung heraus an, die ich gleich mitsamt der Plastiktüte in den Abfall entsorgte. Blieb Müsli (ohne Milch, weil die auch alle war) oder normales Brot mit Marmelade. Ich hasste normales Brot mit was Süßem drauf. Allerdings hasste ich Salziges zum Frühstück oder eben kein Frühstück noch mehr.   Während ich lustlos auf meiner Stulle herumkaute und in meinem Buch schmökerte, kam meine Mutter die Treppe runter. Sie hatte bereits geduscht und wollte sich noch eine zweite Tasse Tee zum Fertigmachen holen. Das tat sie immer. Wir begrüßten uns kurz und eigentlich wäre sie jetzt wohl wie jeden Morgen wieder nach oben verschwunden, doch heute blieb sie stehen und warf mir so einen Blick zu. Ihr wisst schon. So einen Mutter-Blick, bei dem man bereits weiß, dass da gleich irgendeine unangenehme Frage folgt. In meinem Fall hieß die Frage: „Ist alles okay bei dir?“   Uff, was sollte ich denn jetzt darauf antworten? Ich hatte schlecht geschlafen, mein Frühstück bestand aus Graubrot mit Erdbeermarmelade und ich war ein Teenager. Natürlich war nicht alles okay. „Ja, Mama, alles prima.“ „Du guckst aber so.“ „Wie denn?“ „Na als wenn irgendwas wäre.“   Himmel, jetzt kam sie auch noch und machte Anstalten, sich zu mir zu setzen. Danke, kein Interesse.   „Hab schlecht geschlafen“, murmelte ich deswegen. „Und Toast war alle.“ Sie seufzte. „Das tut mir leid. Ich hab’s gestern nicht mehr geschafft mit dem Einkaufen. Diana und ich haben uns total verquatscht. Ich bring heute auf dem Heimweg ein bisschen was mit, ja?“   Ich brummte zustimmend. Wenn meine Mutter nach Feierabend noch einkaufen ging, würde sie garantiert nicht vor halb sieben nach Hause kommen. Und heute Nachmittag kam Manuel vorbei. Vielleicht konnte das den Tag noch irgendwie retten. „Fein, dann beeil dich jetzt besser. Du verpasst sonst noch den Bus.“   Den Bus? Wieso? Wie spät war es denn?   Ein Blick auf die Uhr bestätigte mir: Es war allerhöchste Eisenbahn. Die ganze Geschichte mit dem Ersatz-Frühstück hatte mich viel zu viel Zeit gekostet. Dabei hatte ich doch duschen und mich rasieren wollen und alles wegen heute Nachmittag. Nun musste ich das ganze Programm im Schnelldurchlauf absolvieren und kam gerade noch rechtzeitig, bevor die Türen des Busses sich zur Abfahrt schlossen. Auf dem Weg die steile Treppe hoch, stolperte ich und stieß mir das Knie. Willkommen in meiner Welt. „Immer langsam mit den jungen Pferden“, lachte der Busfahrer und zeigte auf sein Kinn. „Du hast da übrigens was.“   Jaa, ich weiß. Beim Rasieren geschnitten. Leck mich doch. Ich hatte halt nicht so viel Erfahrung damit, weil es da einfach noch nicht so viel zu rasieren gab. Aber heute hatte ich halt mal gewollt und es war prompt schief gegangen. Dämlicher Kaugummi-Tag.   Grummelnd nahm ich einen der ach so beliebten Stehplätze ein, die all denjenigen zuteilwurden, die sich nicht durchsetzen konnten bei der alltäglichen Drängelei. Somit fiel Lesen aus und ich durfte die ganzen gut 20 Minuten Busfahrt damit verbringen, einem Stöpsel mit unterirdischem Lesetempo bei seinem Comic über die Schulter zu schauen. Bevor der mal umblätterte, hatte ich die Seite schon dreimal durch. Der Tag zog und zog sich und wurde einfach nicht besser. In Englisch wurde ich an die Tafel gerufen, in Deutsch konnte ich die mir gestellte Frage nicht beantworten und in Mathe kam es dann ganz dicke. Herr Schrader legte mir die Zettel von der Klassenarbeit wieder auf den Tisch und auf der ersten Seite prangte eine dicke, rote Drei. What the fuck?   „Äh, Herr Schrader, ist das wirklich meine Arbeit?“   Ich war so verdattert, dass ich mich nicht mal meldete.   „Steht dein Name drauf?“ „Ja.“ „Dann ist es wohl deine.“ „Aber das ist ne Drei.“ „Wenn du mehr Punkte willst, hättest du vielleicht alle Aufgaben bearbeiten sollen.“   Alle Aufgaben? Was zum …? Voll böser Vorahnungen drehte ich den Arbeitszettel herum und richtig. Da waren echt noch zwei weitere Aufgaben, die ich einfach übersehen hatte.   „Na, Mister Oberschlau ist wohl doch nicht so toll, wie er immer denkt“, ätzte Oliver neben mir, aber ich zog es vor, ihn zu ignorieren. Eine Drei. Ich hatte noch nie eine Drei in Mathe gehabt.   Ich schielte zu Anton rüber, der seine volle Punktzahl gut sichtbar am oberen Tischrand platziert hatte. Man, wollte der mich jetzt etwa auch noch schikanieren? „Warum hast du nichts gesagt?“, zischte ich zu ihm rüber. Er schob die Brille hoch und sah mich an. „Wozu?“ „Na dass ich nicht alle Aufgaben gemacht hab.“ „Und woher hätte ich das wissen sollen?“ „Weil ich so früh fertig war? Das hätte dir doch auffallen müssen.“ „Ist es. Aber die eigentliche Frage ist doch, warum dir das nicht aufgefallen ist.“   Tja, das war tatsächlich eine gute Frage. Vermutlich, weil mein Kopf da noch vollgestopft war mit Knetmännchen und lauter verqueren Gedanken an T und wie mich seine Finger kurz gestreift hatten und wie er gelächelt hatte, als er mir den Zettel vom Sportgeschäft gegeben hatte. So wie jetzt auch gerade, als er zu mir rübersah und das Gesicht verzog, um mir zu signalisieren, dass er Mitleid mit mir hatte. Er sah sich kurz um und hielt dann seine Arbeit hoch. Darauf prangte eine rote Vier. Ich musste unwillkürlich grinsen. Immerhin war etwas an dieser Welt noch in Ordnung. „Du wirkst in letzter Zeit abgelenkt“, konstatierte Anton plötzlich. Er sah dabei nicht auf, sondern schrieb weiter in seinem Heft. Eine Kunst, die wir beide perfekt beherrschten. Wir wurden quasi nie ermahnt, weil wir den Unterricht störten, denn wir arbeiteten ja schließlich ganz konzentriert, nicht wahr? Geschwatzt haben musste also wer anders.   „Ja und?“, fauchte ich zurück. „Seit wann interessiert dich das?“ „Es war lediglich eine Feststellung, keine Interpretation deines Verhaltens.“ „Keine …? Bin ich jetzt dein Studienobjekt, oder was?“ Da hörte sich doch wirklich alles auf. Statt mir zu sagen, dass ich ihm leidtat und dass der Schrader ein fieser Arsch war oder sich vielleicht mal zu entschuldigen, dass er mich so hatte hängen lassen, gab er mir auch noch die ganze Schuld an der Geschichte? Er hätte doch merken müssen, dass selbst ich nicht so früh mit allen Aufgaben hätte durch sein können.   Eine kleine, fiese Stimme bestand zwar weiterhin darauf, dass ich das ebenfalls mal hätte merken können, aber mein innerer Höhlenmensch gab ihr eins mit der Keule drauf und setzte sich dann mit seinem behaarten Hintern auf den übriggebliebenen Matschfleck. Ha, nimm das, Stimme der Vernunft! Komisch war nur, dass die Stimme ausgesehen hatte wie Anton.   Den Rest der Stunde strafte ich ihn mit Schweigen, was der Blödmann nicht mal zur Kenntnis zu nehmen schien. Es war ihm schlichtweg egal, ob ich mit ihm sprach oder nicht. Für ihn war ich wahrscheinlich wirklich nicht mehr als der Typ, der zufälligerweise neben ihm saß.     Eigentlich hatte ich in der Pause in die Bücherei gehen wollen, aber heute verzog ich mich lieber mit den anderen auf den Pausenhof. Sollte Anton doch mit Timo abhängen. Das schien seit diesem Geschichtsprojekt ohnehin sein neuer Busenkumpel zu sein. Die beiden hatten ihre Fantasy vs. Computer Streiterei nämlich dadurch beigelegt, dass sie sich jetzt über Fantasy-Computer-Spiele unterhielten. Wahrscheinlich hatten sie schon das Aufgebot bestellt und einen Platz in einem Gemeinschaftsgrab reserviert. Fickt euch doch!   Während ich in der Pause in einer Ecke herumsaß und Trübsal blies, glitt mein Blick über die verschiedenen Grüppchen. Da war die In-Clique, in deren Mitte T stand und gerade irgendeiner Erzählung von Jo lauschte, der sich dabei mächtig ins Zeug legte. Sicherlich nicht umsonst, denn „nur Mia“ stand ganz in der Nähe und sah immer mal zu ihm rüber. Wahrscheinlich würde der Penner mit seiner Methode doch irgendwann Erfolg haben. Arsch!   Mia-Marie saß mit ein paar der nicht so coolen Mädchen und unterhielt sich über irgendwas. Sie bildeten die Gegentruppe zu Mia-Sophie und ihren Freundinnen, die sich in die Frühlingssonne gesetzt hatten und von dort aus Hof hielten. Man fragte sich allerdings für wen, denn niemand, der auch nur annähernd wusste, wie das hier funktionierte, würde sich in ihre Nähe trauen. Selbst dann nicht, wenn er tatsächlich in ihrer Altersstufe war. Das war nämlich die nächste Aufteilung, die zu beherrschen man als Schüler in der Lage sein musste: Kenne deinen Platz in der Rangordnung.   Dabei gab es mehrere Gruppen, zu denen man gehören konnte und die sich stark unterschieden. Da waren zum einen diejenigen, die einfach oben schwammen wie T oder Mia-Sophie. Sie waren beliebt, reich, gutaussehend, sportlich, und alle wichen ihnen aus, sobald sie den Raum betraten. In diese Gruppe wurde man hineingeboren oder, wenn man Glück hatte, durch Beziehungen hineingewählt so wie Jo. Wer einmal drin war, tat alles dafür, um dort zu bleiben. Am anderen Ende der Skala befanden sich diejenigen, die in tausend Jahren nicht aufsteigen würden. Die Loser, die Spinner, die Unsportlichen, die komisch Aussehenden oder sonst irgendwie aus der Reihe fallenden. Die konnten eigentlich nur hoffen, dass die Schule irgendwann rum war und sie dann niemand mehr zu irgendwelchen Klassentreffen einlud, wenn sie bis dahin nicht wenigstens im Ferrari vorfahren konnten. Im besten Fall war es ihnen egal so wie Anton, denn auch als Kellerassel ließ es sich ja irgendwie leben.   Und dann war da das Mittelfeld, das ständig darum kämpfte, nicht zu weit abzurutschen, etwa indem man in einem unmöglichen Outfit erschien oder irgendwelche Peinlichkeiten über einen bekannt wurden, die über Wochen für Klassenspott sorgten und erst durch harte Arbeit wie etwa eine angesagte Party, zu der sich die coolen Leute einladen ließen, oder ein neues Inteil wieder ausgeglichen werden konnte.   Zu sagen, dass hier auf dem Pausenhof Krieg herrschte, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen und jeder, der so wie ich in der Mitte rumgurkte, stand nur einen Schritt entfernt vom zumindest zeitweisen, sozialen Selbstmord. Das war mit ein Grund, warum ich meist die Füße stillhielt und nicht allzu große Töne spuckte. Wer nicht wahrgenommen wurde, war auch nicht angreifbar. So wie Yasmin und Ayleen aus meiner Klasse zum Beispiel, die trotz der Tatsache, dass sie ziemlich hübsch waren und auch sonst ganz nett rüberkamen, eigentlich die ganze Zeit nahezu unsichtbar blieben. Die beiden hingen immer nur zu zweit ab und flüsterten vermutlich dabei auf Türkisch miteinander. Letzteres mochte auch der Grund sein, warum sie irgendwie nie so richtig dazugehörten, obwohl ich niemanden aus unserer Klasse als ausländerfeindlich einstufen würde und die beiden ja sogar in Deutschland geboren waren. Aber sie hielten sich eben abseits, hatten zu Hause ein anderes, kulturelles Leben und das führte dazu, dass sie nicht Teil der beliebten Gruppe waren.   Ihr Anblick erinnerte mich daran, dass wir gleich Französisch hatten. Frau Bertram hatte angekündigt, dass wir das Stück erst mal mit verteilten Rollen lesen würden, um ein Gefühl für den Text zu bekommen. Ich konnte mich also entspannen. Schließlich hatte ich ja nicht viel zu sagen. Danach noch Musik, Mittagspause und ne Doppelstunde Chemie. Alles ganz easy. Dachte ich. Bis die Chemiestunde dann wirklich kam.     Zuerst nahm ich ja noch an, dass sich der Kaugummi-Tag jetzt inzwischen beruhigt hatte. Ich hatte mich beim Mittagessen sogar zu Mia-Marie gesetzt, noch ein bisschen mit ihr über Geschichte geplaudert und locker abgemacht, dass wir uns irgendwann nächste Woche mal nachmittags dafür treffen würden.   Als ich den Chemieraum betrat, hatte ich mir fest vorgenommen, Anton weiter mit Nichtachtung zu strafen. Da es hier mehr Stühle als Schüler gab, suchte ich mir einfach einen Platz in der letzten Reihe und ließ mich dort häuslich nieder. Oliver machte zwar irgendwelche dummen Sprüche über „Stress im Paradies“, aber heute war ich auf dem Ohr einfach mal taub. Ich freute mich, dass bald Feierabend war und ich endlich nach Hause fahren konnte, um mich mit Manuel zu treffen, der immer mehr zum Lichtblick an diesem sonst so beschissenen Tag wurde.   Zuerst lief auch noch alles ganz prima. Wir stopften uns den Kopf mit Wissen über Protonenübergänge und Säure-Base-Reaktionen voll, bis sie uns zu den Ohren wieder herauskamen, und eigentlich hätte es alles gechillt ablaufen können, wenn Herr Wilkens nicht eine halbe Stunde vor Ende des Unterrichts plötzlich wieder mit dem Thema Klassenfahrt angefangen hätte.   „Eine besorgte Mutter hat bei mir angefragt, ob wir nicht bald mal mit den Vorbereitungen anfangen wollten. Wir bräuchten ja schließlich Zelte, Gepäck und so weiter. Damit ihr das regeln könnt, werden wir zunächst mal die Zelteinteilung machen. Gibt es da schon Vorschläge?“   Wie sich herausstellte, hatten die meisten Mädchen tatsächlich schon darüber gesprochen und aus ihren Reihen wurden fleißig Zelt-Mannschaften ausgerufen, die unser Klassenlehrer auf einem Blatt vermerkte. Als es dann an den männlichen Teil der Klasse ging, kamen die Rückmeldungen etwas zögerlicher, was vermutlich darauf zurückzuführen war, dass die meisten einfach nach links oder rechts guckten und sich spontan für einen Übernachtungspartner entschieden. Aber auch das lief eigentlich soweit ganz gut, bis Herr Wilkens dann am Ende verkündete: „Bleiben also nur noch Oliver und Benedikt für das letzte Zelt.“   Äh wie? Bitte was? Och nö.   Ich hob gerade an, gegen diese Regelung zu protestieren, als Oliver schon in voller Lautstärke losplärrte.   „Mit der Schwuchtel schlafe ich nicht in einem Zelt.“   Herr Wilkens runzelte die Stirn.   „Solche Äußerungen verbitte ich mir hier. Aber wenn du einen besseren Vorschlag hast, immer raus damit.“ „Ich penne einfach bei Jo und T mit im Zelt. Die haben ein Dreier.“   Oh ja bitte. Die Idee ist super, dann hab ich meine Ruhe.   „Nein, das geht nicht. Es schläft niemand allein.“ „Aber warum denn nicht?“ „Weil ich es sage. Darum.“   Schweigen breitete sich aus. Ich fing einen Blick von Anton auf, aber der konnte mir jetzt auch nicht helfen. Immerhin würde er ja dank Krankenschein zu Hause bleiben und mich – schon wieder – im Stich lassen. Wollte denn keiner was sagen? Ich räusperte mich. „Mir macht das wirklich nichts aus. Ich zelte gerne alleine.“ „Nein, das kommt nicht in die Tüte. Also. Nimmt jemand Benedikt mit zu sich?“ Das hörte sich an, als wäre ich ein verlauster Streuner, den man maximal mit der Kneifzange anfassen dürfte. Seit wann war ich denn so weit im Beliebheits-Ranking abgerutscht, dass man mich wie einen Aussätzigen behandeln musste? Bis jetzt hatte ich gedacht, dass mit mir alles soweit okay war. Aber anscheinend reichte es nicht, um mich mit im Zelt schlafen zu lassen. Oder hatten Olivers Schwuchtel-Rufe doch jemanden misstrauisch gemacht? Hatten die jetzt Angst, dass ich ihnen nachts an die Wäsche ging? „Er kann mit zu uns kommen“, verkündete da plötzlich eine Stimme. Ich sah mich um. Ausgerechnet Timo, dem ich doch gerade noch die Pest an den Hals gewünscht hatte.   „Ich würd auch mit ihm in ein Zelt gehen.“ Ben. Natürlich. Der musste ja immer dagegen sein. Trotzdem wollte ich ihn nicht aus seinem trauten Bund mit seinem Busenkumpel Jonas reißen.   „Ich geh mit zu Timo und Elias.“   Dann konnten wir ein Nerd-Trio bilden oder so. Ick freu mir. Haha.   „Na dann haben wir es jetzt ja.“ Herr Wilkens schien höchst zufrieden. „Und weil wir das so schnell geschafft haben, schreibe ich euch jetzt noch ein paar Aufgaben an die Tafel, die ihr zu Hause lösen könnt. Hört auf zu stöhnen, das ist gut für eure Bildung.“   Pflichtergeben beugte ich mich über mein Heft. Ich hatte mich nicht mal bei Timo bedankt. Würde ich später noch machen. Jetzt malte ich erst mal Strukturformeln in mein Heft und versuchte mich noch ein letztes Mal zu konzentrieren, als ich plötzlich das Gefühl hatte, dass mich jemand beobachtete. Als ich den Kopf hob, erblickte ich T, der mich ein bisschen mitleidig musterte.   Als er sich wieder umdrehte, um ebenfalls den Kram von der Tafel zu kopieren, ging mir auf einmal auf, dass er ja auch hätte mit mir in ein Zelt kommen können. Er hatte doch gesagt, dass er mich mochte. Na gut, nicht direkt gesagt, aber immerhin hatte er doch versucht, mehr Zeit mit mir zu verbringen. Oder war das auch nur Mitleid gewesen? Ein paar Bröckchen, die man dem armen Außenseiter zuwarf, damit man sich besser fühlte? War das so eine Art Wohltätigkeits-Gala? Spendet für Benedikt, den komischen Freak, der keine Freunde hat?   Vor lauter Wut darüber drückte ich mit meinem Bleistift so stark auf, dass die Mine abbrach. Scheiße. Jetzt musste ich auch noch aufstehen, um ihn vor aller Leute Augen anzuspitzen. Heute war wirklich nicht mein Tag.   Als es klingelte, musste ich nicht mal so tun, als würde ich noch weiter arbeiten, denn mir fehlten immer noch zwei Formeln. Schnell kritzelte ich den Rest ab, während die anderen schon rausgingen, warf meine Sachen in den Rucksack und verließ schließlich als Letzter den Raum. Draußen hatte niemand gewartet. War ja klar. Wer auch? Für mich interessierte sich ja niemand auf dieser verdammten, ganzen, weiten Welt.     Meine miesepetrige Sicht der Dinge geriet allerdings ziemlich ins Schwanken, als ich das Schulgebäude verließ und dort eine Gestalt mit einem Fahrrad stand. Es war T. „Hey, ich … ich hab auf dich gewartet.“   Wieso das? Und wieso gab er das so offen zu? „Schöner Mist, das mit Oliver gerade. Der Typ ist einfach nur dämlich.“ „Mhm“, machte ich nur.   Warum wollte er mich deswegen denn jetzt volllabern? Er war doch derjenige, der den Schwanz eingezogen hatte, als es darum ging, sich zu mir zu bekennen. „Was ich fragen wollte … hast du den Zettel schon mit? Ich arbeite heute wieder und könnte ihn gleich abgeben.“   Den Zettel? Ach ja. Die Arbeit bei Friedrichsen. Darüber hatte ich mit meiner Mutter noch gar nicht gesprochen. Sie war irgendwie so beschäftigt damit gewesen, mir von Dianas Hochzeit zu erzählen. Wenn ich zu Wort gekommen wäre, wäre sie bestimmt begeistert gewesen von der Idee, dass ich mal ein bisschen unter Leute kam. Aber plötzlich erschien mir die Idee, mich mit Gewalt in diesen Kreis drängen zu wollen, der mich ja offenbar nicht haben wollte, vollkommen widersinnig. Ich gehörte nicht dazu. Warum es also versuchen? Warum sich anstrengen, wenn man dann eh nur die ganze Zeit paddelte, um nicht wieder unterzugehen? Das war mir entschieden zu anstrengend. Blieb ich eben ein Grottenolm und versauerte am Meeresboden.   „Nee, sorry. Meine Mutter erlaubt es nicht.“ Damit ließ ich ihn stehen. Tja, mein Lieber, Chance gehabt. Erst wolltest du mich nicht und jetzt will ich dich nicht mehr. Das hast du jetzt davon. Benedikt over and out. Kapitel 18: Von unbedachten Fragen und mutigen Entscheidungen ------------------------------------------------------------- Als ich nach Hause kam, saß Manuel auf der kleinen Treppe vor unserer Haustür und rauchte. Vor ihm lagen schon drei weitere Kippen. War ich so spät dran oder er so früh? Oder rauchte er heute mehr als sonst? Gleicher Tag wie ich?   „Hey“, sagte ich und hob grüßend die Hand. Er musterte mich von oben bis unten. „Stress gehabt?“   Sah man das so deutlich? Ich nickte. „Hab mich mit meinem besten Freund gestritten, Schule war scheiße, Mitschüler alle Idioten, das Übliche halt.“ „Oh, armes Bambi.“   Er stand auf und kam auf mich zu.   „Ich glaub, ich weiß da was, das dich auf andere Gedanken bringt.“   Ich sah ihm in die Augen, die mich belustigt anfunkelten. Sein Geruch kitzelte meine Nase. Er war ganz nahe. Ich sah auf seinen Mund. Wie gerne würde ich ihn jetzt küssen. Und mehr? Denn davon hatte er sicher gesprochen. Wollte ich das? Warum eigentlich nicht? Einfach den Kopf ausschalten, nicht mehr drüber nachdenken. Über Anton und bekloppte Mathearbeiten und Zeltaufteilungen und dumme Arschlöcher wie Jo und Oliver. Nicht mehr drüber nachdenken, wie mich T angeguckt hatte. Nur noch gut fühlen und vergessen. Manuels Lippen streiften meine. „Und? Wie sieht’s aus?“ „Okay“, antwortete ich leise. „Lass uns reingehen.“ „Braves Bambi.“   Während er sofort mein Zimmer ansteuerte, blieb ich im Flur stehen. „Ich … geh nochmal ins Bad. Okay?“   Er nickte nur und verschwand ohne ein weiteres Wort. Irgendwie hatte ich die irrige Vorstellung, dass er schon mal alles vorbereiten würde. Jetzt keine Kerzen oder so, aber vielleicht … die Jalousien runterlassen, alles bereitlegen, sich schon mal ausziehen. Irgendwie so was.   Man, Benedikt, du bist so dumm. Er weiß doch gar nicht, wo der Kram bei dir liegt. Außerdem ist das hier dein Zuhause. Um so was musst du dich kümmern.   Ich seufzte innerlich über meine Beschränktheit und machte mich dran zu erledigen,weswegen ich hergekommen war. Dabei kamen mir plötzlich Zweifel. Wollte ich das jetzt echt durchziehen? Wirklich und tatsächlich mit ihm schlafen? Obwohl wir uns beim letzten Mal noch so gezofft hatten? Obwohl ich immer noch nicht mehr von ihm wusste? War das klug?   Mein Kopf knallte rückwärts gegen die Duschwand.   Ich war wirklich total bescheuert. Manchmal hasste ich mein dämliches Gehirn, das einfach nicht aufhören konnte zu denken. Meistens war ich ja schon ein bisschen stolz darauf, dass ich nicht so ganz unterbelichtet war. Aber manchmal … manchmal war das echt hinderlich. Wenn man versuchte sich zu betrinken zum Beispiel. Dumme Leute verloren dann einfach ihre Hemmungen, machten noch mehr dummes Zeug als sonst und hatten ihren Spaß dabei. Aber ich? Ich machte genau den gleichen Scheiß, nur war ich mir dabei die ganze Zeit bewusst, dass es Schwachsinn war. Es gab auch keinen gnädigen Filmriss, der einfach ausblendete, was für einen Stuss ich gelabert hatte. Nein. Stattdessen brannte sich jedes noch so dämliche Wort schwarz auf weiß in mein tolles Superhirn, um es mir am nächsten Tag wieder und wieder vorzuhalten. Noch ein Grund, warum ich quasi nie Alkohol trank, selbst bei Gelegenheiten, bei denen ich gekonnt hätte. Es brachte einfach nichts außer Kopfschmerzen.   Plötzlich klopfte es an der Badtür.   „Bist du eingeschlafen?“ „Nein, ich komme.“   Ich stellte die Dusche aus, trocknete mich ab und schlüpfte der Einfachheit halber nur in meine Schlafanzughose. Ohne Unterwäsche konnte ich auch.   Auf der anderen Seite der Tür wurde ich neugierig beäugt. Insbesondere unterhalb der Gürtellinie.   „Nett“, urteilte Manuel und grinste. „Bereit?“ „Mehr oder weniger.“   Er runzelte die Stirn. „Willst du etwa schon wieder einen Rückzieher machen?“   Ich konnte das genervte Stöhnen quasi schon hören. Schnell schüttelte ich den Kopf.   „Nein, kein Rückzieher. Aber ich will, dass wir uns vorher noch unterhalten über … Dinge.“ Seine Augenbrauen hoben sich. „Dinge.“ „Ja, Dinge“, erklärte ich und versuchte dabei möglichst überzeugend zu gucken. So mit „Hier kein Verhandlungsspielraum“-Schild auf der Stirn. Heute würde ich mich nicht mehr verarschen lassen. Von keinem.   Er schnaubte. „Na wenn du meinst.“   Mit einem weiteren, mürrischen Laut machte er kehrt und ging in mein Zimmer zurück. Ich folgte ihm und blieb an der Tür stehen, während er wie selbstverständlich das Fenster öffnete und sich eine Zigarette ansteckte. Das erinnerte mich unangenehm an das letzte Mal, als er dort gestanden hatte. Zögernd ging ich zum Bett und setzte mich.   „Und jetzt?“, fragte ich, als er nach ein paar Zügen immer noch schwieg. „Drei Fragen“, antwortete er. „Hä?“   Er drehte sich um und sah mich durchdringend an. „Da du mich ja anscheinend so unbedingt kennenlernen musst, bevor wir endlich zur Sache kommen können, kannst du mir drei Fragen stellen. Danach ist dann aber endgültig Schluss, klar?“   Ich wusste instinktiv, dass er das ernst meinte. Drei Fragen. Das war … nicht schlecht. Damit konnte ich was anfangen. Er grinste überheblich. „Also, was willst du wissen? Was meine Lieblingsfarbe ist?“ „Was ist mit deiner Familie?“ Rumms! Schotten dicht. Ich konnte es an seinen Augen sehen. Er drehte zwar den Kopf weg, aber er war nicht schnell genug. Ich hatte voll ins Schwarze getroffen. Vermutlich würde er gleich …   „Meine Mutter säuft, mein Alter säuft, mein Bruder sitzt im Knast. Weiter.“   Ich blinzelte überrascht. „Du hast einen Bruder? „Ja.“   Er drehte sich zurück und grinste jetzt wieder.   „Eine Frage hast du noch. Ich würde mir an deiner Stelle überlegen, ob du nicht doch meine Lieblingsfarbe wissen willst.“ „Was? Nur eine? Aber …“ „Du hast gefragt, ob ich einen Bruder hab, und ich hab geantwortet. Also?“   Mir lag auf der Zunge, ihn einen Arsch zu nennen, aber ich schluckte es runter. Dann wären wir kein Stück weiter als letztes Mal. Außerdem gab es da ja noch was, was ich wissen wollte. Auch wenn ich gerne gefragt hätte, was sein Bruder ausgefressen hatte und ob es einen konkreten Grund gab, warum er nicht mehr bei seiner Familie war, musste ich mir meine letzte Frage wohl oder übel für ein dringlicheres Problem aufheben. Eins, das sich mehr auf die konkrete Situation bezog, in der wir uns befanden. „Was ist mit … also … hast du …“ Scheiße, ich bekam es nicht raus. Es klang alles so dämlich, egal wie ich es formulierte. Und was würde ich machen, wenn er „Ja“ sagte?   Manuel nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und schmiss den Rest aus dem Fenster.   „Was nun?“, fragte er und blies den Rauch in meine Richtung. „Willst du noch mein Sternzeichen wissen? Oder wann ich Geburtstag hab?“   Als er mich so ansah, blieb mein Blick an seiner jetzt bartlosen Oberlippe hängen. Dabei fiel mir plötzlich auf, dass ich nicht mal wusste, wie alt er eigentlich war. Bei Julius hatte ich mich da ja auch schon ganz grandios vertan. Ich war einfach nicht gut darin, Leute zu schätzen. Ob er wohl jünger war als ich? Wenn ich ihn mir so ansah, könnte das fast hinkommen. Aber dann … scheiße. Dann konnte ich ihn doch nicht fragen, ob er … also … ob er Aids oder sonst irgendwas hatte. Zumal die Frage irgendwie auch reichlich spät kam, wenn man bedachte, was wir alles schon gemacht hatten. Andererseits wollte ich das davor einfach gerne wissen, selbst wenn wir dann trotzdem Kondome benutzten. Ich wollte einfach mit ihm über so was sprechen können. Ich wollte, ich musste, aber ich konnte nicht.   Frustriert senkte ich den Kopf, der mir schon wieder so einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machte. Manuel schloss das Fenster, ließ tatsächlich die Jalousie runter und setzte sich neben mich aufs Bett. „Heißt das, du bläst die Sache ab?“ „Ja genau. Der Bär hat heut Nasenbluten“, witzelte ich und fand den Spruch gar nicht mal so eklig wie sonst. Er lachte. „Also los. Was wolltest du wissen? Ich reiß dir schon nicht den Kopf ab.“   Ich pulte an meiner Schlafanzughose herum. „Ich habe nur … also ich will das wirklich. Mit dir schlafen, meine ich. Aber ich hab … ich kann doch nicht einfach so ein Risiko eingehen, wenn ich gar nicht weiß, ob du …“ „Ob ich sauber bin?“ Ich nickte und sah weiter auf den Faden, den ich gerade aus dem dunkelblaukarierten Stoff gezogen hatte. „Tut mir leid, das ist total doof. Als wenn du schon durch zig Betten gehüpft wärst. Das denke ich nicht. Wirklich nicht. Es ist nur…“ „Stimmt doch aber.“ „Was?“   Irritiert sah ich ihn an. Er grinste.   „Ich bin kein Waisenknabe, Bambi. Gibt ne Menge Typen, die auf junge Kerle wie mich stehen. Einige von denen zahlen sogar richtig gut, wenn man sie ranlässt.“ „Du hast …?“ Ich riss die Augen auf. „Oh Gott. Echt jetzt?“   Als sein Grinsen breiter wurde, wurde mir klar, dass er mich gerade total verarschte. Empört knuffte ich ihn gegen den Oberarm. „Du bist echt unmöglich.“ „Und du ein Schisser.“ „Ich kann nichts dafür. Mein Kopf denkt einfach zu viel.“ „Dann müssen wir ihm das wohl abgewöhnen.“   Im nächsten Moment hatte ich Manuels Lippen auf meinem Mund und seine Hand in meinem Schritt. Durch den weichen Stoff hatte er quasi freien Zugriff. Ich ächzte in den Kuss. Er nutzte die Gelegenheit schamlos aus, um mir seine Zunge in den Hals zu schieben. Sie schmeckte nach Zigaretten. Ohne Pfefferminz. Es fühlte sich trotzdem gut an. Besonders, als ich mich nach hinten aufs Bett sinken ließ und er die Hand in meine Hose schob. Seine Finger legten sich um meinen Schwanz und begannen zu pumpen. „Und?“, fragte er mit einem süffisanten Unterton, während er sich geschickt an meinem besten Stück zu schaffen machte. „Denkst du noch?“ „Fast nicht mehr“, antwortete ich und fing seine Lippen wieder ein, um ihn weiter zu küssen. „Dann muss ich mich wohl noch mehr anstrengen“, meinte er grinsend und fing an, sich über meinen Kiefer zu meinem Hals vorzuarbeiten. „Aber nur der Vollständigkeit halber. Ich hab nichts. Bevor die mich hierher geschafft haben, haben sie mich durchgecheckt, geimpft, entwurmt und gechipt. Du brauchst dir also keine Gedanken mehr zu machen. Nur das Kastrieren haben sie vergessen. Zu dumm aber auch.“   Ich wollte mich beschweren, dass ich so was nicht hören wollte, während er gerade meine Eier in der Hand hatte, aber dann rutschten seine Finger plötzlich weiter nach hinten und ich vergaß, was ich sagen wollte. Himmel, er machte das gut. Seine Lippen liebkosten mein Schlüsselbein, während eine Fingerkuppe über meinen Anus strich. Das war ein ziemlich irres Gefühl. Erregend. Es gefiel mir und zwar mehr als gestern, als ich es selbst gemacht hatte. Erneut fanden sich unseren Lippen, während er den Druck erhöhte. Moment, da fehlte noch was. Schwer atmend unterbrach ich den Kuss. „Ich hab … Gleitgel. Socken…schublade.“ „Und die ist wo?“   Ich riss mich zusammen, packte seine Hand und schob sie weg. Mit aller Willenskraft, die ich noch aufbringen konnte, sprang ich auf, kramte die Tube hervor und holte auch gleich noch die Kondome vom Regal, bevor ich beides aufs Bett warf und mich hinterher. Manuel beobachtete das alles amüsiert. „Du willst es echt, oder?“, fragte er und rückte wieder näher. „Du willst, dass ich dich nehme. Es dir so richtig besorge, ja?“ „Ich will vor allem, dass du aufhörst darüber zu reden“, murmelte ich und küsste ihn wieder. Dieses schmutzige Geflüster hätte mich vermutlich eigentlich total abstoßen sollen. Leider tat es das so gar nicht. Im Gegenteil war mein Körper gerade der Meinung, dass genau das eine total gute Idee war. Es kam mir auch gar nicht mehr komisch vor. Ich … ich wollte jetzt endlich wissen, wie es sich anfühlte.   Um nicht nur rumzuliegen, machte ich mich daran, Manuel auszuziehen. Sein Shirt wanderte auf den Fußboden und ich konnte mich nicht beherrschen, mich an seiner bloßen Brust hinabzuküssen, nur um dann kurz am Hosenbund zu stoppen und zu ihm hochzusehen. Er hatte sich auf die Ellenbogen gestützt und beobachtete mich.   Ich grinste, glitt vom Bett und öffnete seine Hose. Sein Schwanz sprang mir förmlich entgegen und ich fuhr mit den Lippen an der warmen, weichen Haut entlang. Er roch gut. Während ich seine Hose weiter nach unten zerrte, ließ ich die Spitze kurz in meinen Mund gleiten und schloss die Lippen darum. Mit leichtem Druck begann ich zu saugen. Er quittierte das mit einem leisen Keuchen. Ich nahm meine Hand zur Hilfe, während ich mit der anderen das störende Kleidungsstück weiter nach unten streifte und ihn endlich daraus befreien konnte. Danach fuhr ich noch ein paar Mal an seinem Schaft auf und ab, bevor ich ihn wieder aus dem Mund gleiten ließ.   Manuels Augen waren halb geschlossen. „Du bläst wirklich gut“, murmelte er, bevor er sich aufrichtete und mich kurz küsste. „Aber heute haben wir was anderes vor. Na los, umdrehen, Bambi. Jetzt ist Showtime.“   Vermutlich hätte es mir peinlich sein sollen, dass ich kurz darauf tatsächlich nackt auf allen Vieren auf dem Bett hockte, den Kopf in den Kissen vergraben, während ich wie die Entchen aus dem Kinderlied den Hintern in die Höhe hielt. Aber das war es nicht. So gar nicht. Und das lag sicher nicht zuletzt daran, dass Manuel keinen Hehl daraus machte, wie „scheiße heiß“ er das fand, dass ich da so vor ihm kniete. Immer wieder fasste er mich an, als könne er sich gar nicht von meinem „geilen Arsch“ losreißen. Aber irgendwann war ihm das dann wohl doch nicht mehr genug. Es klackte, als er die Tube öffnete, und ich zuckte natürlich zusammen, als er das Gleitgel einfach so auf meine empfindliche Haut tropfte. „Kalt“, zischte ich und er lachte nur. „Wird gleich warm.“   Er begann es zu verteilen, während seine andere Hand zwischen meine Beine glitt und mich zu massieren begann. Oh ja, genau so. So fühlt sich das gut an. Scheißegal, dass ich mich nach einer Weile seinem stetig kreisenden Daumen entgegenstreckte wie eine rollige Katze. Scheißegal, dass ich es wirklich geil fand, als er ihn endlich reinsteckte. Scheißegal, dass ich wirklich irgendwann wollte, dass er mir mehr gab als nur das. „Komm schon“, keuchte ich. „Mach endlich.“ „Dein Wunsch ist mir Befehl, Bambi.“   Der Moment, indem er das Kondom überstreifte und nochmal was von dem Gel daraufgab, von dem er bestimmt schon die halbe Tube auf und in mir verteilt hatte, ließ mich ein bisschen runterkommen. Schon wollten meine Gedanken ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, aber ich ließ sie nicht. Ich fasste mir einfach selbst zwischen die Beine und rieb mir den Schwanz, um mich oben zu halten. Trotzdem zuckte ich ein wenig zusammen, als ich die Spitze von Manuels Erektion an meinem Eingang fühlte. „Wenn du wüsstest, wie geil das aussieht“, sagte er mit heiserer Stimme, bevor er anfing, sich mir entgegen zu drücken. Ich schloss die Augen, atmete aus und merkte, wie er sich langsam in mich schob.   Oh Himmel, war das geil. Also nicht jetzt das Gefühl an sich, obwohl das auch was hatte. Auch geil, wenn auch anders als das, was ich bisher kannte. Aber das Bewusstsein, „es“ endlich zu tun. Zu hören, wie Manuel erregt keuchte, als er immer weiter eindrang. Ihn sagen zu hören, wie verdammt eng ich war. Seine Hände an meinen Hüften zu spüren. Meine eigenen Finger an meinem Schwanz. Die Kombination der unterschiedlichen Rhythmen, die mich unabhängig voneinander und doch irgendwie zusammen viel zu schnell viel zu weit nach oben brachten. Das alles machte es einfach nur verdammt gut. Und es brachte es viel schneller zu einem Ende, als ich gehofft hatte.   Als ich merkte, dass ich bei dem Ganzen den Punkt um mich noch zurückzuhalten, verpasst hatte, war bereits alles zu spät. Ich kam, ich stöhnte, ich drängte mich Manuel noch weiter entgegen, der die Gelegenheit nutzte, um noch schneller und heftiger in mich zu stoßen, was mir in dem Moment schon fast zu viel war, aber dann hörte ich ihn ebenfalls aufkeuchen und es war auf einmal vorbei. Mein erstes Mal war vorbei und hurra, ich lebte noch. Allerdings nur knapp.   Als Manuel sich aus mir zurückzog, merkte ich erst, wie sehr meine Beine zitterten, wie trocken mein Mund war und wie nass mein Hintern. Jetzt, so ohne seine Wärme, war das ein bisschen bäh. Mein Bett genauso, denn auf dem prangte jetzt ein unübersehbarer, nasser Fleck. Aber scheiße, geil war es trotzdem gewesen. Unfähig mich noch weiter aufrechtzuhalten, ließ ich mich kurzerhand auf die Seite neben den Fleck fallen.   Ein bisschen unsicher sah ich zu Manuel hoch. Hatte es ihm auch gefallen? War ich … gut gewesen?   Er stand vor dem Bett und verknotete gerade das Kondom, bevor er es es in ein Taschentuch einwickelte und auf den Boden fallen ließ. Als er meinen Blick bemerkte, grinste er. „Du siehst ganz schön gefickt aus.“   Unwillkürlich fuhr ich mir durch die Haare. Vermutlich hatte er recht. „Wessen Schuld ist das denn?“, gab ich zurück und erhob mich endlich, um zu ihm zu gehen, so gut es meine wackligen Knie zuließen. Nackt wie wir waren, zog ich ihn in meine Arme und küsste ihn. Langsam und vorsichtig spielten meine Lippen mit seinen. So geil es gewesen war, das hatte ich dabei irgendwie vermisst. Seine Haut zu spüren, ihn zu spüren, ihn zu küssen und ihm in die Augen zu sehen.   „Ich muss mal eben ins Bad. Kommst du mit?“, murmelte ich, als das klebende Gefühl immer dringlicher wurde. „Mhm, ’kay.“ Am liebsten hätte ich ihn noch mit unter die Dusche genommen, aber er wollte seinem Betreuer keine nassen Haare erklären müssen. Also ließ ich ihn schweren Herzens am Waschbecken zurück und sprang nochmal eben allein unter den warmen Wasserstrahl. Allerdings nicht für lange. Ich wollte … keine Ahnung. Ich wollte ihn gerade nicht so weit weg wissen, auch wenn das bestimmt ganz schön albern war. Wir waren uns schließlich gerade so nahe gewesen, näher ging gar nicht, aber irgendwie war es noch nicht genug. Ich wollte mehr. Mehr von ihm.   Wieder in meinem Zimmer ging ich deswegen gleich zu ihm rüber und schmiegte mich von hinten an ihn. Er trug schon wieder seine Jeans.   Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass er sich von mir losmachen wollte, aber dann lehnte er sich doch gegen mich. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter, auch wenn ich dadurch was von der blöden Zigarette abbekam. Zwischen zwei Zügen hauchte ich ihm einen kleinen Kuss auf den Hals.   „Hab ich eigentlich noch eine Frage übrig?“, murmelte ich gegen seine warme Haut, unter der ich seinen Puls fühlen konnte. Meine Finger streichelten seinen schönen Bauch.   „Was würdest du denn fragen, wenn ich Ja sagen würde?“   Ich antwortete nicht gleich. Da waren so viele Sachen, die ich wissen wollte. Tatsächlich so was wie, was er gerne aß und was ihn so interessierte. Ob er noch was anderes außer Horrorfilmen guckte, ob er gerne in Kinos ging, ob er seine Familie vermisste, ob er Tiere mochte. Alles so bescheuerten Blödsinn, der sich irgendwie nach Poesiealbum anhörte, das ich zum Glück nie besessen hatte. Ich hatte nur immer mal in welche reinschreiben müssen. Schließlich zuckte ich mit den Achseln. „Ach, nicht so wichtig. Ich heb sie mir auf.“ „Wie du meinst, Bambi.“   Er hatte die Zigarette aufgeraucht und drehte sich zu mir herum. Für einen Augenblick sah er mich mit einem ganz komischen Ausdruck an, den ich nicht so recht zu deuten wusste, bevor er an mir vorbei auf meine Uhr sah. „Ich muss dann mal los.“   War es schon so spät? Mhm, erst kurz nach fünf. Da konnte er noch bleiben. Doch als ich ihm das vorschlug, schüttelte er nur den Kopf. „Sorry, ich kann nicht. Jens ist eh schon nicht so gut auf mich zu sprechen. Da will ich ihn nicht warten lassen.“ „Okay, das verstehe ich.“   Ich brachte ihn noch zur Tür, wo er sich seine Schuhe anzog. „Sehen wir uns am Wochenende?“   Er blieb stehen, die Tür schon in der Hand. „Am Wochenende?“ „Ja, ich … Meine Mutter ist zwar zu Hause, aber wir könnten ja was zusammen unternehmen? Kino oder so?“ „Hab keine Kohle.“ „Und wenn ich dich einlade?“ Er lachte. „Das würdest du echt machen?“ „Ja, warum nicht? Ich meine, du … du kannst es mir ja wiedergeben, wenn dir das lieber ist.“   Dass ich eigentlich was anderes hatte sagen wollen, hatte er hoffentlich nicht gemerkt. „Nee, lass mal. Ich mach nicht gerne Schulden.“   Wieder wandte er sich zum Gehen.   „Und wenn wir einfach nur ein bisschen zusammen abhängen? Sehen wir uns dann?“   Er zögerte.   „Okay“, sagte er schließlich, während er mich nicht ansah. „Samstag? Ich schreib dir, wann und wo?“ „Alles klar. Bis dann, Bambi.“   Im nächsten Moment war er weg. Ich lief zum Küchenfenster und sah gerade noch, wie er die Auffahrt runterging und dann mit zügigen Schritten in Richtung seines Wohnheims verschwand. Als ich ihn nicht mehr sehen konnte, ging ich langsam in mein Zimmer zurück. Ich musste hier dringend noch aufräumen und das Bett abziehen. Es roch außerdem ganz schön nach Rauch. Hoffentlich merkte meine Mutter das nicht.   Als mein Blick auf das zusammengeknüllte Taschentuch fiel, musste ich plötzlich grinsen. Okay, ab diesem Tag war ich also offiziell keine Jungfrau mehr. Nur dass das außer mir und Manuel niemand erfahren würde. Machte aber nichts. Hauptsache wir wussten, was wir zusammen gehabt hatten. Ich konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Kapitel 19: Von verstrahlten Pferden und prallen Tüten ------------------------------------------------------ Okay, okay, ich geb’s ja zu. Gestern das war die volle Ladung Selbstmitleid mit einer Riesenkelle Weltschmerz obendrauf. Verzeihung, die Damen und Herren, ich bin ein Teenager. Ich darf das. Manchmal hat man da einfach eine dunkle Brille auf und die Welt erscheint einem grau in grau. Keine Ahnung, ob „Erwachsene“ (ja mit Anführungszeichen!) so was auch haben, aber wenn, dann sind sie anscheinend besser darin geworden, den Kram zu verstecken. Oder der Umbau, der da oben während der Pubertät im Gehirn stattfindet, ist irgendwann endlich mal abgeschlossen und die nervigen Handwerker verschwunden, sodass man mal wieder in Ruhe ein Buch lesen kann, ohne sich über den ständigen Baulärm aufregen zu müssen, der einen regelmäßig aus der Haut fahren lässt.   Fakt war zumindest, dass man mir meine Laune heute mal wieder ziemlich ansah. Nein, nicht diese Leichenbittermiene von gestern. Mehr so Marke verstrahltes Honigkuchenpferd. Ich konnte einfach nicht aufhören zu grinsen. Ich grinste beim Aufstehen, ich grinste beim Duschen (okay, die Assoziationen unter dem warmen Wasserstrahl waren auch wirklich angenehmer Natur) ich grinste sogar meinen frischen Toast an, statt ihn zu essen. Ständig musste ich mir auf die Zunge beißen, um wenigstens kurzzeitig einen normalen Gesichtsausdruck anzunehmen. Beispielsweise um meine Mutter nichts von all dem merken zu lassen. Die hätte mich womöglich noch gefragt, was mit mir los war. Hatte sie ja gestern schon gemacht, aber dieses Mal hätte ich ihr das nun wirklich nicht sagen können. Ich meine, ich hatte Sex. SEX! Und nicht nur das, es war gut gewesen. Manuel hatte … er hatte sich echt viel Mühe gegeben. Das war mir erst im Nachhinein klargeworden, als ich so feststellte, dass ich mir das Gefühl zwar durchaus wieder ins Gedächtnis rufen konnte, aber sonst nicht viel zu merken war. Okay, ein bisschen schon, aber so im Großen und Ganzen war es doch recht spurlos an mir vorbeigegangen. Wenn man mal von diesem unsäglichen Grinsen absah, dass ich schon wieder auf dem Gesicht hatte, als ich aus dem Bus stieg und dem Pulk der anderen Schüler in Richtung Bildungsanstalt folgte.   Am liebsten hätte ich ihm gleich wieder eine Nachricht geschickt, aber ich hatte ihm heute Morgen schon mal geschrieben. Einmal musste reichen. Ich wollte ihn ja nicht nerven oder mich total lächerlich machen. Nur weil wir … okay, ich musste schon wieder dran denken. Hoffentlich wurde das heute nicht peinlich. Aber wenn ich mir ausmalte, dass wir uns morgen schon wiedersehen würden, machte mein Magen so komische, kleine Luftsprünge und ich musste – man ahnt es – grinsen. Das war echt nicht normal. Ich musste irgendwas finden, um mich wieder runterzubringen.   Also gut, Schule. Was hatten wir gleich noch in der Ersten? Ach ja, Französisch. Na dann. „Die Abenteuer des Geographiebuches, das reisen wollte, bevor es sich schlafen legte“. (Nein, ich hab mir den Titel nicht ausgedacht und auf Französisch klingt das auch nicht ganz so panne.)   Mia-Marie saß neben mir und malte kleine Katzen auf ihr Heft, weil sie noch nicht dran war. Sie hatte sich als Rolle tatsächlich die Katze ausgesucht und ich musste, zugegebenermaßen nicht ganz politisch korrekt, dran denken, ob sie dann wohl im hautengen, schwarzen Strechtanzug auf der Bühne stehen würde, um ihre Rolle zu verkörpern. Vermutlich nicht. Aber mit so ein paar Katzenohren und einem aufgemalten Schnurrbart konnte man sicherlich auch viel erreichen.   „So, ihr Lieben“, rief Frau Bertram, „dann lasst uns mal anfangen. Wir beginnen ganz vorne und dieses Mal gebt euch bitte ein bisschen Mühe, eure Rollen mit Leben zu füllen. Also los!“   Ich lauschte, wie sich die anderen mehr oder weniger was zusammenstotterten, während sich der Text immer weiter der Stelle näherte, an der ich dran war. Ich hatte, wie bereits erwähnt, nicht viel zu sagen. Während die anderen Bücher sich darüber austauschten, was ihnen am Tag so zugestoßen war und sich schließlich über die Reisepläne des Geographiebuches unterhielten, war ich eigentlich nur damit beschäftigt, meine Mitbücher zu ärgern. Besonders das ein bisschen spießige „Buch von Madame M.“, das von Mia-Sophie verkörpert wurde. Ich konnte es mir so richtig vorstellen, wie das Buch voller Schimpfwörter sich lässig ans Regal lehnte und mit süffisantem Grinsen seine prüde und leicht zu echauffierende Nachbarin aufzog. Und plötzlich wusste ich, an wen mich das Buch erinnerte. An Manuel.   Ich grinste, als meine Textstelle näherkam und als dann meine Regalnachbarin sich weigerte, auch nur meinen ihr viel zu vulgären Namen auszusprechen, ließ ich betonungsmäßig mal so richtig den Macho raushängen. Es schien ziemlich gut zu klappen, denn Mia-Sophie warf mir einen sehr irritierten Blick zu, bevor sie weiter las, als wäre nichts passiert. Ich hingegen machte innerlich eine Becker-Faust und konnte mich so gerade noch beherrschen, mit Mia-Marie abzuklatschen, die mich ziemlich beeindruckt ansah.   „Wo hast du das denn hergeholt?“, flüsterte sie. „Bin halt ein Naturtalent“, gab ich zurück und sonnte mich den Rest der Stunde in meinem eigenen Ruhm. Was war ich doch für ein männlicher Mann. Ha!     Meine Begeisterung erhielt einen kleinen Dämpfer, als Anton nach dem Klingeln wieder ins Klassenzimmer kam. Er würdigte mich keines Blickes, sondern setzte sich lediglich neben mich und holte seine Deutschsachen raus. Ein bisschen ungemütlich knibbelte ich an meiner Ausgabe von „Unterm Rad“ herum. Irgendwie musste ich das mit ihm wohl geradebiegen. Aber wie? Ich meine, ich hatte ihn ja eigentlich nur ein bisschen angemotzt. Keine Ahnung, ob ich mich dafür jetzt einfach entschuldigen sollte. War er eigentlich sauer? Hatte er gestern überhaupt mitbekommen, dass wir uns gestritten hatten?   Ich beschloss, es einfach zu versuchen. Am besten auf Umwegen. Umwege waren immer ne gute Sache.   „Hey, bist du nachher wieder in der Bücherei?“ „Ja, warum?“ „Weil … ich mir was ausleihen wollte.“   Er seufzte. Anton seufzte nie. Also ja schon, wenn Oliver mal wieder was besonders Dummes von sich gegeben hatte oder wenn er entgegen aller Vernunft versucht hatte, sich mit Corinna zu unterhalten. Aber er hatte noch nie so geseufzt, wenn ich mit ihm geredet hatte. „Du musst das nicht machen.“ „Was?“ „So tun, als wenn du was ausleihen wollen würdest.“ „Hä?“ Jetzt sah Anton doch auf und schob seine Brille nach oben. Der Blick, der mich durch die runden Gläser traf, ließ mich unruhig auf meinem Stuhl rumrutschen.   „Meinst du wirklich, ich hätte noch nicht gemerkt, dass du die Bücher immer ungelesen zurückbringst.“ „Äh …“   Scheiße! Wieso wusste er das? Hatte er heimlich Markierungen an den Seiten angebracht? Mich unauffällig zum Inhalt abgefragt? Kameras bei mir zu Hause installiert? (OMG! Hoffentlich nicht. Ansonsten wären da bestimmt ein paar echt peinliche Sachen zu sehen gewesen und damit meine ich nicht das, was gestern Nachmittag in meinem Bett abgegangen war. Aber ihr müsst ja nun wirklich nicht alles wissen …)   Immer noch blickte Anton mich mit seinen Eulenaugen an und ich wusste, ich hatte es vermasselt. Er hatte mich von Anfang an durchschaut und jetzt wollte er mich nicht mehr sehen. Doch gerade, als ich anfing, mich deswegen so richtig schlecht zu fühlen, schob er die Brille noch mal nach oben und sagte: „Du kannst natürlich gerne trotzdem nachher vorbeikommen.“   Äh, wie jetzt? Ich sollte in die Bücherei gehen? Ohne was auszuleihen? Aber das wäre ja …   „Du sollst nur aufhören so zu tun, als wenn du wegen der Bücher kämst.“   Ich brauchte ein bisschen, um das Gesagte zu verdauen. Herr Vogel war längst hereingekommen und hatte angefangen über Hermann Hesses nicht besonders subtil platziertes Alter Ego zu referieren und wie sich dieses nach dem Schock über das plötzliche Ableben eines Mitschülers wieder mit seinem besten Freund vertrug, während ich dasaß und feststellte, dass ich ein Arschloch war. Und zwar genauso eins wie T, wenn man es mal genau nahm. Ja, ich mochte Anton und, nachdem mich Timo nun vor einem schmachvollen, sozialen Tod gerettet hatte, musste ich wohl zugeben, dass auch er und die anderen Nerds eigentlich voll okay waren. Aber ich hatte nicht mit ihnen gesehen werden wollen aus Angst, dass man mich für einen von ihnen hielt.   Was für eine Scheiße.   Unwillkürlich huschte mein Blick rüber zu T, der sich, wie es schien, auf die gestellte Aufgabe konzentrierte. Ich beobachtete ihn eine Weile und wusste plötzlich, warum er gestern nichts gesagt hatte. Er hatte eine Menge zu verlieren, wenn er sich mit mir abgab. Nicht so wie ich, der ohnehin schon irgendwo am unteren Rand rumkrabbelte. Und plötzlich tat er mir leid. Weil er da oben in seinem goldenen Käfig hockte und dort nicht wegkonnte, während wir uns hier unten ganz ungeniert im Dreck wälzen durften.   Jetzt wirst du aber echt pathetisch, riss ich mich selbst am Riemen und steckte meine Nase ebenfalls in das Buch, um dort nach irgendwelchen Schlüsselwörtern zu suchen. T ist es mit ziemlicher Sicherheit völlig schnurz, ob du sein Freund bist oder nicht. Er hat doch jede Menge andere Freunde, ist beliebt, dem fehlt nichts. Also hör endlich auf, dir Gedanken über ihn zu machen. Das ist Schnee von gestern. Damit schloss ich das Thema ab und widmete mich den wirklich wichtigen Dingen im Leben. Zum Beispiel der Frage, was ich am Samstag mit Manuel unternehmen wollte, denn dazu fiel mir leider spontan mal so überhaupt gar nichts ein.     Nach der Schule war ich leider mit meinen Überlegungen noch kein Stück weiter. Dafür hatte ich einen wirklich netten Tag mit Anton und Timo verbracht. Die beiden waren zusammen echt witzig. Wie Live-Comedy. Und Timo hatte auch ganz cool reagiert, als ich mich bei ihm für den Platz im Zelt bedankt hatte. „Ach, kein Ding“, hatte er gemeint. „Mein Bruder leiht mir bestimmt sein großes Zelt. Mit dem fährt er sonst immer zum LARP. Er sagt, da passen sogar vier Leute rein.“   Ich war in dem Moment ein bisschen traurig gewesen, dass Anton nie zu so was mitkommen konnte, aber vielleicht konnten wir ja mal bei ihm im Garten zelten. So als Ausgleich. Damit er wusste, was er verpasst hatte, und nicht immer von allem ausgeschlossen war.     Während ich mich auf dem Weg zum Bus also in Lagerfeuer-Fantasien erging – okay, Antons Mutter würde vermutlich einen Herzkasper kriegen, von daher ließen wir das mit dem offenen Feuer vielleicht lieber bleiben – kam ich an dem Lebensmittelladen vorbei, der sich mitten in der Fußgängerzone befand. Ich hatte mich immer schon mal gefragt, wer da eigentlich einkaufen ging, weil man den Kram von da aus doch meilenweit zu Fuß durch die Gegend tragen musste, als ich plötzlich eine sehr bekannte Gestalt aus dem Laden kommen sah, bis über beide Ohren beladen mit prall gefüllten Tüten. „Julius?“   Er schrak zusammen und ließ seine Einkäufe beinahe fallen, aber als er mich erkannte, fing er an zu strahlen. „Benedikt! Mit dir hatte ich jetzt hier nicht gerechnet.“ „Ich geh hier jeden Mittag lang.“ „Ach echt?“ „Ja.“ „Ach so.“   Das Gespräch kam zum Erliegen und wir standen uns stumm gegenüber. Irgendwann wurde es mir zu dumm. „Soll ich dir tragen helfen?“ „Ähm ja, das wäre nett. Musst du auch in die Richtung?“ Er wies hinter sich. „Ja.“ „Na dann passt’s ja.“   Er gab mir eine der Tüten, die wirklich schwer war. Ich ächzte kurz.   „Was hast du denn da drin? Steine?“ „Nein, nur ein bisschen Gemüse.“ „Gemüse?“ „Ja, ich hab mich wohl etwas hinreißen lassen. Die haben hier so tolle Sachen. Eigentlich wollte ich nur schwarze Linsen kaufen. Die gibt es sonst nirgends. Aber dann bin ich in der Obst- und Gemüseabteilung hängen geblieben und die hatten so viel Auswahl. Wir gehen sonst immer nur zu dem winzigen Aldi bei uns um die Ecke und da kriegt man halt nur so ganz normale Sachen. Meine Mutter bringt mich bestimmt um, wenn sie sieht, was das alles gekostet hat.“   Er schien zuerst noch etwas sagen zu wollen, doch dann klappte er den Mund plötzlich zu wie abgeschaltet.   „Ist was?“ „Nein, ich … ich rede nur schon wieder zu viel.“ „Ach, finde ich gar nicht.“ „Nein?“ „Nein.“   Er lächelte plötzlich wieder und ich grinste zurück. War doch ganz einfach, jemandem eine Freude zu machen.   Von irgendwo erklang auf einmal Musik. Das war merkwürdig. Ich meine, manchmal hat man das ja in Filmen, dass auf einmal irgendein Song gespielt wird, um eine bestimmte Stimmung rüberzubringen. (Frau Phillips hatte uns das sogar mal in Musik interpretieren lassen. Wäre ja alles nicht so schlimm gewesen, wenn der Film, den sie dafür ausgesucht hatte, nicht so total langweilig gewesen wäre. Ich gähne heute noch, wenn ich daran denken muss.) Aber zurück zu mir und Julius. Über unseren Köpfen schwebte plötzlich eine Melodie von den Killers und während Brandon Flowers sich noch fragte, ob wir nun „human“ oder „dancer“ sind, fragte Julius mich plötzlich: „Willst du nicht mal rangehen?“   Ich blinzelte. Rangehen? Ähm wo denn ran…? Oh. OH! Das war mein Handy, das klingelte. Ich hatte völlig vergessen, dass ich irgendwann mal mit den Optionen für individuelle Klingeltöne rumgespielt hatte und da mich so gut wie nie jemand anrief, hatte ich nicht gleich geschaltet, dass es jetzt in diesem Moment doch tatsächlich jemand tat.   Ich zerrte also das bimmelnde Ding hervor und drückte ohne hinzusehen auf den Annahmeknopf. „Ja?“, japste ich ins Telefon. „Hey, Bruderherz, ich bin’s. Was machst du grad?“   Diana? Ich war kurz davor, das Handy von mir zu werfen wie eine giftige Schlange. Was wollte die denn jetzt? Das konnte nichts Gutes bedeuten.   „Ich wollte gerade zum Bus gehen“, erklärte ich zögernd. „Warum?“ „Ach, ich war grad in der Nähe und wollte dich fragen, ob ich dich mit heimnehmen soll. Ich bin heute Nachmittag mit Mama verabredet. Sie macht heute früher Schluss und wir wollten noch ein bisschen was für die Hochzeit planen. Ein paar Locations für die Feier heraussuchen und nach Kleidern gucken und so.“ Aha, daher wehte also der Wind. „Mit anderen Worten, ihr wollt meinen Computer.“ „Ja, das natürlich auch. Es macht dir doch nichts aus?“   Neeeeiiin, natürlich nicht. Ich hatte es gern, wenn meine Mutter und meine große Schwester bei mir im Zimmer abhingen und meine Privatsphäre verletzten. Nicht. „Warum macht ihr das denn nicht bei dir zu Hause?“ „Björn muss heute noch eine Präsentation fertigmachen. Dabei braucht er Ruhe, hat er gesagt.“ Ach ja, der tolle Herr Architekt brauchte seine Ruhe. Und was war mit meiner Ruhe? Gnarf. Aber gut, ich wollte mal nicht so sein. Irgendwo mussten ja die Brötchen für meinen zukünftigen Neffen oder meine Nichte herkommen. (Boah, was ne Vorstellung. Ich wurde echt Onkel. Wie krass.) „Jaja, macht mal. Aber ich bleib dann noch in der Stadt, okay? Dann könnt ihr euch nach Herzenslust austoben.“ „Super, ich sag Mama Bescheid. Soll ich dir auch was vom Bäcker mitbringen.“ „Mhm, nein, lass mal. Ich komm klar.“ „Bist du sicher?“ „Ja, ganz sicher.“ „Dann bis später.“ „Bis dann.“   Ich legte auf und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Meine Schwester. Sie heiratet demnächst und will aus meinem Zimmer ein virtuelles Brautmodenstudio machen.“ „Klingt fürchterlich“, bestätigte Julius und schien dann zu überlegen. „Also wenn du … wenn du jetzt noch nicht nach Hause willst, dann könntest du vielleicht … mit zu mir kommen. Natürlich nur, wenn du nichts Besseres vorhast.“   Mit zu ihm? Mhm. Warum eigentlich nicht? Er schien ja kein irrer Massenmörder zu sein. Außerdem hatte ich immer noch seine Einkaufstüte in der Hand. Die wirklich schwer war.   „Na klar. Ich kann ja nicht riskieren, dass ich morgen in der Zeitung lesen muss, dass du dir auf dem Heimweg einen Bruch gehoben hast und dann kraftlos auf der Straße zusammengebrochen bist und von einem Bus überrollt wurdest.“ Julius machte ein komisches Gesicht.   „Du hast ja eine Fantasie.“ „Das sagen mir die Leute öfter.“ „Dann wird wohl was dran sein.“   Wir lachten beide und machten uns auf den Weg, jeder eine der Tüten in der Hand.     Nach ein paar hundert Metern, zweifelte ich ernsthaft an Julius’ Geisteszustand. Wie hatte er das ganze Zeug denn alleine nach Hause schleppen wollen? Als ich ihn danach fragte, zuckte er ein bisschen verlegen mit den Schultern. „Ich, ähm … weiß nicht genau. Wahrscheinlich hätte ich mich irgendwann neben die Tüten gehockt und darauf gewartet, dass ein Ritter auf seinem edlen Ross vorbeikommt und mich rettet.“ Ich lachte auf. „Na dann hab ich dir ja mal voll die Tour vermasselt.“ Er antwortete nicht, sondern warf mir nur einen seltsamen Blick zu, auf den ich mich aber nicht mehr konzentrieren konnte, weil die Fußgängerampel in diesem Moment auf Grün sprang und wir zusehen mussten, dass wir über die Straße kamen.   Als endlich Julius’ Zuhause in Sicht kam, schnauften wir beide ziemlich. „Das kleine, orange Haus dahinten ist es“, sagte er und zeigte auf etwas, das die Bezeichnung „Haus“ eigentlich nicht wirklich verdient hatte. „Häuschen“ traf es wohl eher.   Eingepfercht zwischen zwei großen, weißen Stadthäusern hatte irgendjemand wohl gemeint, dass man den verbliebenen Platz von der Breite einer besseren Einfahrt noch ausnutzen und dort etwas hinbauen musste, das stark an ein Hexenhäuschen aus dem Märchen erinnerte. Wobei dort eine sehr freundliche Hexe zu wohnen schien. Vor dem Haus, das in einer verkehrsberuhigten Zone lag, standen zwei Rosenbäumchen genau wie vor den restlichen Häusern in dieser Straße. War ja auch kein Wunder. Dieser Teil der Stadt war Touri-Gebiet. Da gab es zum einen das antike Rathaus mit dazugehörigem Marktplatz, den Dom und den Hafen. Alles so Sachen, die man sich als Kulturbesichtiger selbstverständlich anschauen musste. Weiter nach hinten lag dann eine malerische Fischersiedlung mit noch jeder Menge mehr dieser hübschen Häuschen, Kopfsteinpflaster, einem winzigen Friedhof mit eigener Kapelle und einem superteuren Fischrestaurant. Und noch ein Stück weiter gab es ein Kloster mit einem gut ausgestatteten Kräutergarten und irgendwelche Ruinen. Als Ortsansässiger kam man da natürlich so gut wie nie vorbei, wenn man nicht gerade an einem sonnigen Sonntag von seiner ambitionierten Mutter zu einem Ausflug dorthin geschleift wurde, um stundenlang irgendwelche Dinge anzugucken, die einen nicht die Bohne interessierten, und sich lediglich mit dem Gedanken an das am Ende der Tortur versprochene Eis über Wasser zu halten vermochte.   Ja, ich wusste, wovon ich da redete.   „Halt mal kurz“, meinte Julius und drückte mir auch noch die zweite Tüte in die Hand, während er seine Hausschlüssel herausfummelte. So langsam kam ich mir echt vor wie ein Packesel.   „Ich hoffe, ich krieg für meine Dienste auch einen entsprechenden Lohn“, meinte ich gespielt entrüstet, während ich die Tüten durch die enge Tür bugsierte. „Was schwebt dir denn so vor?“ „Mittagessen?“ „Das krieg ich wohl hin.“   Er lachte und dirigierte mich durch einen schmalen Flur mit weißen Wänden in eine winzige Küche. Dort angekommen ging ich meiner Tüten verlustig und wurde anschließend auf einen der zwei Küchenstühle gepflanzt, während er den schon leicht altersschwachen Kühlschrank öffnete, der neben dem ebenso heruntergekommenen Herd stand, und mit einem lauten Seufzen den Inhalt sichtete.   „Ich hab’s befürchtet“, proklamierte er. „Es ist nicht genug Platz für die Einkäufe. Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht. Hier muss so einiges weg.“   Ich bejate, sodass er sich noch tiefer hinunterbeugte und leise vor sich hin murmelte: „Na dann schauen wir doch mal, womit ich dich heute verführen kann.“ Kapitel 20: Von leckerem Essen und geplanten Verabredungen ---------------------------------------------------------- „Na dann schauen wir doch mal, womit ich dich heute verführen kann", murmelte Julius und kroch noch ein wenig tiefer in den Kühlschrank hinein. „Mhm, okay, das könnte was werden. Ich hoffe, du magst Eier?“   „Ja, klar“, gab ich zurück und beäugte etwas kritisch, was er da alles zutage förderte. War das etwa eine Aubergine? Ich ahnte Schreckliches. Es gab kaum ein Gemüse, das ich so furchtbar fand, nur brachte ich es irgendwie nicht übers Herz, ihm das zu sagen. Als er schließlich den Kühlschrank schloss, leuchteten Julius’ Augen voller Tatendrang. „Ich hab eine Idee“, sagte er und strahlte mich an. „Das schmeckt dir bestimmt. Eigentlich wollte ich die Aubergine zu Chutney verarbeiten, aber das Dal läuft mir ja nicht weg. Außerdem habe ich heute Okraschoten bekommen, daraus kann ich Bagara Bhindi machen. Das schmeckt genauso gut.“   „Äh was?“ Ich verstand nur die Hälfte von dem, was er da von sich gab.   „Die Aubergine“, erklärte er und wedelte mit dem Ding auch noch rum, bevor er sie erst wusch und dem violetten Ding anschließend mit einem großen Messer zu Leibe rückte. „Ich wollte Chutney daraus kochen. Das ist so eine süß-scharfe Gemüse-Soße, die einfach wunderbar zu Dal Makhani passt. Dal Makhani ist ein indischer Linseneintopf mit ganz viel Butter. Daher auch der Name. Dal bedeutet 'Linsen' und Makhani 'mit Butter'. Deswegen hab ich die schwarzen Linsen besorgt. Meine Mutter hat übermorgen Geburtstag und ich wollte ihr was Besonderes zum Abendessen kochen. Das Rezept habe ich von meiner Tante. Mein Onkel hat sie auf einer Geschäftsreise nach Indien kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. So romantisch. Und die Hochzeit hättest du sehen sollen. Ganz anders als hierzulande. Leider konnten wir nicht hinfliegen, aber …“   Er unterbrach sich und betrachtete sehr intensiv die Auberginenscheiben, die er gerade mit Salz bestreut hatte.   „Sorry. Ich quassele schon wieder sinnloses Zeug zusammen.“   Ich lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon okay. Wenn ich eine Tante aus Indien hätte, würde ich das auch irgendwem erzählen wollen.“ Julius lächelte leicht und begann, Tomaten kleinzuschneiden. „Lali ist wirklich ein Schatz. Wir haben uns sofort verstanden, wenngleich auch anfangs eher mit Händen und Füßen. Mein Englisch ist einfach nicht gut genug. Aber als das Eis so richtig gebrochen war, haben wir quasi ständig zusammengehockt. Wenn ich nicht schwul wäre, hätte mein Onkel bestimmt eifersüchtig werden müssen. Ich bin echt froh, dass die beiden inzwischen Nachwuchs haben, damit sie wieder jemanden zum Betüdeln hat. Sie vermisst ihre Familie so sehr, aber Hamburg ist einfach zu weit weg um ständig hinzufahren.“   Er hatte angefangen am Herd zu hantieren und noch mehr Schüsseln herauszunehmen, während er gleichzeitig die Einkäufe in irgendwelche Schränke, den Kühlschrank und eine kleine Speisekammer verfrachtete, die hinter einer Tür verborgen lag, von der ich zunächst angenommen hatte, dass es sich um einen weiteren Schrank handelte. Gerade, als ich mich fragte, wohin wohl die Tür neben der kleinen Küchenzeile führen mochte, meinte Julius: „Ich geh mal kurz ins Bad. Bin gleich wieder da.“ Er verschwand hinter besagter Tür und ließ mich allein mit einem Haufen schwitzender Auberginenscheiben, einer Schüssel kleingehackter Tomaten und einem Eierkarton zurück. Es duftete nach Zwiebeln. Ich nutzte die Zeit, um mich weiter umzusehen. In der kleinen Küche wirkte irgendwie alles alt und ein bisschen abgestoßen. Es erinnerte mich an diese antiken Puppenhäuser mit den Emailleschüsseln und schmiedeeisernen Herden. Ganz so alt war der Herd hier zwar nicht, aber fast. Auch der Tisch, an dem ich saß, war schon ziemlich in die Jahre gekommen. Es war so ein Ding mit einer ausziehbaren, graugemusterten Resopalplatte, wobei in der Küche nicht wirklich Platz gewesen wäre, um noch jemanden hinzusetzen. Daher vermutlich auch nur zwei Stühle. Mir gegenüber gab ein kleines Fenter mit weißen Spitzengardinen Aussicht auf einen schmalen Gang vor einer Hauswand. „Wohnst du mit deiner Mutter alleine hier?“, fragte ich, als Julius zurückkam.   Er nickte. „Mein Vater hat sich aus dem Staub gemacht, als ich noch ganz klein war. Ich kann mich eigentlich gar nicht mehr an ihn erinnern. Er wohnt jetzt irgendwo in Süddeutschland mit seiner neuen Familie. Wir haben keinen Kontakt.“ „Willkommen im Club", erwiderte ich nur. „Geschwister?“ „Keine. Ich bin ein verwöhntes Einzelkind.“   Er grinste und ich glaubte ihm kein Wort. Sein Zuhause sah definitiv nicht nach Luxus aus. Es war gemütlich und ein bisschen altbacken, aber Reichtümer hatte hier sicherlich niemand versteckt.   Julius holte jetzt eine Bratpfanne heraus und begann, das Gemüse zuzubereiten. Nach und nach verschwand alles, was er geschnippelt hatte, in der Pfanne, bis er zum Schluss einen Deckel drauftat und den Herd runterschaltete.   „So, das muss jetzt erst noch ein bisschen schmoren. Derweil kümmere ich mich um das Omelette. Du hast ja gesagt, du isst Eier.“   „Du etwa nicht?“, fragte ich aus einem Gefühl heraus.   „Ah doch“, meinte er und fing an, die Eier aufzuschlagen. „Ich esse auch Fleisch, aber selten. Es gibt einfach so viel andere, leckere Sachen, die man essen kann und für die kein Tier sterben muss. Aber keine Bange, ich bin da nicht militant. Das muss jeder für sich entscheiden.“   Während Julius mit dem Schneebesen die Eimasse traktierte, musste ich feststellen, dass ich in den letzten 20 Minuten bestimmt mehr über ihn erfahren hatte, als über Manuel bei unseren ganzen Treffen. Plus das, was er mir beim letzten Mal erzählt hatte. Na gut, dafür wusste ich andere Dinge über Manuel, die bestimmt in keiner Akte standen. Zum Beispiel, dass er hinter dem Ohr eine empfindliche Stelle hatte, die ihn zielsicher zum Erzittern brachte, wenn man ihn dort küsste. Oder dass er am Bauchnabel kitzlig war und echt unwirsch reagierte, wenn man nicht die Finger davon ließ. Und dass er es mochte, wenn ich mit meiner Zunge …   „An was denkst du denn gerade?“, unterbrach Julius meine erotischen Fantasien. „Nichts“, versicherte ich schnell und merkte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Verdammt. Das sah jetzt bestimmt nicht nach „nichts“ aus. Und natürlich hatte Julius sofort Lunte gerochen. „Erzähl“, forderte er und griff nach einer zweiten Pfanne. „Ich rede sowieso schon die ganze Zeit. Wie steht es denn eigentlich mit deinem potentiellen Lover?“   Ich grinste noch breiter und Julius hob eine Augenbraue.   „Ach. Sag bloß, ihr habt euch ausgesprochen.“ „Na ja, ausgesprochen nicht direkt.“ „Aber?“ „Wir haben … Also sagen wir mal so: Ich bin jetzt offiziell keine Jungfrau mehr.“   Julius’ Rührbewegungen wurden für einen Augenblick langsamer, bevor er wieder sein altes Tempo aufnahm. Im Gegenteil wurde er sogar noch ein wenig schneller. Man hätte fast denken können, dass die Eier ihm was getan hätten.   „Aber du sagtest doch, ihr hättet vorher schon miteinander …“ „Na aber noch nicht richtig.“ „Was heißt denn bitte richtig?“   Julius’ Ton war von jetzt auf gleich ziemlich frostig geworden und ich sah mich plötzlich in Erklärungsnot. Warum musste er denn da so blöde Fragen stellen? Er wusste doch mit Sicherheit, wovon ich sprach. Gerade er. Als ich ihm das sagte, schnaufte er ein bisschen. „Ja, ich weiß natürlich, was du meinst. Ich … tut mir leid. Ich finde halt einfach, dass man um diese eine Spielart nicht so viel Tamtam machen sollte. Gibt ja genug andere Möglichkeiten.“   Er schaltete den Herd ein und konzentrierte sich eine Weile lang darauf, das Essen zuzubereiten. Ich betrachtete seinen Rücken, den er mir ziemlich demonstrativ zuwandte. Was ging denn da jetzt gerade ab? Hatte er schlechte Erfahrungen diesbezüglich gemacht? Hatte sein arschiger Exfreund ihn etwa dazu gezwungen? Der Gedanke zog irgendwas in mir zusammen. Das wäre ja wirklich widerlich gewesen.   „Benedikt? Ist alles okay? Du bist so blass um die Nase. Willst du vielleicht was trinken?“   Julius hatte sich wieder zu mir umgedreht und sah mich besorgt an. Seine schlechte Laune schien sich in Luft aufgelöst zu haben.   „Ich … ja. Ja bitte.“   Er holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, goss mir ein Glas ein und stellte es vor mich hin.   „Ich hoffe, du kippst nicht vor Hunger um“, witzelte er. „Das könnte ich mir nicht verzeihen.“ „Nein, nein, das geht schon noch.“   Es zischte ein bisschen, als er die verquirlten Eier in die Pfanne goss. Danach stellte er die Schüssel beiseite und hob den Deckel der anderen Pfanne. Sofort breitete sich ein würziger Geruch aus.   „Mhm, das riecht gut“, entfuhr es mir automatisch.   „Ich hoffe, es schmeckt auch gut“, antwortete er lachend, während er noch jede Menge Gewürze in die Pfanne schmiss und kräftig umrührte. Zum Schluss hielt er mir den Kochlöffel hin, auf dem ein bisschen Soße lag. „Probieren“, verlangte er.   Ich pustete nochmal auf den Löffel und angelte dann vorsichtig das Gemüsehäufchen von der Löffelspitze. Der Geschmack war … unbeschreiblich.   „Wow. Das ist total lecker!“   Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie Julius es geschafft hatte, aus dieser weichen, schwammähnlichen Masse, aus der Auberginen bestanden, so eine Soße zu kochen, aber sie war einfach grandios. Würzig, schmelzend, süß und gleichzeitig sauer-fruchtig-aromatisch-keine-Ahnung. Die totale Geschmacksexplosion irgendwie.   Ein Lächeln breitete sich auf Julius’ Gesicht aus, als er meine Reaktion sah.   „Ich werte das mal als Zustimmung zu meinem 'Caponata light'.“ „Capo-was?“ „Caponata. Das ist ein sizilianisches Gemüsegericht, in das neben Auberginen und Tomaten normalerweise auch noch Sellerie oder Fenchel sowie einiges anderes gehören. Unter anderem Pinienkerne, aber die benutze ich eigentlich nie, weil sie so schweineteuer sind. Deswegen halt nur 'light'. Immerhin hatte ich Kapern und Rosinen da.“   Julius lächelte nochmal und schien noch etwas sagen zu wollen, aber dann wandte er sich stattdessen dem Herd zu, auf dem auch der zweite Teil des Gerichts jetzt fertiggestellt zu sein schien. Er nahm die Pfanne vom Herd, zauberte einen Teller aus dem Schrank und ließ das fluffige, gelbe Ding darauf gleiten. Mit einem großen Löffel schöpfte er von dem Gemüse und drapierte es an der Seite des Omelettes, bevor er mir den Teller vor die Nase stellte.   „Guten Appetit.“   Ich blickte nach unten und war wirklich beeindruckt. So einen Teller hätte man auch in einem Restaurant bekommen können. Es sah fantastisch aus, es roch verführerisch und würde wahrscheinlich auch gigantisch schmecken, wenn ich es denn in den Mund bekam.   Ich grinste Julius an und zog die Augenbrauen hoch. „Krieg ich auch noch Besteck oder muss ich mit den Fingern essen?“   Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.   „Ich Esel. Besteck kommt sofort.“   Aus einer Schublade holte er Messer und Gabel und reichte sie mir, als würde er mir die Waffen zum Duell präsentieren. Lachend nahm ich beides entgegen. „Und wo ist deine Portion?“ „Ach, ich hab beim Kochen meist nicht so einen Hunger.“ „Heißt das etwa, dass ich dir jetzt was voresse?“ „Stört es dich?“ „Ein bisschen.“   Er nickte verständig, schlug zwei Eier direkt in die Pfanne, rührte darin herum und hatte kurz darauf einen Teller Rührei mit Soße.   „Das ist aber nicht so schick wie meins.“ „Du bist ja auch der Gast.“   Er prostete mir mit einem eigenen Glas Mineralwasser zu und begann zu essen. Ich nahm ebenfalls einen vorsichtigen, ersten Bissen und hätte beinahe gestöhnt. Mit dem Omelette zusammen wurde das Ganze noch besser. Keine Ahnung, warum das so war. Die Konsistenz, die verschiedenen Geschmäcker, es ergänzte sich einfach so genial, dass ich die Augen schloss und schließlich doch ein genießerisches Geräusch von mir gab. „So gut, ja?“ Als ich die Augen öffnete, sah ich, dass Julius mich schon wieder beobachtete. Als er meinen Blick bemerkte, guckte er schnell wieder auf seinen Teller herab und steckte sich eine Gabel voll Essen in den Mund. Danach kaute er sehr bedächtig, so als würde er über etwas nachdenken. Als er schließlich schluckte, atmete er tief durch. „Tut mir leid wegen vorhin. Meine Reaktion war blöd.“   Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du?“   „Na als du mir erzählt hast, dass du … mit deinem Freund geschlafen hast. Das erste Mal. Das war für dich bestimmt was total Besonderes und ich hab mich so aufgeführt. Das war dämlich.“ Er sah auf. „Es war doch was Besonderes, oder?“   Ich nickte.   „Gut.“ Ein Lächeln hielt auf Julius’ Gesicht Einzug. „Das sollte es auch sein. Ich freu mich für dich.“ „Danke.“   Er schob seinen Teller weg und stützte die Arme auf den Tisch. „Na dann erzähl doch mal was. Wie heißt er, wo kommt er her, was macht er so? Ich will alles wissen.“   „Ähm …“   Okay, das war jetzt irgendwie schwierig. Das Meiste, was Manuel mir erzählt hatte, war sicher nichts, das ich einfach irgendwem anders auf die Nase binden konnte. Das wäre ihm bestimmt nicht recht gewesen. Andererseits wollte ich so gerne mal mit jemandem darüber reden. Ich wollte … keine Ahnung. Irgendwem erzählen, dass ich die ganze Zeit an ihn denken musste, dass er trotz seines manchmal etwas ruppigen Auftretens unheimlich süß sein konnte, dass er mir das Gefühl gab, was Besonderes zu sein, und dass wir Morgen ein Date hatten. Ein Date! Julius wusste bestimmt, was man da machen konnte.   „Sein Name ist Manuel", begann ich schließlich. „Er wohnt bei mir im Dorf und wir haben uns erst ein paar Mal getroffen, aber ich … ich weiß auch nicht. Ich mag ihn halt und wir sind morgen verabredet. Eigentlich würde ich gerne irgendwas mit ihm unternehmen, aber ich weiß nicht so wirklich, was. Hast du eine Idee?“   Julius überlegte. „Mhm. Was mag er denn so?“   „Weiß ich nicht. Wir haben uns noch nicht so viel unterhalten. Ich weiß, dass er auf Horrorfilme steht, aber Kino ist nicht. Zumal ich da ne Krise kriege und er kein Geld hat. Eigentlich müssten wir was bei uns in der Nähe machen, aber da ist total tote Hose. Außerdem … außerdem können wir nicht einfach, also … du verstehst schon. In der Öffentlichkeit und so.“   Ich zuckte ein bisschen hilflos mit den Achseln und Julius verzog den Mund. „Ja, ich verstehe. Na und wenn ihr ein Picknick macht? Du nimmst ne Decke mit, ein bisschen was zu Essen und zu Trinken. Dann sucht ihr euch ein schönes, abgelegenes Plätzchen und könnt euch da mal in Ruhe unterhalten … und bestimmt auch ein bisschen rumknutschen.“   Er grinste und zwinkerte mir zu und ich grinste zurück. Ein Picknick. Das war die Idee. So tolles Essen wie Julius konnte ich da zwar nicht auffahren, aber dafür wusste ich den perfekten Platz dafür. Mein Grinsen wurde breiter. „Julius, du bist ein Engel. Und ein begnadeter Koch. Du solltest das echt beruflich machen.“ Er lachte. „Bei den Arbeitszeiten? Bist du wahnsinnig? Und der Stress erst. Nee, danke. Ich bin froh, wenn ich dem 'Monopoly' regelmäßig den Rücken kehren kann. Alle paar Tage für ein paar Stunden im Gastrogewerbe langen mir vollkommen. Koch ist und bleibt mein Hobby.“   Ich funkelte ihn herausfordernd an.   „Und was gedenkt der Herr Hobbykoch mir als Nachtisch zu kredenzen?“ „Sag bloß, du bist ein Süßschnabel.“ „Vielleicht?“ „Ha. Ich hab’s gleich gewusst. Also schön, damit krieg ich dich bestimmt rum.“ „Na da bin ich ja mal gespannt.“   Ich weiß nicht genau, was er da zusammenrührte und hinterher in einem kleinen Topf frittierte. Aber es war göttlich und dass es dazu noch frische Mango gab, machte es perfekt. Allerdings meldete sich am Ende ein bisschen mein schlechtes Gewissen. Immerhin wusste ich, dass gerade Mango nicht unbedingt billig waren. Aber als ich deswegen etwas herumdruckste, winkte er nur lächelnd ab. „Keine Bange. Ich nage nicht am Hungertuch. Schließlich gehe ich arbeiten und wohne noch zu Hause. Für was könnte ich mein Geld besser ausgeben als für das leibliche Wohl eines Freundes.“   Ich beobachtete ihn dabei, wie er das Schlachtfeld, in das er die Küche verwandelt hatte, langsam zusammenräumte. Wahrscheinlich hätte ich ihm helfen sollen, aber ich war pappsatt und unfähig mich zu rühren und außerdem hätten wir uns auf dem beengten Raum eh nur gegenseitig auf den Füßen rumgestanden. Stattdessen spielte ich mit der Kuchengabel, die noch vom Dessert übriggeblieben war.   „Bin ich das denn?“, fragte ich. „Ein Freund, meine ich.“ „Na klar. Oder meinst du vielleicht, ich schleppe einfach jeden x-beliebigen Kerl hier zu mir nach Hause. Wofür hältst du mich?“ „Für einen viel zu netten Menschen?“   Er seufzte theatralisch. „Manchmal glaube ich auch, ich bin einfach zu gut für diese Welt.“ „Eingebildet bist du wohl gar nicht“ „Nur an ungeraden Mittwochen und jedem dritten Sonntag im Monat.“ „Da hab ich ja Glück, dass heute Freitag ist.“ Wir blödelten noch eine Weile herum, bis es höchst Zeit für mich wurde zum Bus zu gehen. Die Zeit war irgendwie viel zu schnell vergangen und ich wäre gerne noch geblieben, aber der nächste Bus fuhr erst in drei Stunden und so lange wollte ich Julius’ Gastfreundschaft dann doch nicht strapazieren. „Ist dein Heim fenn überhaupt schon schwesternfrei?", fragte er, während ich mir in dem engen Flur die Schuhe wieder anzog, die ich auf dem Hinweg nebenbei abgestreift hatte. An der hellgelben Wand hing ein scheußlicher Kunstsdruck. „Ich fürchte nicht und selbst wenn. Diana ist wie Unkraut die kommt immer wieder." Julius lachte und verschränkte dabei die Finger ineinander. „Tja, dann werde ich dich wohl ziehen lassen müssen. Es war schön, dass du da warst und falls du mal quatschen willst ... weißt du ja, wo du mich findest." „Ja, das weiß ich. Danke nochmal für das Asyl und die tolle Bewirtung. Ich hoffe, ich kann mich mal revanchieren.“ „Kriegen wir hin. Vielleicht … gehen wir ja mal zusammen weg. Also du, ich und dein Freund? Ich würde euch auch abholen.“   Dieses Mal war ich derjenige, der strahlte. „Klar, das wäre super. Ich frag ihn.“ Julius zögerte. „Möchtest ... möchtest du vielleicht meine Nummer? Dann kannst du mich anrufen und mir erzählen, wie es war. Ich bin doch neugierig, wie dein Date verlaufen ist. Und du könntest mir auch gleich Bescheid sagen, ob wir mal was zu dritt unternehmen wollen." „Klar, warum nicht. Gibst du mir dein Handy, dann speichere ich sie dir ein." Er tat es und klingelte auch gleich noch bei mir an, damit ich seine Nummer ebenfalls hatte. Ich sah auf die Uhr. „Ich muss jetzt echt los, sonst gehe ich dir noch den Rest des Nachmittags auf den Sack." „Ach, das würde mich nicht stören." Er lächelte. „Mach's gut, Benedikt und pass auf dich auf." „Wieso?", fragte ich mit einem Grinsen. „Hast du Angst, dass mich ein Bus überrollt?" „So in etwa." Im nächsten Augenblick fand ich mich in einer Umarmung wieder. Julius drückte mich an sich und flüsterte: „Ich mein's ernst. Pass auf dich auf. Und ruf an, wenn was ist." Ich rollte mit den Augen und drückte ihn kurz zurück. „Ja, Mama." „Hey, nicht frech werden." „Ich bin nie frech." Zum Beweis streckte ich ihm die Zunge raus und er lachte schon wieder, bevor ich es endlich aus der Tür schaffte und draußen ziemlich die Beine in die Hand nehmen musste, damit mir mein Bus nicht doch noch vor der Nase wegfuhr. Schwer atmend ließ ich mich auf einen freien Sitz fallen. Ich zog mein Handy heraus, um Julius’ Nummer einzuspeichern, als ich eine Nachricht von Manuel entdeckte. Er wollte wissen, ob es bei Morgen blieb. Ich schrieb ihm zurück, dass ich ihn um drei zu Hause abholen würde. 'Lass uns lieber woanders treffen.', lautete seine Antwort. 'Okay. Dann um drei am Ortsausgang?' 'Geht klar.' 'Gut bis dann. Ich freu mich.' Ich wartete, ob von ihm noch etwas kam, aber er war bereits offline gegangen und so steckte ich das Handy schließlich auch wieder ein und lehnte mich im Sitz zurück. Während draußen die Landschaft vorbeizog, wanderte ich mit meinen Gedanken einen Tag weiter. Dieses Date morgen musste einfach perfekt werden, dann würde Manuel schon ein bisschen aus sich rauskommen. Ich musste ihm nur beweisen, dass ich es ernst mit ihm meinte. Der Rest würde dann ganz von allein kommen. Kapitel 21: Von falschen Verdächtigungen und fiesen Vorurteilen --------------------------------------------------------------- Wisst ihr, es gibt doch diesen klugen Spruch, dass man nicht mit leerem Magen einkaufen gehen soll. Den würde ich ja soweit noch unterschreiben, weil man mit Hunger im Bauch vermutlich alles Mögliche in den Wagen schmiss, sodass man am Ende viel zu viel kaufte. Mein aktuelles Problem allerdings war völlig anderer Natur. Ich tigerte nämlich bereits seit geschlagenen 20 Minuten durch unseren Dorfladen und hatte genau NICHTS in meinem Einkaufswagen und eigentlich nicht mal den. Die paar Sachen, die ich besorgen wollte, konnte ich schließlich genauso gut in der Hand tragen. Also hätte ich tragen können, wenn ich denn gewusst hätte, was ich hätte kaufen sollen. Was ich nicht tat. Dreck. Das mit dem Picknick hatte sich in der Theorie ja total gut angehört, daher hatte ich auf dem Weg vom Bus einfach einen kleinen Umweg zum örtlichen Lebensmittelhöker gemacht, um noch ein paar Sachen dafür zu besorgen. Diana und unsere Mutter waren bestimmt sowieso total versunken in ihren Hochzeitskram, sodass es nicht weiter auffallen würde, wenn ich ein bisschen später nach Hause kam. Das Ding war nur, dass ich mich so überhaupt nicht entscheiden konnte und auch noch nichts entdeckt hatte, das sich für die praktische Durchführung meines Plans überhaupt eignete. Denn natürlich hatte ich nicht vor, mit einem richtigen Picknickkorb da anzutanzen. Ich meine, wie alt bin ich denn? 50? Also nee, Teller und Besteck und so was ging gar nicht. Ergo kam nichts in Frage, was man nicht mit den Händen essen konnte. Noch dazu durfte es nicht sein, was man erst noch zubereiten musste, weil ich das meiner Mutter wohl ziemlich schlecht hätte erklären können. „Hey, Mama, ich mach grad Essen für zwei Personen fertig und fahr dann ganz alleine ein bisschen damit rum.“ Klang voll überzeugend, oder? Nein? Dann habt ihr das Problem ja verstanden. Ebenso fiel alles aus, was in den Kühlschrank musste, denn da würde meine Mutter es sehen und ebenfalls fragen, was ich damit vorhatte. Und natürlich wollte ich nichts kaufen, was einen Dosenöffner erforderte. Bei Hanni und Nanni mochte sich das mit den Pfirsichen ja toll angehört haben, aber mal im Ernst … ne Dose Pfirsiche zum Picknick? Wohl eher nicht. Und auch Würstchen im Glas gingen gar nicht. Wir waren ja schließlich nicht beim Kindergeburtstag. Somit stand ich mit dem Werbe-Jingle von „Mini-Wini-Würstchenkette“ – vielen Dank liebes Gehirn für die Erinnerung – vor dem Keksregal und versuchte das hämische Grinsen der Pombären zu ignorieren, die mich mit ihren Kartoffelknopfaugen vom Nebenregal aus kritisch beäugten und bei allem, was ich aussuchte, vehement mit dem Kopf schüttelten. Obwohl sie ja recht hatten. Für Schokoladenkekse war es viel zu warm und selbst die Vorstellung, die braune Soße irgendwo von Manuel runterzulecken, machte mich nicht so richtig an. Argh. Ich hasse mein Leben. „Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte mich plötzlich die Kassenangestellte. Ich sprang fast einen halben Meter in die Luft vor Schreck. Himmel, musste die sich so anschleichen? Konnte man nicht mal in Ruhe einkaufen hier? Kusch, geh woanders hin, du komische Tante! „Nein danke, ich komme klar“, erwiderte ich höflich und starrte weiter die vielen bunten Packungen an. Die Schrapnelle ging aber nicht, sondern fing an, in allernächster Nähe die Ware neu zu sortieren. Ja nee, ist klar. Noch auffälliger ging wohl nicht? Hatte die etwa Angst, dass ich was klaute oder was? Pff. Als ob sich das bei dem miesen Sortiment lohnen würde. Weil mir die Blicke aber trotzdem auf die Nerven gingen, schlurfte ich zurück zum Anfang des Ladens. Also schön, mal überlegen. Obst war doch vielleicht eine gute Idee. Manuel würde schon nicht allergisch sein, oder? Wobei Erdbeeren sicherlich nicht die beste Wahl waren. Hörte sich zwar lecker an, aber die matschten bestimmt, wenn man sie in den Rucksack tat. Und Äpfel und Bananen …? Nee, das ging auch nicht. Zu profan. Und alles, was man kleinschneiden musste, fiel auch aus. Aber Weintrauben. Das hörte sich doch gut an. Ich schnappte mir eine Packung und tappte damit weiter durch die Gänge, immer verfolgt vom wachsamen Adlerauge der Kassiererin. Man, nerv wen anders, Weib! Wobei ja niemand hier war außer mir. Ich hatte die gesamten … keine Ahnung … 120 Quadratmeter? … für mich allein. Man. Jetzt gerade wäre ich sogar lieber noch mal Kondome kaufen gegangen, das wäre weniger nervenaufreibend gewesen. Ob ich die wohl auch einstecken sollte? So für alle Fälle? Sex im Freien klang nach einer interessanten Idee. Und der Ort, an den ich mit Manuel wollte, war recht versteckt. Da kam nie einer hin. Außerdem musste ich ihm ja nicht gleich verraten, dass ich die mithatte. Dann konnte ich sie im Fall der Fälle als Überraschung aus der Tasche ziehen. Ich grinste dümmlich vor mich hin, während ich mir Manuels Gesicht vorstellte, als schon wieder die Kassentrulla neben mir auftauchte. „Kann ich dir wirklich nicht helfen?“ Himmelherrgott, nein! Ich will einfach nur in Ruhe einkaufen. Hätte ich gerne gesagt. Traute ich mich aber nicht. Außerdem musste ich mich wirklich langsam beeilen, sonst würde Diana noch misstrauisch werden. Bei ihr war das zumindest eher zu befürchten als bei unserer Mutter. Also gut, dann eben einfach eine Packung Kekse. Ohne Schokolade. Vermutlich stand Manuel eh nicht so auf romantischen Schnickschnack. Und es war doch schließlich der Gedanke, der zählte, oder? Ich schnappte mir also eine Packung Butterkekse und für alle Fälle noch Zitronenwaffeln und eine Tüte Salzgebäck, nahm auf dem Weg zur Kasse noch ne Flasche Cola mit und legte alles aufs Band. Während ich bezahlte – ha, nimm das, du Kuh – stellte ich fest, dass mein Picknick reichlich mickrig aussah. Na ja. Es war eben noch kein Meister vom Himmel gefallen. Würde schon werden. „Darf ich mal bitte in deine Tasche schauen?“ Wie aus dem Boden gewachsen stand auf einmal der Marktleiter vor mir. Der schon leicht schütterbehaarte Mann im weißen Kittel musterte mich streng und zeigte auf meinen Rucksack, in dem ich gerade meine Einkäufe verstauen wollte. Ja wie jetzt? Dachten die echt, ich hätte was geklaut? „Dürfen Sie das denn?“, fragte ich zurück. „Rein rechtlich gesehen nicht, aber wir können natürlich gerne die Polizei anrufen, die das dann übernimmt.“ Ich merkte, wie meine Wangen anfingen zu brennen. Das war doch scheiße. Ich hatte gar nichts gemacht, außer dass ich verdammt nochmal für meinen Freund und mich ein Picknick kaufen wollte und keine Ahnung hatte, wie man das machte. Und zur Strafe wurde ich jetzt behandelt wie ein Schwerverbrecher. Außerdem hatte ich keine Wahl, als mich dem Arschloch zu fügen, weil einen Anruf bei der Polizei auch im Fall meiner Unschuld ganz bestimmt meine Mutter mitbekommen würde. Sie würde anfangen Fragen zu stellen, es würde alles rauskommen und ich war am Arsch. „Na gut, wenn’s denn sein muss.“ Widerwillig zerrte ich die Kordel auseinander, die meinen Rucksack oben zusammenfasste und hielt dem beknackten Kerl meine Tasche hin. Er sah hinein, griff hinein, um ein paar Hefte zur Seite zu schieben, und nickte dann. „Schön, es scheint alles in Ordnung zu sein. Du kannst deine Sachen einpacken.“ Ich hätte ihm den Kram am liebsten vor die Füße gepfeffert, aber erstens hatte ich ja bereits bezahlt und zweitens hätte ich dann immer noch nichts für das Picknick gehabt. Trotzdem fühlte es sich echt mies an, so vorgeführt zu werden. Nicht mal entschuldigt hatte er sich. Stattdessen wechselte er noch ein paar Worte mit der Kassiererin und trollte sich dann zurück in sein Büro. Die Tante an der Kasse glotzte mich blöde an. Was denn noch? Ham sie dir beim letzten Friseurbesuch auch gleich das Hirn mitblondiert, oder wie? Sie räusperte sich. „Wir sind leider angewiesen, ein besonderes Auge auf die Jugendlichen zu haben. Es gibt hier doch jetzt dieses Heim. Da müssen wir aufpassen. Die klauen wie die Raben.“ „Ach ja?“, fauchte ich zurück. „Kennen Sie denn einen von denen persönlich? Und hat schon mal einer hier was geklaut?“ „Nein, aber das weiß man doch.“ „Ach ja? Weiß man das?“ Ich wartete ihre dumme Antwort gar nicht erst ab, sondern kehrte ihr nur den Rücken und marschierte wutschnaubend zur Tür hinaus. Das war doch wirklich … ich fand gar kein Wort dafür, denn scheiße traf es nicht mal annähernd. Vor allem kannte die mich in dem Laden. Ich kam hier schon her, seit ich ein kleiner Stöpsel war. Schön, mochte ja sein, dass ich die Kassenschnepfe nicht mit Handschlag begrüßte, aber die musste doch wissen, dass ich gar nicht aus dem Heim war. Und selbst wenn, war das noch lange kein Grund, mich unter Generalverdacht zu stellen. Den restlichen Heimweg lang versuchte ich, mich möglichst abzuregen, weil ich nicht wollte, dass man mir zu Hause was davon anmerkte. Dass ich nicht erfolgreich war, zeigte sich sofort, als ich zur Tür reinkam und fast in Diana hineinlief, die gerade mit zwei Teetassen in Richtung meines Zimmers unterwegs war. „Hey, Bruderhherz. Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“ Ich grummelte irgendwas Unverständliches, aber natürlich ließ Diana das nicht gelten. Sie stellte die Teetassen ab und mich zur Rede. „Hey, nun sag schon. Du siehst aus, als würdest du am liebsten irgendwas zu Brei schlagen.“ Okay, es ging wohl kein Weg dran vorbei. Ich musste ihr irgendetwas präsentieren, sonst würde sie keine Ruhe geben. „Ach … ich bin in einem Geschäft kontrolliert worden. Tasche aufmachen und so.“ Wieder einmal ein Hoch auf Halbwahrheiten. Ich musste ihr ja nicht auf die Nase binden, dass das hier im Dorf gewesen war. „Das dürfen die doch gar nicht.“ Ich lachte auf. „Schon klar, aber sollte ich sie die Polizei holen lassen? Also hab ich es über mich ergehen lassen, aber … es hat sich halt kacke angefühlt.“ „Mhm, verstehe.“ Sie strich sich die Haare hinters Ohr und sah mich prüfend an. „Und ist das wirklich alles? Weißt du, wenn du Probleme hast, kannst du mir das erzählen.“ Ich schüttelte den Kopf und tat, als wären meine Schuhe das Interessanteste auf der Welt. So ein Knoten dauert aber auch, bis man den offen hat. „Bist du sicher?“ „Ja~ha.“ Ein Schnaufen antwortete mir. „Na gut, wie du meinst. Aber wenn du schon heimlich rauchst, solltest du wenigstens die Kippen wegräumen. Ich hab die Dinger gerade noch so vor Mama verstecken können.“ Die … oh Mist. Daran hatte ich nicht gedacht. Ich hatte gestern das Kondom gleich draußen in der Mülltonne entsorgt, das Bettzeug abgezogen und in die Waschmaschine gestopft, aber an die Kippen vor der Haustür hatte ich nicht gedacht. Fuck. Diana schüttelte den Kopf. „Ach Benedikt. Du bist wirklich ein verdammt schlechter Lügner, weißt du das? Und Rauchen ist voll schädlich. Wenn du das in meiner Nähe machst, kille ich dich. Das ist schlecht fürs Baby.“ „Äh, nee, mach ich nicht. Ich will eh aufhören.“ Himmel, was redete ich denn da? So viel zum Thema schlechter Lügner. Wenn das so weiterging, wurde ich noch Weltmeister im Ausreden erfinden. „Fein. Dann guck ich jetzt mal, wie weit Mama mit der Budgetplanung ist. Wenn du schlau bist, suchst du dir später mal einen reichen Schwiegervater, der die Hochzeit finanziert. Das kostet, sag ich dir. Vor allem das Kleid. Der Wahnsinn.“ Ich lächelte matt und atmete erleichtert auf, als sie endlich den Tee nahm und verschwand. Schwiegervater. Haha. Momentan war das wohl ein asozialer Alkoholiker. Da war vermutlich nicht viel zu holen. Außerdem musste ich vorher irgendwie noch allen beipulen, dass ich wohl ein Kleid bei so einer Veranstaltung nicht brauchen würde. Weder für mich noch für die „Braut“. Witz komm raus, du bist umzingelt. Da mein Allerheiligstes immer noch belagert wurde, schmiss ich mich vor den Fernseher und guckte Sinnlos-TV. Die absolut grauenhafte Darstellung der vollkommen an den Haaren herbeigezogenen „wahren Geschichten“ lenkte mich ein bisschen von meinem eigenen Leben ab, bis es Zeit wurde fürs Abendessen, zu dem meine Mutter nur eben schnell Brot und Belag auf den Tisch stellte, weil sie nicht zum Kochen gekommen war. Diana war mittlerweile verschwunden und ich ersetzte die Probleme der Laienschauspieler durch die meiner Schwester, die ich ebenso wie die fiktiven Dokumentationen einfach an mir vorbeirauschen ließ. Zwischendurch hatte ich überlegt, ob ich Manuel von dem Vorfall heute Nachmittag erzählen sollte, aber das hätte sich komisch angefühlt, ihn auch noch mit der Nase darauf zu stoßen, was die in dem Laden von „Leuten wie ihm“ hielten. Am Ende schickte ich Julius eine Nachricht, um mich noch ein bisschen bedauern zu lassen, was er auch prompt tat. Ich lächelte, als ich die vielen Smileys sah, die er mir geschickt hatte und die dem Marktleiter einen schlimmen Tod und mir viele Streicheleinheiten versprachen. „Was ist denn so lustig“, fragte meine Mutter, während sie Leberwurst auf ihrem Brot verstrich. „Ach, ich hab nur eine Nachricht bekommen.“ „Von wem denn? Jemand aus deiner Klasse?“ Ich überlegte kurz. Natürlich hätte ich jetzt lügen können, aber … „Nein, die ist von Julius. Das ist Antons Cousin. Er ist übrigens schwul.“ Was? Das hatte ich jetzt nicht wirklich gesagt, oder? Ich schielte zu meiner Mutter hinüber, aber die nickte nur. „Mhm, das kommt vor. Gibst du mir mal die Cornichons?“ Ich reichte ihr das Glas und war … ich weiß nicht. Erstaunt? Enttäuscht? Ich war mir nicht sicher, aber irgendwie … „Ist alles in Ordnung? Möchtest du darüber reden?“ „Was?“ Ich schreckte hoch und sah mich auf einmal mit mehr mütterlicher Aufmerksamkeit konfrontiert, als mir lieb war. Denn auch wenn mein vorlauter Mund anscheinend gedacht hatte, dass es eine Superidee war, das Thema auf den Tisch zu bringen, hatte der Rest von mir keine Ahnung, was ich jetzt dazu sagen sollte. „Na, es beschäftigt dich anscheinend und ich dachte …“ „Nein, alles bestens. Ich weiß gar nicht, warum ich dir das erzählt habe, Vielleicht, weil ich so überrascht war. Ich hätte das nicht gedacht.“ Meine Mutter lachte. „Was hast du denn erwartet? Dass die alle mit rosa T-Shirts und Regenbogenfahnen durch die Gegend laufen? Ich bitte dich, Benedikt. Das ist doch heutzutage ganz normal.“ „Na klar, ist es. War dumm von mir.“ Ich biss in mein Brot, dessen Belag plötzlich nach Pappe schmeckte. Einerseits war ich froh, dass sie so cool reagiert hatte. Diesem Möller beispielsweise traute ich zu, in einem Atemzug einen ganzen Suppenkessel voll homophober Scheiße zu erbrechen. Andererseits war da dieses kleine „die“ wie in „die anderen“ also „nicht wir“ und das war es, was schon wieder so unangenehme Knoten in meinen Magen machte. Wie meine Mutter wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass ihr Sohn eben doch einer von „denen“ war und nicht nur irgendein anonymer Fremder, über den man leicht hinwegsehen konnte, weil er einen nichts anging? Ob sie dann auch noch so gelassen blieb? Als ich abends im Bett lag, dachte ich noch einmal über den Tag nach. Irgendwie fühlte es sich an, als hätte er mehr als 24 Stunden gehabt. Es war so viel passiert, dass ich eigentlich nichts lieber wollte, als mich zusammenzurollen und einzuschlafen, doch ich konnte nicht. Irgendetwas hielt mich wach, auch wenn ich nicht genau wusste, was es war. Vielleicht doch noch dieses Erlebnis vom Nachmittag. So ungerechtfertigt verdächtigt zu werden … das ging mir einfach gegen den Strich. Wobei ich mir nicht sicher war, ob es besser gewesen wäre, wenn mich die Leute komisch angeguckt hätten wegen etwas, das tatsächlich real war. Wie die Tatsache, dass ich schwul war, zum Beispiel. Im Grunde genommen ging es ja niemanden was an und ich hatte auch nicht vor, es irgendwem auf die Nase zu binden oder ihn gar damit zu „belästigen“. Aber allein die Tatsache, dass man es überhaupt erwähnen beziehungsweise verstecken musste, hinterließ einen schalen Nachgeschmack. Wenn ein Junge und ein Mädchen Hand in Hand durch die Stadt liefen, interessierte das doch auch niemanden. Aber wenn ich mir vorstellte, dass ich und Manuel das taten, war das sogar in meinem Kopf irgendwie komisch und das nicht nur, weil Manuel garantiert nicht der Typ fürs Händchenhalten war. Selbst Julius, der ja schließlich sein Outing schon hinter sich hatte, hatte sofort verstanden, worum es ging, als ich sagte, dass wir uns nicht in der Öffentlichkeit treffen könnten. Daran hätte sich vermutlich nicht mal was geändert, wenn wir 300 Kilometer weit weg gefahren wären, wo uns nun wirklich niemand kannte. Egal, wie tolerant die meisten waren – zumindest theoretisch – irgendwo wäre wieder einer, der was dagegen hätte. Und vermutlich hätte man den nicht mal besonders lange suchen müssen. Vorurteile gab es einfach mehr als Sandkörner am Meer. Sogar ich hatte welche, wenn ich mal wirklich ehrlich war. Das war beunruhigend und deprimierend zugleich und ich stierte mit diesen dunklen Wolken im Kopf solange in die Dunkelheit, bis es mir selbst reichte. Am Ende stand ich wieder auf, schaltete den PC ein und surfte noch fast zwei Stunden ziellos durch die Gegend – nachdem ich den Suchverlauf gelöscht hatte, denn wenn ich noch eine einzige Hochzeitseinladungskarte vorgeschlagen bekam, würde ich anfangen zu schreien – bevor ich endlich so müde war, dass mir die Augen von ganz allein zu fielen. Mit letzter Kraft kroch ich ins Bett, zog mir die Decke über den Kopf und driftete ab ins Land der Träume, um mich dort von Würstchenkettenlasso schwingenden Schokoladenkeksen in rosa Tutus durch die Gegend jagen zu lassen, die meine Tasche mit den geklauten Kondomen kontrollieren wollten. Man konnte eben nicht alles haben. Kapitel 22: Von gemütlichen Gräbern und verliebten Volltrotteln --------------------------------------------------------------- Am nächsten Tag packte ich meinen Rucksack, während meine Mutter unter der Dusche war, und widmete mich danach meiner eigenen Körperpflege. Also nicht, dass ich sonst nicht reinlich war, aber … na ja. Wenn man wusste, dass einem jemand so nahekommen würde, das war ja doch noch mal was anderes.   Dummerweise war ich damit schon viel zu früh fertig, sodass ich die restlichen Stunden bis zu meiner Verabredung irgendwie rumbringen musste und zwar möglichst, ohne mich dabei von meiner Mutter zu einer anstrengenden Arbeit einspannen zu lassen. Schließlich wollte ich nicht völlig erledigt und mit Muskelkater zu unserer Verabredung erscheinen. Zum Glück war der Rasen noch kurz genug und meine Mutter hatte beschlossen, ihren Kleiderschrank auszumisten, sodass sie mich in Ruhe ließ und ich der Langeweile frönen konnte, bis es endlich halb drei war.   Eigentlich war ich selbst dann noch zu früh dran, aber ich hielt es einfach nicht mehr aus, in meinem Zimmer zu sitzen und die Uhr anzustarren. In meiner Verzweiflung hatte ich tatsächlich nochmal Julius geschrieben, der mich wieder tief bedauert und mich mit Stories von irgendwelchen indischen Seifenopern ein wenig abgelenkt hatte. Ich sage euch, die spinnen, die Inder!     Ich fuhr mit dem Fahrrad zum Ortsausgang und hockte mich dort auf einen Grenzstein. Es war immer noch eine halbe Ewigkeit bis um drei, also richtete ich mich auf eine längere Wartezeit ein. Ich zog mein Handy raus und las mir nochmal die Nachrichten von Julius durch. Er hatte wirklich ein Faible für bunte Smileys, wie ich feststellen musste. Mir war das immer zu fummelig, die Dinger aus dem Menu zu holen, also beschränkte ich mich im Fall der Fälle auf Satzzeichen. Also nicht, dass ich überhaupt viele benutzen würde. Vielleicht fiel es mir deswegen bei Julius so auf.   Als ich damit fertig war, surfte ich ein bisschen sinnlos herum. Also wirklich sinnlos. Ich hätte mich natürlich zum Weltgeschehen informieren können, aber, mal ehrlich, lernen musste ich in der Schule schon genug und heute war Samstag. Da musste ich meinen Kopf nicht noch weiter mit irgendwelchem Kram vollstopfen.   Es wurde drei und die Zeit ging vorbei. Ich wollte schon anfangen unruhig zu werden, als ich eine bekannte Gestalt die Straße entlangkommen sah. Manuel. Und er war fast pünktlich. Mein Herz begann schneller zu schlagen.   „Hey“, sagte ich trotzdem nur, als er endlich da war. Er grüßte genauso zurück.   „Wollen wir?“ „Wo soll’s denn hingehen.“ „Verrate ich dir nicht.“   Er zog die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts. Weil er kein Fahrrad hatte, schob ich meins, während wir das Dorf verließen und auf der Landstraße einträchtig nebeneinander herliefen.   „Und?“, fragte ich, um die Stimmung ein bisschen aufzulockern. „Was hast du so gemacht heute?“   „Aufgeräumt“, lautete die unglaublich ausführliche Antwort.   „Den ganzen Tag?“ „Ja.“ „Muss ja ein Palast sein, in dem du da wohnst“, versuchte ich einen Witz, woraufhin er mich böse anfunkelte.   „Es war halt viel zu tun. Wir … wir sind nicht so viele Leute, da muss eben jeder mitanpacken.“   Ich biss mir auf die Lippe und schielte zu ihm rüber. Vielleicht …   „Was heißt denn 'nicht so viele Leute'?“, fragte ich vorsichtig weiter. „Wie viele … äh … Leute wohnen denn bei euch?“ „Nur ich und Anna. Die anderen Zimmer müssen noch renoviert werden.“ „Mhm.“   Okay, das war irgendwie schwieriger als gedacht, aber ich war noch nicht bereit aufzugeben.   „Und wie ist Anna so?“   Er zuckte mit den Schultern. „Sie sagt nicht viel. Hat wohl irgendwelche Scheiße hinter sich. Sie mussten sie rausholen.“   Er griff in seine Tasche und holte eine Zigarette raus. Während er den Rauch inhalierte, betrachtete ich sein Profil. Wahrscheinlich war es besser, wenn ich jetzt erst mal aufhörte zu bohren. Vielleicht würde er ja später noch ein bisschen was erzählen.   „Na gut, dann mach dich mal bereit für die Überraschung“, rief ich entschieden fröhlich und zeigte auf einen Feldeingang. „Wir sind nämlich da.“   Manuel sah skeptisch aus. „Und was wollen wir hier?“ „Siehst du gleich.   Ich schob mein Rad auf den Acker, auf dem in ein paar Wochen vermutlich wieder Mais stehen würde, und versteckte es im Knick, damit es von der Straße aus niemand sah. Dann schnappte ich mir meinen Rucksack und die Decke vom Gepäckträger und grinste Manuel an.   „Komm mit.“   Er folgte mir ein bisschen widerwillig.   Wir stiefelten querfeldein über die staubige, braune Fläche auf die zwei großen, grasbewachsenen Hügel zu, die sich mitten in dem Feld erhoben. Ich vermute mal, dass es sich dabei um Hügelgräber handelte. Davon gab es hier in der Gegend eine ganze Menge. Einige waren erschlossen so mit Infotafeln und so, andere standen einfach nur so in der Gegend herum. Und bevor jetzt jemand rumnölt: Ja, ich hatte vor, mein Date mit Manuel auf der letzten Ruhestätte eines toten Wikingers zu veranstalten. Der war immerhin bereits ein paar tausend Jahre tot und bestimmt schon nach Walhalla oder wo auch immer eingeritten, sodass ihn das jetzt nicht mehr stören würde.   Auf der hinteren der beiden bestimmt drei Meter hohen Erhebungen standen einige Bäume, einer davon ein knorriger Apfelbaum, an dem im Herbst immer jede Menge winziger, quietschsaurer Äpfel hingen. Unter dem bereitete ich jetzt unseren Picknickplatz vor. Es sah eigentlich ganz gemütlich aus und bot vor allem Schutz vor der Sonne, die heute ziemlich heftig vom Himmel runterknallte. So allerdings malten die Bäume ein unregelmäßiges Schattenmuster auf die rotkarierte Wolldecke, die mitten im wildwuchernden Gras lag. Ich setzte mich und sah Manuel erwartungsvoll an.   „Und jetzt?“, fragte er. „Jetzt kommst du her und hörst auf zu meckern.“   Ich klopfte neben mich auf den Boden und Manuel ließ sich nach einem kurzen Zögern tatsächlich neben mir nieder. Er schüttelte den Kopf.   „Du hast vielleicht Ideen, Bambi.“ „Gefällt es dir nicht?“ „Doch. Ich … ach egal.“   Er ließ sich rückwärts auf die Decke sinken und schloss die Augen. Wie er so dalag, wirkte er fast friedlich. Ich betrachtete sein Gesicht mit den dunklen Augenbrauen, dem sonst immer ein wenig spöttisch verzogenen Mund, der jetzt ganz entspannt wirkte, und der ein bisschen zu blassen Haut, die im Gegensatz zu meiner nicht eine einzige Sommersprosse aufwies. Um uns herum war nichts außer Landschaft. Noch nicht mal Kühe gab es hier, nur Ackerflächen und Brachen und irgendwelche Vögel und Insekten und vermutlich auch Mäuse, wenn man den vielen, kleinen Löchern im Boden glauben durfte. Ansonsten war niemand da, der uns sehen, hören oder stören konnte.   Ich rückte etwas näher ran und betrachtete ihn weiter. Seine Oberlippe zeigte einen leichten Schatten. Er wollte sich doch wohl nicht schon wieder so einen scheußlichen Bartverschnitt wachsen lassen. Das wäre wirklich albern gewesen. Ohne sah er viel besser aus. Ein bisschen jünger vielleicht, aber definitiv besser. Ob ich ihm das mal sagen sollte?   Manuel öffnete ein Auge. „Willst du vielleicht ein Foto machen? Das hält länger.“   Ich lachte, als ich mich daran erinnerte, dass das mit das Erste gewesen war, was ich zu ihm gesagt hatte.   „Mit einem Foto kann ich aber nicht das hier machen“, antwortete ich, lehnte mich vor und küsste ihn ganz leicht. Nur eine kurze Lippenberührung. Er lächelte.   „Gibt’s da noch mehr davon?“ „Wenn du magst.“   Ich kam noch ein wenig dichter und legte erneut meinen Mund auf seinen. Er erwiderte den Kuss und für eine Weile lagen wir mit geschlossenen Augen da und küssten uns. Es war wundervoll. Ihn einfach so neben mir zu spüren, den Geruch nach Zigaretten und Waschmittel in meiner Nase durchmischt mit dem Duft nach frischem Gras und herannahendem Sommer, um uns herum die Stille, die Sonne und der leichte Wind, der meine Haare zauste. Es war, als wären wir in einem kleinen, friedlichen Kokon eingeschlossen und die Welt da draußen konnte uns mal. Einfach nur sein und nicht nachdenken müssen über nichts und niemanden.   Dann jedoch änderte sich plötzlich das Tempo. Manuels Zunge strich über meine Lippen und ich öffnete den Mund, um ihm Einlass zu gewähren. Er griff mit der Hand in meinen Nacken und zog mich näher. Unsere Zungen streichelten sich, unser Atem wurde schneller und ich merkte deutlich, dass mich diese tiefen Küsse nicht so kalt ließen, wie mir eigentlich lieb gewesen wäre. Das hier ging viel zu schnell in eine Richtung, in die ich es nicht haben wollte. Noch nicht. Trotzdem war es schwer, sich der Verlockung zu entziehen, als Manuels Hand unter mein Shirt schlüpfte und sich zielsicher in Richtung Hosenbund bewegte. Also tat ich das Einzige, was mir einfiel, um Schlimmeres zu verhindern. Ich schnappte ihn mir und rollte mich auf den Rücken, sodass er zwischen meinen Beinen zu liegen kam und hielt ihn einfach dort fest. So konnte ihm zwar nicht entgehen, dass mich unsere Knutscherei bereits ziemlich angemacht hatte, aber meine Hose würde er nicht so ohne Weiteres aufbekommen.   Ein wenig brummig unterbrach er den Kuss und sah auf mich herab. Mit leichtem Nachdruck presste er seinen Unterleib gegen meinen.   „Soll das eine Einladung sein?“ „Eher eine Ausladung.“ „Was denn? Willst du nicht? Soll ich dich erst noch überzeugen?“   Er beugte sich zu mir runter und legte seine Lippen an meinen Hals. Instinktiv wollte ich ihm mehr davon darbieten, aber ich beherrschte mich. Stattdessen nahm ich meine Hände zur Hilfe, um ihn ein wenig von mir wegzuschieben.   „Erzähl mir was über dich.“   Manuel seufzte und ließ sich neben mich auf die Decke gleiten. Sein Blick richtete sich in die Ferne hinauf in den blauen Himmel, über dem ein leichter, weißer Schleier lag. Frühlingshimmel.   „Da gibt’s nichts zu erzählen.“ „Das glaube ich nicht.“ „Ist aber so.“   Er fing an, in seiner Tasche nach den Zigaretten zu graben. Als er sie endlich herausgefriemelt hatte, setzte er sich auf, steckte sich eine an, inhalierte tief und ließ den Rauch dann langsam wieder zwischen seinen Lippen herausquellen. Ich lag immer noch auf der Decke und beobachtete ihn. Sein Profil gegen den blauen Hintergrund.   Als er noch einen Zug nahm, musste ich an gestern denken.   „Du solltest übrigens aufhören, deine Kippen bei uns in den Garten zu schmeißen. Meine Schwester hat schon gedacht, ich rauche heimlich.“   Er warf mir einen spöttischen Seitenblick zu. „Und das passt nicht zu deinem Image?“   „Nee, aber ich will sie halt nicht anlügen deswegen. Sind ja nicht meine.“   Er nickte und rauchte schweigend, während irgendwo in der Nähe ein Grashüpfer anfing zu zirpen. Ich ließ innerlich den Kopf auf die Tischplatte fallen. Dass das Gespräch jetzt so zum Erliegen kam, war blöd. Ich war dabei, das ganze Picknick zu ruinieren, bevor es richtig angefangen hatte mit meiner Fragerei. Aber trotzdem wollte ich es nicht einfach so auf sich beruhen lassen.   „Sie heiratet übrigens bald“, sagte ich daher. „Meine Schwester meine ich. Und sie kriegt ein Baby. Ich werde also Onkel.“ „Schön für dich.“   Okay, das war eine Sackgasse. Ich ließ ihn zu Ende rauchen und versuchte, die Stille zwischen uns zu genießen. Mir vorzustellen, dass sie nicht von lauter unausgesprochenen und nicht beantworteten Fragen herrührte. Es gelang mir nur teilweise.   Nachdem er die Zigarette auf einem Stein ausgedrückt hatte, deutete Manuel mit dem Kopf auf meinen Rucksack. „Hast du was zu Trinken mit?“ „Ja, bedien dich.“   Er schnappte sich den Rucksack und zog die Cola hervor. Ich hatte keine Becher mit, also trank er gleich aus der Flasche. Er reichte sie mir und während ich ebenfalls einen Schluck nahm, begann er tiefer zu kramen. Ich hielt ein bisschen die Luft an, aber er zog nur die Packung Zitronenwaffeln heraus und schnaubte belustigt.   „Ich … das sollte ein Picknick werden“, verteidigte ich meine Kekse und nahm ihm den Rucksack ab, um auch noch die restlichen Sachen auszupacken. Das, was sich ganz unten befand, ließ ich wohlweislich in der Tasche. Ich hatte vor dem Einpacken lange gezögert und war mir auch jetzt noch nicht sicher, ob ich es hier herausholen wollte, wo uns theoretisch halt doch jemand sehen konnte.   „Süß oder salzig?“, fragte ich und hielt die beiden Packungen hoch.   „Keinen Hunger“, antwortete er und ließ sich wieder auf die Decke sinken.   Ich packte die Sachen beiseite, legte mich neben ihn und sah hinauf in den Himmel. Dort oben zog gerade ein Flugzeug vorbei und hinterließ einen weißen Streifen in dem diesigen Blau. Der Grashüpfer bekam Gesellschaft von einem Artgenossen und gemeinsam zirpten die beiden um die Wette. Ich tastete mit meiner Hand nach Manuels. Als ich seine Finger in meinen spürte, griff ich danach und hielt sie fest. Es war … irgendwie kitschig, aber es fühlte sich gut an, ihn so neben mir zu wissen. Er ertrug es eine Weile lang, bevor er sich halb aufrichtete, eine weitere Zigarette herausholte und sie ansteckte. Der Rauch wehte über mich hinweg.   „Du nervst“, meinte er plötzlich. „Wie bitte?“   Ich richtete mich ebenfalls auf und sah ihn an. Er schaute in eine andere Richtung.   „Dass du mich ständig ausfragst. Das nervt“, konkretisierte er seinen Vorwurf.   „Aber …“ Ich atmete tief durch. „Tut mir leid, ich wollte dir nicht auf den Senkel gehen. Ich will dich doch nur … kennenlernen. Ist das so schlimm?“   Er stieß ärgerlich den Rauch aus. „Ich hab dir gesagt, dass es da nichts zu wissen gibt. Lass es doch einfach dabei. Je weniger du weißt, desto besser. Besser für dich.“   Die Art, wie er das sagte, war irgendwie eigenartig. Fast so, als müsse er sich selbst davon überzeugen. Oder mich.   Ich richtete mich auf und robbte ein Stück näher an ihn heran. Er sah mich nicht an, sondern nahm noch einen Zug aus der bereits halb aufgerauchten Zigarette.   „Ich … ich glaube nicht, dass du so schlecht bist, wie du mich immer glauben machen willst. Ich glaube, dass du …“ „Dass ich was, Bambi? Ein netter Kerl bin? Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber dem ist nicht so. Ich bin ein Arschloch, schon immer gewesen und du wirst das nicht ändern.“   Er drückte die Zigarette im Sand aus und machte Anstalten, sich zu erheben.   „Ich sollte gehen. Es war ein Fehler herzukommen.“ „Halt, warte.“   Ich hielt ihn fest und er wehrte sich tatsächlich nicht, als ich ihn wieder neben mich zog. Entschlossen hielt ich ihn fest und sah ihm direkt ins Gesicht.   „So leicht wirst du mich nicht los.“   Er schnaubte. „Du hast keine Ahnung, Bambi.“   „Dann erklär’s mir. Was hast du denn ausgefressen, dass du meinst, so ein Arsch zu sein?“   Er zuckte nur mit den Schultern. „So einiges.“   „Das da wäre?“   Er rollte mit den Augen. „Oh man, Bambi. Lass es doch einfach.“   „Ich will es aber nicht lassen. Ich … ich mag dich. Wirklich. Ich …“   Keine Ahnung, warum sich bei dem Satz mein Magen so zusammenzog und meine Augen so komisch kribbelten. Ich wollte nicht, dass er ging. Also sagte ich ihm das. Er sah mich an und seufzte leise.   „Du bist wirklich ne Nervensäge.“   Ich ließ ihn los. Vielleicht war es tatsächlich besser, wenn ich ihn gehen ließ, wenn er das denn so unbedingt wollte. Wer wusste schon, was ihm heute bereits alles schiefgegangen war. Vielleicht hatte er sich wieder mit seinem Betreuer gestritten. Konnte ja sein.   Ich wartete, aber er ging nicht. Stattdessen saß er da, den Blick auf den Boden gerichtet und sah auf einmal irgendwie … schlecht aus. Ein bisschen verloren vielleicht.   Vorsichtig rutschte ich wieder ein Stück näher. Ich fasste ihn nicht an, sondern lehnte nur meinen Kopf an seine Schulter. Er tolerierte es und nachdem er auch nicht aufgesprungen war, als ich mein Gesicht ein wenig an ihm gerieben und ihn angestupst hatte, fasste ich mir ein Herz und strich mit meinen Lippen über seinen Nacken. Küsste die warme Haut, die an dieser Stelle zur Abwechslung mal nur nach ihm roch. Ich vergrub meine Nase in seinem Haaransatz und merkte, wie er sich unmerklich ein Stück an mich lehnte. Meine Lippen streiften die Stelle hinter seinem Ohr. Ein Schauer lief durch seinen Körper.   Ich lächelte, stemmte mich hoch und schob mich hinter ihn, sodass er zwischen meinen Beinen zu sitzen kam. Gemeinsam rutschte ich uns ein bisschen an den Apfelbaum heran und lehnte mich an. Nach einer Weile begann ich, Manuel zu streicheln.   Zuerst war ich noch vorsichtig, ließ meine Fingerkuppen nur ganz eben über seine Brust gleiten, seine Arme, den Rand seines T-Shirts. Ich küsste erneut seinen Nacken, knabberte an seinem Ohr herum. Er ließ es zu und hielt ganz still, auch als ich meine Hand schließlich unter sein Shirt auf seinen flachen Bauch schob. Sanft malte ich die Linien seiner Bauchmuskeln nach, während ich meine Finger zunächst nach oben und dann wieder langsam tiefer wandern ließ. Ich spürte, wie sein ganzer Körper vibrierte, aber er tat nichts, um mich aufzuhalten oder mich zu unterstützen. Ließ es einfach geschehen, dass ich jetzt seine Hose öffnete und meine Hand hineingleiten ließ. Ich strich zunächst nur über den Stoff der Unterhose, die er heute zu meiner Verwunderung tatsächlich trug, bevor ich auch deren Bund lüftete und noch eine Schicht tiefer ging. Erst, als meine Finger über seine Erektion strichen, entwich ihm ein leises Keuchen. Er wollte sich in meinen Armen drehen, aber ich hielt ihn fest.   „Zieh das aus“, wisperte ich in sein Ohr und zuckelte gleichzeitig an seiner Hose herum. Er half mir, indem er seinen Hintern anhob und mich die störenden Stoffschichten nach unten schieben ließ. Als ich endlich freien Zugang hatte, griff ich zu und begann ihn zu wichsen.   Es war ein wahnsinnig geiler Anblick, der sich mir über seine Schulter hinweg bot. Zwischen meinen Beinen pochte es bereits heftig und am liebsten hätte ich meine andere Hand benutzt, um mir ebenfalls Erleichterung zu verschaffen, aber ich schaffte es irgendwie, mich weiter auf Manuel zu konzentrieren. Er wurde immer erregter und das Pulsieren in meiner Hand nahm an Heftigkeit zu. Als ich wirklich kurz davor war, meine Pläne über den Haufen zu werfen und es ihm einfach mit dem Mund zu machen, stoppte ich die Bewegung. Er knurrte unwillig.   „Was ist los? Warum hörst du auf?“   Ich schluckte und gab mir einen Ruck. „Ich … ich hab was mit. Du weißt schon. Damit wir …“   Ich kam nicht weiter, denn im nächsten Augenblick presste er seine Lippen stürmisch auf meine. Meine Klamotten verabschiedeten sich mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit zusammen mit Manuels T-Shirt und im nächsten Moment fand ich mich auf dem Rücken wieder, während Manuel mir einen blies und mich vorbereitete. Als er sich schließlich das Kondom überzog und mich aufforderte, mich umzudrehen, schüttelte ich jedoch den Kopf.   „Komm her“, sagte ich und zog ihn zu mir runter. Er wollte sich zuerst dagegen sträuben, aber dann erwiderte er den Kuss, während unsere Erektionen sich aneinander rieben. Ich neckte ihn so noch ein bisschen, bevor ich uns umdrehte. Verstehen ließ seine Augen aufleuchten, als ich über ihn kletterte und er endlich kapierte, was ich vorhatte. Fast ein bisschen ungläubig sah er zu, wie ich dieses Mal derjenige war, der sich seinen Schwanz schnappte und an der richtigen Stelle positionierte.   „Bist du sicher?“, fragte er noch. „Ganz sicher“, meinte ich und begann, mich langsam auf ihn herabzusenken.   Ich gebe zu, ich war mir eigentlich so überhaupt nicht sicher und es war auch nicht ganz so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber ich gehe jetzt mal nicht auf die peinlichen Details ein. Irgendwann war auf jeden Fall tatsächlich alles an Ort und Stelle und ich beugte mich zum Manuel herab, um ihn zu küssen. Dass er sich dadurch bereits in mir bewegte, ließ mich kurz die Augen schließen. So die Kontrolle zu haben war interessant und anders als beim ersten Mal. Probeweise bewegte ich mich ein wenig und erntete dafür ein Keuchen.   „Na los, Bambi, mach schon.“   Ich grinste und küsste ihn nochmal. „Alles zu seiner Zeit.“   Natürlich bekam er irgendwann, was er wollte. Ich wollte es ja selbst. Und es war gut. Besser als beim ersten Mal, was sicherlich nicht nur daran lag, dass ich ihn viel intensiver spürte. Innen und außen. Es war einfach näher und intimer und ich konnte genau sehen, wie er es genoss, wenn ich mich von ihm zurückzog und mich dann langsam wieder auf ihn schob. Auch mich ließ das alles andere als kalt und schon bald begann ich, das Tempo zu erhöhen. In meinem Kopf war plötzlich kein Platzt mehr für Gedanken oder irgendwelches Drumherum. Da war nur noch ein intensives Reiben und Gleiten und das Gefühl von Manuel in mir und an mir, seinem Geschmack auf meiner Zunge, seinem Geruch in meiner Nase, dem Anblick seines Körpers unter meinem und dem unheimlichen Drang, immer noch mehr davon haben zu wollen.   Irgendwann wechselten wir die Position. Er kniete zwischen meinen Beinen und hatte die Augen geschlossen, während er sich in einem stetigen Takt bewegte und ich ihn dabei beobachtete und mich selbst anfasste. Ich spürte das verräterische Zucken, als er kam, auch wenn mein Blick die ganze Zeit auf sein Gesicht gerichtet war. Er war atemberaubend schön.   Als es vorbei war, öffnete Manuel die Augen und schluckte. Seine Brust hob und senkte sich und ich lächelte nur, während ich ihn in einen Kuss zog. Er knurrte kurz, bevor er sich aus mir zurückzog und das Kondom einfach neben die Decke schmiss. Wie ein Stein fiel er neben mich und lehnte sich an mich. Meine Hand lag immer noch auf meinem Schwanz, der nach wie vor vor sich hin pulsierte. Was sollte ich jetzt tun? Mir einfach weiter einen runterholen? Oder ausnutzen, dass er auf Kuschelkurs ging?   Die Entscheidung wurde mir abgenommen, als sich plötzlich eine Hand zwischen meine Beine schob.   „Lass mich das machen“, brummte er und brachte doch tatsächlich zu Ende, was wir begonnen hatten. Als ich kurz darauf kam, hörte ich ihn seufzen und er lehnte sich an meine Schulter, so wie ich es ganz zu Anfang getan hatte. Mein Herz preschte immer noch durch meinen Brustkorb, aber Manuel war inzwischen schon wieder so weit runtergekühlt, dass er sich wahrscheinlich gleich erheben und eine rauchen würde. Schnell schlang ich meine Arme um ihn und zog ihn über mich.   „Hey, vorsichtig mit der Wichse“ murrte er und wich angeekelt vor meinem Bauch zurück.   Ich lachte leicht. Voll verkackt, würde ich mal sagen.   „Im Rucksack sind Taschentücher.“   Er wühlte kurz darin herum, bevor er mir die Packung hinschmiss. Natürlich kam er danach nicht zurück, sondern grub in seiner Hose nach den Zigaretten.   Okay, nächstes Mal dann, dachte ich mir und warf die Taschentücher irgendwo in Richtung Kondom. Darum würden wir uns später kümmern. Jetzt war ich einfach erst mal platt.   Ich rückte von hinten an Manuel heran, sodass er neben mir saß und ich meinen Arm um seine Taille schlingen konnte, während er weiter rauchte. Befriedigt schloss ich die Augen und lauschte den Vögeln und Manuels leisen Geräuschen. Irgendwann kam mir dabei dieser Witz in den Sinn. Es ging um die Frage, wie man einen Mann glücklich macht. Die gar nicht mal so weit hergeholte Antwort lautete: „Komm nackt und bring Bier mit.“ Ich blinzelte gegen die Sonne an zu meinem wirklich noch ziemlich nackten Freund und befand, dass immerhin der erste Teil ganz schön stimmte. Plötzlich hielt mir Manuel seine Zigarette hin.   „Auch mal?   Ich betrachtete den weißen Glimmstengel, der zwischen seinen Fingern steckte, die vorhin noch interessante Dinge mit mir angestellt hatten. War vielleicht noch so ein Punkt, den ich nächstes Mal berücksichtigen sollte, gerade in Kombination mit einem Picknick. Feuchttücher oder so.   Ein wenig zögernd öffnete ich den Mund und ließ mir die Zigarette zwischen die Lippen stecken. Und jetzt? Fuck, ich hatte keine Ahnung. Also sog ich an dem Ding wie an einem Strohhalm. Im nächsten Moment hatte ich einen ausgewachsenen Husten- und Manuel einen Lachanfall.   „Oh, Bambi“, wieherte er und hielt sich den Bauch. „Du bist so scheiße unschuldig.“   „Was denn?“, krächzte ich und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. „Das Zeug ist … voll widerlich. Ich … scheiße.“   Ich spuckte aus und hustete noch ein bisschen, während Manuel sich immer noch vor Lachen kringelte. Zur Strafe warf ich mich auf ihn und begann, ihn durchzukitzeln. Er rächte sich auf die gleiche Weise und keine zwei Minuten später lagen wir lachend und schnaufend auf der Decke. Ich schnappte mir die Zigarette aus Manuels Mund und drückte sie entschieden in den Sand.   „Damit ist jetzt Schluss“, verkündete ich. „Ab heute keine Kippen mehr für dich.“ „Du bist grausam“, jammerte er mit Hundeaugen. „Ich denke nur an deine Gesundheit … und an meine.“   Er lachte wieder und betrachtete mich von unten herauf. Da war irgendwas in seinem Blick, das mich … keine Ahnung. Berührte? Fast so als hätte er gerade überlegt, ob er mir irgendwas sagen sollte, aber dann sah er wieder zur Seite und ich ließ mich neben ihn fallen.   So lagen wir eine Weile da, bis er auf einmal meinte: „Du hast noch eine Frage gut.“ „Mhm?“ „Von letztens.“   Ach ja. Die dritte Frage. Ich überlegte. Was wollte ich wissen? Sollte ich ihn fragen, was er gerade gedacht hatte? Nee, das war zu weibisch. Aber da war noch was, was ich sonst vermutlich nicht erfahren würde.   „Dein Bruder“, meinte ich zögernd. „Du hast gesagt, er ist im Gefängnis. Warum?“ „Das willst du doch gar nicht wissen.“ „Doch will ich.“   Zuerst antwortete mir nur Schweigen, aber dann seufzte er.   „Du hast echt ein Talent, die falschen Sachen wissen zu wollen, Bambi. Aber gut, meinetwegen. Er hat Autos geklaut.“   „Mhm.“ Ich rupfte einen Grashalm ab und begann, die Samen davon abzupulen. Einen nach dem anderen. „Aber er wurde geschnappt?“   Manuel schüttelte den Kopf. Als ich schon dachte, dass das Gespräch jetzt beendet war, sagte er plötzlich leise:   „Einer seiner Komplizen hat ihn verpfiffen, um seinen eigenen Hals zu retten. Pascal war stinksauer und hat dem Typ im Gerichtssaal gedroht, dass er ihn umbringt, wenn er wieder rauskommt.“ „Und das würde er tun?“ „Er hat’s schon versucht. Vor ein paar Monaten, als er auf Bewährung draußen war. Hat den Kerl windelweich geprügelt und irgendwann ein Messer gezogen. Wenn nicht seine Kumpels dazwischen gegangen wären, hätte das echt schlimm ausgehen können. Tja und dann ging es schnurstracks wieder zurück in den Bau.“   Manuel unterstrich die Erzählung mit einer Geste. Ich sah ihn an um herauszufinden, was er von der Sache hielt, aber da war nichts. Nur eine Maske.   „Und deine Eltern? Was haben die dazu gesagt?“ „Die waren ziemlich angepisst, dass ihre Geldquelle wieder einfahren musste. Pascal hat zu Hause immer was von der Kohle abgedrückt, die er mit seinen Raubzügen verdient hat. Fanden die natürlich nicht so super, dass das plötzlich wegfiel.“ „Und du?“   Manuel zuckte mit den Schultern. „Ich hab auch immer was abbekommen. Wenn ich was brauchte, konnte ich einfach hingehen und er hat’s besorgt. Hab mir nie große Gedanken darüber gemacht, wo die Sachen herkamen. Ich wollte sie, er hatte sie. Ende der Geschichte.“   Manuel warf mir einen Blick zu.   „Was?“, sagte er und lachte ein kleines, fieses Lachen. „Hast du gedacht, ich wäre das Unschuldslamm, das in einer Familie von Wölfen groß geworden ist? Sorry dich enttäuschen zu müssen, aber da hast du falsch gedacht.“   Ich musste an die Szene im Supermarkt denken. Wenn ich es Manuel erzählt hätte, hätte er vermutlich gelacht, dass ich mich so schissig angestellt hatte. Vielleicht wäre er sogar extra hingegangen und hätte tatsächlich was geklaut. Nur um sich was zu beweisen. Dass ihm niemand was konnte. Dass er niemanden brauchte. Vielleicht nicht mal mich.   „Danke, dass du es mir erzählt hast.“   Er machte ganz kurz ein komisches Gesicht, bevor der Ausdruck von einem schmalen Lächeln abgelöst wurde.   „Kein Ding, Bambi. Für dich doch immer.“   Ich betrachtete ihn noch einen Augenblick lang, bevor ich mich wieder neben ihn legte, die Augen schloss und hoffte, dass dieser Tag einfach nie enden würde. War natürlich nicht der Fall. Wir aßen später doch noch was, tranken die Cola leer, bis Manuels schließlich auf sein Handy sah.   „Ist spät, ich muss dann mal“, sagte er und zum ersten Mal glaubte ich, echtes Bedauern in seiner Stimme zu hören.   Schweigend zogen wir uns an, packten zusammen und gingen dann gemeinsam in Richtung Dorf. Kurz vor dem Ortsschild blieb er plötzlich stehen. Er atmete tief durch.   „Also dann, Bambi. Ich … ist vielleicht besser, wenn wir da nicht zusammen auftauchen, meinst du nicht?“   Ich nickte langsam. Am liebsten hätte ich ihn gar nicht gehen lassen. Aber natürlich mussten wir jetzt wieder zurück. Ich klaute mir noch einen Kuss, bevor ich mir mein Rad zwischen die Beine klemmte.   „Sehen wir uns nächste Woche?“ „Mhm.“ „Donnerstag?“ „Okay.“   Er sah mich an und lächelte ein bisschen traurig. „Bis dann, Bambi. Und halt die Ohren steif.“   Ich lächelte zurück und widerstand dem Drang, ihn nochmal in die Arme zu schließen. Bis Donnerstag war es nicht so lang. Das würde ich schaffen. Und vielleicht war er ja Mittwoch wieder im Bus. Sehnsuchtsfutter für verliebte Volltrottel wie mich. Denn das ich das war, daran hatte ich inzwischen leider so gar keinen Zweifel mehr. Ich hatte mich in Manuel verknallt, ob dem das nun passte oder nicht.   „Jetzt hau schon ab“, rief er mich wieder in die Realität zurück.   Ich grinste, nickte ihn nochmal zu und schaffte es endlich, mich auf meinen Drahtesel zu schwingen und in die Pedale zu treten. Ich bildete mir ein, hinter mir noch das Feuerzeug klicken zu hören und tatsächlich stand Manuel bei meinem Blick zurück mitten auf der Straße, die Kippe in der Hand, die andere lässig in die Hosentasche gesteckt, so als könnte niemand an ihn rankommen. Aber ich hatte nicht vor, mich davon aufhalten zu lassen. Da waren Risse in der Fassade und ich würde diese Nuss namens Manuel schon irgendwie geknackt bekommen. Ganz, ganz bestimmt würde ich das. Es konnte nicht mehr lange dauern. Kapitel 23: Von verkappten Helden und klärenden Worten ------------------------------------------------------ „Mhm“, machte meine Mutter, während sie einen Schluck Tee nahm. Vor ihr auf dem Frühstückstisch lag ein Block, auf dem sie immer wieder herumkritzelte. Ich überlegte gerade, ob ich wohl abräumen müssen wollen sollte, als sie seufzte, sich zurücklehnte und sich über die Augen fuhr.   „Es hilft ja nichts. Wir werden eben das Beste draus machen müssen“, sagte sie und sah mich an. „Dianas Hochzeit ist jetzt für Ende August geplant. Aufgrund der geringen Zeit und des etwas mageren Budgets, werden wir die Feier wohl hier im Garten abhalten müssen. Ich werde mich morgen gleich mal mit einem Zeltverleih in Verbindung setzen. Bis nächstes Wochenende müssen wir die Einladungen verschicken, einen Caterer brauche ich auch noch und … Ach, das wird alles nicht so einfach. Vielleicht machen wir das Essen doch lieber im Dorfkrug, auch wenn es ein bisschen spießig ist. Dann wäre nicht so viel Platz vom Buffet besetzt.“   Ich nickte nur, während sie einfach weiterredete.   „Du brauchst auch noch einen Anzug. Obwohl Diana schon überlegt, ob sie nicht einfach eine zwanglose Sommer-Party daraus macht, aber ich habe ihr gesagt, sie soll nicht zu viele Kompromisse machen, sonst ärgert sie sich später. Man heiratet schließlich nur einmal im Leben.“   Ich verkniff mir zu sagen, dass der Spruch wohl heutzutage nicht mehr so ganz zutraf. Ich wusste ja, was sie meinte. Außerdem war ich gedanklich noch bei der Sache mit dem Anzug. Ich in so einem Piguindress? Auweia. Manuel würde sich bestimmt kaputtlachen, wenn er mich so sah.   Unauffällig schielte ich auf mein Handy. Ich hatte ihm heute morgen geschrieben, dass ich mich auf unser nächstes Treffen freute, von dem ich insgeheim hoffte, es vielleicht doch schon heute stattfinden lassen zu können, aber er hatte die Nachricht noch nicht gelesen. Wahrscheinlich schlief er noch.   Meine Mutter seufzte erneut, bevor sie sich einen frischen Tee einschenkte und sich erhob, um die Teller in die Küche zu tragen.   „Ich werd mich dann mal an die Arbeit machen. Lass ruhig alles stehen."   Ich wollte mich schon innerlich jubelnd verziehen, als mich der nächste Satz daran erinnerte, das schöne Sachen zumeist einen Preis hatten.   „Ach und Benedikt? Kann ich vielleicht nachher nochmal deinen Computer benutzen? Ich weiß natürlich, dass das nicht so toll ist. Es wird wirklich höchste Zeit, dass ich mir einen eigenen Laptop oder so ein Tablet zulege, aber du kennst deine Mutter ja. Was Technik angeht, bin ich ein Dinosaurier.“   Ich lachte ein wenig gequält. „Mindestens. Aber ja, geht klar. Ich mach meine Hausaufgaben einfach jetzt gleich.“   Sonntagmorgen mit Hausaufgaben zu verbringen, war zwar nicht so der Traum meiner schlaflosen Nächte, aber es half ja nichts. Und vielleicht konnte ich Manuel tatsächlich zu einem spontanen Treffen heute Nachmittag überreden. Da war es ohnehin besser, alles schon erledigt zu haben.   Ich pflanzte mich also im Schlafanzug an meinen Schreibtisch und versuchte mich zu motivieren, endlich anzufangen. Während ich die Sachen für Deutsch rausholte, kam mir der Zettel des Sportgeschäfts unter. Ich klappte ihn auf und betrachtete ihn. Eigentlich waren es nur ein paar Zeilen. Name, Adresse, Telefonnummer und eben die Einverständniserklärung der Eltern gemäß Paragraph Blubb. No Big Deal, wie man so schön sagte. Mit einem Seufzen klappte ich den Zettel wieder zu und ließ ihn im Papierkorb unter dem Schreibtisch verschwinden. Hermann Hesse und sein toller Roman warteten auf mich. Mathe musste ich auch noch machen. Und Geschichte. Würg. Das erinnerte mich daran, dass ich mich noch mit Mia-Marie verabreden wollte. Am besten für Dienstag bevor ich zum Sport musste. Vielleicht schrieb ich ihr gleich mal, damit sie sich nichts anderes vornahm. Wozu hatten wir schließlich Nummern ausgetauscht?   Nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte, rief ich erneut den Chat mit Manuel auf. Am Status meines Morgengrußes hatte sich nichts geändert. Die Nachricht war noch nicht mal bei ihm angekommen, wie das einfache Häkchen neben dem Text zeigte. Ich legte mein Handy beiseite. Irgendwie ahnte ich, dass er sich heute nicht mehr melden würde. Na ja. Mehr Zeit für wunderbare Hausaufgaben. Ich freute mich sehr. (Das war ein Witz!)     Montag früh erwartete mich eine Überraschung. Nicht unbedingt, dass Musik mal wieder ausfiel, wie der Zettel am Schwarzen Brett verkündete. Das war ja mittlerweile fast schon Standard. Dass allerdings auch Frau Bertram fehlte, war ungewöhnlich.   „Hey, das ist cool. Heute nur vier Stunden.“ Mia-Marie stand neben mir und wirkte begeistert. „Meinst du, wir könnten das mit Geschichte vielleicht schon heute machen? Dann könnte ich morgen mit meiner Mutter einkaufen gehen.“   Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Gut, von mir aus. Die anderthalb Stunden sollten ja eigentlich reichen, oder?“   „Bestimmt. Na los, jetzt haben wir erst mal Physik.“   Ich folgte ihr, während ich – mal wieder – mein Handy rausholte und den Messenger öffnete. Wie es aussah, hatte Manuel seit Samstag sein Handy ausgeschaltet, denn meine Nachrichten waren immer noch nicht bei ihm eingegangen. Weder die von Sonntag noch die, die ich ihm heute Morgen geschickt hatte. In dem Fall durfte ich mich wohl nicht wundern, wenn er nicht antwortete. Er wusste ja schließlich nichts von seinem Glück.   Ein wenig enttäuscht steckte ich das Handy wieder weg und beschloss, mir nicht allzu viel dabei zu denken. Vielleicht war ja einfach nur der Akku leer und er hatte vergessen, es wieder aufzuladen. Oder das Ladegerät war kaputt und er musste erst noch ein neues besorgen. Heutzutage hatte ja jeder Hersteller sein höchst persönliches Ladekabel zwecks Umsatzmaximierung. Sobald er wieder Saft hatte, würde er sich schon melden.   Ich absolvierte den restlichen Schultag und traf mich nach dem Umziehen vom Sportunterricht mit Mia-Marie in der großen Pausenhalle. Wir hatten mal wieder ein wunderbares Völkerballspiel hinter uns gebracht. T hatte mich dieses Mal nicht schnell genug in seine Mannschaft gewählt, sodass ich auf der Gegenseite gelandet war, wo es mir ein innerer Reichsparteitag gewesen war, ihn mit einem ziemlich gekonnten Wurf aus dem Spiel zu befördern. Nicht mal der Blick, den er mir danach zugeworfen hatte, hatte mich noch großartig tangiert. Ich hatte ihn einfach links liegen lassen und weitergespielt, ohne mich darum zu kümmern. Mit dem war ich so was von fertig.   Mia-Marie und ich stürzten uns in die Arbeit und kamen ziemlich gut voran. Wir notierten die Eckdaten, machten eine Übersicht über die verschiedenen Mitglieder und Aktionen der „Weißen Rose“ von den Anfängen bis hin zu ihrer Verhaftung und der anschließenden Hinrichtung. Als wir damit fertig waren, ließ ich mich in meinem Stuhl zurücksinken. Mia-Marie hingegen sah ein wenig nachdenklich auf unsere Zusammenfassung herab.   „Ist schon komisch“, sagte sie, „dass so wenige Leute sich getraut haben, was gegen diesen Irrsinn zu unternehmen. Ich meine, das muss doch eigentlich mehr Leuten aufgefallen sein, dass da was nicht mit rechten Dingen zugeht.“ „Vielleicht haben sie es einfach nicht sehen wollen. Das ist ja alles unter Strafe gestellt worden damals. Sie hatten vermutlich eine Heidenangst, dass sie die nächsten sind.“   Mia-Marie brummte unzufrieden.   „Aber trotzdem gab es doch welche, die es geschafft haben. Die nicht einfach den Kopf in den Sand gesteckt, sondern sich für die richtige Sache eingesetzt haben. Das hätten nur viel mehr sein müssen. Wer weiß, vielleicht wäre es dann gar nicht so weit gekommen.“   Ich nickte nur und schloss die Augen. So bekam ich nicht mit, dass Mia-Marie mich offenbar schon eine Weile beobachtete, bevor sie sagte:   „Du wärst bestimmt damals auch so einer gewesen.“ „Mhm?“ „Na einer, der anders ist. Der nicht einfach zusieht.“   Jetzt öffnete ich doch wieder die Augen und sah sie an. Sie hatte den Kopf auf die Hände gestützt und musterte mich intensiv.   „Ja, ich glaube, du wärst auch dabei gewesen, wenn es gegen die Nazis gegangen wäre.“ „Ich?“ „Ja.“   Ich blinzelte ein paar Mal, um ihre Beurteilung sacken zu lassen. Ausgerechnet ich? Ich war doch eher jemand, der sich aus allem raushielt und keinen Ärger haben wollte. Mia-Maries Meinung schmeichelte mir zwar, aber so ganz korrekt konnte ich sie nicht finden.   „Ich glaube, du irrst dich. Ich wäre bestimmt voll der Mitläufer gewesen.“ „Na, ich weiß nicht. Wenn ich so sehe, dass du dir zum Beispiel von Oliver nichts gefallen lässt und einfach dein Ding machst, ohne dich um die Meinung von irgendwem anders zu scheren, das ist schon beeindruckend.“   Ich? Beeindruckend? Ich war kurz davor mich umzusehen, ob sie nicht doch mit jemand anderem sprach. An mir war doch nichts Besonderes. Und das, was sie da gerade sagte, klang irgendwie auch nicht gerade nach mir. Wirkte ich echt so auf andere?   „Außerdem siehst du auf niemanden herab. Du respektierst die Menschen, so wie sie sind. Ich finde, das ist eine tolle Eigenschaft für einen Anführer.“   Als sie das sagte, wurde sie mal wieder ein bisschen rot. Und mir wurde das langsam ein bisschen unangenehm. Ich tat doch gar nichts, um so eine Beurteilung zu rechtfertigen. Schon gar nichts Heroisches. Und ich war bestimmt kein Anführer. Wollte ich gar nicht sein. Viel zu stressig.   „Na ist ja auch egal“, sagte Mia-Marie plötzlich und begann, eilig ihre Sachen zusammenzupacken. „Ich muss dann los und du willst doch deinen Bus bestimmt auch nicht verpassen.“   „Was? Nein, will ich nicht.“   Ich sammelte ebenfalls meinen Kram ein und beeilte mich, um zum Bus zu kommen. Dabei spukten mir die ganze Zeit Mia-Maries Worte im Kopf herum. Benedikt, der verkappte Held. Klang ja super, aber wirklich realistisch war das nicht. Ich war definitiv nicht wie dieser Scholl und die anderen. Was sollte ich denn schon ausrichten? Vielleicht für die Umwelt demonstrieren und mich an einen Baum ketten? Oder für die Rechte von Schwulen eintreten? Ja genau. Sonst noch was? Ich hatte ja nicht mal den Arsch in der Hose, es meiner Familie zu beichten. Also nein, Mia-Maries Bild von mir entsprach definitiv nicht der Realität. Da biss die Maus keinen Faden ab. Die Helden dieser Welt mussten sie leider woanders suchen.     Als ich abends meine Hausaufgaben machte und dafür meinen Bleistift spitzen wollte, fiel mein Blick auf den gefalteten Zettel im Papierkorb. Ich nahm ihn heraus und betrachtete ihn.   Eigentlich war es ganz schön feige von mir, einfach so den Schwanz einzuziehen. Gut, ich hatte nicht mehr vor, T nahezukommen, aber auf diese Gelegenheit zu verzichten, nur weil er sich so blöd verhalten hatte, war im Grunde genommen genauso dumm gewesen. Und mit dem Geld, das ich da verdiente, konnte ich Manuel vielleicht doch mal ins Kino einladen. Oder tatsächlich eine Reise machen, wie ich T vorgeschwärmt hatte. Es musste ja nicht gleich Japan sein. Plus, dass ich durch den Job immer mal eine Ausrede parat hatte, warum ich nachmittags nicht nach Hause kam. Je länger ich darüber nachdachte, desto besser klang es.   Entschlossen packte ich den Wisch und ging zu meiner Mutter, die im Wohnzimmer saß und strickte. Waren das etwa Babysocken? Sah tatsächlich so aus. Sie hatte bereits beim Abendessen rumgestöhnt, dass nach der Hochzeit nicht mal mehr ein halbes Jahr Zeit war, bis das Baby kam, und dass Diana das wirklich ein bisschen besser hätte timen können. Nichtsdestotrotz war klar, dass sie sich auf beide Ereignisse freute. Mir war das ja eigentlich ziemlich schnuppe. Hauptsache ich musste nicht auf den kleinen Wurm aufpassen. Ich würde womöglich noch das falsche Ende in die Windel packen.   „Hey Mama, ich wollte dich fragen, ob du was dagegen hättest, wenn ich mir einen Job suche. Ein paar aus meiner Klasse arbeiten nachmittags im Sportgeschäft am Kuhberg. Du weißt schon, wo wir immer meine Anzüge kaufen. Ich hab gedacht, ich könnte da vielleicht auch anfangen.“   Meine Mutter ließ ihr Strickzeug sinken. „Ein Job? Aber warum das denn? Brauchst du Geld?“   „Ja … nein. So ein bisschen extra Kohle ist doch nie verkehrt. Ich könnte mir mal was leisten und außerdem gibt es bestimmt Rabatt, wenn man da arbeitet. Meine Turnschuhe geben demnächst nämlich mal wieder den Geist auf.“   Eigentlich stimmte das nicht, aber das Argument war mir gerade spontan eingefallen. Immerhin saß das Geld im Moment noch ein bisschen weniger locker als sonst und Schuhe kaufen war immer so ein Thema für sich. Ihr wisst ja: Große Hunde, große Pfoten.   Meine Mutter nickte langsam. „Na gut, wenn du meinst. Aber ich möchte nicht, dass du denkst, dass ich jetzt wegen Dianas Hochzeit bei dir sparen muss. Wenn du was brauchst, kannst du immer Bescheid sagen.“ „Weiß ich doch, Mama. Also? Unterschreibst du?“ „Natürlich, Schatz. Gib her, dann mache ich es gleich.“   Sie setzte ihren Namen auf die Unterschriftenzeile und ich nahm den Zettel wieder an mich.   „Danke, den Rest fülle ich selber aus. Ich gebe es dann morgen gleich ab, ja? Nicht, dass mir noch jemand den Job wegschnappt.“ „Der ist wohl begehrt?“ „Bisschen.“   Ich ließ Mutter und Strickzeug im Wohnzimmer zurück und trollte mich wieder in mein Zimmer. Es war ein gutes Gefühl, dass ich vielleicht wirklich bald dort arbeiten würde. Nicht nur, weil ich damit mein erstes, eigenes Geld verdienen würde. Ich musste zugeben, dass mir die Vorstellung von Ts dummem Gesicht, wenn ich doch dort auftauchte, eine gewisse Genugtuung verschaffte. Ich würde ihm, Jo und den anderen zeigen, dass man mich nicht so einfach vertreiben konnte. Ich hatte genauso ein Recht in dem Laden zu arbeiten wie sie. Bei näherer Betrachtung war das zwar ein ziemlich mickriger Widerstand gegen das System war, aber immerhin besser als sich weiter von den Nappeln vorschreiben zu lassen, wie mein Leben auszusehen hatte.     Tatsächlich wirkte der Typ, den ich am nächsten Tag in dem Laden aufsuchte, ein wenig überrascht mich zu sehen. Um uns herum standen Stapel von Kartons mit Turnschuhen, Ständer voll greller Sportklamotten, Regalwände mit Fahrradhelmen, Surfausrüstung, Tennisschlägern, Bowlingkugeln, Badeanzügen und und und. Es war eine wahre Farbexplosion. Da bildete der Mann im dunkelblauen Poloshirt, der sich als Holger vorgestellte, eine erfreulich wenig augenkrebserregende Abwechslung.   „Du bist also Benedikt. Ich dachte, du hättest abgesagt“, meinte er, als ich ihm den Erlaubnisschein über den Verkaufstisch reichte. „Meine Mutter hat sich doch noch erweichen lassen.“ „’kay.“ Er heftete den Zettel in einen Ordner. „Wann kannst du denn anfangen?“ „Jederzeit.“ „Wie sieht’s diesen Donnerstag aus?“   Ich schluckte innerlich. Ausgerechnet Donnerstag? So ein Mist. Aber wenn ich den Job wollte, musste ich wohl in den sauren Apfel beißen. Ich nickte tapfer.   „Fein, dann kann Theo dich selber einarbeiten. Er kommt an dem Tag auch.“   Ach … Na gut, dann würde meine Überraschung wenigstens gleich einschlagen. Ich unterdrückte ein Grinsen. Natürlich würde ich T, oder besser Theo, vorher nichts sagen. Die Reaktion würde dadurch nur umso besser ausfallen.   „Super, dann also bis Donnerstag. 15 bis 18 Uhr.“ „Alles klar, bis dann.“   Als ich wieder draußen stand, fühlte ich mich großartig. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich hatte einen Job, ich hatte einen Freund, der zwar augenscheinlich eine echt schlechte Beziehung zu seinem Ladegerät hatte, aber irgendwann würde er sich schon melden, und ich hatte jetzt noch jede Menge Zeit, bis mein Training anfing.   Mein Blick fiel auf das Schild vom „Monopoly“ auf der anderen Straßenseite. Warum nicht die Gelegenheit nutzen, um Julius die tollen Neuigkeiten zu erzählen? Dabei konnte ich ihn gleich fragen, wie der Geburtstag seiner Mutter gewesen war. Er hatte schließlich meinetwegen diese komischen Schoten kochen müssen, da war ein wenig Interesse doch das Mindeste, was ich aufbringen konnte. Außerdem wollte ich ihm von meinen Fortschritten mit Manuel berichten. Entschlossen machte ich mich auf den Weg in das Restaurant.   Julius war gerade dabei, zwei Mädels einen Salat zu servieren. Und wenn ich einen Salat sage, dann meine ich auch einen Salat. Für zwei Leute. Wie albern.   „Hey“, machte ich und grinste Julius breit an. „Hast du auch was, was nicht auf der Diät-Karte steht?“ Er lachte. „Heiße Schokolade mit Sahne?“ „Ich hatte eher an Eis gedacht.“ „Kannst du kriegen.“   Kurz darauf hatte ich einen Eisbecher vor mir stehen. Ich sah auf das Gebilde herab und warf anschließend einen finsteren Blick auf die andere Seite des Tresens, wo Julius sich einen abgrinste.   „Was denn? Gefällt dir meine Biene Maja nicht? Hättest du lieber den Pinocchio-Becher gehabt?“ „Blödmann.“ „Ich kann auch einen Schneemann.“ „Doppel-Blödmann.“ „Ich hab dich auch lieb.“   Ungefragt schnappte er sich einen Löffel und befreite die Eisbiene von einem Gutteil ihres Hinterteils. Während er sich das bunt bestreuselte Vanilleeis in den Mund schob, blitzten seine Augen mich schelmisch an.   „Ey!“, protestierte ich und zog den Teller näher heran. „Das ist meine Biene.“ „Ich dachte, du wolltest sie nicht.“ „Das hab ich nicht gesagt.“   Ein bisschen trotzig löffelte ich der Biene die Smarties-Augen vom Kopf. Es schmeckte ziemlich gut. Julius grinste immer noch.   „Und, was führt dich her?“, wollte er wissen. „Wieder Stress mit irgendwelchen fiesen Ladenbesitzern?“ „Nee, im Gegenteil. Hab mir gerade einen Job besorgt. Bei Friedrichsen hier um die Ecke.“ „Das Sportgeschäft?“ „Jupp.“   Ich steckte noch was von dem Eis in den Mund und Julius überlegte demonstrativ.   „Also da muss ich doch echt mal sehen, ob ich nicht doch wieder mit Tischtennis anfange. Oder lieber Wasserski? Vielleicht sollte ich mir Rollerblades kaufen. Gibst du auch Unterricht?“   Ich lachte. „Vermutlich werde ich erst mal nur Kisten stapeln und so was.“ „Ich seh gerne starken Männern bei der Arbeit zu.“   Wieder funkelte er mich an und ich streckte ihm die Zunge raus.   „Verarschen kann ich mich alleine.“ „Was denn? Bist du etwa kein starker Mann?“ „Bestimmt nicht stärker als du.“ „Wollen wir wetten?“   Jetzt war es an mir zu grinsen.   „Also wenn du versuchen willst, mich auf die Matte zu schicken, könnte das allerdings schwierig werden. Schon vergessen? Ich kann Judo.“ „Und ich Mikado.“   Wir hätten uns bestimmt noch ein bisschen weiter gekabbelt, aber es kamen neue Gäste und Julius musste sich zuerst um deren Bewirtung kümmern. Nachdem er ihnen ihre Getränke gebracht und die Bestellung an die Küche weitergegeben hatte, setzte er sich wieder zu mir. Ich erkundigte mich endlich nach dem Geburtstag und er schilderte mir in schillernden Farben, wie der Tag abgelaufen war.   „Aber ich rede schon wieder zu viel. Wie war denn nun eigentlich dein Date? Du hast noch gar nichts erzählt.“   Ich rührte ein bisschen in den Resten meines Eisbechers herum. Von Maja war inzwischen nur noch eine bunte Pfütze übriggeblieben.   „Ich glaube, es war ganz gut. Wir hatten erst ein bisschen Anlaufschwierigkeiten, aber dann ging es auf einmal wie geschmiert.“   Ich grinste und sah Julius nicht an, aber er verstand auch so, was ich meinte.   „Ihr habt echt …? Im Freien? Ist nicht dein Ernst!“ „Doch, irgendwie schon.“ „Und habt ihr auch noch was anderes gemacht?“   Die Frage beziehungsweise der Tonfall, in dem Julius sie gestellt hatte, ließ mich aufhorchen. Das hatte schon wieder so was eisköniginnenmäßiges.   „Wir haben uns auch unterhalten“, gab ich ein wenig defensiv zurück. So langsam wurde ich das Gefühl nicht los, dass Julius was gegen Manuel hatte. Was natürlich albern war, weil er ihn ja gar nicht kannte und ich ihm noch nicht mal was von dessen Hintergrund erzählt hatte. Oder zumindest nicht besonders viel.   Sofort hob Julius beschwichtigend die Hände. „Tut mir leid, war dumm von mir. Es geht mich ja im Grunde genommen auch gar nichts an. Ich hoffe nur, ihr hattet wenigstens Kondome dabei.“ "Ja hatten wir", murmelte ich und zog dir Stirn kraus. Das gefiel mir alles nicht. „Sag mal, warum reagierst du immer so komisch, wenn es um Sex geht. Was ist da los?“   Julius sah sich ein wenig ängstlich nach seinen Gästen um, die aber zum Glück alle in ein Gespräch vertieft waren.   Er kam ein Stück näher und wisperte: „Bist du irre hier so laut rumzuschreien? Ich arbeite hier.“   „Dann erklär’s mir halt“, gab ich genauso leise zurück. Ich hatte keinen Bock mehr auf dieses Versteckspielchen.   Er seufzte und strich sich durch die dichten Locken.   „Ich … ich mach mir einfach ein bisschen Sorgen um dich. Dieser Kerl scheint mir … er scheint mir einfach nur auf Sex aus zu sein und du steigst da auch noch voll drauf ein. Ich will einfach nicht, dass er dir wehtut.“   Julius’ Geständnis ließ mich einen Augenblick lang ziemlich sprachlos zurück. Diesen Eindruck hatte er von Manuel erhalten? Und was sollte das eigentlich heißen 'ich stieg da voll drauf ein'? Dass ich ein schwanzgesteuerter Idiot war? Ich kam jedoch nicht dazu, eine entsprechende Frage zu stellen, denn Julius sprach bereits weiter.   „Ich hab mich einfach gewundert, dass ihr nach so kurzer Zeit schon so weit gegangen seid. Ich hatte damals überhaupt nicht das Bedürfnis danach, aber ... mein Ex halt schon. Wenn ich mir vorstelle, dass ich mich beinahe von ihm dazu hab überreden lassen, wird mir heute noch ganz übel. Ich will oder besser gesagt wollte nicht, dass es dir auch so geht.“ „Dann hast du also noch nie …?“   Ich kam nicht weiter, denn Julius erhob sich mit einem Schnauben.   „Das ist das Einzige, was dir dazu einfällt? Ich glaube, ihr beide habt euch echt verdient.“   Er musste zum Glück die fertigen Gerichte ausliefern und noch die Getränkebestellung einer großen Runde aufnehmen und ausgeben, bevor wir uns weiter unterhalten konnten. Bis dahin hatte ich genug Zeit gehabt, mir zu überlegen, wie ich darauf reagieren sollte. Nicht, dass ich das wirklich gewusst hätte, aber ich wollte wenigstens, dass er erfuhr, dass er mit Manuel Unrecht hatte. Und dass es zwischen uns nicht nur um Sex ging. Natürlich spielte das eine ziemlich große Rolle, aber … ich wollte das doch auch. Ich fand es geil, wenn Manuel mich anfasste oder ich ihn und ich konnte nicht verstehen, was daran so schlecht sein sollte. Er hatte mich doch zu nichts gezwungen. Maximal ein bisschen überredet.   Als ich geendet hatte, seufzte Julius leise.   „Du hast ja Recht. Ich reagiere wahrscheinlich einfach noch zu empfindlich auf das Thema. Klar könnt ihr machen, was euch beiden gefällt. Und es ist wirklich toll, wenn du Spaß daran hast. Das freut mich für dich. Ganz ehrlich.“   Er fing an, irgendwelche Strohhalme zu sortieren und Servietten zu ordnen und schaute mich dabei nicht an. Als ich ihn so sah, wurde ich nochmal so richtig sauer auf den Scheißkerl, der ihm das angetan hatte. Ich konnte wirklich verstehen, dass er da so seine Bedenken hatte, aber …   „Manuel ist nicht dein Ex“, sagte ich leise. Julius zuckte etwas zusammen. „Er kommt zwar ziemlich tough rüber, aber er hat halt auch kein so tolles Leben gehabt. Er … er wohnt in so einem Wohnheim für Jugendliche. Seine Familie ist ziemlich daneben, aber er ist anders.“   Julius lachte bitter. „Sagen sie das nicht immer.“   „Aber es stimmt. Manuel ist … er hat’s halt nicht so mit dem Reden über Gefühle. Das heißt ja aber nicht, dass er keine hat. Vielleicht … vielleicht hat ihm einfach auch schon mal jemand sehr wehgetan.“   Julius sagte zunächst nichts. Er musste auch arbeiten. Das Restaurant füllte sich so langsam, selbst wenn es noch lange nicht voll besetzt war. Als die zweite Bedienung erschien, musste ich eigentlich schon los, aber Julius hielt mich noch kurz auf.   „Ich … es tut mir leid, was ich gesagt habe. Ich kenne deinen Freund nicht und wahrscheinlich tue ich ihm wirklich total Unrecht. Es war nicht okay, mich da so einzumischen. Ich wollte nicht aufdringlich sein.“   Er wirkte ehrlich zerknirscht und ich gab ihm einen Stüber mit der Faust gegen die Schulter.   „Hey, nun mach dir mal nicht ins Hemd. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du dich in Manuel täuschst.“ Ich sah nochmal zur Uhr und dann wieder zu Julius. „Was hältst du davon, wenn wir wirklich am Wochenende mal was zusammen unternehmen. Ich muss ihm sowieso für Donnerstag absagen, da kommt es bestimmt gut, wenn ich ihm dafür den Freitagabend anbieten kann. Und meine Mutter hat bestimmt nicht dagegen, wenn ich mit Antons Cousin weggehe.“   Ich zögerte kurz, bevor ich hinterherschob: „Ich hab ihr übrigens von dir erzählt. Auch dass du schwul bist. Ich hoffe, das war okay?“   Julius sah mich ein bisschen erstaunt an, aber dann lächelte er. „Klar ist es. Ich meine, ich binde es jetzt nicht jedem auf die Nase, aber ich mache auch kein Geheimnis daraus.“   Ich hätte mich an der Stelle wirklich gerne noch weiter mit ihm unterhalten, aber seine Kollegin warf uns schon giftige Blicke zu und ich musste wirklich zum Training, wenn ich nicht ebensolche Blicke oder Schlimmeres von meinem Trainer riskieren wollte.   „Mach’s gut, Julius. Wir sehen uns Freitag.“ „Ich freu mich.“   Am Ende musste ich doch tatsächlich die Beine in die Hand nehmen und sogar bei Rot über die Straße rennen, um noch pünktlich zur Begrüßung zu kommen. Mein Trainer beließ es jedoch zum Glück bei einem bissigen Kommentar, bevor er mich zum Aufwärmen schickte. Ich zog den Kopf ein und dachte sehnsüchtig an mein Handy, auf dem ich schon lange nicht mehr nachgesehen hatte, ob Manuel mir endlich geantwortet hatte. Immerhin musste ich unsere Verabredung noch verschieben. Aber dafür war nach dem Training schließlich immer noch Zeit. Kapitel 24: Von exakten Uhrzeiten und bodenlosen Wahrheiten ----------------------------------------------------------- Routinen sind wirklich eine feine Sache. Sie ermöglichen Vorhersehbarkeit, Planbarkeit und erleichteren an vielen Stellen das Leben. Einfach weil man sich wieder und wieder in Situationen befindet, in denen man genau weiß, was man tun soll. Das senkt den Stresspegel und somit das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben. Glaube ich jedenfalls. Andererseits macht sich das Leben oft genug einen Spaß daraus, uns in Situationen zu werfen, in denen wir nicht genau wissen, wie wir reagieren sollen. Doch auch das ist gut, denn es trainiert unsere Problemlösefähigkeit und hält uns geistig fit. Um die Ecke zu denken, ist eine wichtige Eigenschaft. Und dann gibt es diese Situationen, wo man überhaupt nicht weiß, was man machen soll, und auch keine Lösung findet, egal wie lange man darüber grübelt. In so einer befand ich mich jetzt.   Wir warteten mal wieder auf Herrn Vogel, damit er uns den Klassenraum aufschloss, sodass ich in Ruhe inmitten des Pulks lärmender Mitschüler im Flur sitzen und mir Gedanken machen konnte. Das hieß im Klartext, dass ich wie ein hypnotisierter Nacktmull auf den Bildschirm meines Handys starrte und versuchte zu verstehen, was da los war. Ich kam einfach nicht dahinter. Meine Nachrichten an Manuel waren zwar alle versendet worden, aber sie wurden nicht empfangen. Warum nicht? Immerhin war heute schon Mittwoch. So lange hatte doch kein Mensch sein Handy ausgeschaltet. Ob es vielleicht kaputt war? In einem wandelnden Funkloch gefangen? Geklaut worden? Oder steckte da mehr dahinter? War Manuel in Schwierigkeiten? Oder hatte es etwas mit uns zu tun?   Ich knurrte und war schon kurz davor, mein mickriges Datenvolumen zu strapazieren, um im Netz nach einer Lösung zu suchen, als mich jemand anstupste.   „Brauchst du Hilfe?“   Anton. Anton, der mich aus großen, bebrillten Augen ansah und mit dem Kopf auf mein Handy deutete. Anton, der die absolute Ahnung von Computern hatte. Er wusste bestimmt, wo das Problem lag.   „Ich hab jemandem ein paar Nachrichten geschickt, aber die kommen irgendwie nicht bei ihm an.“ „Kann ich mal sehen?“   Ich zögerte. Der Chat mit Manuel war … nun ja, nicht explizit, aber es ließen sich bestimmt ein paar Rückschlüsse ziehen. Zumal ich Manuel mit seinem richtigen Namen eingespeichert hatte. Ich meine, was hätte ich denn schreiben sollen? Mein kleines Seepferdchen? Wohl kaum.   „Warte mal kurz.“   Ich rief die Kontakte auf und kürzte Manuels Namen bis auf den Anfangsbuchstaben zusammen. „M“ konnte schließlich viel bedeuten. Anschließend gab ich Anton das Handy.   Er betrachtete es, drückte ein paar Tasten und fragte dann: „Hast du es mal neu gestartet?“   Ich rollte mit den Augen. „Ja, hab ich. Ich hab auch alle Updates runtergeladen, daran kann es also nicht liegen.“   „Mhm“, machte er. „Dann muss das Problem beim Empfänger liegen. Entweder hat das Gerät keinen Empfang, was auch an einem fehlenden Update liegen kann, ist ausgeschaltet …“ „Das hab ich mir auch schon gedacht.“ „… oder der Empfänger hat dich blockiert.“ „Was?“   Anton schob seine Brille nach oben und zeigte auf den Bildschirm.   „Blockiert“, wiederholte er geduldig. „Siehst du? Der Zeitstempel hat sich seit Samstagabend 18.14 Uhr nicht mehr verändert. Das dürfte der Zeitpunkt des Kontaktabbruchs gewesen sein. Ist da etwas vorgefallen?“   18.14 Uhr. Am Samstag. Das war … nur wenige Minuten, nachdem wir unser Date beendet hatten. Der Zeitpunkt, an dem er mich aus den Augen verloren hatte, vermutlich. War da wirklich seine erste Handlung gewesen, sein Handy zu zücken und mich zu blockieren? Warum?   Unter mir schien sich ein Loch aufzutun, aber ich weigerte mich, dort hinein zu springen. Das konnte nicht wahr sein. Da stimmte etwas nicht. Vielleicht … vielleicht war ihm sein Handy auf dem Weg runtergefallen und war jetzt tatsächlich kaputt. Konnte doch sein. Am Sonntag hatte er dann bestimmt versucht, mich zu erreichen, aber ohne Handy konnte er mir nicht schreiben und da ich den ganzen Tag drinnen gehockt hatte, hatte er mich auch nicht ansprechen können. Schließlich konnte er ja schlecht einfach bei uns klingeln. Und dann … dann war einfach keine Gelegenheit mehr gewesen. Dienstag war ich bis abends in der Stadt gewesen und …   Und was ist mit Montag?, wollte eine kleine, gehässige Stimme wissen. Er hätte am Bus auf dich warten können.   Nein, widersprach ich. Er ist montags noch nie am Bus gewesen. Immer nur am Mittwoch.   Mittwoch. Heute war Mittwoch. Heute Mittag würde er am Bus sein und wir konnten das klären. Ganz bestimmt konnten wir das. Es musste einfach so sein. Denn warum hätte er mich gleich nach unserer Verabschiedung blockieren sollen? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn.   Ich nahm mein Handy wieder entgegen und steckte es in die Tasche. Die Hoffnung, dass sich dort irgendetwas tun würde, war erloschen. Eigentlich hatte sie gestern Abend schon angefangen zu flackern, als ich Manuel probeweise noch ein paar Mal geschrieben hatte, aber jetzt war endgültig zappenduster und der Docht glimmte nicht einmal mehr. Ich würde abwarten müssen, ob ich Manuel heute Mittag wiedersah.     Der Tag zog und zog sich. Ich versuchte wirklich, mich zu konzentrieren, aber immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich mein Handy herauszog, um dieses Mal nicht auf den Messenger sondern auf die Uhrzeit zu gucken. Das war es dann wohl auch, was mir in der letzten Stunde den Rüffel von unserem Klassenlehrer einbrachte. „Eine ganz besondere Form des Parasitismus finden wir heutzutage in elektronischer Ausführung. Fiese, kleine Geräte, die die Aufmerksamkeit ihres Wirts an sich binden, obwohl dieser doch eigentlich meinem höchst interessanten Unterricht lauschen sollten.“   Herr Wilkens stand vor meinem Tisch und streckte die Hand aus. „Wenn ich um dein Handy bitten dürfte.“ „Aber ich hab nur geguckt, wie spät es ist.“   Herr Wilkens zog die Augenbrauen zusammen. „Wirklich. Bitte! Ich steck’s jetzt auch weg. Versprochen!“   Eigentlich konnte ich gar nicht glauben, wie bettelnd ich gerade klang, aber anscheinend hatte ich Erfolg. Die lehrerische Stirn entspannte sich. „Na schön, ich will mal nicht so sein. Aber wenn ich heute auch nur eine Ecke von dem Ding zu sehen bekomme, ist es weg und zwar bis Morgen früh. Verstanden?“ „Ja, Herr Wilkens.“ „Schön. Dann wenden wir uns also wieder dem Bandwurm zu.“   Ich atmete erleichtert auf. Das hätte mir gerade noch gefehlt, wenn mein Handy jetzt eingesammelt worden wäre. Obwohl Manuel sich darüber sicherlich einen abgegrinst hätte. So jedoch brachte es mir nur ein paar gehässige Kommentare von Oliver ein, der in der letzten Reihe saß und mich ganz eindeutig nachahmte, wie ich um mein Handy flehte. Ach, sollte er doch. Mir egal. Hauptsache die Stunde war bald rum und ich konnte mich endlich mit Manuel treffen. Immerhin hatte ich jetzt noch einen Grund gefunden, warum er sein Handy vielleicht nicht hatte. Er hatte Ärger bekommen, weil er zu spät heimgekommen war oder wegen sonst was, und sein Betreuer das Ding konfisziert. Ganz einfach, Problem gelöst. Blockiert. Pff! Das war ja lächerlich und ganz bestimmt nicht der Grund. Mit Sicherheit nicht.     Wie ein Irrer raste ich nach Schulschluss durch die Stadt und kam völlig abgehetzt und außer Atem am Busbahnhof an, der jedoch völlig verwaist dalag. So sehr ich auch suchte, es war niemand zu sehen, weder an unserer Haltestelle noch an einer anderen.   Mit letzter Hoffnung ging ich zum Kiosk hinüber und betrat den winzigen, bis an die Decke vollgestopften Laden. Zwischen Zeitschriften, Zigaretten und Zitronenbonbons hockte ein völlig zerknitterter Mann unbestimmten Alters und las in einem Magazin. Als er mich kommen sah, legte er es beiseite und stellte sich hinter dem Tresen auf. „Na, was soll’s denn sein?“, leierte er mäßig freundlich.   „Ich, äh …“ Ich sah mich um und wies auf die Kästen, in denen lose Süßwaren herumlagen. „Ein paar von denen da.“   „Und welche Sorte.“ „Die sauren?“ „Und für wie viel?“ „Einen Euro?“ Er warf mir einen komischen Blick zu, griff dann aber nach einer Zange packte ein paar der bunten Gummiteile in eine kleine, dreieckige Papiertüte.   „Macht einen Euro.“   Ich bezahlte, steckte die Tüte ein und verabschiedete mich. Wahrscheinlich dachte der Typ jetzt, dass ich ganz gehörig einen an der Waffel hätte. In meinem Alter kaufte doch keiner mehr Gummitierchen. Wobei ich nicht leugnen konnte, dass die Dinger eine gute Nervennahrung waren, während ich mich in das Bushäuschen setzte und darauf wartete, dass Manuel auftauchte. Ich wartete und wartete. Nicht mal, als der Bus irgendwann kam und die Traube von Schülern in seinen Bauch lud, gab ich die Hoffnung auf. Gleich … gleich würde er noch um die Ecke kommen. Ganz bestimmt. Aber er kam nicht. Der Bus fuhr schließlich ab und ich starrte aus dem Fenster hinaus ins Leere. So langsam wurde ich das Gefühl nicht los, dass da tatsächlich etwas nicht stimmte. Etwas ziemlich schlimmes.   Zu Hause hielt ich es kaum aus, beim Mittagessen stillzusitzen. Seit ich durch die Tür gekommen war, wusste ich nämlich, wie ich das Problem lösen konnte. Zuerst hatte ich noch in Erwägung gezogen, Manuel anzurufen, aber wenn tatsächlich was mit dem Handy nicht stimmte, würde mir das auch nicht weiterhelfen. Nein. Wenn ich wissen wollte, was hier los war, gab es dafür nur einen Weg, auch wenn der meine Hände ein wenig zittern ließ. Ich würde zu Manuels Wohnheim gehen müssen und ihn selbst fragen. „Ich bin nochmal weg“, sagte ich zu meiner Mutter, als sie bereits das Telefon in der Hand hatte, um irgendwas wegen der Hochzeit zu organisieren. Das war immerhin der älteste Trick der Welt, den bereits Vierjährige in Perfektion beherrschten. Wenn du etwas willst, musst du nur warten, bis deine Eltern ein wichtiges Telefongespräch führen. Während jemand am anderen Ende ist, sagen sie zu allem Ja, nur damit sie ihre Ruhe haben. „Ist gut, Schatz“, meinte meine Mutter daher auch nur, während ich mir bereits meine Schuhe anzog und anschließend aus der Haustür stürzte. Ich nahm mein Fahrrad und trat in die Pedalen. Bis zu dem Heim war es nicht weit, aber im Moment erschien mir jede weitere Sekunde wie Folter. Ich musste endlich Bescheid wissen.   Mit quietschenden Reifen kam ich an dem gelben Haus an. Der Vorgarten war immer noch verwildert und neben der Tür lehnte eine Leiter. Daneben standen einige Farbeimer. Augenscheinlich Utensilien für die Renovierung, von der Manuel gesprochen hatte. Ich stellte mein Fahrrad ab, wickelte noch schnell das Schloss um den Hinterreifen und stand dann plötzlich unentschlossen auf dem von Gras überwucherten Gartenweg.   Was, wenn er sauer wurde? Er hatte nicht gewollt, dass ich hierherkam. Aber andererseits blieb mir keine Wahl. Was sollte ich denn machen, wenn er auf einmal nicht mehr erreichbar war? Zumal ich ja Morgen arbeiten musste. Ich musste doch immerhin unsere Verabredung absagen.   Zögernd ging ich auf die hellblaue Tür zu. Es sah trotz der Unordnung freundlich aus. Wie ein Zuhause, in dem nette Leute wohnten. War vermutlich auch beabsichtigt. Kontrastprogramm zu dem Mist, denn die Bewohner bei ihren Eltern erlebt hatten. Und freundliche Leute würden mir vermutlich nicht den Kopf abreißen, wenn ich sie einfach so aus heiterem Himmel belästigte. Hoffte ich zumindest.   Mit einem letzten, tiefen Atemzug drückte ich auf den Klingelknopf. Ich hörte, wie es drinnen läutete, Schritte kamen nähe rund dann … „Oh hallo! Kann ich dir helfen?“   Der Mann, der mir gegenüber stand, trug eine labbrige Jeans und ein T-Shirt mit Farbspritzern. Seine blonden Haare hatten der Stirn bereits einigen Platz eingeräumt und waren am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Rasiert hatte er sich ebenfalls mehrere Tage nicht, sodass ein stoppeliger Bart seine gebräunte Haut zierte. Ich wusste nicht warum, aber ich war mir sicher, dass er dieser Jens sein musste, von dem Manuel immer erzählt hatte. Wahrscheinlich weil mir klar war, dass jemand, der so auftrat, bei Herrn Möller sofort Widerwillen erregen würde. Und außerdem: Wer sollte es sonst sein?   „Ich …“, begann ich und konnte mit einem Mal nicht weiterreden. Warum kam Manuel jetzt nicht von irgendwo herangeschneit und zog mich mit ein paar ruppigen Worten in sein Zimmer? Oder nach draußen, wo er sich eine Zigarette ansteckte und mich anfauchte, was ich hier wollte, bevor er mir alles erklärte. Aber Manuel kam nicht. Er kam einfach nicht.   Ich weiß nicht, was es war, aber der Gesichtsausdruck meines Gegenübers veränderte sich plötzlich. Die unverbindliche Freundlichkeit, die auch jedem Postboten entgegengebracht worden wäre, wurde zu einem ehrlicheren Interesse. „Suchst du jemanden?“   „Ich …“ Schon wieder kam ich nicht weiter. Es war, als hätten alle meine Worte plötzlich die Flucht ergriffen. Puff, einfach weg. Blank space im Kopf. Je länger das hier dauerte, desto sicherer war ich mir, dass tatsächlich etwas passiert war. Etwas, das sich wie ein großer, schwarzer Berg vor mir auftürmte und drohte mich zu zermalmen, sobald ich auch nur eine falsche Bewegung machte.   Der Mann, den ich für Jens hielt, sah mich immer noch fragend an. Ich gab mir einen mentalen Tritt. Wenn ich nicht sagte, was ich wollte, würde ich nicht weiterkommen. „Ich suche Manuel.“ Da, es war heraus. Ich hatte es geschafft. Einen ganzen Satz hatte ich sagen können ohne zusammenzubrechen. Das allerdings drohte mir jetzt, als die Miene des Pferdeschwanzmannes plötzlich traurig wurde. Oder mitleidig? Bestürzt? Ratlos? Was nur? Ich hatte keine Ahnung! Ich konnte mir keinen Reim auf diesen Blick machen, das leichte Verziehen des Mundes, das subtile Räuspern.   „Manuel wohnt nicht mehr hier.“ „Was?“   Die Frage, die ja zum Glück nur aus einem einzigen Wort bestand, war mir entschlüpft, bevor ich sie aufhalten konnte.   „Er wohnt nicht mehr hier. Wir haben ihn in einer anderen Einrichtung untergebracht.“   Was? Dieses Mal schaffte das Wort es nicht mehr über meine Lippen. Es prallte von den Wänden meines Kopfes ab und sprang dort drinnen im Dreieck wie ein wild gewordener Pingpongball. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Manuel war weg? Aber warum? Wann? Wie? Ich wollte es wissen, aber ich konnte nicht fragen. Es war, als wäre da nur noch ein lautes Piepsen in meinem Kopf. Ihr wisst, so wie im Fernsehen, wenn die Herzmaschine auf einmal anzeigte, dass da gerade einer den Löffel abgegeben hatte. Tilt. Ende. Gehirn.exe has stopped working. Ich sah mich in meinem Kopf um, aber da war keinerlei Aktivität zu verzeichnen. Also nahm ich mir einen Stuhl, hockte mich darauf und wartete ab, was als Nächstes passierte.   „Möchtest du vielleicht reinkommen?“   Die sanfte Stimme des Mannes holte mich zurück aus meiner Starre. Ein wenig irritiert sah ich ihn an. Reinkommen? Ich? „Du siehst aus, als könntest du einen Tee vertragen. Ich bin übrigens Jens.“   „Benedikt“, antwortete meine auf Autopilot gestellte Höflichkeit. Wenn sich jemand vorstellte, antwortete man ihm doch auf diese Weise, nicht wahr? Zumindest glaubte ich, dass es so war. Momentan war ich mir da nicht so ganz sicher. Momentan war überhaupt nichts sicher. Dieses Gefühl, dass die ganze Welt ins Schwanken geraten war, war es vielleicht auch, das mich tatsächlich durch die Tür in den niedrigen Flur treten ließ. Drinnen roch es nach Farbe und gebratenen Zwiebeln. „Wir können gleich in mein Büro gehen, wenn du magst. Ich hole uns nur noch rasch einen Tee und sage Anita Bescheid, dass sie mit Anna abräumt.“ Ich nickte. Ich glaube zumindest, dass ich nickte. Mein Körper durchlief einfach die üblichen Rountinen, auch als Jens mich einige Augenblicke später in einen hellen Raum führte, bei dem es sich dann wohl um das besagte Arbeitszimmer handelte. Ich wurde auf einem Sofa platziert, das schon mal bessere Zeiten gesehen hatte, während Jens mir gegenüber in einem ebenso betagten Sessel Platz nahm. Mein Blick fiel auf einen überquellenden Schreibtisch, zwei ebenso überfüllte Bücherregale und ein Fenster mit selbstgenähten Gardinen in gelb mit bunten Streifen. Es wirkte leicht chaotisch, aber liebenswert. Der helle Holzfußboden war auch hübsch. Oder dieses Bild mit dem Sommerblumenstrauß in einem roten Rahmen, das einen ziemlichen Farbklecks an den weißen Wänden darstellte. Er passte zu dem Flickenteppich, der den Boden verschönerte. Auf dem Sofa lagen rote Kissen. Am liebsten hätte ich mir eines von ihnen geschnappt und mich damit in irgendeiner Ecke zusammengerollt. Aber kneifen galt nicht. Ich musste aufhören, mir das Zimmer anzuschauen und stattdessen Jens ansehen, der mir gegenübersaß und wartete.   Seine hellen Augen taxierten mich, als ich meinen Blick endlich wieder in seine Richtung lenkte.   „Möchtest du Zucker?“   Vor mir stand eine große, bunte Tasse mit einem dicken Weihnachtsmann. Darin dampfte eine rote Flüssigkeit vor sich hin. Früchtetee vermutlich. Eigentlich war es viel zu warm für Tee. Viel zu warm und zu eng. Besonders in meinem Hals und in meinen Augen. Auch das Kribbeln in meiner Nase machte mir ein wenig Sorgen, aber ich drängte das Gefühl zurück, so gut es ging. Wenn ich mich nur genug konzentrierte, würde es schon nicht überhand nehmen. Alles im grünen Bereich.   „Ja, danke“, erwiderte ich nach einer halben Ewigkeit, als die Antwort eigentlich schon gar nicht mehr zur Frage passte. Ich nahm die Zuckerdose, schaufelte zwei riesige Teelöffel braunen Zucker in meinen Tee und begann umzurühren. Der Löffel verursachte ein helles, klingelndes Geräusch. Es klang beruhigend normal. Vorsichtig nahm ich einen Schluck, bevor ich die Tasse wieder auf den Tisch stellte. Damit war meine Gnadenfrist wohl endgültig vorbei. Ich musste mich dem Gespräch mit Jens stellen. „Also … Manuel ist weg?“   Meine Stimme klang eigenartig dünn. Ich räusperte mich. Was war ich denn? Ein Mann oder eine Maus? Reiß dich zusammen, Benedikt! Komm schon! Du schaffst das.   „Ja, er wurde am Sonntag verlegt. Die Unterbringung war ohnehin nicht auf Dauer. Wir mussten nur schnell einen Platz für ihn finden.“   Schnell einen Platz? Warum das? War bei ihm zu Hause etwas vorgefallen? Was Schlimmes? „Ich weiß ja nicht, wie viel er dir erzählt hat, aber …“ „Er hat mir von seinen Eltern erzählt. Dass sie Probleme mit Alkohol haben. Und von seinem Bruder. Dass er im Gefängnis sitzt, weil er Autos geklaut hat, und von dem Angriff.“   Ich weiß nicht, woher all diese Worte auf einmal kamen. Sie sprudelten wie von selbst aus mir heraus. Ja, er hatte so viel erzählt, aber das Wichtigste hatte er anscheinend verschwiegen. Dass er verdammt nochmal jetzt nicht mehr hier war!   „Er hat dir von dem Angriff erzählt? Das wundert mich, ehrlich gesagt. Normalerweise spricht er nicht gerne über die Sache mit Pascal.“ „Doch, er hat’s mir gesagt. Ich hab ihn gefragt und … da hat er es erzählt.“   Jens seufzte leise. „Das war wirklich schlimm für ihn. Schon nach dem ersten Prozess ist er so abgerutscht, aber nachdem Pascal ihn dann so verprügelt hat …“   „Was?“ Ich hätte beinahe meine Tasse fallen lassen. „Pascal hat … Manuel verprügelt?“ Ich kapierte plötzlich nur noch die Hälfte von dem, was Jens sagte.   Der wiederum sah mich erstaunt an.„Du sagtest doch, er hätte dir davon erzählt.“   „Ja, aber … Er hat gesagt, dass Pascal einen seiner ehemaligen Komplizen zusammengeschlagen hätte, weil der ihn verpfiffen hat.“ „Das stimmt ja auch.“ „Ja aber …“   Ich verstand immer weniger. Das würde ja bedeuten, dass Manuel …   Und plötzlich machte es 'Klick' in meinem Kopf. Die Geschichte, die Manuel mir erzählt hatte. Die von seinem Bruder. Es war seine eigene gewesen. Er war derjenige gewesen, der seinen Bruder damals verraten hatte. Er war derjenige, der nur knapp einer Messerstecherei entgangen war. Ich war mir nicht sicher, ob er das bei der Polizei angegeben hatte, aber vermutlich hatte der Angriff auf ihn auch so ausgereicht, um die Bewährungsauflagen zu verletzen. Und so hatte Manuel seinen Bruder indirekt erneut ins Gefängnis gebracht. Was für eine Scheiße.   „Das kannst du wohl laut sagen.“   Ich schreckte hoch und mir wurde klar, dass ich das wohl tatsächlich laut ausgesprochen hatte. Ich senkte den Blick. „Tut mir leid. Ich wollte nicht ...“   Ein Lachen antwortete mir. „Kein Problem. Ich bin so einiges gewohnt. Aber ich verstehe immer noch nicht ganz, warum du hergekommen bist? Hat Manuel dir nicht gesagt, dass er geht?“   Ich schüttelte den Kopf. Nein, hatte er nicht.   Jens seufzte. „Das ist so typisch für ihn. Wenn es die Möglichkeit gibt, sich um eine unangenehme Situation herumzuwinden, wird er sie ergreifen, statt sich dem Problem zu stellen. Das ist auch der Grund für seine Verlegung. Er kommt in eine geschlossene Einrichtung. Wir hoffen, dass er durch die festeren Strukturen endlich wieder Halt findet.“   Er machte eine kurze Pause. „Wahrscheinlich sollte ich dir das alles gar nicht erzählen. Das sind immerhin vertrauliche Informationen, aber ich habe das Gefühl, dass du ein kleines bisschen Wahrheit verdient hast. Und ich glaube, dass du Manuel wichtig warst, sonst hätte er dir nämlich gar nichts erzählt oder nur irgendein Lügenmärchen. Magst du mir verraten, was das mit euch beiden war?“   Ich zuckte zusammen. Nein, das wollte ich ihm ganz bestimmt nicht sagen.   Jens schien mein Schweigen richtig zu deuten. „Okay, wie du willst. Ich kann es mir ohnehin denken.“ Auf meinen entsetzten Blick hin, hob er beschwichtigend die Hände. „Keine Panik, von mir erfährt niemand etwas. Ich hatte schon geahnt, dass Manuel jemanden kennengelernt hat. Er war so anders in letzter Zeit. Und letzten Mittwoch, als wir vom Gericht die Entscheidung über seine Verlegung bekommen haben, wollte er unbedingt mit dem Bus fahren, statt mit mir zusammen das Auto zu nehmen. Das war deinetwegen, hab ich recht?“   Letzten Mittwoch? Ach ja. Das Treffen am Busbahnhof. Die neuen Sachen, das Hemd … das alles war wohl für diesen Termin gewesen. Aber das hieß, dass er da schon gewusst hatte, dass er nicht mehr lange bleiben würde. Und er hatte trotzdem … Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Er hatte mich total verarscht. Hatte mir etwas vorgemacht, um zu kriegen, was er wollte. Und ich Idiot war darauf reingefallen. „Warum hat er nichts gesagt?“ Meine Stimme war ein Flüstern, fast so als hätte ich Angst, dass meine Selbstbeherrschung vollkommen zerbrechen würde, wenn ich lauter sprach.   Jens zuckte mit den Schultern. „Wer weiß. Manuel ist … schwer zu durchschauen. Er verkauft dir mit einem Lächeln die größten Schwindeleien. Aber er ist kein übler Kerl und er ist nicht dumm. Vor der Sache mit Pascal war er gar nicht schlecht in der Schule. Ja, er war nicht einmal besonders auffällig, wenn man mal von ein paar geschwänzten Schulstunden und einigen kleineren Raufereien absieht. Aber danach …“ Er nahm einen Schluck Tee und seufzte. „Ich kann nur erahnen, wie es dir jetzt geht. Einfach so zurückgelassen zu werden tut sicherlich weh. Hat er wirklich nichts erwähnt?“   Ich schüttelte den Kopf, aber dann fiel mir ein, was er am Samstag gesagt hatte. Ich hatte gemeint, dass er mich nicht so einfach loswerden würde, und er hatte geantwortet, dass ich ja keine Ahnung hätte. Und es stimmte. Ich hatte wirklich keine Ahnung gehabt, dass er zu so was fähig war. Wie einfach es für ihn war, die Verbindung zwischen uns zu kappen und mich loszuwerden. Es hatte ihn nicht mehr gekostet als ein paar lumpige Tastendrücker auf seinem Handy. Alles andere war für ihn erledigt worden.   Ich atmete tief durch, trank meinen mittlerweile kalten Tee in einem Zug aus und erhob mich. „Ich … ich sollte besser gehen. Meine Mutter weiß nicht, wo ich bin. Sie … sie arbeitet hier beim Amt und … “   Erst, als Jens lächelte, wurde mir bewusst, wie dumm das war, was ich da gerade von mir gegeben hatte. Ich biss mir auf die Lippen.   „Ich glaube, ich weiß, wen du meinst. Deine Mutter ist eine nette Frau, auch wenn ich annehme, dass sie nichts von dir und Manuel wusste?“   Ich nickte fast unmerklich und sah zu Boden. „Hey, mach dir keine Sorgen. Von mir erfährt keiner was. Allerdings sollte das, was ich dir heute erzählt habe, auch unter uns bleiben. Ich könnte sonst ein paar Schwierigkeiten bekommen.“ „Nein, klar, ich erzähl keinem was.“   Wem auch? Es wusste ja niemand von uns außer Julius. Julius, der mit allem Recht gehabt hatte.   Ich merkte, dass ich hier raus musste und zwar schnell. Sonst würde ich entweder doch noch irgendwas durch die Gegend werfen oder anfangen zu heulen und beides wollte ich eigentlich lieber vermeiden.   Jens brachte mich zur Tür. Als ich nach draußen in den warmen Sonnenschein trat, legte er mir die Hand auf die Schulter. „Hey, nimm’s nicht so schwer. Vielleicht meldet er sich ja noch bei dir, wenn er sich erst mal eingelebt hat.“   „Ja vielleicht“, sagte ich, obwohl ich nicht daran glaubte. Wenn es so gewesen wäre, hätte er mich nicht blockiert. Denn dass das so war, daran bestand für mich inzwischen kein Zweifel mehr. Er hatte mich einfach aus seinem Leben gestrichen. Ausradiert. Gelöscht. Es tat weh, darüber nachzudenken. Irgendwo da, wo mein Herz sitzen musste, tat es furchtbar weh. Wie ein Messer, das herumgedreht wurde. Und rum und rum und rum.   „Ich fahr dann mal“, murmelte ich und ging zu meinem Rad zurück. Ich merkte, das Jens mich beobachtete, bis ich endlich die richtige Zahlenkombination eingestellt hatte, die das Schloss aufspringen ließ. Irgendwie war gerade alles ein wenig verschwommen. Trotzdem bekam ich es hin, auf mein Rad zu steigen und wegzufahren. Weg von dem Ort, an dem Manuel mal eine Zeit lang gewohnt hatte, bevor er weitergezogen war und mich zurückgelassen hatte wie ein unliebsam gewordenes Haustier. Ein Rehkitz vermutlich. Ein Bambi.   Bei dem Wort fing ich dann doch an zu heulen. Eilig wischte ich die Tränen weg und fuhr einfach drauflos. Irgendwohin, wo mich niemand kannte und niemand sah. Zwischen den Feldern herum und über die Dörfer, immer weiter und weiter, bis ich irgendwann an einem Feldeingang stand. Ich sah hinüber zu den zwei Hügelgräbern, stieg ab, ließ das Rad ins Gebüsch fallen und machte mich auf den Weg zu dem hinteren der beiden. Oben setzte ich mich unter den Apfelbaum und schloss die Augen. Neben mir lauerte immer noch der Abgrund der bodenlosen Wahrheit, aber ich würde nicht reinspringen. Nein, das würde ich nicht. Ich würde noch ein bisschen hinabsehen und mich gruseln und dann würde ich mich irgendwann umdrehen und einfach weggehen von diesem Riesenschlamassel, in den Manuel mich hineingezogen hatte, ohne mich zu fragen.   Es war 18.14 Uhr, als ich mich endlich wieder erhob und den Heimweg antrat. Meine Mutter würde sonst wohl noch fragen, wo ich blieb. Denn das Leben musste schließlich weitergehen. Auch ohne Manuel. Irgendwie. Kapitel 25: Von angeknacksten Egos und ersten Arbeitstagen ---------------------------------------------------------- Ganz ehrlich? Verlassen werden ist scheiße. Es tut weh wie Sau. So sehr, dass man die Welt anschreien möchte, dass sie sich gefälligst verpissen und den Rest des Universums gleich mitnehmen soll. Wofür tut man sich diesen Mist eigentlich an? Für die Liebe? Alles Humbug, sag ich euch. Liebe ist nicht toll, sie ist gefährlich. Sie lässt Leute vor Laternenpfähle laufen und sich ihr Herz rausreißen, damit andere darauf herumtrampeln können. Sie leiden unter Gesichtslähmung und Stielaugen, bekommen heiße Ohren und kalte Füße, werden um den Finger gewickelt, zerbrechen sich die Köpfe, riskieren eine dicke Lippe, haben irgendwelche ominösen Schmetterlinge im Bauch oder machen sich gleich vollkommen zum Affen. Die Liebe ist eine einzige Diagnose, für die keine Krankenkasse der Welt aufkommen würde, weil sie binnen einer Woche pleite wäre. Trotzdem hechelt die halbe Menschheit dieser Liebe hinterher, während die andere dem Wahn verfallen ist, sie bereits gefunden zu haben. Was für ein Riesenkäse.   Im Nachhinein musste ich wohl froh sein, dass mich Jens wenigstens über die Fakten aufgeklärt hatte. Manuel war weg und würde auch nicht wiederkommen. Ich würde also nicht Tag für Tag wie ein Idiot vor seiner Tür stehen und klingeln, ohne dass mir jemand aufmachte. Oder mein Handy anstarren und darauf warten, dass sich dort etwas tat. Das war gegessen, abgehakt, Geschichte. Trotzdem blieb da dieses kleine, nagende Warum, das drohte sich in mein Gehirn zu fressen und sich dort breitzumachen. Warum hatte er mir nicht gesagt, dass er weggehen würde? Hatte er mir nicht genug vertraut? Hatte ich ihn wirklich genervt? War ich den Stress vielleicht nicht wert gewesen? Einfach mitnehmen, was ging, und dann nichts wie weg? Und wenn das stimmte, stellte sich mir die Frage: Hätte ich anders gehandelt, wenn ich es gewusst hätte?   Das Dumme war, dass ich genau das nicht so wirklich sagen konnte. Ich meine, ich hatte mich auf ihn eingelassen. Es war ja nicht so, dass er mir ewige Treue und Liebe bis ans Ende aller Tage versprochen hatte. Er hatte immer ziemlich deutlich gemacht, was er wollte. Und wir hatten das Spiel mitgespielt, ich und mein innerer Höhlenmensch. War ich dann nicht irgendwie mit schuld an der Situation, in der ich mich befand? Ich hätte ja nur Nein sagen müssen, doch das hatte ich nicht gewollt. Nur … lag das jetzt daran, dass ich mir „mehr“ von der Sache versprochen hatte oder einfach nur daran, dass es geil gewesen war?   „Oh man, ich muss aufhören, so viel zu denken“, beschloss ich und trat schneller in die Pedale, um die letzten Meter zur Schule zurückzulegen. Ein Gutes hatte die Aktion wenigstens gehabt. Ich hatte gestern noch für die Physikarbeit gelernt, meine Englisch-Vokabeln gepaukt, die Chemie-Hausaufgaben erledigt und „Unterm Rad“ durchgelesen, bevor ich irgendwann mitten in der Nacht ins Bett gefallen war. Das Buch wurde zum Ende hin zwar nicht besser oder gar spannender, aber jetzt war ich wenigstens durch damit. Ein neuer Pluspunkt auf meiner Liste gegen die Liebe. Von dem Rotz konnte man sich eh nichts kaufen; ein Abi mit Einskomma dagegen hatte Bestand. Aber so was von.   „Hey Anton!“, grüßte ich und ließ mich neben ihn fallen.   Er musterte mich über den Rand seiner Brille hinweg. Ob er so überhaupt was sehen konnte? Und war er eigentlich kurz- oder weitsichtig? Ich hatte nie gefragt. „Hast du dein Problem lösen können?“, wollte er wissen. „Hä?“ „Mit dem Handy.“ „Ach so, ja. War doch blockiert.“   Anton betrachtete mich noch einen Augenblick länger, bevor er sich wieder dem Wälzer in seinem Schoß zuwandte. Vom Umfang her musste das mindestens Krieg und Frieden sein. Im ersten Moment war ich enttäuscht. Eigentlich hätte ich jetzt gerne noch ein bisschen gelästert. Darüber wie scheiße Manuel sich verhalten hatte und dass ich von Glück sagen konnte, dass ich ihn los war. Was man halt so von sich gab, um nicht sagen zu müssen, wie es wirklich in einem aussah. Andererseits konnte ich Anton leider nichts von all dem erzählen. Wenn es darum ging, gab es im Grunde genommen nur eine Person, bei der ich mich hätte ausheulen können, und ausgerechnet der gegenüber hatte ich die ganze Geschichte bisher verschwiegen. Weil ich mich halt doch ein bisschen schämte zuzugeben, dass ich tatsächlich so dämlich gewesen war, wie Julius vorausgesagt hatte. Er hatte Recht gehabt und ich Unrecht und das würde er mir garantiert unter die Nase reiben. Mit Anlauf.   Während ich so in der Gegend herumguckte, fiel mein Blick auf T. Oder Theo, wie ich beschlossen hatte, ihn von jetzt an zu nennen. Er unterhielt sich gerade mit ein paar der anderen Jungs. Dabei lachte er, fuhr sich durch die Haare, machte eine Bemerkung, die die Runde zum Lachen brachte. Er hatte Spaß, freute sich am Leben. Und plötzlich kam mir mein Plan, ihn heute Nachmittag bloßzustellen, dumm vor. Was hatte er denn getan? Er hatte nicht vor versammelter Mannschaft „hier“ geschrien, als es darum ging, mit irgendeinem Typen aus seiner Klasse, den er kaum kannte, in einem Zelt zu schlafen. Warum hätte er das auch tun sollen? Weil der Typ schwul war und auf ihn stand? Das wäre für ihn wohl eher ein Argument gewesen, demjenigen möglichst fernzubleiben. Wir erinnern uns mal eben alle daran, dass er keinerlei Interesse in diese Richtung hatte.   Außerdem gab es da noch einen Grund. Der Grund saß neben Theo und amüsierte sich offenbar prächtig. Jo war Theos bester Freund. Mit ziemlicher Sicherheit hatten die beiden schon vorher abgemacht, in einem Zelt zu schlafen. Sollte er jetzt also seinen engsten Vertrauten mit dem Klassenidioten alleine lassen, nur um mir beizustehen? Vermutlich war es sogar besser, wenn er das nicht tat. Wer wusste schon, was Oliver Jo sonst noch für Blödsinn in den Kopf setzte. Und dafür wollte ich Theo nun bestrafen? Dafür, dass er zu seinem Freund gehalten hatte? Das konnte man ihm wohl kaum vorwerfen. Außerdem hatte mich ja die Nerd-Armee gerettet. Kein Grund zur Beunruhigung also.   Ich seufzte und erhob mich, weil unser Englischlehrer am Ende des Flurs aufgetaucht war. Zeit, mich dem Ernst des Lebens zu widmen. Schule, Tests, Klassenarbeiten, jede Menge unnützes Wissen auf dem Weg zu Ruhm, Reichtum und Reihenhaus. Eine furchtbare Vorstellung, die hoffentlich noch sehr lange auf sich warten ließ. Zumindest der letzte Teil davon. Ich war jung. Ich hatte mein Leben noch vor mir, wie es immer so schön hieß. Warum sollte ich es damit verbringen, jemand anderem seines schwerzumachen? Das war doch ein dämlicher Plan. Oliver-Niveau. Da stand ich doch drüber.     So kam es, dass ich nach der letzten Stunde die Turnschuhe in die Hand nahm und Theo nachstürzte, der den Chemieraum bereits mit dem ersten Ton des Läutens verlassen hatte. Ich fing ihn kurz vor dem Ausgang ab. „Hey, Theo, warte mal!“   Er hatte bereits den langen Metallgriff der Seitentür in der Hand, als er stehenblieb und mich ziemlich ungehalten ansah.   „Was ist? Ich muss zur Arbeit.“ „Ja, ich weiß. Ich komme mit.“ „Wie bitte?“   „Ich komme mit“, wiederholte ich und trat neben ihn, um die Tür zu öffnen. „Hab meine Mutter doch noch überredet bekommen. Du sollst mich gleich einarbeiten.“   Für einen kurzen Augenblick bildete ich mir ein, dass da ein Lächeln war. Eines, das vielleicht nicht nur daher rührte, dass er froh war, irgendeinen Kerl als Unterstützung im Boot zu haben. Dass dieses kleine Lächeln vielleicht mir galt, ganz speziell mir, weil ich gerade so nahe vor ihm stand, dass wir uns fast berührten. Was merkwürdig okay war und mir nicht wieder diese dämlichen Nackenschauer verpasste, wie es das vielleicht noch vor ein paar Wochen getan hätte. Zumindest nicht bis zu dem Moment, wo ich darüber nachdachte und mich doch lieber schnell an ihm vorbeischob, um endlich an die frische Luft zu kommen. Die soll ja immerhin so gesund sein. „Was ist?“, rief ich über meine Schulter und schalt mich einen Dummkopf, weil ich mir einredete, seinen Blick auf mir fühlen zu können. „Kommst du?“   „Ja klar.“ Schritte hinter mir auf der Treppe, die zu mir aufschlossen, bis Theo und ich nebeneinander zum Fahrradkeller gingen. Einträchtig, als hätten wir das schon immer so gemacht. Wir holten unsere Räder und fuhren den Berg runter zu Friedrichsen, wo Holger bereits auf uns wartete. „Ah, gut, dass ihr beiden kommt. Ich muss gleich nochmal weg. Dann habt ihr den Laden für ne Stunde allein. Schafft ihr das?“   „Logisch“, gab Theo zurück und winkte mir. „Komm. Ich zeig dir, wo du deine Sachen lassen kannst.“   Er brachte mich in einen kleinen Raum am hinteren Ende des Geschäfts, wo es auch eine Toilette gab.   „Aber nur für Angestellte“, meinte er mit einem Wink auf die schmale Tür. „Hier in dem Schrank lassen wir unsere Sachen, während wir arbeiten. Wenn du dein Fach abschließen willst, musst du dir ein Schloss mitbringen, aber hier kommt eigentlich eh keiner rein außer uns.“ „Okay“, meinte ich und parkte meinen Rucksack auf dem Fußboden des mittleren Metallspinds. Es gab außer dem Schrank und einer ganzen Reihe abgestellter Dinge, die wohl allesamt aus dem Verkaufsraum stammten – Was zum Geier machte das Surfbrett hier? Und wie hatten sie es durch die Tür bekommen? – nur noch ein paar Garderobenhaken und ein kleines Waschbecken. Fast wie die Umkleiden in der Schule, nur kleiner und ohne Bänke. „Du brauchst noch ein T-Shirt. Mal sehen, was noch da ist.“ Theo kramte in einem der Spinde herum. „Mhm, nur noch M. Probier mal, ob dir das passt.“   Bevor ich wusste, wie mir geschah, flog mir ein dunkelblaues Stück Stoff entgegen. Es war so ein Poloshirt, wie Holger es getragen hatte. Auf dem Rücken war der Name des Ladens aufgedruckt. Arbeitskleidung also.   Ich überlegte noch, ob ich mich jetzt einfach so ausziehen sollte, als Theo selbiges bereits getan hatte. „Wenn es dir nicht passt, müssen wir noch welche bestellen“, tönte es aus dem Stoff hervor, der gerade an seinem Oberkörper nach unten glitt und ihn nur Sekunden später wieder bedeckte. Was schade war, weil es durchaus ein hübscher Oberkörper gewesen war. Ich hätte ihn mir gerne noch eine Weile angesehen und den Rest von Theo ebenfalls.   Als mir bewusst wurde, dass ich starrte, drehte ich mich hastig um und zog mein eigenes T-Shirt über den Kopf. Man, ich dachte, das hätte ich hinter mir. Aber anscheinend wurde man nur, weil ein Kerl ein Arschloch war, nicht immun gegen die hunderttausend anderen, die da draußen rumliefen. Es war zum Mäusemelken. Blöde Hormone. Bloß schnell Umziehen und dann nichts wie raus hier. „Und? Wie sieht's aus?“ „Moment.“   Ich streifte eilig das Arbeitsshirt über, wollte es nach unten ziehen und … ach verdammt. Poloshirt. Das hatte Knöpfe und die musste man vorher aufmachen. Nun steckte ich mit Armen und Kopf in dem Ding fest und kam nicht weiter. Ganz toll, Benedikt. Wenn irgendetwas eigentlich narrensicher ist, findest du garantiert die Stelle, an der man es doch noch vergeigen kann.   Bevor ich das T-Shirt jedoch wieder vom Kopf wurschteln konnte, hörte ich direkt neben mir ein Lachen. „Warte, ich helfe dir.“   Finger tasteten über meinen Kopf, ich fühlte etwas an meiner Stirn herumwerkeln und im nächsten Moment tauchte Theos grinsendes Gesicht vor mir auf, als das Shirt endlich an seinen Platz rutschte. Theo beachtete zum Glück meine ziemlich warme und somit vermutlich ziemlich rote Birne gar nicht, sondern musterte lieber den darunter liegenden Teil von mir. „Bisschen eng, aber es steht dir.“ Äh … was? Ich sah nach unten und strich prüfend über den dunkelblauen Piquéstoff , der ziemlich über meiner Brust spannte.   „Na, ich weiß nicht. Ich find’s ein bisschen klein.“ „Quatsch, du kannst das tragen.“   Sprach derjenige, dessen Shirt mindestens eine Nummer größer war.   „Oder willst du lieber meins? Dann tauschen wir.“   Die Aussicht, noch einen Blick auf Theos halbnackten Körper zu erhaschen, war wirklich verlockend. Aber erstens war ich mir nicht ganz sicher, was es mit mir anstellen würde, wenn ich das T-Shirt anzog, das er nur Augenblicke vorher getragen hatte und das vermutlich noch warm war, wenn ich es in die Finger bekam. Und zweitens hätte ich dann den Nachmittag über ihn vor meiner Nase gehabt in eben jenem Shirt, das sich gerade so eng an meinen Körper schmiegte. Das hätte es bei ihm sicherlich auch getan und … äh, na ja. Nicht gut.   „Nee, ich nehm das hier“, sagte ich daher schnell. „Okay, dann steck’s aber rein. Nicht, dass unsere Kundinnen noch einen Nervenzusammenbruch kriegen, weil du hier nackte Haut zeigst.“   Nackte Haut? Mein Gehirn machte Überstunden, so nah wie er immer noch vor mir stand und so was von sich gab. Das sollte wohl ein Scherz sein. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich jetzt gedacht, dass er mich anmachte. Ich meine, er sagte mir, dass ich gut aussah, redete von nackter Haut und fummelte an mir herum. Das war einfach zu viel für meine eigentlich noch in Gips befindliche, kleine Seele. Was war denn mit Reha? Krankengymnastik? So was musste es für gebrochene Herzen doch auch geben. Aber nein, Theo kam über mich wie ein überambitionierter Skilehrer, stellte mich wieder auf die Bretter, drückte mir die Stöcke in die Hand und schickte mich mit einem kräftigen Klaps auf den Hintern wieder die Piste hinunter. Mitspracherecht hatte ich dabei keines. Ich konnte nur um mein Gleichgewicht kämpfen und hoffen, dass ich nicht sofort wieder auf die Fresse flog.   „Was soll ich wo reinstecken?“, machte mein Mund dementsprechend abgelenkt und ließ mein Blut schneller zirkulieren ob der Wortwahl. Allerdings nicht süd- sondern nordwärts. Himmel, wie dämlich konnte man sich denn ausdrücken? Ging es noch ein bisschen zweideutiger?   „Das Shirt in die Hose.“ Er grinste. „Oder brauchst du dabei auch Hilfe?“ „Nein!“   Okay, das klang jetzt eindeutig panisch. Dementsprechend lachte Theo mich auch aus. „Hey, keine Bange. Ich wollte dir nicht an die Wäsche.“   Ich hielt das „schade“, das mir über die Lippen schlüpfen wollte, gerade noch rechtzeitig zurück. Nein, wirklich. Aus jetzt, Benedikt! Der will nix von dir, der will nur spielen. Du willst aber nicht mit ihm spielen. Du willst arbeiten. Also reiß dich zusammen, steck das dämliche Shirt rein und dann nichts wie ab durch die Mitte, um dir von Theo die große, bunte Welt des Verkäuferdaseins nahebringen zu lassen. „Na, bereit?“, fragte er draußen und grinste mich schon wieder an. Überinterpretierte ich oder freute er sich echt ziemlich, dass ich hier war?   Es streichelt dein Ego, fachsimpelte da auf einmal eine Stimme, die verdächtig nach Anton klang. Oh, na prima. Die Vernunft war zurück. Du versuchst gerade die Schlappe mit Manuel dadurch auszugleichen, dass du dir einbildest, dass Theo auf dich steht. Was er nicht tut. Weil er nämlich hetero ist.   Jaja, du mich auch. Blöde Vernunft. Machst mir all meine schönen Ego-Aufpust-Träume gleich wieder kaputt. Aber sie oder eher er hatte wohl recht. Das, was hier passierte, war rein kumpelmäßig. Kein Ding. Alles cool. Das kriegte ich hin. Ich konnte einfach nur mit Theo befreundet sein, wenn ich es mir fest genug vornahm.   Im Nachhinein muss ich mich wirklich loben, wie gut ich es hinbekam. Ich verlor mich nicht in seinen sturmblauen Augen, wenn er mir was erklärte, ich glotzte nicht auf seinen Hintern, wenn er vor mir her zum nächsten Regal ging, ich hörte mir brav alles an und merkte mir, was er über die Lagerbestände, die Handhabung der Kasse und den Umgang mit Kunden erzählte. „Niemand erwartet von dir eine Fachberatung. Dafür ist Holger da. Oder ich, wenn’s um Fahrräder geht. Du bräuchtest übrigens dringend mal ein neues.“ „Wem sagst du das?“, entgegnete ich seufzend. „Aber ich bin arm, schon vergessen. Deswegen stehe ich doch überhaupt nur hier.“ „Ach, und ich dachte, du genießt meine Gesellschaft.“   Scheiße, Theo, hör auf mit mir zu flirten!   Hör du lieber auf, dir einzubilden, dass er das tut.   Klappe, Anton!     Okay, okay, ich geb’s ja zu. Am Anfang lief es noch nicht so rund und ich war ein bisschen nervös, weil er so viel mit mir redete. Ständig hatte ich Angst, irgendwas Dummes zu sagen, eine dämliche Frage zu stellen oder mich sonst irgendwie lächerlich zu machen. Aber irgendwann schien mein Kopf endlich mein greinendes Herz zur Raison gebracht zu haben, das hier nun mal nichts zu holen war, und von da an konnte ich mich endlich vollkommen auf die Arbeit konzentrieren. Ich sortierte Retouren in die Regale – Theo war der Meinung, dass ich so das Sortiment am besten kennenlernen würde – kassierte einen Kunden ab, der einen neu bespannten Tennisschläger abholte, schleppte einen Pappaufsteller ins Lager und stand danach dekorativ in der Gegend herum, während Theo eine Kundin bediente, die sich ein neues Mountainbike zulegen wollte.   Da das Ganze länger zu dauern schien, machte ich es mir hinter der Kasse gemütlich, als es erneut klingelte, weil jemand die Ladentür öffnete. Herein kam ein Pärchen in Begleitung eines vielleicht zehn- oder elfjährigen Jungen. Ich sah sofort, dass er nicht begeistert von seinem Hiersein war, das aber nicht zeigen wollte. Den Gesichtsausdruck kannte ich zur Genüge von mir selbst. Seine Eltern schienen das jedoch nicht zu bemerken, sondern steuerten zielsicher auf mich zu. Kein Wunder, schließlich war ich der einzige, freie Verkäufer im Laden. Als ich jedoch sah, wer der Vater des Jungen war, war mir alles klar. Vor mir stand niemand anderer als dieser Möller samt Getue und Schnauzbart. Halleluja!   „Ach sieh an. Dich kenne ich doch“, meinte er und runzelte die dicke Bulldoggenstirn. „Benjamin, richtig?“ „Benedikt“, murmelte ich. „Kann ich Ihnen helfen?“ „Wir brauchen so einen weißen Anzug für unseren Thomas hier. Er soll nämlich mit Kampfsport anfangen, damit er mal ein bisschen Mumm in die Knochen bekommt.“ „Aha“, machte ich nur. „Und welche Art von Kampfsport?“ „Na, was weiß ich. Karate, Judo, irgendwas. Er weiß noch nicht, was ihm besser gefällt. Hatte schon immer Schwierigkeiten, sich zu entscheiden.“   Ich seufzte innerlich und warf einen Blick auf den Jungen, der sich verhalten im Laden umsah. Jetzt gerade betrachtete er die Auslagen der Tischtennis-Abteilung. Irgendwie erinnerte er mich ein bisschen an Anton, nur ohne Brille. „Also was ist?“, blaffte der Möller, während seine reichlich unscheinbare Frau neben ihm stand und beflissen freundlich guckte. „Bekommen wir nun so einen Anzug?“   Ich räusperte mich. „Dazu müssten Sie wirklich wissen, welche Art von Sport ihr Sohn ausüben wird. Die Anzüge für Judo und Karate sind unterschiedlich. Judogis sind vor allem auf Reißfestigkeit ausgelegt, da der Sport auf Hebel- und Wurftechniken aufgebaut ist, die ein Fassen des Gegners an der Kleidung beinhalten. Karate hingegen besteht größtenteils aus Schlagtechniken. Dabei braucht der Körper Bewegungsfreiheit, die der schwerere Stoff des Judogis nicht gewährleisten kann. Im Gegenzug würde ein Karateanzug durch die ständige Zugbelastung schnell reißen.“ „Ach“, machte Herr Möller und war offenbar aus dem Konzept gebracht durch so viel Information. „Vielleicht sollten wir Ihren Sohn fragen, welche Sportart er sich eher vorstellen kann.“ „Ja, vielleicht. Thomas, komm mal her.“   Thomas kam und sah unglücklich aus. Ich erkannte das an seinen hängenden Schultern und dem zu Boden gerichteten Blick. Er hatte so gar keinen Bock auf diese Sache hier, das war für alle anwesenden Nicht-Möllers klar erkenntlich. „Der Junge hier sagt, du musst dich entscheiden, welchen Sport du machen willst. Also? Was sagst du?“ „Weiß nicht.“ „Kannst du nicht in ganzen Sätzen sprechen?“ „Ich weiß es nicht, Papa. Ich möchte eigentlich gar nichts von beidem machen.“ Wow, der Kleine hatte es geschafft, seinem Walross von Vater das zu sagen? Allerdings war das anscheinend nicht das erste Mal, denn der Möller polterte los. „Ich habe dir bereits gesagt, dass jetzt Schluss ist mit diesem ständigen drinnen Rumgesitze. Du musst mal raus an die frische Luft. Sport treiben, Muskeln bekommen. Damit aus dir mal ein richtiger Mann wird.“ „Eigentlich sind Judo und Karate eher Hallensportarten“, wagte ich einzuwerfen und wurde sofort von einem bösen Blick über einem gesträubten Schnauzbart durchbohrt. Meine Güte, der sollte sich mal sehen. Da standen doch mindestens drei Adern kurz vor dem Platzen. „Wie wäre es denn mit etwas anderem? Tischtennis zum Beispiel.“ „Quatsch. Tischtennis ist für Schwächlinge. Das mag mein Sohn nicht.“ Also mir kam es so vor, als wenn „sein Sohn“ das eigentlich schon gerne gewollt hätte. Nur traute er sich das offenbar nun nicht mehr zu sagen, nachdem Walross-Möller drohte zur Hochform aufzulaufen. Auch Frau Möller sah nicht so aus, als wäre sie ihrem Sohn eine große Hilfe. Ich räusperte mich. „Tischtennis ist sogar eine sehr körperbetonte Sportart, die neben vielen Muskelgruppen und dem Herz-Kreislaufsystem gleichzeitig auch noch die Koordinationsfähigkeit trainiert. Ein Tischtennisspieler muss binnen Sekundenbruchteilen Entscheidungen über die mögliche Art des Angriffs treffen. Im Grunde genommen ist es damit einer Kampfsportart gar nicht so unähnlich, nur dass man seinen Gegner eben mithilfe eines Balls besiegt.“   Herr Möller musterte mich mit sauertöpfischer Miene, aber ich sah, dass ich die Saat des Zweifels erfolgreich ausgebracht hatte. Immerhin sah er selbst nicht unbedingt aus, als würde er regelmäßig Sport treiben, und als Beamter wusste er doch bestimmt die Vorteile von Kopfarbeit zu schätzen.   „Wir überlegen uns das noch mal“, knurrte er schließlich, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte ohne ein Grußwort von dannen. Frau und Sohn folgten ihm auf dem Fuße, aber wenn mich nicht alles täuschte, schwang im Blick, den mir Klein-Thomas zuwarf, etwas wie irritierte Dankbarkeit mit.   Kaum waren sie aus dem Laden, stand Theo wie aus dem Boden gewachsen neben mir. „Bist du irre? Sei froh, dass Holger das nicht mitgekriegt hat. Warum hast du ihnen nichts verkauft?“ „Weil die Gewinnspanne viel höher ist, wenn der Junge ein Hobby ausübt, bei dem er regelmäßig Ausrüstung nachkauft, als wenn er einmal etwas erwirbt und dann nie wiederkommt. Solltest du eigentlich wissen, aber Mathe war ja noch nie so deine Stärke.“   Ich sah Theo ein bisschen überheblich an und er betrachtete mich verblüfft, bis er plötzlich anfing zu grinsen. „Du verarscht mich gerade, oder?“ „Nur ein bisschen.“   Ich legte auch ein Lächeln auf und seufzte. „Aber mal im Ernst, der wollte doch gar nicht. Ich hab den Gesichtsausdruck erkannt. Der sah aus wie ich, als ich Posaune lernen sollte.“   Theos Augenbrauen schossen nach oben. „Posaune?“   „Frag nicht!“, schnaubte ich mit einem Augenrollen. „ Ganz dumme Idee von meiner Mutter. Keine Ahnung, was sie da geritten hat. Ich bin einfach nicht hingegangen.“   Theo schwieg für einen Augenblick, bis er plötzlich sagte: „Ich hab acht Jahre lang Klavier gespielt, bevor ich endlich gewagt habe zu sagen, dass ich eigentlich lieber Gitarre lernen will.“   Jetzt war ich der mit dem erstaunten Gesichtsausdruck. „Du spielst Klavier?“   Mir antwortete ein Achselzucken. Er sah irgendwie eigenartig dabei aus. Ich versuchte es mit einem aufmunternden Grinsen.   „Ey, ist doch cool. Was kannst du noch? Jonglieren? Stepptanz? Gedichte schreiben? Aktmalerei?“   Das Zucken, das bei dem Wort „Gedichte“ durch Theos Miene lief, ließ mich hellhörig werden. Was denn? Er schrieb tatsächlich Gedichte? Echt jetzt? Ich wollte gerade nachfragen, als plötzlich die Tür aufging und Holger hereinkam. „Hey, Jungs, alles klar bei euch? Steht der Laden noch?“ „Natürlich. Wir sind doch Profis.“   Was auch immer das gerade bei Theo gewesen war, es war ebenso schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. Fast so, als hätte ich es mir nur eingebildet. Das da war wieder der strahlende Sonnyboy, den alle Welt kannte und liebte, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass das nicht alles war. Dass es noch eine andere Seite von ihm gab. Aber warum hatte er mich die gerade sehen lassen? Ein Versehen? Oder war das Absicht gewesen?   Leider hatte ich keine Zeit mehr, mir darüber Gedanken zu machen, denn irgendjemand hatte anscheinend den Leuten erzählt, es gäbe hier drinnen einen Rabatt auf Tiernahrung oder etwas in der Art. Binnen einer Viertelstunde war der Laden brechend voll und ich kam kaum damit nach, die Sachen wieder zu verräumen, die Holger und Theo für die Kunden aus den Regalen holten. Nachdem meine ersten drei Stunden in der Arbeitswelt endlich vorbei waren, war ich reif für die Klapse und wollte einfach nur noch schlafen. Oder tot umfallen. Je nachdem, was schneller ging.   „Und jetzt auch noch mit dem Rad nach Hause“, stöhnte ich beim Umziehen und zog gerade in Erwägung, meine Mutter anzurufen, damit sie mich samt dem Drahtesel abholte, als Theo mir lachend auf die Schulter klopfte. „Warte erst mal den Samstag ab, dann kannst du rumstöhnen. Man sieht sich.“ Und weg war er.   Ich starrte noch eine Weile das theoförmige Loch in der Luft an, bevor ich endlich auf dem Zahnfleisch gen Ladentür kroch, an der Holger schon bereitstand um abzuschließen. „Na, wie war dein erster Tag?“, fragte er lachend. „Toll“, log ich. „Dann kannst du ja übermorgen gleich wiederkommen. Mir ist für Samstag jemand abgesprungen und ich brauche dringend Ersatz.“ „Klar, mache ich.“ „Super, dann um neun hier und sei pünktlich.“   Als auch Holger endlich das Weite gesucht hatte, ließ ich mich erst mal auf der Stufe vor dem Laden nieder. Dass ich so platt war, lag bestimmt an der kurzen Nacht. Heute musste ich ebenfalls noch Hausaufgaben machen, dazu der Heimweg mit dem Rad und Hunger hatte ich auch. Dreck. Was hatte ich mir da nur eingebrockt?   Mein Blick wanderte über die Straße zum „Monopoly“. Dort war bestimmt schon einiges los. Ich hätte rübergehen und Julius hallo sagen können. Der hätte bestimmt was gegen meinen knurrenden Magen unternommen … und mich dabei wegen Manuel ausgequetscht. Und nach unserer Verabredung gefragt, die ich bis gerade eben vollkommen vergessen hatte. Doppel-Dreck. Ob ich wollte oder nicht, ich würde mich bei ihm melden müssen.   Als hätten ihm die Ohren geklingelt, piepste mein Handy und ich öffnete eine Nachricht von Julius. Er fragte nach meinem ersten Arbeitstag und was mit morgen sei. Ich blies die Backen auf und ließ zischend die Luft entweichen. Irgendwann würde ich in den sauren Apfel beißen und es ihm beichten müssen. Mit einem weiteren Seufzen begann ich, eine Antwort zu tippen. Kapitel 26: Von unangenehmen Einsichten und ungewohnten Aussichten ------------------------------------------------------------------ Jetzt mal eben Hand hoch. Wer von euch hat gedacht, dass ich Julius bereits in meiner Nachricht gestanden habe, dass Manuel auf so unrühmliche Weise mit mir Schluss gemacht hat – wenn man das denn so nennen wollte, weil ich mir nicht mal sicher war, ob man das jetzt eigentlich als „zusammen sein“ bezeichnen konnte, was wir da gehabt hatten. Aha. Du, du und du also auch. Mhm, tja … also ich muss euch sagen, euer Vertrauen in allen Ehren, aber dazu war ich leider zu feige. Ich konnte selbst nicht so genau sagen, warum ich ihm das verschwieg. Vielleicht, weil ich nicht wollte, dass er mich mit der Nase zuerst auf die Tatsache stieß, dass mir in Manuels Fall wohl mein Verstand ziemlich zwischen die Beine gerutscht war. Wir erinnern uns mal daran, dass ich mir eigentlich was darauf einbildete, nicht so ganz doof zu sein. Ja? Okay. Dann könnt ihr vielleicht verstehen, warum mir diese Einsicht nicht so wirklich gefiel. Es Julius gegenüber auch noch zugeben zu müssen, machte meine eigene Dummheit nur noch realer. Andererseits machte es mich wütend, dass Julius da so blasiert war, weil … weil es eben auch verdammt schön gewesen war. Ich … also das hört sich jetzt sicher dämlich an bei meinen mehr als spärlichen Erfahrungen, aber … ich mochte Sex. Ich wollte welchen. Und ich wollte mich dafür nicht entschuldigen müssen. Julius gab mir jedoch das Gefühl, dass ich genau das tun musste, und das gefiel mir nicht. Nichtsdestotrotz saß ich gerade unter einem Baum auf dem großen Vorplatz des Kinos und wartete auf ihn. Wobei groß jetzt relativ ist. Der Platz hatte etwa die Ausmaße unseres Pausenhofs und war mit ebenso roten Steinen gepflastert. Dazwischen standen in ausgesparten Vierecken ein gutes Dutzend Bäume, unter denen wiederum Bänke platziert worden waren. Vermutlich um müden Spaziergängern einen Platz zum Ausruhen zu bieten oder irgendwas in der Art. So wirklich zu funktionieren schien es jedoch nicht, denn außer einer Oma, die entweder ein Nachmittagsnickerchen hielt oder beim Warten auf den Bus friedlich von uns gegangen war, war hier niemand außer mir. Somit bestand meine einzige Beschäftigung darin, das bunte Plakat am Laternenpfahl gegenüber anzustarren, auf dem groß und breit die Eröffnung des alljährlich stattfindenden Jahrmarkts angekündigt wurde. „Da hätte ich mit Manuel hingehen können“, murmelte ich halblaut vor mich hin und hätte mich im nächsten Moment gleich doppelt ohrfeigen können. Erstens, weil mir diese Erkenntnis so gar nicht half, und zweitens, weil Manuel sich vermutlich sowieso über unseren Jahrmarkt kaputtgelacht hätte. Er kam immerhin aus Hamburg. Die hatten da doch dreimal im Jahr den riesigen „Dom“ und außerdem ein richtiges Nachtleben und was weiß ich was noch. Da konnte Popel-Kleinstadt mit Popel-Benedikt halt nicht mithalten. Kein Wunder, dass er hier nicht hatte bleiben wollen. Du weißt genau, dass das so nicht stimmt, gab meine Vernunft aka Anton bekannt. Er hat sich die Verlegung ja nicht ausgesucht. Dann hätte er sich eben verdammt nochmal zusammenreißen sollen, meckerte ich zurück. Wenn er sich an die Regeln gehalten und sich ein bisschen angestrengt hätte, wäre er jetzt noch hier und ich würde mit ihm ins Kino gehen. Und auf den Jahrmarkt nächstes Wochenende. Rumknutschen in der Geisterbahn oder was weiß ich. Man. Das war doch kacke! Ich kickte einen unschuldigen Stein durch die Gegend und scheuchte damit eine fette Stadttaube auf, die wohl ebenso wie die alte Dame ein Schläfchen gehalten hatte. Ich wusste natürlich, dass ich ungerecht war, aber ich kam mir halt gerade ziemlich arm dran vor. (Und wenn mir jetzt einer mit „besser als Arm ab“ kommt, dann hau ich den. Doll!) Das Gefühl blieb, obwohl ich mir wirklich Mühe gab zu sehen, dass ich an einem schönen, sonnigen Nachmittag in der Innenstadt saß und eine Verabredung hatte. Allerdings halt mit Julius, in dessen Augen ich vermutlich ein dummer, kleiner Junge war, der sich wegen ein bisschen Herzschmerz, an dem er auch noch selber schuld war, hemmungslos im Schlamm suhlte. Ich musste echt damit aufhören. Vielleicht konnte man sich ja kryonisieren und nach der Pubertät wieder auftauen lassen? Das wäre doch mal was. Oder künstliches Koma, bis man nicht mehr so viel Schwachsinn im Kopf hatte. Die Idee hatte bestimmt Potenzial. Tausende Eltern würden mir vermutlich vor lauter Dankbarkeit die Bude einrennen, wenn das in Serie ging. Aber wo sollte man die ganzen Hirntoten derweil lagern? Das musste ich noch sorgfältiger planen. Während ich gerade überlegte, in welchem Alter man sich wohl am besten wieder erwecken ließ – alles vor 21 war vermutlich zu riskant – rief auf einmal jemand meinen Namen. Julius. Wer auch sonst. Er kam auf mich zu und ich musste zugeben, dass ich etwas erstaunt war über seinen Aufzug. Er hatte wieder diese bordeauxfarbene Hose an und dazu ein weißes Hemd. Ein Hemd! Ich trug ein ganz normales T-Shirt und Jeans. Halt das, was ich schon den ganzen Tag angehabt hatte, weil ich einfach nach der Schule in der Stadt geblieben war. Ich kam mir, ehrlich gesagt, ein bisschen underdressed vor. „Hey“, grüßte ich trotzdem tapfer zurück und erhob mich. Julius lächelte mich an und sah sich im nächsten Moment suchend um. „Bist du allein?“ „Mhm, so ziemlich“, brummte ich. „Also ja. Manuel kommt nicht. Er … wir haben Schluss gemacht.“ Okay, das war jetzt so ziemlich die falscheste Version der Geschichte, die es gab, aber was hätte ich denn sagen sollen? Er hat mich sitzen lassen? Das klang nach verlassener Ehefrau mit drei Kindern. Nicht cool. „Oh“, war alles, was Julius dazu sagte. Ich drehte den Kopf zur Seite, um ihn nicht ansehen zu müssen. „Tja, na ja, isso.“ „Willst du drüber reden?“ „Nein.“ „Sicher?“ „Ja.“ Ich wollte es nicht hören. Wollte nicht hören, dass es meine eigene Schuld war, weil ich mich auf so eine Flachpfeife eingelassen hatte. Das würde er doch bestimmt jetzt gleich sagen. Oder „ich hab’s dir gleich gesagt“. Irgendwas in der Art halt. Aber er tat es nicht. Stattdessen kam er noch ein Stückchen näher und hob die Hand, bevor er sich stoppte und sie langsam wieder zurückzog. „Hey, ich … tut mir leid. Ich hatte wirklich gehofft, dass ich mich geirrt habe.“ Ich sah auf. Julius musterte mich ernst. Er machte sich Sorgen um mich. Hatte er ja selbst gesagt. Und ich … ich wollte irgendwie nicht, dass er sich Sorgen machte. Er konnte ja auch nichts dafür, dass ich mich mal wieder ausgerechnet in den falschen Typen verknallen musste. Obwohl ich mir inzwischen, wie gesagt, nicht mehr sicher war, ob das nicht doch einfach nur ein bisschen übersteigerte Geilheit gewesen war. Also ja, ich hatte Manuel gemocht, war gerne mit ihm zusammen gewesen, aber … mal ehrlich. Wie lange hätte das denn gut gehen sollen? Wir waren ohnehin viel zu verschieden. Es war total albern, ihm nachzuweinen. „Schon okay, ich komm klar.“ Julius schüttelte den Kopf. „Du musst das nicht machen.“ „Was?“ „Es verstecken. Wenn es wehtut, darf man das zeigen. Ist besser, als es in sich reinzufressen. Es ist okay, schwach zu sein. Es ist okay, Angst zu haben.“ „Du klingst wie ne Selbsthilfegruppe.“ Er sah mich mit so einem „Ach wirklich“-Ausdruck im Gesicht an und ich verstand „Oh, ich … tut mir leid, das wollte ich nicht … also … ich … äh …“ Julius lachte auf. „Hey, nun brich dir mal keinen ab. Hier geht’s schließlich nicht um mich sondern um dich. Also, was machen wir jetzt? Worauf hast du Lust?“ „Kino?“ Das mit dem Kino hatte ich Julius eigentlich nur vorgeschlagen, weil ich gedacht hatte, dass ich so um das unangenehme Gespräch herumkam. Aber jetzt, wo das wohl gar nicht stattfinden würde, hatte ich nicht so recht eine Idee, was wir sonst machen sollten. Warum also nicht Kino? Wir gingen das letzte Stück Weg nebeneinander her, ohne dass jemand ein Wort sagte. Ich schielte zwar mal kurz zu Julius, aber der schien ebenso in Gedanken versunken wie ich. Woran er wohl dachte? Ich hätte ihn fragen können, aber ich wollte nicht aufdringlich sein. Was, wenn er an seinen blöden Exfreund denken musste. Der war immerhin noch viel arschiger gewesen als Manuel, dieser feige Widerling. „Und? Was willst du gucken?“, fragte Julius unvermittelt und ich blinzelte überrascht. Waren wir echt schon da? Ups. Na dann schauen wir mal. Was lief denn? Als erstes sprang mir das Plakat eines Horrorfilms ins Auge. Okay, damit wäre wohl klar, was ich mit Manuel hätte gucken müssen. Für einen winzigen Augenblick war ich sehr froh, dass er es nicht war, mit dem ich hier stand, als mir auffiel, dass der Film nachmittags gar keine Vorstellung hatte. Das Kino war nicht besonders groß, nur vier Säle, da musste sich das Programm eben ein bisschen dem Publikum anpassen. Ich übersah zwei ausgesprochene Kinderfilme, die aus verständlichen Gründen ebenfalls ausfielen, bevor mein Blick auf ein Poster fiel, auf dem ein Mann in einem rotgoldenenen Kostüm abgebildet war. Sofort war ich wie hypnotisiert. Zu dem Film hatte ich den Trailer gesehen und so gelacht. Ein Junge erhielt von einem alten Zauberer die Fähigkeit, sich in einen Superhelden zu verwandeln. Im Gegenzug musste er natürlich die Welt retten, was sich allerdings als gar nicht so einfach herausstellte, weil er nämlich innendrin immer noch derselbe peinliche Präpubertierer war wie vorher. Wenn ich nur ein bisschen jünger gewesen wäre, hätte ich jetzt vermutlich mit der Nase an der Scheibe geklebt und geröchelt, dass ich den Film unbedingt sehen musste. Aber mit meiner jetzigen Begleitung ging das natürlich nicht. Okay, ganz ruhig, Brauner. Jetzt komm mal wieder runter. Du kannst nicht – wiederhole das: n i c h t – mit Julius in diesen Film gehen. Der hält dich für vollkommen unterbelichtet, wenn du ihm jetzt auch noch mit Humor für Zwölfjährige kommst. Zum Glück lief der letzte Teil der großen Comichelden-Saga noch nicht, sonst wäre Julius ohne Wenn und Aber fällig gewesen. Jetzt jedoch brauchte ich erst mal einen Film, in den ich auch mit ihm gehen konnte, ohne dass er sich endlangweilte. Julius stand derweil neben mir und schien recht uninteressiert von den ganzen Aushängen. Zumindest sah er sich keinen davon wirklich an. Ob das mit dem Kino wohl doch eine schlechte Idee gewesen war? Vielleicht mochte er das gar nicht. Vielleicht ging er lieber ins Theater oder auf Konzerte oder so. Musicals. Vernissagen. Erwachsenenkram halt. Was weiß ich denn? Ich öffnete gerade den Mund, um ihm zu sagen, dass wir gerne auch was anderes machen konnten, als ich es sah. Das Plakat, das er ganz offenbar mit ziemlicher Anstrengung nicht anzusehen versuchte. Darauf war eine Frau abgebildet, die ein rotes Tuch über den nahezu schwarzen Haaren trug und dem Schmuck nach zu urteilen aus Indien stammte. Ein Blick auf das Kleingedruckte verriet mir, dass ich recht hatte. Plötzlich begann ich zu grinsen. „Hey, wie wäre es mit dem da?“ „Mit welchem?“ „Na dem da.“ Ich wies auf das Plakat und Julius Augen wurden sichtbar größer. „Der gefällt dir bestimmt nicht“, platzte er sofort heraus. „Glaube ich nicht.“ „Er ist kitschig.“ „Das weißt du doch gar nicht.“ „Indische Filme sind immer kitschig.“ „Das will ich sehen.“ „Nein, willst du nicht.“ „Doch.“ „Nein.“ „Doch.“ „Nein!“ Ich unterbrach dieses sinnlose Gespräch und holte tief Luft. „Julius, ich möchte wirklich gerne mit dir in diesen Film. Und das ist mein voller Ernst.“ Also, um ehrlich zu sein, ging es mir dabei nicht unbedingt um den Film, auch wenn man ja immer offen für Neues sein soll. Aber mir war zu hundert Prozent klar, dass Julius ihn gerne sehen wollte und ich … ich wollte, dass Julius sich freute. Er hatte schon so viel für mich getan und hier war endlich mal meine Gelegenheit, mich zu revanchieren. Zumal ich bezweifelte, dass irgendjemand anderes den Film mit ihm gucken würde. Höchstens seine Mutter, aber wer ging denn bitte mit seiner Mutter ins Kino? „Ich wollte den Film eigentlich mit meiner Mutter schauen.“ Ha, seht ihr? Hab ich doch gesagt. „Ach, ihr findet bestimmt was anderes. Außerdem läuft der bestimmt nicht mehr lange. Guck mal, es gibt nur noch am Wochenende nachmittags Vorstellungen.“ Ich sah, wie Julius zögerte. Keine Ahnung, warum. Vielleicht war es ihm peinlich, dass er auf solche Filme stand? Als wenn das so viel peinlicher gewesen wäre als meine Leidenschaft für Harry Potter und Co, auch wenn er von der natürlich nichts wusste. War doch eigentlich auch egal. Hauptsache es machte Spaß. Und ich würde mir schon keinen abbrechen, nur weil ich mit ihm irgendeine indische Schnulze schaute. Ich hatte schließlich sogar einen Zombie-Liebesfilm geguckt und lebte immer noch. „Na los“, drängelte ich daher. „Gib dir einen Ruck und komm mit. Sonst gehe ich nämlich allein.“ „Das würdest du nicht tun.“ „Oh doch. Sieh nur. Ich laufe schon los, um mir eine Karte zu kaufen.“ Tatsächlich machte ich Anstalten, in Richtung Eingang zu stolzieren, während ich Julius über die Schulter hinweg auffordernde Blicke zuwarf. Er lachte und schüttelte den Kopf. „Na gut, ich komme. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“ „Ist recht..“ Drinnen erstanden wir in einem vollkommen verwaisten Kino zwei Karten von einer ziemlich erstaunten Kassendame, sowie eine große Portion Popcorn und eine Cola. Um einige Euronen ärmer, dafür aber reich bepackt, stapften wir an der Trulla vorbei, die die Karten abriss, und fanden uns kurz darauf in einem ziemlich kleinen und ziemlich leeren Kinosaal wieder. „Guck mal, freie Platzwahl“, verkündete ich und steuerte die letzte Reihe an. „Aber wir haben doch nur für Parkett bezahlt.“ „Glaubst du wirklich, dass hier noch jemand kommt?“ Julius seufzte. „Na schön. Aber wenn wir Ärger kriegen, schiebe ich alles auf dich.“ „Geht klar.“ Ich grinste, lümmelte mich in den Kinositz und nahm einen großen Schluck von der Cola. Fragend guckte ich zu Julius hoch, der immer noch im Gang stand und mich betrachtete. „Was?“, nuschelte ich um den Strohhalm herum. „Ich … ach egal. Vergiss es.“ Er schüttelte schon wieder den Kopf und setzte sich neben mich. Ich reichte ihm das Popcorn, aber er lehnte ab. Zwar zwickte mich der verführerische Duft schon die ganze Zeit in die Nase, aber ich wollte nicht verfressen wirken, daher stellte ich die Tüte neben mich auf den Sitz und wartete darauf, dass der Film anfing. „Wie war die Arbeit gestern?“, fragte ich nach einer Weile, in der nichts passierte war, außer dass Julius und ich uns angeschwiegen hatten und es nach Popcorn duftete. „Gut. Viel zu tun. Und bei dir?“ „Auch so. Ist ganz schön anstrengend dieses Verkäuferleben. Und was da für Leute reinkommen. Unfassbar. Sogar ein Kollege meiner Mutter war dabei. Ich kann den Typ nicht leiden. Das ist so ein typischer Beamter. Total pingelig und von oben herab.“ „Oh, solche kenne ich. Meine Mutter schimpft auch immer über die.“ „Kann ich verstehen.“ Wieder sagte eine Weile lang niemand mehr etwas. Wann fing denn der Film endlich an? Hier so zu sitzen war ganz schön komisch, aber mir fiel nichts mehr ein, was ich Julius erzählen oder fragen konnte. Und wieso schwieg er eigentlich ausgerechnet heute wie ein Grab? Der war doch sonst nicht auf den Mund gefallen? Fand er es doch doof, mit mir hier zu sitzen? Aber die Alternative wäre Kino mit seiner Mutter gewesen und das konnte ihm doch nicht wirklich lieber sein. Oder etwa doch? Schließlich zog ich mein Handy hervor, um auf die Uhr zu sehen, als mir eine Nachricht auf meinem Messenger angezeigt wurde. Sofort fing mein Kopf an, Mätzchen zu machen. Von wem konnte die sein? Ob Manuel …? Nein. Natürlich nicht. Die Nachricht war von Julius. Er hatte mir vorhin irgendwann geschrieben, dass er fünf Minuten später kam. Ich schnaubte. Wer sagte denn wegen so einer Kleinigkeit extra Bescheid? „Was ist?“, wollte Julius wissen. „Ich hab grade deine Nachricht gelesen. Dass du später kommst.“ „Ja, ich wollte nicht, dass ihr auf mich …“ Er unterbrach sich. „Oh, tut mir leid.“ Ich seufzte und ließ das Handy sinken. Anscheinend war ich doch noch nicht so fertig mit der Sache, wie ich gedacht hatte. Allein meine Reaktion sprach ja Bände. Das war doch Mist. „Er hat mich blockiert“, sagte ich plötzlich und sah Julius dabei nicht an. „Wir hatten doch letzten Samstag dieses Date und … na ja. Kurz nachdem wir uns verabschiedet hatten, hat er mich blockiert. Dabei hatten wir gerade … Und ich Idiot hab sogar erst noch gedacht, er hätte nur sein Handy nicht geladen oder irgendwas. Hab mir zig Entschuldigungen ausgedacht, warum er sich nicht meldet, aber dann … dann bin ich irgendwann hingegangen. Zu seinem Wohnheim, meine ich. Aber er war nicht mehr da. Er war bereits seit ein paar Tagen ausgezogen. Versetzt. In eine andere Einrichtung. Und er hat es mir nicht mal gesagt. Er war einfach so weg.“ Ich musste mir auf die Lippe beißen, um das Kribbeln in meiner Nase unter Kontrolle zu halten. Fuck. Ich wusste doch inzwischen, was Sache war. Ich sollte mich damit abgefunden haben. Aber jetzt, wo ich die Erinnerung nochmal rauskramte, tat es wieder genauso weh. Dass er mich zurückgelassen hatte ohne ein Wort. Ohne Erklärung. Dass ich ihm nicht mal einen richtigen Abschied wert gewesen war. „Hey.“ Julius’ Stimme war leise. So leise, dass ich sie kaum hören konnte, weil es in meinen Ohren so rauschte. „Es ist nicht deine Schuld, okay? Sein Verhalten ist einfach nur unreif und verletzend und zeigt, was für ein unsensibler Klotz er ist. Das hat nichts mit dir zu tun.“ „Aber ich …“, begann ich und hasste es, wie meine Stimme dabei zitterte. „Vielleicht, wenn ich …“ „Stopp.“ Julius war jetzt lauter geworden. Er fasste mich an den Schultern und drehte mich zu sich herum. „Der Typ hat dich verarscht, Benedikt. Und es ist mir auch egal, was er für eine schwere Kindheit hatte oder ob ihn irgendwelche Aliens dazu gezwungen haben. Er hat dich benutzt wie ein Taschentuch. Erst reinwichsen, dann wegschmeißen. Und sag mir jetzt nicht, dass das nicht stimmt. Dass er woanders hinkommt, wusste er doch nicht erst seit gestern.“ Ich wollte den Mund öffnen und protestieren, aber ich konnte nicht. Denn Julius hatte recht. Manuel hatte genau gewusst, dass er nicht mehr lange da sein würde, als wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Ich meine, ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn er es mir gesagt hätte. Wirklich nicht. Vielleicht hätte ich es trotzdem getan, obwohl er wegmusste. Vielleicht gerade deswegen. Aber Fakt war nun mal, das er mir diese Wahl nicht gelassen hatte. Vermutlich um sicherzugehen, dass er bekam, was er wollte. Vielleicht hatte er sogar ein schlechtes Gewissen gehabt und sich deswegen so viel Mühe gegeben. Das alles änderte aber nichts an der Tatsache, dass er es trotzdem getan und somit einfach über meinen Kopf hinweg entschieden hatte. Und dann war er einfach so verschwunden. Wie es mir damit ging, hatte er nicht berücksichtigt. Weil es ihm egal gewesen war. „Ich komme mir dumm vor“, sagte ich leise. „Ich … ich hab halt wirklich gedacht, dass ich ihm was bedeute. Dass ich was Besonderes für ihn bin.“ „Hey.“ Ich spürte eine Berührung an meiner Hand, als Julius sie in seine nahm. „Wenn es nicht so war, ist er ein noch viel größerer Idiot, als ich gedacht habe. Du bist … du bist toll, Benedikt. Ganz ehrlich. Und ich … es gibt sicherlich eine Menge Männer da draußen, die glücklich wären, wenn du … Also was ich sagen will, ist … dass ich … dass du …“ Julius’ Gestammel wurde plötzlich von einem ohrenbetäubenden Fanfarenstoß übertönt. Wir zuckten zusammen und schauten uns an wie die Hasen, als wie aus dem Nichts das riesige THX-Logo auf der Leinwand aufflammte und eine Stimme aus dem Off irgendwas über die Vorzüge des Dolby Surround Systems in diesem Kino von sich gab. Nach einigen weiteren, verblüfften Augenblicken fingen wir beide gleichzeitig an loszuprusten. Wir konnten gar nicht wieder aufhören zu lachen und verpassten so die komplette Werbung. Die Autohausbesitzer und Eishersteller wären sicherlich entsetzt gewesen, das sie ihr schönes Budget an uns vollkommen verschwendet hatten. „Oh man.“ Irgendwann nach dem schier endlosen Lachanfall, von dem mir schon der Bauch wehtat, wischte ich mir die Tränen aus den Augen. „Wir sind beide echt bekloppt.“ Ich griff mir die Cola und nahm einen tiefen Schluck, um endlich wieder zu Atem zu kommen. Über uns liefen die ersten Trailer über die Leinwand. Julius saß neben mir und hatte immer noch ein leichtes Grinsen auf dem Gesicht, das im jetzt herrschenden Halbdunkel nur noch schemenhaft zu erkennen war. Plötzlich packte mich wohl der Schalk im Nacken, denn ich lehnte mich zu ihm rüber und raunte ihm zu: „Du hast übrigens vorhin ein schlimmes Wort gesagt.“ „Was denn für ein Wort?“ Ich kam noch näher und flüsterte ihm ins Ohr: „Wichsen.“ Der Schauer, der danach durch seinen Körper lief, war deutlich spürbar. Ebenso wie die Faust, die mich im nächsten Moment höchst unjuliuslike an der Schulter traf. „Ey!“, machte ich und rieb mir die malträtierte Stelle. „Nicht lustig.“ „Aber verdient“, murrte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich grinste, schnappte mir das Popcorn und hielt es ihm großzügig unter die Nase. Ich wollte nicht, dass er böse auf mich war. Immerhin saßen wir seinetwegen in dieser kitschigen Romanze. Julius musterte mich noch einen Augenblick lang finster, bevor er mit einem Seufzen zugriff. Ich lächelte und ließ mich noch ein bisschen tiefer in den Sitz sinken. Dann wollten wir doch mal sehen, was die Leute vom anderen Ende der Welt so für Filme produzierten. Schlimmer als Rosamunde Pilcher konnte das schließlich auch nicht sein. Kapitel 27: Von bunten Vögeln und schwulen Pinguinen ---------------------------------------------------- Halten wir mal fest: Bollywood-Filme sind bunt, laut und lang. Sehr lang. Zwei Stunden saßen Julius und ich im Kino, bevor das Spektakel sein dramatisches und tränenreiches Ende fand. Obwohl ich zugeben muss, dass Teile des Films wirklich fesselnd waren, ließ er mich doch unbefriedigt zurück.   „Das ist doch Mist“, beschwerte ich mich dementsprechend bei Julius, als wir wieder vor dem Kino standen. „Ihre große Liebe wurde ermordet? Während sie dabei zusieht? So ein Käse.“ „Aber sie hat doch ihren Ehemann und die beiden können jetzt endlich glücklich miteinander werden“, wand Julius ein. „Er liebt sie schließlich ebenfalls.“ „Ja, aber nur, weil seine große Liebe auch abgenippelt ist. Also echt mal. Dann doch lieber Hollywood. Da sterben wenigstens nur die Bösen.“ „Titanic?“ „Ach, leck mich!“   Ich stapfte ein wenig ziellos drauf los, während Julius leise lachend zu mir aufschloss. Als ich ihn fragte, warum, grinste er.   „Na weil wir die Frage am Schluss offenbar beide verschieden beantworten. Du siehst nur, was sie verloren hat, währen dich sehe, was sie gewonnen hat. Eine Liebe, die sie ein Leben lang tragen wird, statt einer Liebe, die sie zerstört hätte. Immerhin war sie eine verheiratete Frau und eine Affäre hat doch eigentlich erst zu dem ganzen Schlamassel geführt. Ich finde, ihre Wahl war gut.“   „Pfrrt“, machte ich und stopfte meine Hände in die Hosentaschen. „Der andere sah trotzdem besser aus.“   Julius lachte erneut, diesmal lauter. „Ja oder? Wäre auch eher mein Typ gewesen trotz der geschminkten Augen. Obwohl ihr Mann auch was hatte. Vor allem war der größer.“ „Am besten schreiben wir das Drehbuch um, schmeißen die Tante raus und lassen die beiden Kerle was miteinander anfangen. Das wäre doch ein viiieel besserer Film gewesen.“   Ich wackelte mit den Augenbrauen und Julius lachte schon wieder. Der bunte Streifen hatte ihm anscheinend wirklich gefallen. Seine Augen strahlten richtig, auch wenn ich eigentlich erwartet hatte, sie ein wenig gerötet vorzufinden. Das Schniefen neben mir war nämlich nicht zu überhören gewesen.   „Und jetzt?“, fragte Julius plötzlich. „Wollen wir noch was essen gehen?“   Ich sah auf mein Handy, das mir bestätigte, dass es schon ganz schön spät geworden war. Mit einem Seufzen deutete ich auf das Parkhaus hinter mir, in dem ich mein Fahrrad angeschlossen hatte. „Nee, ich muss los. Ein anderes Mal, ja?“   Er nickte eifrig. „Klar. Wann immer du willst.“   Hinter ihm an einem Laternenpfahl entdeckte ich ein Plakat des Jahrmarkts. Ob ich ihn fragen sollte, ob wir da hingehen wollten? Die Sache war nämlich die, dass ich Jahrmarkt mochte. Sehr sogar. Der Trubel, die Menschen, die Gerüche und … okay, ich geb’s ja zu. Ich fuhr einfach gerne Karussell. Also nicht die Kinderversion, sondern was Schnelleres. Aber alleine hingehen war doof, von daher war ein Besuch in Juliuuss’s Begleitung doch nicht die schlechteste Idee.. Als ich gerade den Mund öffnete, kam Julius mir zuvor.   „Wenn du Dienstag noch nichts vorhast … Ich treffe mich mit ein paar Leuten. Letzter Dienstag im Monat und so. Mittwoch ist ja frei und … vielleicht hast du ja Lust, auch zu kommen? Das Ganze findet in 'Teufels Küche' statt. Da spielt dieses Mal abends auch ne Band. Wird bestimmt lustig.“   Ich überlegte. Mit Leuten meinte er sicherlich die vom Regenbogen-Stammtisch, von dem er mir erzählt hatte. Wenn wir da zusammen hinkamen, war denen somit bestimmt klar, dass ich … naja. Auf Kerle stand halt. Die Vorstellung war einerseits komisch, andererseits war ich auch neugierig. Immerhin kannte ich noch nicht besonders viele Leute, die auf der gleichen Uferseite angelten. Warum sich also nicht mal ansehen, was das so für welche waren. Wenn es mir nicht gefiel, konnte ich ja immer noch abhauen.   „Du musst auch nicht, wenn du nicht willst.“   Julius hatte mein Schweigen anscheinend missgedeutet. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, ist schon okay. Ich würde gerne mitkommen. Aber musst du nicht arbeiten?“ „Nur bis 19 Uhr, danach gehe ich hin. Du könntest nach deinem Training zu mir ins 'Monopoly' kommen und ich nehme dich mit?“ „Klar, klingt gut.“   Ich nickte Julius zu und deutete nochmal in Richtung meines Fahrrads.   „Ich geh dann mal.“ „Ja, okay. Fahr vorsichtig.“ „Klar, immer doch.“   Ein wenig unschlüssig standen wir beide da, ein jeder wohl überlegend, was wir jetzt tun sollten. Schließlich war es Julius, der auf mich zukam und mich umarmte. Nichts auffälliges, nur ein kurzes, kumpelhaftes Drücken. Klar. Wir standen ja auch mitten auf der Straße.   „Mach’s gut, Benedikt. Ich … es war toll mit dir.“ „Fand ich auch.“ „Dass es toll mit dir war?“ „Spinner!“   Ich lachte und winkte ihm noch einmal, bevor ich mich endlich in Bewegung setzte. Das hier war schließlich kein Bollywoodfilm, sonst hätten wir vermutlich noch ein Abschiedslied singen – und tanzen – müssen. Aber das war natürlich albern. Immerhin würden wir uns in ein paar Tagen schon wiedersehen und ich musste jetzt wirklich nach Hause. Meine Mutter wunderte sich bestimmt schon, wo ich blieb.     „Hey Mama, bin wieder da“, rief ich, als ich zu Hause reinkam. Es roch nach Abendessen, aber ich hatte gar keine großen Hunger. Lag wohl am Popcorn. „Hallo Schatz, wir schreiben gerade die Einladungen.“ Ah, das erklärte, warum Dianas Auto schon wieder vor der Tür stand. Ich grüßte beide, als ich ins Esszimmer kam. Der Tisch lag voller Papier in weiß und flieder.   „Hey, Brüderchen, wo kommst du denn jetzt erst her?“   Diana war gerade dabei, eine Karte in einen Umschlag zu stecken. Vor ihr lag schon ein kleiner Stapel und es sollten wohl noch eine ganze Reihe mehr werden.   „War im Kino.“ Ich zögerte kurz, bevor ich hinzusetzte: „Mit Julius.“   Ich weiß nicht, was mich da ritt. Wollte ich eine Reaktion auf diese Eröffnung? Und wenn ja, was für eine?   „Wer ist Julius?“, wollte Diana prompt wissen und sah mich neugierig an.   „Antons Cousin“, antwortete meine Mutter an meiner statt.   „Ach so“, machte Diana, während sie nach der nächsten Einladung griff.   „Essen steht übrigens auf dem Herd“, fuhr meine Mutter fort. „Du kannst heute mal in deinem Zimmer essen. Hier ist ja alles voll.“   „Mhm“, machte ich nur. Ich hatte wirklich keinen Hunger. „Soll ich euch helfen?“   „Du?“ Diana lachte. „Nein danke, deine Sauklaue hält sich bitte fern von meinen Einladungen. Du kannst dann beim Zelt aufbauen helfen oder so was.“   „Klar, mache ich.“   Ich blieb noch einen Moment unschlüssig im Türrahmen stehen, bevor ich mich dann doch umdrehte und in mein Zimmer trollte. Hier störte ich doch sowieso gerade nur. War vielleicht auch ganz gut so. Eigentlich … eigentlich wollte ich ja auch nicht, dass sie mich ausfragten. Ich meine, sie hatten doch jetzt eh zu tun. Die Hochzeit, ein Baby, da musste ich ja nicht auch noch unbedingt mit meinen Problemen um die Ecke kommen. Zumal es ja eigentlich kein Problem gab. Nicht wirklich. Es war ja schließlich nicht so, dass ich vorhatte, in nächster Zeit mit einem Typen hier aufzukreuzen oder gar zu fragen, ob ich ihn mit zur Hochzeit bringen durfte. Das nun wirklich nicht. Dianas Hochzeit würde gänzlich ohne schwules Pinguinpaar stattfinden können.   „Benedikt, du denkst Schwachsinn“, murmelte ich, stopfte mir meine Kopfhörer in die Ohren und schloss die Augen. Dieser Tag hatte ganz schön müde gemacht. So müde, dass ich irgendwann einschlief und erst mitten in der Nacht wieder aufwachte, als mich meine Blase nochmal ins Bad und mein Magen zum Kühlschrank schickte. Im Licht der offenen Kühlschranktür löffelte ich einen Joghurt in mich hinein und ging dann wieder ins Bett. Immerhin musste ich morgen früh raus. Zumindest für einen Samstag. Ein Hoch auf die Vorzüge der Arbeitswelt.       „Was machst du denn hier?“ Leon sah mich höchst erstaunt an, als ich am Samstagmorgen vor dem Sportgeschäft auftauchte. Er stand bereits vor der geschlossenen Tür und wartete auf Holger.   „Ich arbeite hier.“ „Ach echt? Seit wann?“ „Seit vorgestern.“ „Hat mir keiner erzählt.“   „Tja“, machte ich in Ermangelung einer adäquaten Antwort. Was sollte ich darauf auch sagen? Dass er wohl doch nicht so gut mit Theo dran war, wie er gedacht hatte? Das wäre erstens dumm und zweitens unnötig gewesen. Leon war nett und nur, weil er mit Jo befreundet war und die beiden im selben Fußballverein spielten, musste ich ihn ja nicht gleich angiften. Außerdem wäre es nur ein Ausdruck dafür gewesen, dass diese Tatsache ziemlich offensichtlich auch auf mich zutraf. Das sah man schon ganz allein daran, dass Theo mir nicht erzählt hatte, dass ich seine Schicht übernehmen würde, wie mir Holger kurze Zeit später eröffnete. Theo würde heute also nicht kommen und ich den Vormittag mit Leon verbringen. Was okay war. Wir arbeiteten normal miteinander, gingen normal miteinander um, alles entspannt. Aber insgeheim hatte ich wohl gehofft, dass ich heute wieder mit Theo zusammenarbeiten würde, und dass das nicht so war, hinterließ auf meiner Tätigkeit einen leichten Schleier der Enttäuschung.   Während ich ein paar Kartons, die von einem Schuhverkauf übriggeblieben waren, wieder zurück an ihren Platz stellte, wanderte mein Blick durch das Geschäft. Einige Kunden liefen zwischen den Regalen hindurch und bei dem Anblick der verschiedenen Menschen begann ich darüber nachzudenken, was mich wohl am Dienstag für Leute erwarteten. Ganz unauffällige Typen oder eher bunte Paradiesvögel? Eine Mischung aus beidem? Womöglich jemand, den ich kannte? Aus einem Geschäft oder gar einer der Lehrer? Mein Englischlehrer zum Beispiel hatte schon manchmal eine etwas seltsame Art. Very British, wie man so schön sagte, obwohl er von hier stammte. Aber der war seit ungefähr dreihundert Jahren mit seiner Frau verheiratet, also schied er wohl aus. Oder Herr Vogel? Der war, soweit ich wusste, nicht liiert. Oder vielleicht doch? Heimlich? Mit einem Mann? Die Vorstellung ließ mich ein bisschen grinsen.   Unwillkürlich nahm ich die Anwesenden genauer aufs Korn und überlegte, ob einer von denen wohl schwul oder lesbisch war. Oder noch was anderes. Gab da ja noch zig andere Möglichkeiten. Vielleicht waren die beiden Typen, denen Leon gerade einen hautengen Neoprenanzug von einer Puppe schälte, ja ein Paar. Eine nette Vorstellung, wie ich zugeben musste, obwohl sie vermutlich falsch war. Oder das Mädchen da mit den schulterlangen, blonden Haaren. Vielleicht hatte sie ja eine Freun...   „Mia?“ Ich blinzelte, als sich das Mädchen umdrehte und mich verwundert ansah.   „Benedikt? Was machst du denn hier?“ „Ich arbeite hier.“   Wie oft musste ich das heute eigentlich noch wiederholen? Ich meine, ich trug doch schließlich das T-Shirt. Da war es doch offensichtlich, dass ich hier nicht nur einkaufte. „Ach, das wusste ich gar nicht. Sonst habe ich immer nur Leon, Jo und Theodor hier gesehen.“ „Ich bin auch ganz neu.“   Sie lachte und strich sich das Haar hinters Ohr. „Na gut, Neuer. Dann verrate mir doch mal, ob ihr auch Bikini-Oberteile einzeln verkauft.“   Da ich das nicht wusste, ging ich zu Leon und fragte ihn. Seine Kunden waren offenbar ohne den extra für sie herabgeholten Anzug wieder verschwunden, denn er bemühte sich gerade, das Ding wieder auf den Plastikkörper zu ziehen, was anscheinend schwieriger war als gedacht.   „Wieso?“, schnaufte er und schien kurz davor, der Puppe einen kräftigen Tritt zu verpassen. „Was willst du denn mit einem Bikini?“ „Doch nicht für mich. Für Mia.“   Leon lugte an mir vorbei und pfiff leise durch die Zähne. „Na, wenn Jo gewusst hätte, dass die heute kommt, hätte er sich die Chance sicher nicht entgehen lassen. Noch dazu, wenn sie einen Bikini kaufen will.“   Ich verkniff mir ein Augenrollen. Allein die Vorstellung, wie Jo sich vor Mia aufplusterte und ihr womöglich noch anbot, ihr beim Anprobieren zur Hand zu gehen, ließ mich mich schütteln. Das hätte ich echt nicht mitansehen müssen. „Also was ist?“, fragte ich daher, um das Bild vor meinem inneren Auge wieder loszuwerden. „Haben wir so was nun oder nicht?“ „Was weiß ich denn. Müsst ihr halt mal bei den Badesachen gucken.“   Okay, das war jetzt hilfreich. Ich ging zu Mia zurück und lächelte sie entschuldigend an. „Leon weiß es auch nicht, aber er hat gemeint, wir sollen einfach mal gucken. Wenn, dann hängen sie bei den Badesachen.“ „In Ordnung.“   Ich begleitete Mia zu dem Ständer mit den bunten Bikinis und stand dann etwas unschlüssig herum. Sollte ich hier jetzt eigentlich mitsuchen oder sie selbst machen lassen oder wie? Was für eine seltsame Situation. Was Theo in meinem Fall wohl gemacht hätte? Er wäre vermutlich total souverän damit umgegangen und hätte Mia zu diesem oder jenem geraten. Oder wie ging es den Jungs damit, die wirklich auf Mädchen standen, wenn sie auf einmal mit der Vorstellung konfrontiert wurden, eines in wirklich wenig Stoff vor sich zu haben?   „Hier, ich hab eins“, verkündete Mia und hielt etwas in schwarz und weiß hoch. Es sah aus, als hätten sich ein Tiger und ein Zebra ein bisschen zu lieb gehabt. „Wie findest du es?“   „Mhm, nee. Aber wie wäre es mit dem hier?“   Ich schnappte mir etwas in Pink und wedelte damit herum. Mia lachte. „Das ist viel zu klein. Siehst du das denn nicht?“ Öhm … Nein, sah ich nicht. Und das wiederum sah man mir wohl an meinem Gesichtsausdruck an. Mia lachte wieder. „Du bist ein Spaßvogel, Benedikt.“   Mit zwei Teilen – eines davon die schwarz-weiße Scheußlichkeit – ging sie zu den Umkleidekabinen und ließ mich mit den bunten Bänder- und Ösenteilen zurück. Ich seufzte und sortierte meinen pinken Fund wieder zwischen die anderen. Ich hätte den besser gefunden, aber ich sollte ihn ja auch nicht anziehen.   „Du hast echt Glück, dass Jo nicht hier ist“, unkte da plötzlich Leon neben mir. „Der hätte dir eine verpasst, weil du so mit ihr flirtest.“   Ich? Flirten? Mit Mia?? Aber ich hatte mich doch nur ganz normal mit ihr unterhalten. Beinahe wäre mir herausgerutscht, dass mich Mädchen sowieso nicht interessierten, aber ich beherrschte mich gerade noch so. Das war doch echt nicht normal, dass mir das so weit vorn auf der Zunge lag und bei jeder Gelegenheit drohte herauszurutschen. Ich war noch nicht soweit. Ich wollte nicht, dass alle Welt es wusste. Allein die Vorstellung des Spießrutenlaufens in jeder Sportstunde reichte aus, um das unfreiwillige Geständnis wieder ganz tief nach unten zu schlucken. Coming Out verschoben auf 2035 oder so. „Ich gehe mal nachsehen, ob sie was gefunden hat“, murmelte ich, um von Leon wegzukommen. Der meinte nur mit einem fetten Grinsen: „Ist klar“ und trollte sich wieder. Natürlich hatte er das falsch verstanden. Na meinetwegen, sollte er. Dann kam er wenigstens nicht auf die Idee, dass ich hinter seinem Hintern her sein könnte. Was ja nicht stimmte. Der interessierte mich nämlich nicht die Bohne. Gut, wenn er damit vor mir rumgewackelt hätte, hätte ich bestimmt mal hingeguckt, aber ansonsten ließ mich Leon ziemlich kalt.   Ich lief zu den Umkleidekabinen und wollte Mia gerade fragen, wie es aussah, als mir auffiel, dass das vielleicht komisch kam. Oder es wäre komisch gekommen, wenn ich hetero wäre. Immerhin konnte Mia nicht wissen, dass mich ihre nackte Erscheinung ungefähr so sehr interessierte wie ein kahlrasierter Dackel. Von daher war es wohl zu auffällig, wenn ich jetzt einfach zu ihr ging, als wäre ich … ja was auch immer. Also blöd, definitiv blöd. Wahrscheinlich war es also besser, wenn ich in einiger Entfernung wartete, bis sie wieder herauskam. Diskret und so. Das war bestimmt die richtige Wahl.   Ich schnappte mir also irgendwelche T-Shirts und fing an, sie der Größe nach zu sortieren, als die Ladenglocke ertönte. Ich sah auf und wurde mit einem höchst unerwarteten Anblick belohnt. Es war Theo, der freudestrahlend auf mich zukam. „Hey, wie ich sehe, ist meine Vertretung schon fleißig. Ist viel los?“ „Es geht.“ Was zur Hölle wollte der hier? Er hatte doch zu Holger gesagt, dass ihm was dazwischen gekommen war. Warum also stand er dann trotzdem hier und grinste mich an?   „Ich hab dir was mitgebracht?“ „Mir?“ „Ja, ich war in der Nähe und dachte mir, ich bring dir noch eins von meinen Shirts vorbei, damit du nicht wieder hauteng durch die Gegend laufen musst.“   Irrte ich mich oder glitt sein Blick bei diesem Satz tiefer? Vielleicht sogar noch etwas tiefer, als notwendig war, um mein Shirt zu betrachten? Weia. Ich kurz davor, Schnappatmung zu kriegen. Theo, was machst du?   „Also … willst du dich umziehen oder bleibst du so?“ „Ähm …“   Ich blinzelte das Shirt an, das er mir entgegenhielt und das ich ihm immer noch nicht abgenommen hatte. Wann war er bitte so nahe gekommen, dass ich nur die Hand ein wenig hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren? Es prickelte an meinem ganzen Körper, als würde er unsichtbare Wellen aussenden, die jedes einzelne Haar auf meinem Körper zum Vibrieren brachten. Eine Gänsehaut lief meine Arme hoch und meine Knie begannen langsam aber sicher sich zu verflüssigen. Wenn er mich weiter so ansah, würde ich gleich zu einer nicht besonders attraktiven Pfütze auf dem Ladenboden werden. „Benedikt?“ Eine weibliche Stimme unterbrach unsere traute Zweisamkeit. Mia. Theodor wich von mir zurück, als hätte er sich verbrannt. Hallo? Was sollte das denn jetzt? Ist ja nicht so, dass ich ihm gesagt hatte, dass er mir so auf die Pelle rücken sollte. Im Gegenteil. Ein gewisser Sicherheitsabstand war durchaus zu begrüßen. Wir wollten doch nicht, dass der arme Leon hier nachher wischen musste. „Mia?“ Theo klang ein bisschen fassungslos.   Sie lächelte vorsichtig. „Ja, ich … äh … will gerade einen Bikini … Benedikt?“   Ich? Warum denn jetzt ich? Ach so ja. Weil ich hier gerade der Verkäufer war. „Hast du dir einen ausgesucht?“, fragte ich in möglichst sachlich professionellem Ton. „Ja, ich nehm den dunkelblauen.“ „Aber dir hat doch der schwarz-weiße so gut gefallen.“ „Ja, ähm … der ist doch zu auffällig.“ Ich lachte. Alles, um mich von Theo abzulenken, war mir recht. „Stimmt, was Auffälliges brauchst du sicherlich nicht. Du fällst auch so genug auf.“   Oh kacke, was redete ich denn da? Ich hörte mich ja echt an, als würde ich mit ihr flirten. Jetzt wurde Mia ein bisschen rot und Theo guckte unbehaglich. Wer bitteschön hatte denn das Drehbuch für diese behämmerte Szene geschrieben? Mein Text war ja zum Heulen. Und wo war eigentlich der Kerl, der „Cut!“ in so was reinbrüllte, sodass man einfach zurück auf Anfang gehen und nochmal von vorne anfangen konnte. Den hätte ich jetzt wirklich gerade gerne hier gehabt.   Das Ganze wurde von Minute zu Minute bizarrer. Mia guckte in die eine Richtung, Theo in die andere und ich stand wie ein räudiger, einäugiger Teddybär zwischen Barbie und Ken und … oh. OH!   Plötzlich fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren. Die beiden standen aufeinander. Also zumindest Theo auf Mia, wenn ich das richtig deutete. Immerhin hatten wir es hier mit Mister Souverän zu tun, der sie alle locker gegen die Wand quatschte. Nur Mia nicht. Die Einzige, bei der es ihm anscheinend wirklich wichtig war, was sie von ihm dachte.   Ich ignorierte den Stich der Eifersucht, den ich bei dieser Erkenntnis spürte, und atmete innerlich tief durch. Nur nichts anmerken lassen.   „Soll ich dir den abziehen?“, fragte ich Mia höflich und sie nickte, als wolle sie sich den Kopf von den Schultern schütteln. „Ja, das wäre superlieb, wenn du das machen könntest, weil …“   Schon klar, Schätzchen, brich dir keinen ab. Cinderella ist dem Prinzen gerade in Sack und Asche begegnet und jetzt erhofft sie sich Hilfe von der guten Fee, die alles wieder ins Reine bringt. Ich hab die Story schon immer doof gefunden. Zumal gläserne Schuhe bestimmt voll unbequem waren. „Na klar, mache ich. Du brauchst mich ja jetzt nicht mehr, oder Theo?“   Die Formulierung troff geradezu vor Gift. Zumindest in meiner Vorstellung. Meinem Ton war zum Glück nichts anzumerken.   Theo zuckte zusammen und warf mir einen undefinierbaren Blick zu.   „Nein, ich … muss dann auch wieder.“ „Alles klar, dann mal schönes Wochenende. Das T-Shirt kannst du übrigens wieder mitnehmen. Ich behalte das hier an.“ „Äh ja, okay. Bis Montag dann.“   Ich bemühte mich, ihm bei seiner Flucht nicht nachzusehen. Ich lächelte und kassierte Mias neuen Bikini ab und stellte mir vor, wie sie Theo damit in irgendeinem Pool an der Côte d'Azur bezirzte. Barbie und Ken. Das perfekte Traumpaar. Es war zum Kotzen. Aber ich lächelte weiter und winkte Mia, als sie den Laden verließ, denn das war es schließlich, was lustige Nebenfiguren so machten. Lächeln und winken. Einfach stur lächeln und winken. Kapitel 28: Von hartnäckigen Heteros und veränderten Voraussetzungen -------------------------------------------------------------------- Wisst ihr, was der häufigste Tipp ist, den das Internet ausspuckt, wenn man sich als Schwuler in einen Hetero verliebt hat? Nein? Ich verrate es euch. HALTE DICH VON IHM FERN! Lösch seine Nummer, verbrenn seine Fotos und zieh um nach Weitweitweg. Am besten alles gleichzeitig.   Nun hatte ich zwar weder Theos Nummer, noch hatte ich es je gewagt, ein Foto von ihm zu schießen, und da mir das mit dem Umziehen dann doch ein bisschen übertrieben erschien, hätte das mit dem Fernhalten ja theoretisch gesehen kein Problem darstellen sollen. Nur leider gab es dabei eben doch ein Problem und das hieß Theo. Theo, der anscheinend wild entschlossen war, sich so überhaupt und gar nicht von mir fernzuhalten, sondern mir im Gegenteil jetzt erst recht nahekommen wollte. Und er war wirklich, wirklich hartnäckig.   Zuerst versuchte er, mich morgens vor der Schule abzufangen. Ich sah ihn schon von weitem am Eingang des Fahrradkellers stehen und nach mir Ausschau halten. Zumindest nahm ich an, dass er das tat. Zu meinem Glück hatte unser Fahrradkeller jedoch zwei Eingänge und ich war gewitzt genug, um den zu nehmen, an dem er nicht stand. Tja, Pech gehabt, Junge. Als er dann erst nach dem Läuten zur ersten Stunde vor dem Physiksaal auftauchte, wurde er zum Glück gleich von Jo in Beschlag genommen und da er sich nicht traute, sich einfach neben mich zu setzen, hatte ich volle 45 Minuten Ruhe, während er irgendwo von hinten Löcher in meinen Rücken starrte. Und nein, ich würde den Zettel, den er mir noch schnell zugesteckt hatte, nicht lesen. Was sollte denn da schon großartig draufstehen? „Willst du mit mir gehen? Ja/Nein/Vielleicht“ würde es wohl nicht sein. Also lass mich in Ruhe!   Auch in Mathe ignorierte ich die Blicke, die er mir quer durch die Klasse zuwarf und in der großen Pause verkroch ich mich bei Anton in der Bibliothek. Der fragte nicht, sondern musterte mich nur kurz, bevor er seine Brille nach oben schob, sich umwandte und weiter an seiner Datenbank rumprogrammierte. Man hätte denken können, dass dieser Code der reinste Porno war, so wie er sich da immer draufstürzte. Ich war sogar so vorsichtig, dass ich es nicht mal wagte, zur Toilette zu gehen, obwohl wir von denen nun wirklich ein paar in der Schule hatten. Ich hatte nämlich echt Angst, dass Theo mir da auflauern und mich in eine der Kabinen zerren würde. Denn was immer mir auch sagen wollte, ich wollte es nicht hören. Also ich wollte schon, aber ich wollte es nicht wollen, also blieb ich immer auf größtmögliche Entfernung bedacht. So sehr, dass ich doch glatt Herrn Vogel bat, mich doch noch mal eben schnell auf die Toilette zu entschuldigen, bevor die Deutschtstunde anfing. So würde ich für den Rest des Tages bestimmt ohne aushalten und kein weiteres Risiko eingehen müssen.   „Aber es war doch gerade Pause“, meinte mein Lehrer kopfschüttelnd.   „Hab’s vergessen“, murmelte ich und scherte mich nicht die Bohne darum, dass Oliver ein gemurmeltes „Bettnässer“ als Husten tarnte und zwar so laut, dass es alle in der Klasse mitkriegten. Und natürlich lachten einige, weil man bei so was eben lacht. Isso.   „Ich müsste auch nochmal weg“, sagte da auf einmal Theo und fing sich dafür einen sehr irritierten Blick von Jo ein. Daraufhin grinste er und ergänzte: „Mein Buch liegt noch im Schließfach.“ „Dann guckst du bei Johannes mit rein und du, Benedikt, beeilst dich bitte ein bisschen. Hier ist der Schlüssel für die Lehrertoilette hier auf dem Gang. Aber hinterher wieder abschließen.“ „Ich … äh … danke.“   Herr Vogel nickte nur und war damit einem Reiher ähnlicher denn je, während Theo sich wohl oder übel geschlagen geben und mit den anderen ins Klassenzimmer gehen musste. Als ich wieder kam, saßen schon alle mit den Köpfen über ihren Büchern. „Nun, wer kann mir denn sagen, wie es um die Beziehung zwischen Hans und Emma bestellt ist?“   Ich schnaubte innerlich. Die Alte hatte ich ziemlich gefressen, wenn ich ehrlich war. Erst hatte sie Hans in sich verliebt gemacht und dann war sie einfach abgereist, ohne ihm ein Wort zu sagen. Ach, das kommt euch bekannt vor? Mir auch. Ich sagte ja, dass es kein besonders gutes Buch war. „Theodor?“   Theo schreckte aus seinen unterrichtsfremden Gedanken hoch, bei denen Herr Vogel ihn offenbar zielsicher erwischt hatte. Tja, wer so auf dem Präsentierteller saß, musste die Kunst beherrschen, mit interessierter Miene zu schlafen. Dummer Anfängerfehler, Herr von Hohenstein.   Theo räusperte sich. „Äh, also … Hans hat sich in Emma verliebt, ist aber von der Situation überfordert. Er weiß nicht, was er machen soll, als sie ihn küsst und später versucht, ihn zu verführen.“   „Schlappschwanz“, ließ sich Oliver vernehmen und erntete schon wieder einige Lacher dafür. Unter anderem von Jo. Ich hingegen konnte nicht darüber lachen. Zum einen, weil die Bemerkung von Oliver kam, und zum anderen, weil ich Theos Gesichtsausdruck gesehen hatte. Er hatte ausgesehen wie ich, wenn ich die nächste Frage nach Emmas Weggang und dessen Folgen hätte beantworten müssen. So als wüsste er, wovon er sprach.   Kennt ihr Katzenvideos? Seid ehrlich. Ihr habt schon mal eins geguckt, oder? Da gibt es ja zig verschiedene. Zum Beispiel das von der Katze, die den Alligator verscheucht. Oder diese fette Katze, die sich immer in irgendwelche Kisten quetscht. Es gibt Katzen, die gegen Fensterscheiben springen oder von Tischen fallen, welche die miteinander reden, sich vor Gurken erschrecken und ungefähr 12.735 Videos, auf denen sie einfach nur schlafen. Aber wisst ihr, welche wirklich so total und überhaupt gar nicht gehen? Die mit Katzenbabys. Natürlich gibt es da draußen Menschen, die kleine, flauschige Katzenbabys nicht niedlich finden. Weil sie allergisch sind oder lieber Hunde mögen oder eben einfach generell keine Katzen leiden können. Soll’s ja geben. Aber alle anderen können diesen kleinen Fellbündel nicht widerstehen und ich verrate euch jetzt mal ein kleines Geheimnis: Zu denen gehörte ich auch. Theo wiederum sah genauso aus wie ein knuddeliges Katzenbaby, das gerade jemand quer durch die Turnhalle gekickt hatte. Und damit hatte er mich.     Als wir uns zum Sport umzogen, machte ich extra langsam und ahnte, dass Theo es mir gleichtat. Spätestens als Jo herumnörgelte, weil er immer noch nicht fertig war, war ich mir dessen sicher. „Ich krieg den Schnürsenkel nicht auf. Geh schon mal vor, ich komm gleich“, meinte Theo nur und ich zweifelte echt kurz an Jos Intelligenz, dass er darauf wirklich hereinfiel. Aber er tat es und kurz darauf waren Theo und ich allein in der Umkleide. Ich atmete noch einmal tief durch und ergab mich dann dem Unvermeidlichen. Kätzchen-Theo, der sich mir in den Weg stellte. „Ich … wollte mal mit dir reden. Wegen Samstag.“ „Ich höre?“   Nur weil ich ihn scharf fand, hieß das ja noch lange nicht, dass ich es ihm einfach machen musste.   „Ich … also … wegen Mia … äh …“ Meine Güte, das war ja nicht zum Aushalten. Der war ja schlimmer als ich. Ich kam ein Stück näher und legte den Kopf schief. „Du stehst auf sie, oder?“ Das anschließende Nicken hätte er sich sparen können, denn er sah so ertappt aus, als hätte ich ihn mit der Hand in der Keksdose erwischt. Mit einem tiefen Seufzen ließ er sich auf eine der Bänke sinken. Auf den ersten Blick schien seine Reaktion keinen Sinn zu machen, aber wozu hatte ich jetzt Bollywood-Erfahrung? Ich hatte mir schließlich nicht umsonst den halben Sonntag über die Sache den Kopf zerbrochen und war zum einzig logischen Schluss gekommen. „Und jetzt hast du Schiss, dass Jo meinetwegen davon Wind bekommt.“ Wieder nickte er und sah mich von unten herauf an, während ich vor ihm stand und nur mit dem Kopf schütteln konnte. Da ich mir so ziemlich dumm vorkam, setzte ich mich neben ihn auf die Bank und zwar so dicht, dass sich unsere Körper mehr als streiften. Wenn schon, denn schon. Er hatte dieses Treffen gewollt, das hatte er nun davon. Und vielleicht half bei mir ja auch Aversionstherapie. Wenn ich ihn berührte und dabei mit ihm darüber sprach, dass er auf Mädchen stand, müsste das doch helfen, mich zu entlieben, oder nicht? „Und warum sollte ich das tun?“, fragte ich nun wieder gedanklich bei seinem Problem.   Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Um Jo eins reinzuwürgen? Oder mir?“ Am liebsten hätte ich ihn genommen und geschüttelt. Meine Güte, ich mag dich, du Vollpfosten. Mehr als gut für mich ist. Am liebsten würde ich … ach lassen wir das. Es half ja eh nichts. Er stand nun mal auf Mädchen. Auf Mia, um genau zu sein. Was ihm irgendwie nicht zu verdenken war, denn Mia sah wirklich gut aus. So ganz objektiv. Nicht attraktiv für mich, aber halt echt hübsch und sie war nett. Immer freundlich. Sportlich. Und schlau. Es gab also keinen Grund, sich nicht in sie zu verlieben, auch wenn ich wirklich gerne der Grund dafür gewesen wäre. Zumindest für Theo.   „Ich sag’s keinem. Bin doch nicht Oliver.“ „Danke.“ Er klang echt erleichtert.   Ich spürte, wie er den Kopf bewegte. Mich ansah. Er saß so dicht neben mir, dass, wenn ich mich jetzt auch umwandte, ich ihm direkt in die Augen geschaut hätte. Und für einen winzigen Augenblick war ich in Versuchung, es wirklich zu tun. Mich einfach umzudrehen, ihn anzusehen und zu küssen. So nahe waren wir uns noch nie gewesen und ich … okay, damit war es wohl ziemlich amtlich. Ich war noch nicht über ihn hinweg. „Komm, lass uns gehen. Die suchen sonst noch nach uns.“   Theo stand auf und hielt mir die Hand hin. Ich hätte sie ergreifen können. Sie nehmen, ihn an mich ziehen und ihm zeigen, was ich für ihn empfand. Durch den Überraschungsmoment wäre mir das bestimmt gelungen. Aber was sollte das bringen, außer einem scharfen Schnitt durch das gerade erst so zart geflochtene Band unserer Freundschaft? (Sorry für die Ausdrucksweise, aber wenn ich vorher Deutsch hatte … Ihr wisst ja. Bin halt ein Sprachchamäleon.) Also stand ich auf, ohne seine Hand zu nehmen. Stattdessen gab ich ihm einen kumpelhaften Stüber gegen die Schulter. „Mach dir mal nicht ins Hemd. Ich halte dicht. Aber frag mich bitte nicht nach Tipps, wie du sie rumkriegst. Da kann ich dir nämlich wirklich nicht weiterhelfen.“ Theo sah mich für einen Augenblick sehr, sehr komisch an, bevor er sich umdrehte und mit mir zusammen den Gang entlang zum Sportunterricht ging. Puh, Glück gehabt. Das Ganze war ohne Schläge und ohne Küsse abgegangen und jetzt waren wir …. enger befreundet als je zuvor. Ach man, Benedikt. Das hast du ja mal wieder ganz großartig hinbekommen.     Jetzt hätte es der Katastrophen für einen Tag ja genug sein können, aber nein. In der nächsten Stunde stand schließlich Französisch auf dem Stundenplan und das bedeutete, dass ich nun mit der anderen Hälfte von Tristan und Isolde konfrontiert wurde. Ihr wisst? Das Liebespaar, das sich nicht haben durfte, weil sie eigentlich dem König versprochen war, dem er als Ritter die Treue geschworen hatte. Und bevor ihr euch wundert, das war letztens mal Thema bei „Wer wird Millionär“.   Mia-Marie und ich packten gerade unsere Sachen aus, als „nur Mia“ in den Raum geschwebt kam. Als sie sich setzte, sah sie zu mir rüber und lächelte. „Hallo Benedikt.“ „Hi Mia.“   Damit war das Gespräch beendet und ich wollte schon aufatmen, als Mia-Marie mich scheel von der Seite ansah. Ich versuchte, ihren Blick zu ignorieren, aber es ging nicht. Schließlich gab ich auf. „Was?“, zischte ich zu ihr rüber. „Seit wann begrüßt dich Mia denn persönlich?“ „Seit ich ihr Samstag einen Bikini verkauft habe.“ „Oh là là. Gleich einen Bikini.“   Ich verdrehte die Augen. „Da kann ich doch nichts dafür. Sie hat halt einen gesucht und ich arbeite seit letzter Woche bei Friedrichsen. Es hätte genauso gut Leon treffen können. Reiner Zufall.“   Mia grinste. „Kein Grund, gleich in Verteidigungshaltung zu gehen. Selbst wenn, hast du doch eh eine Freundin.“ „Eben. Außerdem steht Mia nicht auf mich.“ „Auf wen denn dann?“ „Verrate ich dir nicht.“ „Aber du weißt es.“   Oh Mist. Ohmistohmistohmist.   Ich sah zu Mia-Marie rüber, die mich triumphierend angrinste. Scheiße, wie hatte sie das hingekriegt? Es war noch nicht mal eine Stunde her, dass ich Theo geschworen hatte, sein Geheimnis für mich zu behalten, und jetzt plauderte ich es bei der erstbesten Gelegenheit gleich aus? Das hatte ja prima geklappt. Und jetzt kam auch noch Frau Bertram rein, sodass mir keine Zeit mehr blieb, das Ganze überzeugend zu leugnen. Also beschränkte ich mich darauf, Mia-Marie mit einem Kopfschütteln abzuspeisen, das sie mit einem belustigten Schnauben quittierte.   „Du bist ein echt schlechter Lügner.“ Danach war das Thema erst mal vom Tisch und wir schickten wieder das Geschichtsbuch auf reisen. Trotzdem blieb die Angst, dass Mia-Marie irgendwelche Gerüchte in die Welt setzen würde, weswegen ich sie nach der Stunde beiseitenahm.   „Hör mal, wegen dem vorhin … Wäre schön, wenn du das niemandem erzählst. Die Sache ist ein bisschen … kompliziert. Es gibt jemanden, der in Mia verliebt ist, aber derjenige will nicht, dass sie es weiß, und deswegen … na ja.“ „Ist es Anton?“ „Was?“ „Anton.“ „Äh, nein.“   Doch nicht Anton. Wie kam sie denn darauf? Ich war mir nicht mal sicher, ob Anton überhaupt auf irgendwas stand, was keinen Bildschirm hatte. Hoffnungsloser Fall von Computerliebe sozusagen. „Aber Mia steht auch auf ihn?“   Gute Frage. Wusste ich ja eigentlich gar nicht. Woher auch. Ich konnte sie ja schlecht zu einem vertraulichen Pläuschchen in der Umkleidekabine auffordern. Womöglich noch mit Prosecco. Ahahahaha. Nicht lustig.   So langsam wurde das Ganze echt unangenehm. Warum musste Mia-Marie auch so neugierig sein? Ich atmete tief durch und sah sie geradeheraus an. „Ich habe demjenigen versprochen, dass ich nichts erzähle und daran würde ich mich gerne halten. Also hör bitte auf, mich danach zu fragen, ja? Und … spionier auch nicht herum, okay? Das Ganze ist demjenigen echt unangenehm.“   Zuerst hatte Mia-Marie noch ausgesehen, als wolle sie protestieren so von wegen, dass sie doch keine Klatschbase war oder was auch immer, doch dann nickte sie nur. „Okay. Ich bin zwar urneugierig, um wen es geht, aber ich würde das schließlich auch nicht wollen, wenn ich heimlich in jemanden verliebt wäre. Wer auch immer es ist, kann sich glücklich schätzen, dass er dich zum Freund hat.“   Sie lächelte mir zu und machte sich dann auf den Weg in den Musikraum. Ich folgte ihr und wir holten uns gemeinsam einen Rüffel ab, weil wir zu spät waren, aber das machte nichts. Das hier war wichtiger als der Unterschied zwischen Blues und Jazz.     Nach diesem ganzen Spießrutenlaufen war ich nur noch froh, endlich nach Hause zu kommen. Ich machte mir einen faulen Nachmittag bis kurz vor sechs. Dann breitete ich schnell meine Hausaufgaben auf dem Schreibtisch aus und machte einen auf fleißiger Sohn, als ich meine Mutter an der Tür hörte. Kurz darauf klopfte sie an meiner Zimmertür und trat, nachdem ich sie hereingebeten hatte, ein.   „Hey Schatz, du bist ja schon wieder beim Lernen.“ „Ja, hab einen Erdkundetest morgen.“   Sie nickte und blieb neben dem Tisch stehen. Ihr Blick glitt über meine Schulsachen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass sie wirklich sah, was ich dort liegen hatte. Als sie sich schließlich räusperte, sackte mir mein Herz in die Hose. Oh Fuck. Jetzt kam irgendwas Unangenehmes. Verdammt. Hatte sie etwa doch was gemerkt? Wegen meiner Verabredung mit Julius? Würde sie mich jetzt fragen, ob ich schwul war? Und was würde ich antworten? Ja. Ich würde ja sagen. Einfach so. Das war doch okay. Musste mir nicht peinlich sein. Sie würde cool bleiben.   „Also, Benedikt, ich … ich muss da mal was mit dir besprechen.“   „Ach ja?“ Wieso kiekste meine Stimme denn so? Der Stimmbruch war schließlich schon ne Weile her.   „Ja, ich … also ich wollte mir doch ein Tablet kaufen. Erinnerst du dich? Und, na ja … Ich war letztens in einem Geschäft, um mich beraten zu lassen. Der Verkäufer war wirklich sehr freundlich und hatte deiner alten Mutter alles ganz genau erklärt …“   „Aber Mama, du bist doch nicht alt“, warf ich ganz charmant ein. So was musste man als netter Mensch und Sohn, der ab und an Extra-Taschengeld wollte, einfach manchmal tun.   Sie lächelte. „Danke, Schatz. Zumal das genau der Punkt ist, auf den ich hinauswollte. Also weißt du, es ist so. Ich … ich habe morgen eine Verabredung. Mit dem Verkäufer.“   Sie schwieg und sah mich an, während in meinem Gehirn gerade irgendwas ausgehakt war. Anscheinend war für „Meine Mutter hat tatsächlich ein Date und zwar nicht mit Ekel-Möller, der sowieso nicht zur Verfügung steht, sondern mit irgendeinem anderen Kerl“ kein Speicherplatz vorgesehen. Mein Körper griff daher auf das bewährte Rezept zurück: Lächeln und winken.   „Das ist ja … toll“, brachte ich hervor. „Wo wollt ihr denn hin?“   „Er hat gesagt, dass in der 'Teufels Küche' morgen Live-Musik gespielt wird. Wir wollen dort etwas essen und danach vielleicht noch zum Tanzen. Am Mittwoch ist ja der erste Mai, wie du weißt. Es könnte also etwas später werden. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.“   „Klar, kein Ding“, krächzte ich, während mein gestopptes Hirn bereits wieder in hektische Betriebsamkeit ausgebrochen war.   Meine Mutter hatte ein Date. Ein echtes Date. So mit Flirten und Küssen und … nein, das würde ich mir jetzt nicht vorstellen. So weit waren die sicherlich noch nicht. Aber was noch viel schlimmer war: Sie würde sich dort mit ihrem potentiellen Lover treffen, wo ich mit Julius auftauchen würde. Um mich mit einem Haufen Homosexueller an einen Tisch zu setzen. Das würde auf keinen Fall stattfinden. Nicht in diesem Leben.   Sie sah ein wenig unglücklich aus. „Wahrscheinlich mache ich gerade alles falsch, wenn ich dir jetzt schon davon erzähle, aber ich wollte dich einfach nicht anlügen und sagen, dass ich mit Kollegen weggehe oder so. Du bist schließlich keine drei mehr. Und deine Mutter ist eben … halt noch nicht so ganz alt. Ich weiß nicht, ob ich den Rest meines Lebens allein verbringen möchte, nur weil ich Kinder habe. Kinder, von denen eines bald heiratet und selbst eine Familie gründet.“ „Nein, natürlich nicht.“   Ich schwankte zwischen Panik und Erleichterung und brach sicherheitshalber mal ein wenig in Schweiß aus. Einerseits war ich noch nicht unfreiwillig geoutet. Das war schon mal nicht schlecht. Andererseits wollte meine Mutter mir anscheinend gerade klar machen, dass ich in nächster Zukunft vielleicht nicht das einzige männliche Wesen am Frühstückstisch sein würde. Das war eigenartig. Und nicht zuletzt hatte ich gerade das ganz konkrete Problem, dass ich meine Verabredung für morgen wohl absagen musste. Was mir so gar nicht passte, denn ich hatte vorgehabt, mich bei Julius mal so richtig über diesen ganzen Liebesschlamassel in der Schule auszuheulen. Außerdem hatte ich mich gefreut, was mit ihm zu unternehmen. Und jetzt sollte ich ihm absagen, weil meine Mutter ihr blödes Date ausgerechnet ins gleiche Lokal verlegte? Das war einfach nicht fair.   „Ich … wollte morgen übrigens auch ausgehen. Wäre das okay?“ Sofort hellte sich die Miene meiner Mutter auf. „Aber natürlich Schatz. Wo willst du denn hin?“ „Weiß ich noch nicht. Disse vielleicht.“ „Mit Anton?“   Ich lachte ein bisschen nervös. „Ach Mama, du weißt doch. Anton ist gegen so ziemlich alles allergisch, was Spaß macht. Nein, ich wollte mit Julius gehen. Der hat auch ein Auto und bringt mich dann bestimmt danach nach Hause.“   „Verstehe. Na dann wünsche ich euch beiden viel Spaß. Aber keinen Unsinn anstellen, ja?“ „Natürlich nicht, Mama. Würde mir nie einfallen.“   Ich ahnte ja nicht, wie Unrecht ich mit diesem Satz haben würde. Kapitel 29: Von wechselnder Garderobe und spontanen Bestellungen ---------------------------------------------------------------- „Und es macht dir wirklich nichts aus?“   Ich ging mit Julius zusammen die Straße zu seinem Zuhause entlang. Wir hatten gerade eine Gruppe von Leuten passiert, die offenbar zum Rathausplatz wollten. Auf dem Weg hatten wir gesehen, dass dort Tische und Bänke sowie eine kleine Bühne aufgebaut worden waren, auf der wohl irgendeine Schlagergröße ihres Sangeskunst zum Besten geben würde.   „Wie oft denn noch?“, fragte Julius lachend. „Ich mache heute Abend lieber was mit dir, als zum Stammtisch zu gehen. Ganz ehrlich.“   „Aber …“ Ich kam mir immer noch schlecht vor. „Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich was gegen die Leute hätte. Wirklich nicht. Wäre ja auch albern, weil … na ja. Ich gehöre ja schließlich dazu und das ist auch vollkommen in Ordnung. Aber wenn meine Mutter …“   Julius ließ mich nicht ausreden. „Es ist kein Problem. Wirklich nicht. Ich verstehe das. Zumal das erste Date deiner Mutter sicherlich nicht gerade der beste Ort für ein Outing wäre. Von mir wirst du diesbezüglich keinerlei Vorwürfe hören. Jeder in seinem Tempo.“   Ich atmete tief durch. „Okay. Aber dafür hast du was gut bei mir.“   Er lachte. „Wofür? Dafür, dass ich den Abend in netter Gesellschaft verbringe?“   Er zwinkerte mir zu und ich grinste zurück. Na gut. Ich würde aufhören, mich zu entschuldigen. Immerhin hatte Julius wirklich schnell eingewilligt, als ich ihm von dem Dilemma mit meiner Mutter erzählt hatte. Er hatte gemeint, die Runde träfe sich schließlich jeden Monat und er würde den anderen einfach Bescheid sagen, dass er heute nicht käme.   „Ich will mir nur schnell was anderes anziehen, dann können wir los.“   Ich fand zwar nicht, dass das notwendig war – das schwarze Shirt und die enge Jeans standen ihm ausnehmend gut und es war ja nicht so, dass er damit wie ein Kellner aussah – aber Julius hatte gemeint, dass er sich damit wie bei der Arbeit vorkam. Ich hatte mich heute tatsächlich auch ein wenig zurecht gemacht und beim Sport sogar geduscht und mir frische Sachen angezogen. Eine helle Jeans, ein bedrucktes dunkelblaues T-Shirt und ein dazu passendes kurzärmliges Hemd, das ich offen darüber trug. Das hatten wir mal für irgendeinen Geburtstag gekauft und seit dem lag es mehr oder weniger im Schrank. Meine Mutter war immer der Meinung, damit sähe ich „angezogen“ aus, was immer das auch hieß. Julius hingegen hatte nicht gezögert mir zu versichern, dass ich heute Abend „heiß“ aussähe und er mich unbedingt ausführen müsse. Der Plan bestand daher aus Essen gehen (sicherheitshalber in einer anderen Stadt, um auch ja keiner unserer Mütter zu begegnen) und dem anschließenden Besuch einer recht beliebten Großraumdisco, die zwischen hier und dem Ort unseres Restaurantbesuchs auf halber Strecke mitten in der Wallapampa lag.   „Es sollte nicht lange dauern. Willst du hier warten?“ „Klar.“   Ich stand also in dem engen Flur mit dem hässlichen Bild herum, während Julius nach oben verschwand, als ich plötzlich etwas klappen hörte. In der Küche erklangen Schritte und im nächsten Moment stand eine Frau in der Türöffnung. Sie sah mich erstaunt an.   „Oh, hallo! Wer bist du denn?“ „H-hallo. Ich, äh … bin Benedikt.“   Das Gesicht der Frau, bei der es sich vermutlich um Julius’ Mutter handelte, hellte sich schlagartig auf.   „Ach, du bist Benedikt. Freut mich, dich mal kennenzulernen. Ich bin Ilona.“   Sie reichte mir ihre zugegebenermaßen recht massive Hand und ich schüttelte sie. Dabei wurde meine Aufmerksamkeit nahezu sofort von ihrer mit großen Blumen bedruckten Bluse angezogen. Es waren ziemlich viele Blumen, was sicherlich daran lag, dass auch ziemlich viel Frau darin steckte. Also um es kurz zu machen: Julius’ Mutter war nicht ganz schlank und ihr Kleidungsgeschmack ungefähr genauso erlesen wie ihre Wohnungseinrichtung. Aber sie hatte die gleichen, lustig funkelnden Augen wie Julius und obendrein knallrot gefärbte Haare, die sich wunderbar mit der ebenfalls roten Plastikperlenkette bissen, die sie sich um den Hals gehängt hatte.   „Ich dachte, ihr wolltet heute Abend zum Stammtisch gehen“, sagte sie in einer Weise, die das Ganze wie eine Frage klingen ließ.   Ich schluckte kurz. Hieß das, dass sie wusste, dass ich … Was hatte Julius erzählt??   „Na ja, wir … haben uns umentschieden.“   Erneut kam mir der Gedanke, dass es vielleicht fairer gewesen wäre, Julius schon gestern über mein Problem zu informieren, aber ich hatte ihm das irgendwie lieber persönlich sagen wollen, damit es nicht so nach Ausrede klang. Durch die Planänderung standen wir jetzt hier, weil er gemeint hatte, dass er ganz bestimmt nicht mit den Sachen, die er für den Stammtisch mitgehabt hatte, in eine Disko gehen würde. Im Grunde genommen war es also meine eigene Schuld, dass ich jetzt hier stand und nicht wusste, was ich sagen sollte.   „Ach so“, meinte sie jedoch leichthin. „Ich bin heute Abend nämlich auch verabredet, aber wenn ihr noch was essen wollt, könnte ich euch noch was machen, bevor ich losmuss.“ „Nein, danke, wir wollten Essen gehen. Julius zieht sich nur eben schnell um.“   Ilona lachte laut auf. „Oh, dann solltest du lieber mal nachsehen gehen. Julius und 'schnell umziehen' ist ein Phänomen, das in diesem Haushalt noch nicht vorgekommen ist.“   Sie schmunzelte, während ich noch kurz zögerte, bevor ich meine Turnschuhe von den Füßen streifte und ebenfalls die steile Treppe nach oben erklomm. Am Ende der knarrenden Stiege erwartete mich ein winziger Treppenabsatz und drei Türen. Eine davon war nur angelehnt und ich hörte Geräusche von drinnen. Als ich sie aufschob, stand Julius mit nacktem Oberkörper vor mir und sah mich erschrocken an.   „Oh, was ist los? Hab ich zu lange gebraucht?“ „Nein, aber deine Mutter hat gemeint, ich solle mit hochgehen.“ „Meine Mutter? Ist die noch da?“ „Ja, sie war unten und …“   Julius machte ein zerknirschtes Gesicht. „Das tut mir leid. Ich dachte, sie wäre schon weg, sonst hätte ich dich natürlich vorgestellt.“   „Ach, kein Ding. Wir haben das schon selbst geschafft.“ „Na gut, ich beeile mich, ja?“ „Nur kein Stress.“   Während Julius sich wieder der Wahl eines geeigneten Oberteils zuwandte, sah ich mich in seinem Zimmer um. Es war klein, geradezu winzig mit einer Dachschräge, die Antons noch um Längen schlug. Aber wo Antons Zimmer trotz der Enge nüchtern gewirkt hatte, war Julius’ Reich … verspielt. Anders konnte man das irgendwie nicht nennen. Er hatte an der Wand ohne Schräge ein Bett stehen, daneben einen schmalen Schreibtisch unter dem kleinen Fenster und die Wand mit der Schräge wurde von einem halbhohen Metallregal beherrscht, an dem Bambusrollos hingen. Diese waren jetzt hochgezogen und gaben den Blick auf eine Flut von Klamotten frei.   „Mein, äh … Kleiderschrank“, erklärte Julius, als er mein Erstaunen bemerkte. „Es war kein Platz für einen richtigen Schrank, deswegen habe ich mir das da ausgedacht. Wenn die Rollos unten sind, ist es nicht ganz so unaufgeräumt.“   Er grinste und ich musste ebenfalls lachen, denn von ordentlich konnte vermutlich selbst dann nicht die Rede sein. Das lag unter anderem daran, das Julius unheimlich viel Kram besaß. Oder um es anders zu sagen: Julius hatte Deko. Da gab es hier mal einen Kerzenleuchter, dort eine Porzellanfigur, eine Ecke, in der verschiedene Flakons standen, die wohl das eine oder andere Parfum enthielten, eine Schale mit etwas Schmuck, zwei durchaus als üppig zu bezeichnende Zimmerpflanzen und auf dem vollgestopften Bücherregal stand sogar eine Schneekugel. Die Wand war verziert mit Fotos in verschiedenfarbigen Rahmen, daneben hingen einige bunte Tücher, die ich spontan nach Indien eingeordnet hätte, und auf dem Bett lagen ebenso farbenfrohe Kissen und eine lichtblaue Tagesdecke. Eine kleine Stereoanlage belagerte ein Tischchen, unter dem ein nahezu leeres CD-Regal stand. Der Inhalt lag zu verschieden hohen Stapeln aufgetürmt auf dem Fußboden.   „Ich bin leider ein bisschen unordentlich“, entschuldigte er sich auch gleich und begann doch tatsächlich aufzuräumen. Ich stoppte ihn lachend.   „Julius, ich will hier nicht übernachten. Also keine Panik und zieh dir endlich was an.“   Er sah an sich herab. „Oh, ja, sorry, das … äh.“   Abrupt wandte er sich ab und dem Kleiderregal zu. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und überlegte anscheinend angestrengt. Bei der Menge an Möglichkeiten überraschte mich das nicht.   „Ich hab zu dieser Hose einfach nichts Gescheites“, verkündete er, nachdem die Inspektion schon einige Minuten dauerte.   „Dann zieh halt ne andere an“, schlug ich vor und lehnte mich an den Türrahmen.   Er zögerte. „Ähm, ja … könnte ich machen, aber dann dauert es ja noch länger.“ „Wenn du so bleibst, kommen wir aber auch nicht voran.“ „Aber ich …“ „Jul~ius! Zieh jetzt einfach irgendein T-Shirt an und nimm ne Jacke mit und fertig.“   Er blinzelte mich an, bevor ein Lächeln auf seinem Gesicht erschien. „Das ist eine gute Idee. Ich weiß auch schon, welche.“   Innerhalb kürzester Zeit stand er doch tatsächlich in einem engen, weißen T-Shirt mit einem kleinem V-Ausschnitt und einem Sakko vor mir. Ich hob nur beide Augenbrauen.   „Was?“, fragte er und bediente sich noch kurz an einem der Fläschchen.   „Jetzt komme ich mir schon wieder underdressed vor.“ „Quatsch. Du siehst gut aus. Sehr sogar. Ich werde aufpassen müssen, dass dich nicht irgendwer wegschnappt.“   Ich rollte nur mit den Augen. Als wenn mich irgendjemand ansprechen würde. Nein wirklich nicht.   „Zieh dir wenigstens ne normale Jeans dazu an, sonst siehst du aus, als würdet du einen Anzug tragen." „Du willst doch nur, dass ich mich wieder nackig mache.“ „Oh ja, unbedingt.“   Er grinste und machte doch tatsächlich Anstalten, seine Hose zu öffnen, während er mir glühende Blicke zuwarf.   „Hilfe, meine Augen“, schrie ich, bedeckte besagte Körperteile und flüchtete aus dem Zimmer. Im nächsten Augenblick segelte eines der bunten Kissen an mir vorbei die Treppe runter.   „Alles klar bei euch, Jungs?“, kam es ein wenig besorgt aus der Küche.   „Ja, alles bestens“, rief Julius zurück und stand doch tatsächlich kurz darauf neben mir im Flur, allerdings immer noch in der schwarzen Jeans.   „Die, die ich wollte, ist in der Wäsche “, entschuldigte er sich, bevor wir beide unsere Schuhe anzogen und endlich das Haus verlassen konnten.     Auf dem Weg zum Restaurant unterhielten wir uns über alles Mögliche. Julius erzählte von den Klausuren, die er demnächst schreiben musste und dass ihn Englisch in den Wahnsinn triebe.   „Ich bin zwar kein Überflieger, aber vielleicht kann ich dir ja die Grammatik beibringen“, bot ich an. „Das wäre wirklich super.“   Über seine Klausuren kamen wir zu meiner Schule und natürlich unweigerlich auch irgendwann zum Thema Theo. Nachdem ich die ganze, unrühmliche Geschichte vor ihm ausgebreitet hatte – wobei ich meinen Eindruck, dass Theo sich mir gegenüber ein wenig eigenartig benahm, lieber ausgeklammert hatte, weil das vermutlich eh alles nur meiner Einbildung entsprang – wiegte Julius nachdenklich den Kopf hin und her.   „Das heißt, du bist jetzt Mitwisser bei seiner heimlichen Liebschaft mit diesem Mädchen?“ „Liebschaft würde ich es nun nicht unbedingt nennen. Die beiden sind ja nicht zusammen.“ „Aber er wäre es gern?“ „Sieht so aus. „Und was wirst du tun?“ Ich zuckte mit den Achseln. „Was soll ich denn tun? Er ist in Mia verknallt und ich bin raus. End of story.“ „Sicher?“ „Klar. Was soll denn die Frage?“   Julius antwortete nicht, sondern konzentrierte sich darauf, einen Parkplatz am Straßenrand zu finden. Das Thema Theo war damit vom Tisch und wir betraten kurz darauf ein hübsches, kleines China-Restaurant, von dem Julius gemeint hatte, dass es sich wirklich lohnen würde, den Weg dorthin zu fahren. Tatsächlich war das Essen sehr gut und ich daher etwas erstaunt, als Julius nach dem ersten Teller sein Besteck beiseite legte. Als ich ihn danach fragte, grinste er.   „Na ich will doch nachher noch mit dir tanzen und nicht nur vollgefuttert in irgendeiner Ecke herumliegen.“   Tanzen? Oh weh. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich war, ehrlich gesagt, noch nie tanzen gewesen. Ob ich das hinkriegte?   Meine Verunsicherung war mir offenbar anzusehen, denn Julius lächelte mich beruhigend an.   „Hey, ich habe nicht gemeint, dass du dich in einen der Käfige stellen und ne Show abziehen sollst, sondern nur, dass ich mich gerne mit dir zusammen ein bisschen rhythmisch auf der Tanzfläche bewegen würde.“ Ich grinste. „Rhythmisch bewegen? Du Schelm.“ „Quatschkopf.“ „Du hast doch damit angefangen.“ „Dann kannst du jetzt ja damit weitermachen.“   Julius funkelte mich belustigt an, während wir unser Essen zurückgehen ließen, um die Reste einpacken zu lassen, und die Kellnerin die Rechnung zusammen mit zwei kleinen Gläsern brachte, in denen eine bräunliche Flüssigkeit schwamm. Als ich Julius danach fragte, erklärte er mir, dass das Pflaumenwein sei.   „Schmeckt gar nicht schlecht. Kannst ja mal probieren.“   Ich kostete und musste zugeben, dass das Zeug wirklich gar nicht so übel war. Nachdem ich mein Glas bereits geleert hatte, sah ich, dass das von Julius noch unberührt war.   „Ich fahre doch“, sagte er ernst. „Ist zwar nicht viel drin, aber ich bin da ziemlich straight.“   Wir grinsten uns beide an ob des Insiders und bekamen uns anschließend in die Haare, weil Julius unbedingt die Rechnung bezahlen wollte. Irgendwann gab ich mich geschlagen.   „Na gut, aber dann zahle ich den Eintritt und bekomme deinen Pflaumenwein.“ „Die Regel kannte ich noch gar nicht.“ „Ist ja auch neu. Hab ich gerade erst erfunden.“ Er lachte. „Na schön, du Schwerenöter. Dann komm und lass mich deinen Hüftschwung bewundern.“ „Mit dem größten Vergnügen.“   Ich reichte Julius geziert meine Hand und er nahm sie doch tatsächlich und hauchte einen winzigen Kuss darauf, als wäre ich die Prinzessin auf der Erbse. Ich lachte und verpasste ihm eine mit der anderen Hand, während er mich die ganze Zeit nicht aus den Augen ließ. Das änderte sich auch nicht, während wir zum Auto gingen, wo er sich dann zum Glück endlich wieder auf die Straße konzentrieren musste. Nach einigen Minuten des Schweigens erdreistete ich mich, das Radio aufzudrehen, und als dann ausgerechnet „Born this way“ kam, musste ich wohl oder übel lauter machen. Julius lachte und wir beide sangen ziemlich laut und ziemlich falsch mit genauso wie die folgenden Hits, bis wir endlich bei der Disko ankamen.     Vor der großen Halle, die in bestechend unauffälligem Wellblechdesign daherkam, stand tatsächlich schon eine nicht gerade geringe Anzahl Autos.   „Sind wohl noch mehr Küken unterwegs“, stichelte Julius und erinnerte mich mal wieder daran, dass uns so einige Jahre trennten. Während er bereits in allen Ländern dieser Erde als volljährig galt, war ich nicht mal alt genug, um länger als bis 24 Uhr in der Disko bleiben zu dürfen. Umso erstaunter war ich, als ich an der Kasse ohne Probleme einen vollwertigen Stempel erhielt. Ich hatte gesehen, dass zwei Mädchen vor mir einen mit Leuchtfarbe bekommen hatten, was laut Julius dazu diente, die unter 18-Jährigen bei Kontrollen leichter rauszufiltern.   „Ich sagte ja, dass du älter aussiehst“, meinte er und legte mir die Hände auf die Schultern, nachdem er sein Jackett an der Garderobe abgegeben hatte, um mich nun endlich in Richtung Tanzfläche zu schieben. Und was für eine Tanzfläche! Das Ding hatte Ausmaße eines Basketballfeldes und war vermutlich sogar noch größer, wenn man die ganzen Ebenen drumherum mit dazu nahm, die bereits voller Leute waren. Auf einer Empore thronte der DJ, der das Ganze aus einer luftigen Höhe von bestimmt drei Metern überblickte. Davor war noch eine kleine Bühne aufgebaut, an der rechts und links zwei Metallkäfige angebracht waren.   „Für die Gogos“, rief Julius anhand der bereits herrschenden Lautstärke direkt in mein Ohr.   Es gab weiter hinten noch einen Sitzbereich, dem man über eine Treppe erreichen konnte, und obendrein zwei riesige Bars, von denen die größere offenbar dem gewöhnlichen Feld-Wald-und-Wiesen-Trinker gewidmet war, während die andere direkt an der Tanzfläche gelegene auch Getränke mit Obst und Schirmchen und so was allem anbot. Ziemlich lecker aussehende Getränke.   „Vergiss es“, wehrte Julius ab, als er meinen sehnsüchtigen Blick bemerkte, der an einem gut gefüllten Cocktailglas klebte. „Du bist noch keine 18.“ „Na und?“ „Das heißt, dass du keinen harten Alkohol trinken darfst.“ Ich grinste und hielt meine Hand mit dem Stempel in die Höhe. „Der hier sagt was anderes.“ „Benedikt …“ „Julius!“   Ich machte einen Schmollmund und die besten Hundeaugen, die ich zustande brachte. „Du willst doch mit mir tanzen und ohne trau ich mich nicht. Och bitte, nur einen.“   Er seufzte. „Du bist furchtbar.“ Und mit einem Lachen setzte er hinzu: „Furchtbar niedlich, wenn du so guckst. Da muss man ja schwach werden.“   Ich grinste und in meinem Übermut – ganz ehrlich, die mussten da irgendwas in die Luft gesprüht haben oder es lag an den wummernden Bässen, die so ziemlich alles in meinem Inneren zum Vibrieren brachten – schlang ich meinen Arm um ihn und setzte ihm einen Schmatz direkt auf die Wange. Er guckte erst komisch, dann lächelte er.   „Schleimer. Na los, was willst du?“   Ich grinste zufrieden und studierte die Karte. Die meisten Namen sagten mir nichts, aber als ich ganz unten den „Sex on the beach“ entdeckte, wusste ich, dass es der sein musste. Und wenn es nur war, damit Julius ihn bestellen musste.   „Oh man, wie pubertär“, spottete Julius, nachdem ich ihm das mit einem zuckersüßen Lächeln mitgeteilt hatte. Er orderte das Getränk trotzdem für mich.   „Aber nicht alles auf einmal runterkippen“, ermahnte er mich noch.   „Natürlich nicht“, versicherte ich, musste aber feststellen, dass das leichter gesagt war als getan. Wenn man nicht tanzte und sich eigentlich auch nicht unterhalten konnte, süffelte sich so ein Cocktail irgendwie ziemlich schnell weg. Allerdings war ich tatsächlich mit jedem Schluck mehr geneigt, meine sprichwörtliche Bande loszulassen und mich auf das schlüpfrige Eis der Tanzfläche zu begeben. Da hüpften schon einige Mädels herum, ein paar Typen standen mit den Köpfen wippend an der Seite und eigentlich hätte es mir wohl peinlich sein müssen. Aber der Alkohol und eine gute Portion Diskonebel, der alles mehr oder weniger unkenntlich machte, gaben dann den Ausschlag.   Ich stellte mein mittlerweile leeres Glas ab – man soll ja schließlich keine offenen Getränke irgendwo rumstehen lassen, gibt ja schlimme Leute und so – und stürzte mich ins Getümmel. Julius war direkt neben mir und dann tanzten wir. Wenigstens hoffte ich, dass es so aussah, als wenn ich das tat. Immerhin bemühte ich mich redlich, mich möglichst gleichmäßig in dem Rhythmus zu bewegen, der mit Nachdruck aus den Boxen gepumpt wurde, und dabei keinem meiner Nebenmänner und – frauen auf die Füße zu treten oder ihnen meinen Ellenbogen irgendwohin zu rammen. Natürlich war es auch möglich, dass mein Gehampel eigentlich total Panne aussah, aber ich konnte mich ja schließlich nicht sehen und die meisten der anderen Tänzer achteten vermutlich eh nicht auf mich, also konnte mir das doch eigentlich auch egal sein. Es war sowieso alles gerade so herrlich egal. So wunderbar herrlich egal.   Die Tanzfläche wurde merklich voller, als tatsächlich die Gogo-Show anfing, die zu meiner großen Enttäuschung zwar keinen leichtbekleideten Mann beinhaltete, dafür aber eine Menge lecker Kerle vor den Käfigen versammelte. Julius stieß mich an.   „Willst du noch was trinken?“, brüllte er mir ins Ohr. „Ja, aber ich gehe selbst.“ „Gut, dann bin ich mal eben weg.“   Er deutete mit der Hand irgendwo in Richtung Toiletten und ich nickte nur zum Zeichen, dass ich ihn verstanden hatte. Danach kämpfte ich mich bis zu der kleineren Bar durch, die unserem Standort am nächsten lag. Dort angekommen musste ich erst ein bisschen anstehen, bevor ich endlich einen Platz an der leicht klebrigen Theke ergattern konnte. Während ich wartete, dass eine der Bedienungen mir ihre Aufmerksamkeit schenkte, wanderte mein Blick nochmal zur Cocktailkarte. Einen, hatte Julius gesagt. Schließlich hätte ich eigentlich nicht mal den haben dürfen. Aber meine Zeit hier neigte sich dem Ende entgegen, nur noch eine halbe Stunde bis Mitternacht, dann war der Spaß vorbei. Und musste man das dann nicht noch ausnutzen? So ein bisschen wenigstens? Ja, oder? Völlig logisch, dass man das Beste aus dem herausholen musste, was man hatte.   „Und, was willst du?“, fragte mich plötzlich die blonde Tresenkraft. „Sex?“, blubberte ich. Sie lachte. „Ich hoffe, du meinst den Cocktail. Ansonsten sieht’s schlecht aus. Ich bin vergeben.“ „Ich auch“, log ich und grinste sie an. „Na dann mixe ich dir mal was zurecht.“ „Klasse und noch ne Cola bitte.“   Nur wenige Augenblicke später stand ich mit zwei Gläsern in einer ruhigeren Ecke. Erst dort wurde mir bewusst, dass ich gerade dabei war, einen ganz dummen Fehler zu begehen. Ich hatte mir nicht nur illegal Alkohol besorgt, ich hatte auch noch das Versprechen gebrochen, das ich Julius gegeben hatte. So mehr oder weniger zumindest. Wenn er jetzt sah, dass ich mir noch einen Cocktail geholt hatte, würde er vermutlich ausrasten. Er war doch immer so pingelig. Aber was sollte ich tun? Ich hatte das Ding ja nun mal in einem Anfall geistiger Umnachtung gekauft und es war auch nicht gerade billig gewesen. Daher tat ich das Einzige, was mir einfiel, um diese missliche Lage möglichst elegant aus der Welt zu schaffen. Ich vernichtete das Beweisstück. Auf Ex. Was ziemlich schade war, weil es wirklich gut schmeckte. Vom Alkohol merkte man eigentlich gar nichts. Dachte ich jedenfalls, bis ich Julius auf dem Rückweg fast vor die Füße stolperte.   „Ups“, machte ich und grinste blöde. „Isch hab deine Cola stehn lassen.“ Er sah mich ein bisschen fassungslos an. „Und was hattest du in der Zwischenzeit?“ „Isch? Gar nix!“   Man, mein Mund gab aber auch echt einen Schwachsinn von sich, das war ja nicht zum Aushalten. Ich glaube, ich nuschelte auch ganz schön. Scheiße. So viel zu meinem Plan, Julius nicht merken zu lassen, dass ich noch mehr getrunken hatte. Er sah ganz und gar nicht begeistert aus, bevor er seufzte und mich am Arm packte.   „Dich kann man auch nicht alleine lassen.“   „Allein is ja auch doof“, gab ich kalauernd zum Besten und lehnte mich noch ein wenig mehr zu ihm rüber. „Bissu böse?“ „Ein bisschen.“ „Och, nich böse sein. Komm schon, Julius. Isch hab dich doch so lieb.“   Er lachte und schüttelte den Kopf. „Ich dich auch, aber jetzt ist es echt an der Zeit, dich nach Hause zu bringen.“ „Is aba noch nich swölf.“ „Doch, für dich schon, Prinzesschen. Also Abmarsch.“ „Schpielverderba.“   Meine Aussprache wurde wirklich immer schlimmer, daher beschloss ich, einfach mal die Klappe zu halten und mich auf meine Füße zu konzentrieren. Die brauchten nämlich dringend ein bisschen Hilfe, um in der Spur zu bleiben. Rechts, links, rechts, links. Also entweder vertrug ich echt nichts oder die blonde Schnalle hatte es mit dem Wodka zu gut gemeint. Oder beides. Haha, warum sich entscheiden, wenn man auch beides haben konnte? Voll die gute Idee, die ich Julius sofort mitteilen musste. Der rollte aber irgendwie nur mit den Augen und würdigte meine Genialität nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit. Als ich mich darüber beschwerte, seufzte er schon wieder. Dabei klang er wie Anton. Anton, den ich auch voll lieb hatte, auch wenn er ein bisschen aussah wie ein Erdmännchen mit Brille. Dieser Meinung war Julius anscheinend nicht. Zumindest antwortete er nicht, als ich ihn danach fragte. Stattdessen setzte er mich ins Auto und schnallte mich an. Als wenn ich das nicht selber gekonnt hätte. Das blöde Anschnallding hatte nur einfach nicht stillgehalten, als ich es versucht hatte. Aber jetzt, nachdem ich es müde gejagt hatte, hatte Julius natürlich leichtes Spiel. So wie in diesem Witz mit der Olive. Den Julius entweder schon kannte oder nicht lustig fand. Zumindest lachte er nicht, als ich ihn erzählte, sondern startete nur den Wagen und fuhr los.   Ich lehnte meinen echt wirklich schweren Kopf an die kühle Fensterscheibe und zählte diese schwarz-weißen Dinger, die am Straßenrand stehen. Ihr wisst welche? Die, damit man die Straße auch im Dunkeln findet. Gab echt viele von denen, wenn ich das mal so sagen darf. Drei, vier, fünf, sieben …     Irgendwann musste ich bei der Zählerei wohl eingeschlafen sein. War ja auch kein Wunder. Immerhin hatte ich schon einen ganzen Schultag und mein Training hinter mir, da durfte man ja wohl mal einnicken. Genau dass teilte ich Julius dann auch mit zusammen mit einer Entschuldigung, dass ich ihm den Abend ruiniert hatte. Er seufzte. Schon wieder.   „Hast du nicht. Und jetzt mach dich mal ein bisschen leichter, damit ich dich aus dem Auto bekomme.“   Natürlich ließ ich ihn mich nicht tragen. Also ich wollte, aber er weigerte sich, weil ich angeblich zu schwer war. Also echt mal. Ich bin nicht dick, ich bin nur dick angezogen. Eine Tatsache, die ich zu ändern gedachte, doch wieder hielt Julius mich auf.   „Erst, wenn wir drinnen sind, Hase.“ „Hilfst du mir?“ Schon wieder ein Seufzen. „Natürlich.“   Wir kamen unbeschädigt an unserer Haustür an und das obwohl Julius nicht nur mich sondern auch noch meinen Rucksack und meine Sporttasche zu bugsieren hatte. Er war halt doch stärker, als er aussah. Drinnen war noch alles dunkel, also war meine Mutter wohl noch nicht zu Hause. Ein Glück. Die hätte mir jetzt gerade noch gefehlt.   „Wo ist der Hausschlüssel?“, wollte Julius wissen. „Hosentasche?“ „Welche?“ „Weiß nicht. Musst suchen.“   Ich grinste, als er begann, die vorderen Taschen abzutasten.   „Kalt“, informierte ich ihn und unterdrückte ein höchst unmännliches Kichern. Ich wusste nämlich, dass sich der Schlüssel in keiner der Taschen befand, aber Julius war halt vollkommen ahnungslos. Das war lustig. Vor allem, als er jetzt um mich herumgriff und doch tatsächlich seine Hand in meine hintere Hosentasche steckte. Ich nutzte die Gelegenheit, um meine Arme um seine Taille zu legen und ihn noch ein Stückchen näher zu ziehen. Er wehrte sich nicht.   „Da ist nichts“, sagte er mit leicht belegter Stimme. „Vielleicht in der anderen?“   Er schob seine zweite Hand in die andere Tasche. „Da ist auch nichts.“ „Sicher?“ „Ganz sicher.“ „Komisch. Ich hätte schwören können, dass ich ihn da hingesteckt habe.“   Wieder spürte ich, wie Julius seine Hände in den Taschen bewegte. Dabei kam mir sein Körper noch näher. Ich lehnte mich vor und meine Nase streifte das Stück nackte Haut, das von seinem T-Shirt freigelassen wurde. Mhm, das roch gar nicht schlecht. Ein bisschen nach Diskonebel, aber man konnte auch noch deutlich das Parfum riechen, das er früher am Abend aufgetragen hatte. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Nein, wirklich gar nicht schlecht. Bevor ich wusste, was ich da genau tat, schmiegen sich meine Lippen an die glatte Haut. Ich fühlte, wie er schluckte.   „Was machst du da?“ „Du riechst gut.“   Das tat er tatsächlich. Am ganzen Hals und auch hinter dem Ohr und dass meine Lippen bei dieser Inspektion eine Spur von Küssen hinterließen, war eigentlich auch ganz nett. Ja wirklich. Sehr nett sogar. Es fühlte sich gut an, Julius zu küssen. So gut, dass im nächsten Moment meine Lippen auf seinen lagen. Hingebungsvoll küsste ich ihn und bemerkte dabei so ganz nebenbei etwas ziemlich Erstaunliches. Nämlich das Julius mich zurückküsste. Ganz schön energisch sogar. Mit Zunge und allem. Oh là là, wie Mia-Marie wohl gesagt hätte. Das war … mhm. Mehr! Noch viel mehr! Küss mich. Jetzt! Hör nicht auf. Bitte, hör bloß nicht auf.   „Hör nicht auf!“   Oh Mist. Hatte ich das jetzt echt laut gesagt? Es schien zumindest so, denn Julius unterbrach erschrocken den Kuss. Er holte tief Luft und im nächsten Moment hörte ich ein aus tiefster Seele stammendes „Scheiße!“ von ihm.   Scheiße? Warum denn das jetzt? Er küsste doch ziemlich gut. War ich so schlecht oder warum fluchte er hier herum?   Julius lehnte schwer atmend seine Stirn gegen meine. „Tut mir leid, das wollte ich nicht.“ Was? Mit Küssen aufhören? Ich lachte. „Dann mach doch weiter.“ „Ich … nein, das geht nicht. Du musst ins Bett.“ „Kommst du mit?“, fragte ich so suggestiv, wie es mir in meinem Zustand möglich war.   Für einen Moment pressten Julius’ Hände meinen Unterleib gegen seinen. Ich war mir zwar nicht ganz sicher, wie es ihm ging, aber ich war trotz der beträchtlichen Menge Cocktails, die ich intus hatte, hart. Nach Sex im Glas wollte ich jetzt echten Sex. So richtig. Mit Julius. Julius mit dem süßen Hintern, den er so absolut fantastisch zu „Hips don’t lie“ bewegen konnte. Julius, dessen Finger immer noch auf meinem eigenen Hintern lagen trotz seiner anscheinend vorherrschenden Meinung, dass wir beide das hier nicht tun sollten. Armer Julius. Ich zog ihn an mich.   „Der Schlüssel ist unter der Fußmatte“, wisperte ich in sein Ohr und er nickte, bevor er sich von mir losmachte, um den Schlüssel zu holen und aufzuschließen. Ich fühlte eine Hand in meiner und Julius schob mich nach vorn. Wahrscheinlich damit ich ihm zeigte, wo mein Zimmer war. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich rannte fast durch den Flur, stieß die Zimmertür auf, zog ihn mit mir, und verschloss die Tür im nächsten Moment wieder, indem ich Julius dagegen drückte. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass er so schlüpfrig sein würde. Kaum hatte ich ihn noch einmal geküsst und eine Hand unter sein Shirt geschoben, war er mir auch schon ausgekommen und raufte sich mitten in meinem Zimmer stehend die Haare.   „Ich muss gehen, Benedikt. Das hier … du bist betrunken. Lass uns morgen darüber reden. Bitte.“   Ich wollte aber nicht reden. Ich wollte ihn küssen und ausziehen und nachsehen, was unter dem sexy Outfit noch so alles steckte. Ich wollte seinen Schwanz in die Hand oder am besten gleich in den Mund nehmen und ihm zeigen, dass Sex nichts Schlimmes war. Wollte, dass er meinen Namen stöhnte, wenn er kam. All solche Dinge wollte ich, aber momentan gingen mir echt die rhetorischen Fähigkeiten ab, ihm das mitzuteilen. Also versuchte ich einfach noch einmal, ihn zu küssen, aber er hielt mich zurück. Eine Hand strich zärtlich über meine Wange.   „Morgen. Ich verspreche es.“   Ganz zart streiften seine Lippen noch einmal die meinen, dann war er plötzlich fort. Ich dachte ziemlich angestrengt nach, wie es dazu kommen konnte, als ich die Haustür ins Schloss fallen hörte. Er war also tatsächlich gegangen. Das fühlte sich blöd an und ich … ich ließ mich einfach in mein Bett fallen, strampelte noch meine höchst widerspenstigen Klamotten vom Leib und schlief fast sofort ein, während ich noch Julius’ Hände auf meinem Hintern spürte und seinen Geschmack auf den Lippen hatte. Julius. Was für ein hübscher Name. Ich wünschte wirklich, er wäre nicht gegangen. Kapitel 30: Von sicheren Häfen und offensichtlichen Tatsachen ------------------------------------------------------------- Geht weg!       Nein wirklich, ich mein das ernst. Ich will heute nichts erzählen. Echt nicht. Ich hab Kopfschmerzen und verstecke mich gerade unter der Bettdecke, damit mich die Welt nicht findet. Also tut mir einen Gefallen und Geht. Einfach. Weg.           Boah, seid ihr immer noch da? Kann ja nicht sein. Also schön, ich steh auf. Scheiße, seid ihr hartnäckig. Ist ja eklig. Ebenso eklig wie der Geschmack in meinem Mund, der so furchtbar gut zu dem Hämmern in meinem Kopf passte. Außerdem hatte ich Durst und musste mal auf die Toilette. Vermutlich war es am besten, wenn ich das Ganze gleich mit einer Dusche verband, um den Nebel da oben ein wenig zu lichten und diese komischen Träume auch noch mit wegzuspülen.   In der Nacht war ich nämlich Gast bei so einer abstrusen Talkshow gewesen. Julius’ Mutter hatte dem Ganzen in einer Richterrobe vorgesessen – jetzt wusste ich endlich, an wen sie mich erinnert hatte; Barbara Salesch lässt grüßen – und mich nach Strich und Faden verhört, wie ich eigentlich dazu käme, meine dreckigen Hände an ihren unschuldigen, kleinen Julius zu legen. Alle Versuche, ihr irgendwie klarzumachen, dass das nicht meine Schuld gewesen war und mir auch furchtbar leid täte, scheiterten daran, dass in meinem Mund eine riesige Frühlingsrolle steckte. Ich war echt froh, dass ich aus diesem abartigen Witz von einem Albtraum irgendwann aufgewacht war, auch wenn ich mich jetzt stattdessen mit imaginären Haustieren herumschlagen musste. (Ich meine meinen Kater, falls ihr das nicht verstanden habt.)     Während das warme Wasser auf mich herab prasselte, wurde sowohl das Pochen hinter meinen Schläfen wie auch die Übelkeit ein bisschen besser. Leider fing dafür mein Gehirn an, seinen Dienst wieder aufzunehmen. Fuck, was hatte ich getan? Ich hatte Julius geküsst, einfach weil … weil es sich in dem Moment richtig angefühlt hatte. Weil ich ihn mochte. Sehr sogar. Und weil er nicht unbedingt hässlich war, wenn ich das mal so sagen darf. Er hatte ausdrucksstarke Augen, tolle Lippen, mit denen er echt super küssen konnte, und dass er auch eine sehr attraktive Kehrseite hatte, darüber mussten wir uns wohl nicht unterhalten. Aber Julius war mehr als nur eine hübsche Hülle. Er war nett, höflich, zuvorkommend. Ein richtiger Gentleman. Er hatte mich ausgeführt, zum Essen eingeladen, war mit mir tanzen gegangen. Ja, er hatte sich sogar dazu überreden lassen, meinetwegen das Gesetz zu brechen. Und ich hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als seine Gutmütigkeit auszunutzen und über ihn herzufallen. Ich war ein schlechter Mensch.   Frustriert lehnte ich mich an die Wand der Duschkabine und hätte am liebsten ein paar Mal mit dem Kopf dagegen geschlagen. Verdient hätte ich es. Ich war so dumm. Warum war ich nur immer so dumm? Es war …   „Guten Morgen, Schatz!“   Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch und starrte den undeutlichen Schatten an, der vor der Duschkabine entlanglief.   „Entschuldige bitte, ich wollte nicht einfach so reinkommen, aber du hast nicht geantwortet, als ich geklopft habe, und ich brauche wirklich ganz dringend eine Kopfschmerztablette.“   „Ja, okay“, antwortete ich lahm und sah dem Schatten meiner Mutter beim wieder rausgeistern zu. Anscheinend war ich nicht der Einzige, der ein bisschen zu tief ins Glas geschaut hatte. Das konnte ja heiter werden. Vor allem weil ich nicht wollte, dass meine Mutter etwas davon mitbekam. Aber wenn ich mich jetzt mit ihr an den Frühstückstisch setzte, würde sie es rauskriegen. Bestimmt. Ich würde es ihr nämlich erzählen … von dem Essen, den Cocktails und schlussendlich auch von Julius und dem Kuss. Ich wusste es. Und gerade jetzt war ich dazu so überhaupt nicht bereit. So gar nicht. Aus diesem Grund blieb nur noch eine Möglichkeit und die hieß: Flucht.   Ich stahl mich also in mein Zimmer, zog mich an und war schon an der Tür, bevor meine Mutter überhaupt mitbekam, was los war.   „Hey, wo willst du denn hin?“, hörte ich sie fragen, während ich meine Schuhe anzog.   „Bin verabredet. Muss weg. Tut mir leid, Mama.“ „Verabredet? Aber mit wem denn?“ „Mit Anton.“   Ja, es war eine Lüge. Natürlich hatte ich keine Verabredung mit meinem besten Freund. Aber ich brauchte Zeit. Zeit weit weg von einer zum Plaudern aufgelegten und viel zu aufmerksamen Mutter, die mir womöglich mehr aus der Nase zog, als ich eigentlich wollte.   Ich schaute zu ihr hoch, wie sie da im Morgenrock in der Tür stand, noch die Reste eines schönen Abends im Gesicht, den sie bestimmt gehabt hatte. Ich war mir bewusst, dass ich gerade ein ganz fürchterlicher Sohn war, aber ich konnte gerade nicht. Wirklich nicht. Ich …   „Ich muss gehen. Bin eh schon spät dran.“   Sie wirkte ein wenig geknickt, rang sich aber ein Lächeln ab.   „Okay, Schatz, dann viel Spaß. Und ruf an, wenn es später wird.“ „Natürlich, Mama.“   Ich gab ihr noch einen Kuss auf die Wange, was ich sonst in tausend Jahren nicht gemacht hätte, aber ich hatte wirklich ein reichlich schlechtes Gewissen. Sie ruft bestimmt gleich Diana an, um ihr von ihrem Date zu erzählen, versuchte ich mir einzureden. Das war ohnehin viel besser, denn meine Schwester hatte von Beziehungen so viel mehr Ahnung als ich. Sollte man wenigstens annehmen bei den vielen Typen, die sie schon durchhatte. Und was da für welche dabei gewesen waren. Mein lieber Schwan.     Draußen schnappte ich mir mein Fahrrad und fuhr einfach los. Wohin genau, wusste ich nicht. Hauptsache weg. Ich legte lediglich einen kleinen Zwischenstopp beim Bäcker ein, der trotz des Feiertags geöffnet hatte, und kaufte mir eine Schokomilch. Danach fuhr ich in den Wald – den gleichen, in dem ich mich schon vor meinem Posaunenunterricht versteckt hatte – und setzte mich dort auf einen großen Stein, um die erste Hälfte der Flasche zu vernichten.     Um mich herum war nichts als Wald und Stille, wenn man mal vom Gesang der Vögel absah und einem nimmermüden Specht, der einen Stamm nach dem anderen auf der Suche nach Insekten bearbeitete. Die Maisonne beschien das üppige Blätterdach und sandte hier und da einzelne Strahlen durch Lücken im dichten Grün. Ein Stück weit unter mir verlief eine Zugstrecke, die diesen Teil des Waldes von dem auf der anderen Seite abtrennte. Wenn man hinüberwollte, musste man erst ein Stück an den Bahnschienen entlangfahren, bis man zu einer Überführung kam. Die Überführung war Teil des Wegs, den ich morgens nahm, wenn ich mit dem Rad zur Schule fuhr.   „Und was mach ich jetzt?“, fragte ich den Baum neben mir, der natürlich nicht antwortete. Wäre aber gut gewesen, wenn er das getan hätte. Ich hatte nämlich keinen blassen Schimmer. Einerseits wollte ich zu Julius. Ich wollte ihm sagen, dass … ach keine Ahnung. Was sollte ich ihm denn sagen? Dass es mir leidtat? Dass es ein Versehen gewesen war? Dass es nur am Alkohol gelegen hatte und dass er nicht befürchten musste, dass das nochmal vorkam? Das wäre sicherlich eine Möglichkeit gewesen, aber irgendwie war das auch nicht so ganz die Wahrheit. Denn soweit ich mich erinnerte, war es schön gewesen, und für einen Moment hatte ich sogar das Gefühl gehabt, dass Julius es auch gewollt hatte.   Aber was, wenn das eben nur ein kurzer Anflug von … was auch immer gewesen war. Ebenfalls der Situation geschuldet. Wenn er kurz schwach geworden war, nur um sich im nächsten Moment daran zu erinnern, wer ich war. Ein dummer Junge, ganze fünf Jahre jünger als er, naiv und blauäugig. Ein Küken, wie er es genannt hatte. Ein notgeiler Teenager, der sich bei der erstbesten Gelegenheit vollaufen ließ und ihm anschließend an die Wäsche ging. Damit hatte ich definitiv eine Grenze überschritten, die ich nicht hätte überschreiten dürfen. Mit anderen Worten: Ich hatte es voll verkackt.   Und jetzt? Was machte ich jetzt? Irgendwann würden wir unweigerlich aufeinandertreffen. Schließlich hatte ich nicht vor, mich jetzt für immer vor ihm zu verstecken, auch wenn mir diese Möglichkeit gerade echt attraktiv erschien. Natürlich würde ich mich bei ihm entschuldigen und ihm versprechen, dass das nie wieder vorkam, aber … würde ich mich daran halten können? Und würde er dieses Risiko überhaupt eingehen wollen? Was, wenn er jetzt lieber auf Abstand ging? Wenn er gestern festgestellt hatte, dass ich eben einfach doch noch zu unreif für ihn war? Oder wenn wir zwar weiter etwas zusammen unternahmen, aber es in Zukunft irgendwie anders war als vorher. Wenn wir anfangen würden, Umarmungen zu vermeiden und unser scherzhaftes Geplänkel einzustellen, damit so etwas nicht noch einmal passierte. Was dann? Würde ich das aushalten? Wollte ich das überhaupt?   „Ich muss es irgendwie wieder hinkriegen“, sagte ich zu dem Baum, der immer noch beherrlich schwieg. „Aber wie? Wie kittet man eine Freundschaft, die man mit seiner eigenen Dämlichkeit fast kaputtgemacht hat?“   Erneut sah ich zu dem Baum hinauf. Oben in der Krone regte sich etwas und auf einmal kam ein kleines, rotbraunes Tierchen den Stamm hinunter gehuscht. Es sah mich von oben mit dunklen Knopfaugen an und ich hob grüßend die Hand.   „Hey, Eichhörnchen.“   Das puschelige Vieh stieß einen warnenden Laut aus und war im nächsten Moment verschwunden. Na toll, nicht mal irgendwelche Nagetiere wollten sich mit mir abgeben. Ich war eben ein Arsch. Und hier im Wald verkriechen funktionierte nur halb so gut, wie ich gehofft hatte. Es gab einen Ort, an dem ich mich sonst sicher fühlte, aber da konnte ich heute auch nicht hin. Wobei ja vielleicht weniger der Ort wichtig war, sondern vielmehr die Person, die sich sonst noch dort befand. Ob er mir helfen konnte? Aber das würde heißen, dass ich ihm die ganze Geschichte erzählen musste inklusive aller Fakten. Auch die, die mich betrafen und die ich bisher geheim gehalten hatte.   „Ach scheiß drauf“, murmelte ich und rutschte von dem Stein herunter. „Bei irgendwem muss ich ja anfangen. Warum also nicht bei ihm? Viel schlimmer kann es ja nicht mehr werden.“   Entschlossen schwang ich mich auf mein Rad und trat kräftig in die Pedalen. Wenn ich mich beeilte, kam ich vielleicht noch vor dem Mittagessen an. Je schneller, desto besser. Sonst verließ mich am Ende noch mein Mut und das konnte ich einfach nicht riskieren. Ich würde das jetzt durchziehen.     Als ich am Haus von Familie Wischnewsky ankam, geriet ich kurz ins Trudeln. Immerhin war heute ein Feiertag, quasi ein Sonntag, und ich hatte meinen Besuch nicht angekündigt. Wenn ich uneingeladen das Grundstück betrat, würden sich möglicherweise irgendwelche Selbstschussanlagen aktivieren oder tollwütige Hunde losgelassen. Wobei letzteres eher unwahrscheinlich war. Immerhin war Anton gegen Hunde allergisch.   „Na los, nur keine Müdigkeit vorschützen“, trieb ich mich an und trat mich quasi selbst durch den peniblen Vorgarten auf die Haustür zu. Der Türgong erschien mir unwahrscheinlich laut in der feiertäglichen Stille.   Die Tür ging auf und ich blickte in das Gesicht von Antons Vater. Er sah mich an und schob seine Brille nach oben.   „Ja bitte?“, fragte er und war dabei nicht ganz so abweisend, wie ich befürchtet hatte.   „Guten Tag, Herr Wischnewsky“, grüßte ich artig. „Ich wollte zu Anton. Ist er da? Ich bin Benedikt, sein … Mitschüler.“   Ich wusste ja nicht, ob Anton das zwischen uns auch als Freundschaft definierte, aber dass wir zusammen zur Schule gingen war schließlich ein nicht widerlegbarer Fakt.   Antons Vater nickte kurz, bevor er doch tatsächlich die Treppe rauf nach seinem Sohn rief. Kurz darauf hörte ich Schritte und Anton kam an die Tür.   „Benedikt?“, fragte der einigermaßen erstaunt.   „Hi“, sagte ich und lächelte ein bisschen schief. „Ich hab da ein Problem und brauch deine Hilfe. Kann ich reinkommen?“   Anton musterte mich einen Augenblick lang, bevor er mir ein Zeichen gab einzutreten. Sein Vater, der anscheinend beschlossen hatte, dass sein Spross die Situation ohne weitere Schützenhilfe durchstehen konnte, verabschiedete sich von uns in sein Arbeitszimmer. Ich durchlief die üblichen Desinfektionsroutinen, bevor ich Anton nach oben folgte. Dort angekommen schloss er die Tür hinter mir und bot mir den Platz auf seinem Bett an, während er selbst sich auf seinem Schreibtischstuhl niederließ.   „Mit Straßenklamotten?“, fragte ich vorsichtshalber nach.   Anton schob seine Brille nach oben. „Es ist zwar richtig, dass an Kleidung, die einen Tag lang im alltäglichen Umfeld getragen wurde, eine Konzentration von etwa 72 verschiedenen Viren- und Bakterienkolonien nachweisbar ist, aber du siehst nicht aus, als wärst du schon so lange wach. Zudem bist du mit dem Fahrrad gekommen und nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich denke daher, dass ich das Risiko eingehen kann. Außerdem ist meine Mutter heute nicht zu Hause.“   Ich musste ein bisschen lächeln. Für Antons Verhältnisse war das vermutlich gerade so etwas wie eine Liebeserklärung gewesen. Immerhin machte ihm dieses blöde Asthma wirklich manchmal ganz schöne Probleme.   „Also?“, fragte er und schob seine Brille nach oben. „Was kann ich für dich tun?“   Mein Blick lag auf Antons Bettwäsche, während ich antwortete. „Ich … ich muss mal mit jemandem reden und ich dachte mir, dass du da vielleicht der geeignete Kandidat bist. Hoffe ich zumindest. Ich meine, wenn du was Besseres vorhast, ist das auch okay. Dann geh ich wieder.“   „Benedikt.“ Er klang ein bisschen ungeduldig.   Ich sah auf und in Antons Augen, die mir hinter der Brille leicht vergrößert erschienen. Das hieß vermutlich, dass er weitsichtig war. Ich hatte das inzwischen mal gegoogelt. Wenn er mal ne Freundin hatte, würde er die wohl mit Brille küssen müssen, damit er auch nicht die falsche erwischte. Oh man, Gehirn, bei der Sache bleiben. Los jetzt!   „Also ich … ich muss dir was sagen.“ „Ich höre?“ „Weißt du, die Sache ist die …“   Ach scheiße. Ich würde das jetzt einfach machen wie beim Pflaster abreißen. Augen zu und durch. Kein langes Drumherumgerede, das konnte Anton eh nicht leiden. Einfach nur die nackten Fakten auf den Tisch. Okay, vielleicht nicht ganz nackt, aber …   „Ich bin schwul.“   Zur Sicherheit hatte ich tatsächlich die Augen zugekniffen und wartete mit klopfendem Herzen darauf, dass er etwas sagte. Als eine Reaktion ausblieb, öffnete ich vorsichtig wieder ein Auge. Anton saß immer noch auf seinem Stuhl und sah mich an. Ohne zu blinzeln oder sonst irgendwas zu tun. Atmete er überhaupt noch? Ich war mir nicht sicher. Vielleicht war das mit dem Abreißen doch keine so gute Idee gewesen. Seine Mutter nahm für die Entfernung seiner extra sensitiven Pflaster vermutlich immer einen Lappen und warme Seifenlauge und löste sie ganz, ganz vorsichtig Stück für Stück von der Haut. Und ich? Ich versetzte ihm hier einfach mal eben so den Schock fürs Leben und jetzt war es tatsächlich passiert. Ich hatte Anton kaputtgemacht.   „Äh, willst du … willst du nicht mal was dazu sagen?“, fragte ich vorsichtig. Nur so für den Fall das vielleicht doch noch Reste von Lebenszeichen vorhanden waren.   „Warum sollte ich?“ Anton schien nicht im Mindesten beunruhigt.   Ich zuckte ein bisschen hilflos mit den Schultern. „Na weil ich dir gerade gesagt habe, dass ich auf Jungs stehe.“   Anton seufzte und setzte diesen Gesichtsausdruck auf, den er manchmal hatte, wenn ich etwas in der Schule nicht wusste, oder besser gesagt, wenn ich zu faul war darüber nachzudenken und stattdessen ihn fragte. (Kam aber wirklich nur ganz selten vor. Ich schwör!)   „Die Bekanntgabe dieser Tatsache allein versetzt mich noch nicht in die Lage, adäquat auf deine Aussage zu reagieren. Da du sicherlich nicht erst seit heute weißt, wie es um deine sexuelle Orientierung bestellt ist, nehme ich an, dass es einen Anlass gibt, aus dem du dich mir anvertraust. Ich warte daher auf den Rest der Geschichte. Wenn du dennoch eine Reaktion wünschst, so könnte ich dir eröffnen, dass ich bereits Kenntnis von deiner Homosexualität hatte.“   Jetzt war ich baff. „Du wusstest das?“   „Es war ziemlich offensichtlich.“   Offens…? Also da hörte sich doch echt alles auf. Ich machte hier voll den Hermann, damit niemand was merkte, und Anton wusste es bereits. Aber woher? Warum?   „Möchtest du eine vollständige Liste?“, fragte er zurück.   „Äh, nein danke. Ich muss das nur gerade erst mal verdauen.“ „Lass dir Zeit. Wenn du möchtest, kann ich derweil am Computer arbeiten. Diese Verhaltensweise scheint eine beruhigende Wirkung auf dich zu haben.“   Ich sah ihn an wie ein belämmerter Pudel. „Was? Wie kommst du denn darauf?“   „Immer, wenn du ein Problem hast, über das du mit niemandem reden willst, kommst du zu mir in die Bücherei. Ich habe mir daher angewöhnt, die Arbeit am Code für die Datenbank für diese Zeiten aufzusparen. Ich dachte mir, das wäre in deinem Sinne, auch wenn ich anders wesentlich effizienter gewesen wäre.“   Für einen Moment sagte ich einfach mal gar nichts. Das waren jetzt nämlich gerade wirklich ein paar Informationen zu viel. Nicht nur, dass mein allererstes Outing quasi keins war, da die Info für Anton schon eine olle Kamelle war, nein, er hatte auch noch den Rest meines Verhaltens zielsicher analysiert, obwohl nicht mal ich eine Ahnung gehabt hatte, warum ich das eigentlich tat. Das war gruselig. Und vielleicht genau das, was ich jetzt brauchte. Jemand, der menschliches Verhalten entschlüsseln, vor allem aber erklären konnte, ohne sich von irgendwelchen Gefühlen ablenken zu lassen.   Ich holte tief Luft. „Nachdem du die Grundlagen ja anscheinend bereits kennst, könnten wir da vielleicht in die Sphären der höheren Mathematik vordringen?“   Anton lächelte. „Natürlich. Was möchtest du wissen?“   Also fing ich an. Ich erzählte ihm, dass ich mich bereits ein paar Mal mit Julius getroffen hatte, dass wir uns gut verstanden und im Kino gewesen waren und was alles am Abend zuvor passiert war. Auch dass Julius mich zuerst zurückgeküsst, dann aber damit aufgehört hatte und was ich vermutete, woran das lag. Anton stellte hier und da einige Zwischenfragen, ließ mich ansonsten aber einfach reden. Als ich fertig war, sah ich ihn unglücklich an.   „Jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll. Ich meine, ich mag Julius und wäre gerne weiter mit ihm befreundet, auch wenn … na ja. Ich mag ihn halt wirklich sehr. Und ich hab ein bisschen Angst, dass er mir jetzt entweder die Freundschaft kündigt oder es nochmal zu so einer Situation kommt.“   „Mhm“, machte Anton. „Es war zu erwarten, dass du ihn attraktiv findest. Er entspricht deinem bevorzugten Typ.“   „Was?“ Jetzt war ich also nicht nur schwul, sondern hatte zudem auch noch einen „ bevorzugtenTyp“? Das wurde ja immer besser.   „Aber Manuel war doch ganz anders“, protestierte ich, selbst wenn ich nicht leugnen konnte, dass „groß und blond“ durchaus auf mehr als einen Kerl zutraf, den ich schick fand.   Anton schob seine Brille nach oben. „Ich nehme an, dass dieser Manuel derjenige ist, dessen Nachrichten ich auf deinem Handy gesehen habe? Er war somit wohl auch der Grund, aus dem Mia-Marie fälschlicherweise angenommen hat, dass du mit einem Mädchen liiert wärst. Aufgrund der Tatsache, dass er dich geblockt hat und du von ihm in der Vergangenheit sprichst, vermute ich, dass ihr jetzt nicht mehr zusammen seid.“   „Äh ja.“ So langsam wurde Anton mir echt unheimlich. Derart intelligent zu sein, sollte verboten werden.   „Mhm“, machte er und musste anscheinend das erste Mal überlegen. Als er damit fertig war, runzelte er die Stirn.   „Wie hat Julius darauf reagiert, dass du einen Freund hattest?“   Ich blies die Backen auf. „Wie Julius reagiert hat? Uff, keine Ahnung. Also er mochte Manuel nicht besonders, weil … na ja. Der Typ war ein ziemlicher Arsch, muss ich leider zugeben. Julius hat das wohl geahnt und wollte mich warnen, aber …“   „Woran hat er das festgemacht?“ „Was?“ „Dass dieser Manuel 'ein Arsch war', wie du es ausdrückst.“   Mir wurde schlagartig ein bisschen warm. Solche Details konnte ich Anton doch nicht anvertrauen. Oder doch? Immerhin war mit ihm zu reden ungefähr so wie mit einem Arzt. Oder einem Anwalt.   „Na ja, ich hab Julius vielleicht so ein ganz kleines bisschen von Manuel und mir erzählt.“ „Und wie hat er reagiert.“ „Eigentlich hat er immer gesagt, er freut sich für mich, aber manchmal da war er ganz komisch. Meistens wenn es um … Sex ging. Wahrscheinlich ist er einfach ein bisschen prüde.“ „Warum hast du ihm dann davon erzählt?“ „Na weil … weil er der Einzige war, dem ich davon erzählen konnte. Außerdem hat er danach gefragt.“ „Und was denkst du, warum er das getan hat?“ „Weil …“   Ich stockte. Eigentlich schien die Frage nicht so schwer zu beantworten, aber jetzt, wo ich darüber nachdachte, wusste ich es nicht so recht. Warum hatte sich Julius so für Manuel interessiert? Oder für Theo? Und warum war er manchmal so ungehalten gewesen?   Anton seufzte. Es war ein Corinna-Seufzen.   „Du sagst doch selbst, dass Julius dieses aggressive Verhalten nur gezeigt hat, wenn es um das unleugbare Vorhandensein eines alternativen Sexualpartners ging. Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass er vielleicht eifersüchtig sein könnte?“ „Eifersüchtig? Julius?“   Ich schüttelte den Kopf. Anton ebenfalls, auch wenn das bei ihm wohl andere Gründe hatte.   „Ich kenne Julius ja nicht so besonders gut", sagte er, „aber ich weiß, dass er sehr zurückhaltend und zuweilen auch etwas unsicher ist. Er würde sich nie jemandem aufdrängen, was vielleicht auch an seinen Erfahrungen liegt. Wenn er so aus sich herausgeht, um auf dich zuzukommen, muss er dich sehr gerne mögen.“ „Aber er hat doch nie …“ „Vielleicht, weil du vergeben warst?“ „Oh.“   Ich ließ mir das Ganze ein bisschen durch den Kopf gehen, bis ich zu einem Punkt kam, der nicht so ganz in die Sache zu passen schien.   „Aber wenn Julius, wie du sagst, etwas für mich empfindet, warum hat er mir das dann gestern nicht gesagt, als er wusste, dass ich … frei bin.“   Und zwar von mehr als einer Liebschaft.   „Vielleicht wollte er erst herausfinden, ob du auch etwas für ihn empfindest, bevor er dir seine Gefühle offenbart. Oder er hat auf den richtigen Moment gewartet. Eine romantische Abschiedsszene nach einem gemeinsam verbrachten Abend etwa.“   Antons Vermutungen waren so passend zur Realität, dass es mir glatt einen Schauer über den Rücken jagte. Etwas daran verstand ich jedoch immer noch nicht.   „Aber wenn das alles so war, warum hat er dann nicht … also … als wir uns geküsst haben. Warum ist er da dann trotzdem gegangen?“   Anton hob die Schultern. „Ich nehme an, dass er dir in deinem Zustand kein rechtsgültiges Urteil zugetraut hat. Wahrscheinlich wollte er, dass du dich im Vollbesitz deiner geistigen Kräfte für ihn entscheidest, damit du es dir nicht am nächsten Morgen anders überlegst. Diese Erfahrung musste er ja schon einmal in ähnlicher Form machen.“ „Aber warum …“   Anton unterbrach mich mit einer entschiedenen Geste. „Meinst du nicht, dass du all diese Fragen besser Julius stellen solltest?“   Ich klappte meinen Mund wieder zu und starrte für einen Augenblick ins Leere. Anton hatte, wie schon mit allem zuvor, vollkommen recht. Ich musste mit Julius reden und zwar auf der Stelle. Sofort. Oder ich würde tot umfallen.   Wild entschlossen sprang ich auf. „Du hast recht. Ich muss zu Julius gehen und ihn fragen, ob er in mich verliebt ist.“   Anton sah mich ein wenig tadelnd an. „Das habe ich so nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass die Möglichkeit besteht.“   „Aber es spricht doch alles dafür. Ich verstehe nicht, wie ich so blind sein konnte.“   Anton verzog den Mund zu einem vage spöttischen Ausdruck. „Ich habe gelesen, dass Liebe manchmal zu nicht unerheblichen Sinnestrübungen führen soll.“   Ein bisschen überheblich grinste ich ihn an. „Du liest zu viel. Am besten probierst du es selbst mal aus.“   Anton schob noch einmal seine Brille nach oben. „Nach dem, was du mir gerade berichtet hast, denke ich, dass ich fürs Erste Abstand davon nehmen werde. Du hast nun wirklich genug Drama für uns beide in deinem Leben.“   Ich lachte und dann … dann trat ich auf Anton zu und schlang meine Arme um ihn zu einer mehr als merkwürdigen Umarmung. Immerhin saß er immer noch auf dem Stuhl, während ich … ach lassen wir das. Ihr könnt es euch vorstellen, ja? Ich habe jetzt nämlich keine Zeit mehr, euch noch lange zu erzählen, wie ich mich von einem etwas verdatterten Anton verabschiedete, um dann wie eine angestochene Hummel auf meinem Rad durch die Stadt zu rasen. Ich musste zu Julius. Zum wunderbaren, aber so was von dummen Julius. Wobei er ja nicht der einzige Dummkopf in dieser Geschichte war. Ich kannte da nämlich jemanden, der in dieser Beziehung ganz wunderbar zu ihm passte. Und vielleicht nicht nur in dieser. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, ob er das genauso sah. Kapitel 31: Von ausbleibenden Tanzeinlagen und wortlosen Geständnissen ---------------------------------------------------------------------- Am liebsten hätte ich mein Fahrrad ganz dramatisch in die Büsche geschmissen, und wäre die letzten Meter zu Julius’ Haus gerannt. Aber da es in seiner Straße keine Büsche gab und ich noch dazu direkt vor seiner Haustür stand, wo zu befürchten war, dass bei meiner Rückkehr kein fahrbarer Untersatz mehr vorhanden war, musste ich das Ding wohl oder übel ordentlich anschließen, bevor ich endlich klingeln konnte. Die Zeit, bis irgendwann ein Schatten hinter der Glasscheibe auftauchte, war furchtbar. Doch endlich, endlich ging die Tür auf und Ilona öffnete mir. Ein wenig erstaunt sah sie mich an.   „Benedikt?“ „Ja. Hallo. Julius. Ich muss zu ihm. Ist er da?“ „Er ist oben. Geh ruhig hoch.“   Ich glaube, ich bedankte mich noch, bevor ich die enge Treppe nach hinaufpolterte und die Tür zu seinem Zimmer aufriss. Julius saß im Schneidersitz auf dem Bett. Er trug eine weite, rostrote Hose und ein weißes Top, das fast wie ein Unterhemd aussah. Keine Ahnung, warum mir das auffiel. Vielleicht weil es so furchtbar gut zu ihm passte. Er sah ein bisschen so aus, als würde er gleich zu einer spontanen Bollywood-Tanzeinlage aufspringen. Dass das nicht passieren würde, sah man allerdings schon allein daran, dass er sein Handy am Ohr hatte. Wobei ich mir nicht sicher war, ob das die Figuren in den Filmen hindern würde. Sie tanzten und sangen wirklich extrem viel.   „Du, ich muss Schluss machen“, sagte er zu der Person am anderen Ende, während er mich nicht aus den Augen ließ. „Benedikt ist hier. Ja … Ja, ist gut. Nein, mache ich nicht. Ja, natürlich. Ich dich auch. Bai.“   Als er aufgelegt hatte hörte man im ersten Moment nichts als meinen Atem. Immerhin war ich gerade eine ganz schöne Strecke in ziemlich sportlichem Tempo unterwegs gewesen. Ich schluckte. Mein Mund war ganz trocken.   Plötzlich wurde mir bewusst, was ich da im Begriff war zu tun. Himmel, was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich konnte doch nicht einfach hier reinstürmen und sagen: „Ey, sag mal, bist du eigentlich in mich verliebt?“ Dafür hätte ich vielleicht der mit der Gesangseinlage sein müssen. Hatte ich ja in dem Film gesehen. Einfach mal in irgendein fremdes Haus reinplatzen und dort spontan anfangen zu performen. Kein Ding. Aber statt zu singen brachte ich nicht mal ein einziges Wort heraus. Ich konnte Julius nur anstarren und darauf warten, dass er etwas sagte. Was er nicht tat. Oh Mist. Also musste ich wohl doch …   „Hi“, würgte ich mit viel Mühe hervor.   Julius nickte nur. Der Ausdruck in seinen Augen gefiel mir nicht. So gar nicht. Er sah ein bisschen aus, als hätte er Angst. Aber Angst wovor? Doch hoffentlich nicht vor mir?   „Ich … sorry, dass ich hier einfach so auftauche. Ich hätte anrufen sollen.“ „Es wäre eh besetzt gewesen.“ Ich lachte leicht. „Ja, hab’s gesehen. Mit wem hast du telefoniert?“ „Mit Lali.“ „Ah.“   Hieß das, er hatte seiner Tante von mir erzählt? Und wenn ja, was hatte er gesagt? Dass ich ein pubertärer, kleiner Idiot war, den er nie wieder sehen wollte? Oder … was anderes?   „Ich war gerade bei Anton.“ Keine Ahnung, warum ich nun ausgerechnet das als Einstieg wählte. Es war das Erste, was mir in den Sinn kam.   Julius’ Augenbrauen wanderten ein Stück nach oben. „An einem Feiertag? Mutig.“ „Seine Mutter war nicht da.“ „Ach so.“ „Außerdem war es wirklich wichtig. Ich … ich hab ihm von gestern erzählt.“   Das leichte Erstaunen, dass Julius schon bei meiner ersten Eröffnung ergriffen hatte, wurde jetzt noch offensichtlicher. Er schien sofort zu erfassen, was das bedeutete.   „Soll das heißen, er weiß, dass du …“ „Ja. Ich hab’s ihm gesagt. Er war aber nicht überrascht. Also so gar nicht. War fast ein bisschen enttäuschend.“ Jetzt lächelte Julius. „Was hättest du denn gerne gehabt? Dass er dir eine Szene macht? Glaub mir, unaufgeregt ist besser.“ „Das stimmt wohl.“   So langsam wurde das Ganze wirklich lächerlich. Irgendwas musste ich jetzt machen. Oder sagen. Oder …   „Willst du dich setzen?“ Julius’ Frage durchschnitt die Stille.   Setzen? Setzen war gut, oder? Das hieß, dass er mich nicht gleich wieder rausschmeißen würde. Oder? ODER?   „Wenn ich darf.“   Ich sah mich um. Es gab den Schreibtischstuhl, den ich mir jetzt erst hätte ranziehen müssen, oder … das Bett. Julius schien meinen Zwiespalt zu bemerken. Er rutschte ein eher symbolisches Stückchen zur Seite.   „Na los, ich beiße nicht.“ „Nicht? Schade.“   Ich grinste ein bisschen schief. Ja, es war ein ganz, ganz dummer Scherz, aber irgendwie musste ich diese unerträgliche Stimmung doch etwas auflockern. Julius’ Mundwinkel zuckten auch tatsächlich ein wenig, aber er sagte nichts. Mist. Wenn er jetzt so was wie „Nur, wenn du es möchtest“, darauf gesagt hätte, hätte ich gewusst, woran ich war. Oder hätte es zumindest ahnen können. Ich meine, auf dem Weg hierher hatte ich mich noch voll auf Antons Theorie verlassen. Es hatte doch alles so wunderbar gepasst. Und vielleicht wollte ich auch einfach, dass es stimmte. Weil das geheißen hätte, dass ich Julius nicht ganz so gegen seinen Willen geküsst hatte, wie ich gedacht hatte. Aber jetzt war ich mir auf einmal nicht mehr ganz so sicher.   „Setzt du dich jetzt hin?“ „Äh ja, natürlich.“   Ich nahm ganz am Ende des Bettes Platz. Herunterfallen würde ich nicht, denn neben mir stand schließlich das Bücherregal. Unter anderen Umständen hätte ich wohl mal nachgesehen, was er da so stehen hatte, aber jetzt war ich zu abgelenkt. Und nervös. Ich saß an der Kante von Julius’ Bett, sah auf meine Hände herunter und knetete meinen Daumen.   „Also weißt du, wegen gestern …“ „Ja?“   Der Ton, in dem er das sagte, ließ mich aufhorchen. Er war irgendwie ein wenig atemlos und gleichzeitig hoffnungsvoll. Oder bildete ich mir das nur ein? Scheiße, ich war echt schlecht in so was. Also los, Benedikt, du schaffst das. Nur Mut!   „Es tut mir leid, dass ich … dass ich mich so abgeschossen hab. Ich … keine Ahnung, was dabei in meinem Kopf vor sich ging. Jugendlicher Leichtsinn oder so. Ich hab einfach nicht nachgedacht und dann war’s auf einmal zu spät.“   „Mhm“, machte Julius nur. Das war ja mal so überhaupt nicht hilfreich. Hieß das jetzt „das hätte ich nicht von dir gedacht und bin total enttäuscht“ oder „ach Schwamm drüber, kann ja jedem mal passieren“ oder noch was ganz anderes? Man. Julius. Gib mir irgendwas, an dem ich mich orientieren kann.   „Und … also wenn das, was dann noch passiert ist … also wenn das nicht so in deinem Sinne war, dann tut mir das auch leid.“ Ich hob ein wenig den Kopf und sah ihn an.   Jetzt war Julius derjenige, der den Blick senkte.   „Du weißt es also noch?“, fragte er leise. „Ja, ich weiß es noch. So alles. Denke ich zumindest. Ich weiß auf jeden Fall noch, dass wir uns geküsst haben.“   Julius atmete hörbar ein und ich ahnte auf einmal, warum er so komisch war. Wenn es stimmte, was Anton gesagt hatte, dann hatte Julius möglicherweise Angst, dass ich jetzt sagte, dass der Kuss nur ein Versehen gewesen war. Dass er nichts bedeutete. Aber das stimmte nicht. Ich wusste zwar nicht so genau, was er bedeutete, aber ich wusste, dass Julius mir auf jeden Fall zu wichtig war, um sich unwichtig vorzukommen. Aber wie zum Geier brachte ich das jetzt am besten rüber. Und warum sagte er nicht endlich auch mal was? Das war ja zum Verrücktwerden.   Ich beschloss, einfach alles auf eine Karte zu setzen und ihm die Wahrheit zu sagen. Das war immer noch besser, als uns hier anzuschweigen.   „Als ich heute Morgen aufgewacht bin, ging’s mir echt beschissen und das lag nicht nur an dem mehr als verdienten Kater. Ich … ich hatte auch ein total schlechtes Gewissen. Ich wusste nicht, ob du jetzt sauer auf mich bist, weil ich das gemacht hab, und mich nie wieder sehen willst, oder ob noch eine Chance besteht, dass wir beide …“ „Ja?“ „… weiter Freunde bleiben.“   Ich beobachtete Julius aus den Augenwinkeln, wie er auf die Formulierung reagierte. Sah er tatsächlich ein bisschen enttäuscht aus? Oder eher erleichtert? Sollte ich ihm vielleicht doch lieber nicht erzählen, was Anton vermutete? Vielleicht lag der ja doch falsch und ich machte mich hier vollkommen zum Horst, wenn ich Julius darauf ansprach. Andererseits wollte ich jetzt endlich wissen, ob da was dran war. Zumal die Situation für ihn sicherlich auch nicht so besonders toll war, wenn es denn stimmte. Wie es war, heimlich in jemanden verliebt zu sein, der einem noch dazu erzählte, dass er in jemand anderen verknallt war … nun sagen wir mal, ich hatte in etwa eine Ahnung, wie das war.   „Ich bin dann irgendwann zu Anton gefahren, weil ich einfach nicht weiter wusste. Ich hab ihm alles erzählt, was passiert ist, und er hat gemeint, dass du … also dass du vielleicht …“   Fuck, ich konnte das nicht. Ich konnte doch kein Geständnis von ihm einfordern, wenn er das nicht von sich aus wollte. Vielleicht hatte er ja Gründe dafür. Gute Gründe. Aber irgendwie mussten wir hier doch rauskommen.   „Was hat Anton gemeint?“ Julius’ Stimme war sehr, sehr leise. „Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen sollte.“ „Warum nicht?“ „Weil es etwas über dich ist. Etwas, das dich und deine … Gefühle mir gegenüber betrifft.“   Komm schon, Julius. Antworte mir!   „Anton ist ziemlich schlau.“   Argh!   „Ja, das ist er. Aber andererseits könnte es halt auch sein, dass er sich irrt und dann müsste ich mich leider von der nächsten Brücke stürzen, weil du vermutlich nicht aufhören würdest zu lachen, bevor ich das tue.“ „Ich würde dich nie auslachen.“ „Du hast mich schon ausgelacht.“ „Nicht, wenn es um so was geht.“   Jetzt sah ich ihn geradeheraus an. Er machte immer noch ein total nichtssagendes Gesicht. Warum? Warum half er mir hier nicht einfach mal raus? Sollte ich ihm etwa erst mein Herz vor die Füße kotzen, damit er mal was von sich preisgab? Na meinetwegen. Konnte er haben. Mir reichte es jetzt nämlich langsam.   „Weißt du was? Ich hab mich immer total schlecht gefühlt, wenn wir beide uns über Sex unterhalten haben. Ich dachte immer, du verachtest mich deswegen. Das hat sich echt scheiße angefühlt. Und jetzt hat Anton gemeint, dass das vielleicht gar nicht an mir liegt, sondern daran, dass du eifersüchtig auf Manuel warst. Stimmt das?“   Julius antwortete nicht. Er sah mich nur mit großen Augen an und wurde ein bisschen rot um die Nase. Das war zwar keine Antwort, aber keine Antwort war ja bekanntlich auch eine Antwort.   „Es stimmt also?“, wetterte ich weiter. „Und dann gehst du zwar mit mir aus, lässt dich aber den ganzen Abend darüber aus, wie jung ich doch bin und wie pubertär und unreif und was weiß ich nicht noch alles. Und als ich dann tatsächlich so dämlich bin, dich in meinem Brausebrand zu küssen, da lässt du mich einfach stehen. Du hast gesagt, wir reden darüber, aber du hast dich nicht gemeldet. So gar nicht. Stattdessen verkriechst du dich hier und telefonierst mit dieser Lali. Und jetzt, wo ich mich bei dir entschuldigt habe und versuche herauszufinden, was das zwischen uns beiden ist, da lässt du mich am langen Arm verhungern. Warum? Sag mir jetzt endlich warum, Julius!“   Er sah mich an wie ein Kaninchen die Schlange. Es fehlte nur noch die zuckende Nase.   „Ich … ich wollte das nicht. Wirklich nicht.“ „Was denn? Mich küssen? Dich in mich verlieben? Mir das Ganze so lange verschweigen? Was davon? Was genau war denn eigentlich dein Plan?“   In irgendeinem fernen Winkel meines Gehirns war mir klar, dass ich gerade total ungerecht war. Immerhin war der ganze Schlamassel mindestens mal genauso meine Schuld. Aber ich versuchte wenigstens etwas dagegen zu tun. Ich brauchte hier Hilfe. Hilfe!! Und zwar von dem Erwachseneneren von uns beiden.   „So sollte es zumindest nicht laufen“, meinte er trocken.   Oh kacke. Jetzt war ich wohl ziemlich über das Ziel hinausgeschossen. So hatte ich mir das irgendwie nicht vorgestellt. Ich sackte auf dem Bett in mich zusammen.   „Tut mir leid“, murmelte ich. „Ich … das war unangebracht.“ „Vielleicht nicht ganz so, wie es den Anschein hat.“ „Eh?“   Julius zog ein wenig die Schultern nach oben. „Na ja. Du hast ja recht. Der Plan war irgendwie dämlich. Wahrscheinlich hab ich gedacht, wenn ich lange genug warte, wirst du vielleicht … ach ich weiß auch nicht. Lali hat mir auch ständig in den Ohren gelegen, dass ich es dir sagen muss. Aber ich war mir nicht sicher, wie du reagieren würdest.“ Er schwieg kurz, bevor er hinzufügte: „Und ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wollte. Jemand, der noch so jung und unentschlossen ist. Der vielleicht schon nach kürzester Zeit die Nase voll von mir hat und sich jemand anderen sucht.“ „Was? Das denkst du von mir? Dass ich so ne Schlampe bin?“ „Na ja, nein. Obwohl der Gedanke nicht ganz von der Hand zu weisen ist.“   Jetzt war ich derjenige, der rot wurde. Ärgerlich wandte ich den Kopf ab. Scheiße, er hatte ja recht. Und die Tatsache, dass ich mich ihm betrunken an den Hals geworfen hatte, sprach jetzt irgendwie auch nicht gerade für mich.   Ich seufzte. „Ja, hast recht. Ich … tut mir leid. Ich bin wahrscheinlich wirklich noch das unreife Küken, für das du mich hältst.“   Ich hörte, wie Julius neben mir leise lachte. Das Bett senkte sich, als er näherkam. Kissen raschelten und ich spürte, wie er sich zu mir rüberbeugte.   „Ich mag Küken. Die sind niedlich. So klein und gelb und flauschig. Ich wollte schon immer mal eins haben.“ Ich musste unwillkürlich grinsen. „Ja, aber sie schnattern auch ziemlich viel und kacken dir den Fußboden voll, wenn du nicht aufpasst.“ „Vielleicht kann man sie ja erziehen.“ „Du meinst, indem du ihnen so eine Art Katzenklo hinstellst?“ „Vielleicht?“   Ich drehte den Kopf und sah ihn von der Seite her an. „Das Gespräch wird gerade ganz schön schräg.“ „Ja, das stimmt.“ Er grinste jetzt auch. „Vielleicht sollten wir aufhören zu reden.“ „Und dann?“ „Dann könnten wir stattdessen das hier machen.“   Er beugte sich vor und legte seine Lippen ganz kurz auf meine. Es war nicht mal ein richtiger Kuss. Nur eine ganz flüchtige Berührung.   Ich schluckte. „Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“ „Ich weiß nicht. Sag du es mir.“   Ich wollte. Ich wollte wirklich darüber nachdenken und den viel zu nahen Julius ignorieren, um eine ernsthafte Für-und-Wider-Liste in meinem Kopf zu erstellen. Ich wollte wirklich. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nur noch daran denken, wie sich seine Lippen auf meinen angefühlt hatten. Und war es nicht auch das, was er wollte? Sonst hätte er mich ja wohl kaum gerade geküsst. Also war es da wirklich verwerflich, wenn ich ebenso darauf reagierte? War es das? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich mich im nächsten Moment vorlehnte und ihn tatsächlich küsste.   Erst nur sehr, sehr vorsichtig. Unsere Lippen streiften sich wie taumelnde Schmetterlinge. Fast so als wüssten wir beide nicht recht, ob das jetzt die richtige Entscheidung war. Als würden wir mit angehaltenem Atem abwarten, ob der andere nicht im nächsten Moment aufsprang, um zu verkünden, dass er das nicht konnte. Dass es ein Fehler war. Aber es fühlte sich nicht an wie ein Fehler. Es fühlte sich nach mehr an.   Schon bald drängten sich unsere Münder näher aneinander. Ich rutschte ein Stück weit auf Julius zu, der die Hand in meinen Nacken legte und mich näher zu sich zog. Seine Lippen teilten sich und ich folgte der Einladung, indem ich mit meiner Zunge ganz vorsichtig darüber strich. Er antwortete auf die gleiche Weise und schon bald wurde der Kuss tiefer und leidenschaftlicher. So sehr, dass ich irgendwann ein leises Keuchen nicht mehr völlig unterdrücken konnte. Dieser Kuss schickte wirklich interessante Impulse durch meinen ganzen Körper und ich … okay, ich war erregt. Meine Wangen glühten und gewisse Regionen von mir standen ebenfalls in Flammen. Aber ich tat nichts, um Julius darauf aufmerksam zu machen. Erst, als es wirklich langsam unangenehm wurde, musste ich wohl ober übel den Kuss unterbrechen.   „Warte, ich muss mal eben.“   Ich drehte mich weg und richtete, was zu richten war. Als ich mich wieder zurückdrehte, konnte ich nicht anders. Ich musste einfach wissen, ob es Julius genauso ging. Er bemerkte meinen Blick und … oh scheiße. Er spreizte die Beine und … okay, alles klar. Eindeutig der gleiche Zustand wie bei mir. Da konnte der dünne Stoff seiner Hose nicht das Geringste verstecken.   Mit Gewalt zwang ich mich, ihm stattdessen wieder in die Augen zu sehen, obwohl ich wirklich gerne noch ein bisschen geschaut hätte. Allerdings war der Blick, der mich daraufhin traf, nicht unbedingt dazu ausgelegt, mich wieder abzukühlen. Wo hatte er diesen Sexappeal auf einmal her? Es war, als hätte ich einen vollkommen anderen Julius vor mir. Einen, der meinen inneren Höhlenmenschen laut aufheulen ließ.   Als ich weiter zu ihm aufs Bett krabbelte, meinte ich zwar noch ganz kurz Anton zu hören, der mir mitteilen wollte, dass es so einfach nicht werden würde und dass da durchaus noch Stolpersteine vorhanden waren, aber dann war da auf einmal Julius, der mich erneut in einen Kuss zog und … Ach, was soll ich lange drumherum reden. Anton hatte dann einfach mal Sendepause.     Wahrscheinlich sollte ich jetzt noch sagen, dass wir es langsam angehen ließen. Dass ich oder Julius oder wir beide total vernünftig waren und es beendeten, solange wir noch unsere Klamotten anhatten. Dass wir nicht wie wild rumknutschten, bis wir beide nicht mehr wussten, wo oben und unten war, während wir uns aneinander rieben wie rollige Katzen oder vielmehr Kater. Wäre bestimmt besser für mein Image und so. Aber die Wahrheit ist nun mal, dass Julius irgendwann vom Bett aufstand, um die Tür abzuschließen, obwohl er mir versicherte, dass seine Mutter sowieso nie reinkommen würde, und dass wir uns danach mit ziemlicher Begeisterung gegenseitig einen runterholten. Wobei Julius sich mit Sicherheit geschickter anstellte als ich, aber das Ergebnis war am Ende das gleiche.   Als ich danach in seinen Armen lag, leicht schläfrig und ziemlich befriedigt, fühlte ich mich dennoch genötigt, eine einzige Frage zu stellen.   „Und wie geht es jetzt weiter?“   Ich spürte ihn lächeln und einen Kuss auf meine Stirn drücken.   „Das werden wir sehen. Immer schön einen Schritt nach dem anderen.“ Kapitel 32: Von faulen Nachmittagen und undefinierten Beziehungen ----------------------------------------------------------------- Als ich gegen Abend nach Hause fuhr, wusste ich zwei Dinge mit ziemlicher Sicherheit.   Erstens machte Ilona die absolut besten Bratkartoffeln der Welt. Sie war eine wahnsinnig unkomplizierte Frau, die einfach hinnahm, dass auf einmal ein fremder Junge an ihrem Küchentisch saß und nachmittags um halb vier einen Riesenteller dieser knusprigen Köstlichkeiten verputzte. Ich bin mir sicher, dass meine Mutter im umgekehrten Fall versucht hätte, Julius in ein Gespräch zu verwickeln. Rauszufinden, was er „beruflich“ machte, wie es um seine Familie bestellt war und was er so für Hobbys ausübte. Ilona tat das nicht. Sie fragte mich nur, ob ich Ketchup zu den Kartoffeln wollte. Ich wollte, also bekam ich welches und damit hatte es sich. Die Blicke, die Julius und ich uns über den Tisch hinweg zuwarfen, ignorierte sie geflissentlich und schenkte uns noch zu Trinken nach, bevor sie verkündete, dass sie in den Garten gehen würde. Das führte zu einem ziemlich fettigen Kartoffelkuss und einem Ketchupfleck auf meinem T-Shirt, von dem Julius mir riet, ihn vor dem Waschen mit Essig zu behandeln, weil das dann am besten wieder rausginge.   Die zweite Sache war die Tatsache, dass Julius wahnsinnig verschmust war. Er schmiegte sich mit einer Selbstverständlichkeit an mich, die mich jedes Mal lächeln ließ, wenn er mich ansah mit seinen Katzenaugen. Fast erwartete ich, dass er anfing zu schnurren, als ich ihm durch die Haare fuhr, die sich dicht und weich zwischen meinen Fingern ringelten. Ich malte die Linien seines Gesichts nach. Die dunkelblonden Augenbrauen, die prominenten Wangenknochen, die vollen Lippen, von denen ich mir einen Kuss stahl, bevor ich meine Inspektion fortsetzte. Seine Brust war glatt und nicht besonders muskulös mit zart gefärbten Brustwarzen, die ich einmal kurz umkreiste, um dann weiter zu wandern. Jenseits der Rippen, die ich einzeln nachfuhr, fand ich einen flachen Bauch, unter dem sich in einem Nest aus hellen Haaren sein bestes Stück in völligem Entspannungszustand befand. Ich wollte gerade meine Hand noch ein bisschen weiter in diese Richtung schieben, als Julius mich aufhielt. Mit einem Lächeln nahm er meine Hand und setzte einen Kuss auf die Fingerspitzen, die gerade noch über seinen Körper gewandert waren.   „Was denn, schon genug?“, fragte ich in neckendem Tonfall.   „Von dir? Von dir würde ich nie genug bekommen“, gab er zurück und zog mich schon wieder in einen Kuss. Noch etwas, von dem er anscheinend gar nicht genug bekommen konnte. Er war ein unglaublich ausdauernder Küsser und ich konnte nun wirklich nichts dafür, dass sich die Begeisterung über diese anhaltenden Liebkosungen ein bisschen manifestierte, was er natürlich sofort bemerkte, als er eines seiner langen Beine zwischen meine Schenkel schob.   „Du bist aber schnell wieder oben“, zog er mich auf und biss mir zärtlich in die Unterlippe.   „Kannst mich ja wieder runterholen“, bot ich ihm mit einem anzüglichen Grinsen an und stockte ein wenig, als er sich erhob und mich von oben herab betrachtete.   „Und was krieg ich dafür?“ „Was möchtest du denn?“ „Geh nochmal mit mir aus.“   Ich lachte. „Aber natürlich tue ich das. Kein Problem.“   Er sah mich intensiv an, vollkommen ohne zu blinzeln. „Nein, ich meinte irgendwohin, wo man uns zusammen sehen kann. Wo wir uns nicht verstecken müssen. Wo wir nicht so tun müssen, als ob wir nur Freunde wären.“   Ich lächelte und strich ihm eine widerspenstige Locke aus der Stirn. „Gern. Aber … ich hab keine Ahnung wo.“ „Ich finde was. Muss ja auch nicht sofort sein.“ „Okay.“   Mein letztes Wort ging in ein Seufzen über, als Julius sich wieder meiner Lippen bemächtigte. Ein weiteres entwich mir, als er begann, an meinem Hals zu knabbern. Und noch eines, als er anfing, sich an meinem Körper weiter nach unten zu küssen. Ganz ehrlich, ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass er so weit gehen würde. Noch dazu bei unserem ersten Date. Quasi. Aber ich beschwerte mich auch nicht, als sich seine unglaublich weichen Lippen um gewisse Körperteile legten und dort anfingen, wahre Wunder zu wirken. Oh wow. Ich hatte nicht geahnt, dass es sich so anfühlen konnte. Und dass auch zweite Runden so schnell vorbei sein konnten, ebenfalls nicht.   Völlig geplättet lag ich auf dem Rücken, während Julius sich mit einem fetten Grinsen neben mich schob.   „So, erledigt.“   Ich konnte nicht antworten, weil ich immer noch versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Stattdessen zog ich ihn einfach an mich und vergrub meinen Kopf an seiner Brust. Er streichelte sanft meinen Nacken.   „Hey, das braucht dir nicht peinlich zu sein.“ „Isses nich“, nuschelte ich, bevor ich mich aus meinem Versteck wieder hervorwagte. „Ich bin nur ein bisschen überfordert davon, dass du auf einmal so ranggehst. Schon vergessen? Heute morgen dachte ich noch, du findest Sex furchtbar.“ „Das habe ich nie gesagt.“ „Aber …“   Julius lächelte, auch wenn ich sah, dass ganz kurz ein Schatten über sein Gesicht huschte.   „Ich mag Sex. Aber ich steh nicht so auf dieses Rein-Raus-Spiel und wer nun was bei wem reinsteckt. Eine Zeit lang hab ich gedacht, ich müsste mich da entscheiden. Top, Bottom, was auch immer. Festzustellen, dass es auch ohne geht, war unheimlich befreiend. Es ist nicht so, dass ich es verurteile. Wer Spaß daran hat, soll es gerne tun. Nur ich mag es halt nicht. Auch dieses ganze Drumherum, die Vorbereitung, die Nachbereitung und das alles für … keine Ahnung. Ich finde, es fühlt sich einfach nicht so super an, dass sich das lohnen würde. Zumal es so viel andere tolle Sachen gibt, die man machen kann.“   Ein wenig drängte es mich, Julius zu fragen, wie er das meinte und ob er da tatsächlich Erfahrung hatte. Es hörte sich ja ganz danach an, was wohl hieß, das ich mich in Bezug auf die „Julius ist noch Jungfrau“-Sache geirrt hatte. Allerdings wollte ich die Stimmung nicht noch weiter kaputtmachen, daher kuschelte ich mich wieder an ihn und er sich an mich und gemeinsam lagen wir einfach nur da, bis mein Magen plötzlich und unvermittelt laut losgrummelte.   Sofort war Julius auf den Beinen. „Oh weh, ich bin wirklich ein furchtbarer Gastgeber. Du musst ja am Verhungern sein. Hast du heute überhaupt schon was gegessen?“ „Einen Kakao zum Frühstück.“ „Aber das ist doch Stunden her.“ „Na ja … ich hatte halt Wichtigeres zu tun.“   Wir grinsten beide, zogen uns an, ließen uns von seiner Mutter bekochen und saßen dann noch eine ganze Weile schweigend mit ineinander verschränkten Fingern in der Küche, bis ich irgendwann seufzte und aufstand.   „Ich muss langsam. Sonst fragt meine Mutter, wo ich bin und eigentlich … also …“   Julius winkte ab. „Kein Problem. Ich hab dir gesagt, dass es nicht eilt. Und wir können uns immer hier treffen oder im 'Monopoly' oder wir fahren einfach mal irgendwohin, wo uns keiner kennt. Alles kein Problem.“   Ich dachte dran, dass ich Anton wohl in Zukunft ein paar Mal öfter als Ausrede würde benutzen müssen. Das machte mir Magenschmerzen.   „Vielleicht sollte ich es meiner Mutter doch sagen. Damit wir …“ Ich machte eine vage Geste.   Julius sagte nichts. Er stand nur auf, nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und küsste mich sehr, sehr lange. Als er damit fertig war, sah er mir tief in die Augen.   „Dass du darüber nachdenkst, reicht mir schon. Kein Stress deswegen. Ich kann warten.“   „Okay“, flüsterte ich zurück und küsste ihn noch ein letztes Mal. Und dann nochmal, als wir im Flur angelangt waren. Und als ich meine Schuhe angezogen hatte. Und dann nochmal, als ich schon an der Haustür stand. Fast so, als könnte ich einen Vorrat davon mit nach Hause nehmen.   „Ich muss morgen arbeiten“, sagte ich, als sich unsere Lippen endlich wieder voneinander trennten. „Ich auch.“ „Ich komm danach mal vorbei.“ „Alles klar. Ich freu mich.“   Es folgte noch ein ziemlich langer Kuss, bevor ich es endlich aus der Tür schaffte. Draußen bekam ich mein Fahrradschloss kaum auf, weil ich ständig zu Julius gucken musste. Er lachte und schüttelte den Kopf, aber ich sah genau, dass er mir nachblickte, als ich gegen die Einbahnstraße von ihm wegradelte. Wahrscheinlich war es reiner Zufall, dass ich nicht noch eine Laterne erwischte. Ich hatte es ja schon mal gesagt. Die Liebe war gefährlich. Sie verdrehte einem vollkommen den Kopf. Aber sie fühlte sich auch wunderschön an.     Tatsächlich schaffte ich es irgendwie zu vermeiden, dass meine Mutter was von meinen nachmittäglichen Aktivitäten bemerkte. Vermutlich war sie wegen ihres langen Abends selbst nicht so ganz auf der Höhe, sodass ich ohne Probleme mit der Ausrede, ich müsse noch für die Schule lernen, davonkam. Als mich allerdings am nächsten Morgen Antons inquisitiver Blick traf, wusste ich, dass ich mich dieses Mal nicht würde drücken können.   Tatsächlich fackelte er nicht lange, bevor er mich zur Rede stellte.   „Ich nehme an, dass du gestern noch bei Julius warst?“ „Ja, war ich.“ „Und? Seid ihr jetzt in einer Beziehung?“   Ich ließ geräuschvoll die Luft entweichen. Die Frage war gar nicht so einfach zu beantworten. Waren wir? Immerhin hatten wir den ganzen Nachmittag über rumgeknutscht und quasi auch miteinander geschlafen, wenn man Julius’ Definition von Sex zugrunde legte. Aber hieß das jetzt, dass wir auch ein Paar waren? Ich wusste es nicht. Also zuckte ich nur mit den Achseln.   Anton nickte. „Ich verstehe. Ihr habt euer Verhältnis noch nicht definiert.“ „Nein, haben wir nicht.“ „Erzählst du mir, wenn es soweit ist?“ „Dir als erstem.“   Ich grinste ihn an und wollte mich schon von ihm verabschieden, da ich annahm, dass er die Pause wie üblich in der Bücherei verbringen würde, aber Anton überraschte mich, indem er einfach die Stufen weiter nach unten in Richtung Pausenhalle ging. Als ich verdattert auf dem Treppenabsatz stehenblieb, wo wir uns normalerweise trennten, sah er zu mir hoch.   „Was ist?“ „Ich dachte, du würdest in die Bibliothek gehen.“ „Heute mal nicht.“ „Nicht? Aber warum nicht? Ich meine, du bist immer in der Bibliothek.“   Anton schob seine Brille nach oben und lächelte mich an. „Nun, ich habe mir gedacht, dass es gut wäre, unsere Freundschaft nicht nur in meinem sondern auch in deinem natürlichen Habitat auszuüben, meinst du nicht?“   Ich blinzelte und brauchte einen Augenblick um zu begreifen, was er meinte. Kann man mir ja wohl kaum verübeln, denn schließlich war Anton vermutlich der einzige Mensch, der die Pausenhalle als „Habitat“ bezeichnete, aber als ich es verstanden hatte, begann ich zu grinsen.   „Klar machen wir das. Soll ich dich erst noch herumführen oder weißt du schon, wo die Toiletten sind?“   Er schickte mir einen Blick, den ich bei jedem anderen als „Fick dich!“ übersetzt hätte. Ich ignorierte das metaphorische Messer geflissentlich und klemmte mir Anton unter den Arm, um mit ihm zusammen unsere geheiligten zwanzig Minuten abzuhängen, bevor die wunderbare Welt der Zahlen und Graphen uns in Empfang nahm.     Während ich zeichnete und rechnete und Vokabeln lernte und der Tag so vor sich hin verstrich, merkte ich gar nicht, dass ich offenbar beobachtet wurde. Dass das der Fall war, ging mir erst auf, als auf einmal ein Fahrradfahrer neben mir scharf in die Bremsen ging, während ich gerade auf dem Weg runter zu Friedrichsen war. Die Reifen wirbelten eine Staubfahne auf dem hellen Sandweg auf.   „Hey“, rief Theo und stieg halb vom Rad. „Du kriegst heute aber auch gar nichts mit.“ „Ach nein?“, fragte ich zurück. „Nein, ich hab … also ich hab in der Mittagspause versucht, mit dir zu reden, aber du warst mit Timo und Elias beim Essen, da wollte ich nicht stören.“   Tatsächlich hatte ich, da Anton wie üblich nach Hause gegangen war, mein Mittagessen zusammen mit meinen beiden zukünftigen Zeltpartnern in der Mensa verbracht. Ich hatte zwar gesehen, wie Theo kurz an der Scheibe gestanden hatte, die den Essbereich vom restlichen Schulgebäude abgrenzte, aber da dort auch alle lang kamen, die über Mittag in die Stadt gingen, und im nächsten Augenblick Jo erschienen und die beiden nach draußen verschwunden waren, hatte ich mir nicht wirklich was dabei gedacht.   „Du hättest doch dazu kommen können“, sagte ich, wohl wissend, dass ich ihn damit ein wenig provozierte.   „Na ja, ich wollte dir ja eigentlich nur sagen, dass … dass du heute und Morgen mit Jo zusammen Schicht hast. Ich hab wirklich versucht, ihn zu überreden, mit mir zu tauschen, aber er hat gesagt, er braucht das Geld. Also deswegen … na ja. Ich hab’s versucht, okay?“   Der zerknirschte Gesichtsausdruck, mit dem er das sagte, verwirrte mich. Also natürlich war ich nicht begeistert, dass ich jetzt die nächsten Stunden mit Jo abhängen würde, aber Theo tat ja geradezu so, als wenn das seine Schuld wäre. So ganz blickte ich nicht, was das sollte, aber ich schenkte ihm einfach mal ein Lächeln.   „Kein Ding. Wir werden uns schon nicht an die Gurgel gehen.“ „Klar. Weiß ich doch. Ich wollte nur …“ „Theo!“   Er sah mich erschrocken an. War er etwa nervös? Er krallte sich so an seinem Lenker fest.   Ich lächelte nochmal. „Kein Stress, okay? Ich werde Jo nicht auseinandernehmen und ich werde auch nichts sagen wegen dieser anderen Sache. Ehrenwort.“   Theo atmete hörbar aus. „Okay. Und danke. Vielleicht kann ich Holger ja überreden, dass er das bei der nächsten Plänen berücksichtigt.“ „Das wäre cool.“ „Gern.“ „Ich arbeite nämlich am liebsten mit dir zusammen.“   Jaaaa, das war gemein. Aber irgendwie reizte es mich gerade, ihn ein bisschen zu ärgern. Immerhin war er derjenige gewesen, der mir in den letzten Wochen so auf den Pelz gerückt war. Sollte er ruhig mal merken, wie sich das anfühlte.   „Äh, ja. Gut. Ich werd sehen, was ich tun kann.“ „Das wäre wirklich nett von dir.“   Ich strahlte ihn an und konnte mir kaum noch das Lachen verkneifen. Das Ganze schien ihm auf einmal echt unangenehm zu sein. Hatte da etwa jemand Angst vor seiner eigenen Courage? Wie drollig.   Tatsächlich stotterte er nur noch irgendeine Verabschiedung, bevor er sich auf sein Rad schwang und davondüste. Und ich? Ich schob mein eigenes Rad dem Unvermeidlichen entgegen. Ein wunderbarer Nachmittag mit Jo. Aber danach würde ich schließlich Julius wiedersehen und das entschädigte mich gerade für eine ganze Menge, selbst wenn das Treffen im Endeffekt nur aus einer spendierten Cola und einem verstohlenen Kuss auf dem Gang zu den Toiletten bestand, weil das „Monopoly“ einfach mal brechend voll war und er keine Zeit für mich hatte. Gelohnt hatte es sich trotzdem, denn ich hatte den Heimweg bestimmt noch nie so schnell bewältigt wie an diesem Abend. Liebe verlieh wohl tatsächlich Flügel.     Als ich zu Hause ankam, hatte meine Mutter schon das Essen auf dem Tisch. Während wir beide vor unseren Tellern saßen, räusperte sie sich plötzlich und legte ihr Besteck weg.   „Also, Benedikt, ich wollte gerne noch mal mit dir reden. Wegen gestern.“   Der Bissen, den ich gerade im Mund hatte, wurde mit einem Mal etwa dreimal so groß und zäh wie Gummi. Sollte man bei Kartoffelbrei gar nicht denken oder? Aber wer weiß, was die Hersteller da in die Packung getan hatten. Füllwatte vielleicht. Oder Kautschukschnipsel. Mit viel Mühe würgte ich ihn trotzdem herunter.   „Ja?“   Ich sah nicht auf, sondern starrte weiter stur auf meinen Teller. Mist. Was würde sie jetzt sagen? Ob sie doch was gemerkt hatte?   „Also wie du ja weißt, habe ich mich gestern mit Andreas getroffen und …“   Ach du liebe Güte, es ging um ihr Date. Na dann. Ich atmete innerlich auf. Ein bisschen zumindest. Immerhin sprachen wir hier davon, dass irgendein Kerl, der in einem Elektrogeschäft arbeitete, an meiner Mutter rumgrub. Nicht, dass ich Vorurteile hätte oder so, aber man durfte ja wohl noch Ansprüche stellen.   „Es war ein sehr netter Abend und … heute hat er angerufen und mich gefragt, nun ja … ob ich wohl morgen mit ihm ins Theater gehen möchte. Ich würde ihm gerne zusagen. Allerdings wollte ich vorher noch einmal mit dir darüber sprechen.“   Ich nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf, während ich mir noch Bratwurst und Kartoffelbrei in den Mund stopfte. Gemüse war ja auch noch da. Soll ja gesund sein, nicht wahr? Erbsen und Möhren. Sehr ansprechend. Also rein damit.   „Geh nur. Ich komm klar“, gab ich dementsprechend undeutlich von mir. Alles, damit sie nicht merkte, dass ich mich über die Ankündigung tierisch freute und mir mit aller Macht ein Grinsen verkneifen musste.   Meine Mutter musterte mich skeptisch. „Bist du dir sicher?“   Und wie ich mir sicher war. Dass sie nicht da war, hieß nämlich, dass ich mich nach meiner Schicht im Sportgeschäft mit Julius treffen konnte, ohne irgendwelche Ausreden erfinden zu müssen. Aber das durfte sie natürlich nicht wissen. Also nickte ich nur erneut mit dem Mund voller Essen und hob einen Daumen. Sie runzelte die Stirn, sagte aber nichts, sondern widmete sich erneut ihrer eigenen Mahlzeit. Verdammt. Also an meinen Schauspielkünsten musste ich definitiv noch arbeiten. Bei Diana würde ich mit so einer lahmen Darbietung nicht durchkommen. Vielleicht sollte ich mal einen Kurs an der Volkshochschule belegen. „Heucheln für Anfänger“ oder so. Gab es doch mit Sicherheit und war bestimmt auch noch in anderen Situationen hilfreich. Wenn einen später der Chef fragte, wie man seine neue Krawatte fand zum Beispiel.   Ich malte mir bereits aus, was ich wohl mit Julius machen würde, als plötzlich mein Handy einen Ton von sich gab. Natürlich tat ich so, als hätte ich es nicht gehört, aber als meine Mutter sich noch einmal Nachschlag holte, zog ich es schnell aus der Hosentasche. Eine Nachricht von Julius. Dem hatten wohl die Ohren geklingelt.   'Vermisse dich', stand dort zusammen mit ein paar bunten Smileys, die wohl nicht alle ganz jugendfreie Bedeutungen hatten. Ich grinste und schickte nur ein schnelles 'Ich dich auch.' zurück, bevor ich wieder so tat, als wäre nichts passiert. Dass meine Mutter in ihren Kartoffelbrei lächelte, ignorierte ich einfach mal. Wahrscheinlich dachte sie, dass ich mir mit einem Mädchen schrieb. Na sollte sie. Irgendwann würde ich es ihr sagen, aber jetzt bestand doch im Prinzip gar kein Grund dazu. So gar keiner. Ging doch niemanden was an, mit wem ich rummachte und welches Geschlecht dieser jemand hatte. Ich fragte sie ja auch nicht, ob sie mit diesem Andreas schon rumgeknutscht hatte. So was nannte sich Privatsphäre. Und ich war schließlich vernünftig. Sie konnte sich da auf mich verlassen. Von daher alles cool. Gar kein Grund zur Beunruhigung. Kapitel 33: Von heimlichen Treffen und gläsernen Realitäten ----------------------------------------------------------- „Du willst WAS?“   Julius und ich lagen auf seinem Bett – nein, dieses Mal angezogen, keine Bange – und er hatte mir gerade einen Vorschlag gemacht, von dem ich nicht so recht wusste, wie ich ihn finden sollte.   „Ich hab gesagt, ich will mit dir nach Hamburg fahren, um Lali zu besuchen. Ich war ohnehin ewig nicht mehr da und sie würde dich gerne kennenlernen.“ „Öhm.“   Viel mehr fiel mir dazu gerade nicht ein. Ganz davon abgesehen, dass ich mir dafür wohl eine interessante Ausrede würde einfallen lassen müssen (Anton?) war das so ein bisschen … äh, wie sage ich das jetzt am besten? Es hatte so was von „Ich will dich meinen Eltern vorstellen“, obwohl das natürlich Schwachsinn war, denn schließlich hatte Julius’ Mutter mich ja schon kennengelernt und mit seinem Vater würde ich wohl eher nie das Vergnügen haben. Aber beim ersten Zusammentreffen mit Ilona war ich schließlich noch nicht an Julius interessiert gewesen. Also so als „Freund“-Freund. Dieser Besuch klang jetzt ein bisschen danach, als wolle er sich zunächst ein Okay von seiner Tante einholen, bevor er etwas Festes mit mir anfing. Der Gedanke gefiel mir nicht. Was, wenn ich die Prüfung nicht bestand? „Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist? Immerhin habt ihr euch doch so lange nicht gesehen. Da habt ihr sicherlich viel zu bequatschen.“   Julius’ Augen funkelten mich belustigt an. „Was meinst du denn, was in letzter Zeit großer Bestandteil unserer Telefongespräche war?“ „Ich weiß nicht? Die politische Lage in Indien?“ „Du, du Pappnase.“ „Selber.“   Natürlich hatte ich mir das schon gedacht. Immerhin hatte Julius mir inzwischen gestanden, dass er sich eigentlich schon bei unserem ersten Treffen ein bisschen in mich verguckt hatte. Das zweite hatte es dann nicht besser gemacht und … na ja. Seit dem hatte er darauf gewartet, dass ich in ihm vielleicht auch endlich mehr sah, weil er gewollt hatte, dass ich derjenige war, der den ersten Schritt machte. Aber ich war ja anderweitig beschäftigt gewesen. Mit Manuel. Von dem ich mir immer noch nicht so ganz sicher war, ob das mit ihm nun gut oder schlecht gewesen war. Einiges davon war schön gewesen, anderes absolut schrecklich. Und unterm Strich? Was kam dabei raus? Und konnte man das so überhaupt betrachten? Wer wusste schon, ob ich ohne ihn an diesem verregneten Nachmittag überhaupt im „Monopoly“ gelandet wäre. Ja, wer wusste das schon. „Na du bist aber schon wieder ganz weit weg“, hörte ich plötzlich eine Stimme ganz nah an meinem Ohr. Ich schüttelte leicht den Kopf und sah Julius an, der mich angrinste und mir einen Kuss auf die Nase gab. „Na los, wir müssen weitermachen.“ Ich stöhnte. „Im Ernst? Julius, es ist Freitagabend. Wie kannst du da von mir erwarten, dass ich mit dir englische Grammatik pauke? Noch dazu welche, die so elend blöd ist.“ „Weil du es mir versprochen hast und ich am Montag eine wichtige Arbeit schreibe.“ „Ja aber es ist Freitag!“   Ich klang echt weinerlich. Ich weiß. Aber das war wirklich Folter. Nicht nur, dass ich mir schon den zweiten Nachmittag hintereinander Jos blöde Fresse hatte angucken müssen, jetzt belästigte mich Julius auch noch mit seinen Hausaufgaben. Ja, ich hatte es ihm versprochen, aber da hatte ich ja nicht geahnt, dass das hieß „sofort“ und „Freitagabend“. An so einem Abend sollte man mit Pizza auf dem Sofa sitzen und sich von der Woche erholen oder meinetwegen bis in die Puppen feiern gehen, aber nicht Englisch pauken.   „Du weißt doch, dass ich morgen und übermorgen arbeiten muss. Also bleibt doch nur heute zum Lernen.“ „Was ist mit Sonntagmorgen?“, schlug ich vor. „Ich könnte zu dir kommen und wir machen es dann ganz frisch, dann hast du es bis Montag auch nicht vergessen.“   Ich sah genau, dass Julius überlegte. Er hatte dann immer so eine ganz kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Ich hatte schon gewitzelt, dass er in fünf Jahren bestimmt ein williges Botoxopfer wäre, woraufhin er mir eine halbe Stunde Kussverbot erteilt hatte. Eine Strafe, die mich echt hart getroffen hatte, wie ich zugeben musste. Zumal er sich wirklich Mühe gegeben hatte, es mir schwer zu machen. Dementsprechend ahnte ich, dass ich hier gerade eine reelle Chance hatte, aus dieser Lernsache rauszukommen, wenn ich es geschickt anstellte. „Komm schon, Julius. Wir könnten auch was Schönes machen. Alles, was du willst.“   Seine Augen leuchteten auf. „Alles?“   Ganz kurz zögerte ich. Dieses verräterische Glitzern konnte eigentlich nichts Gutes heißen. Andererseits: Julius war ein unheimlich lieber Kerl. Er würde schon nichts verlangen, zu dem ich nicht bereit war. Also nickte ich.   „Dann wirst du jetzt mit mir einen Film gucken, den ich aussuche.“   Ich ahnte Schlimmes.   „Werden sie in dem Film singen?“ „Ja.“ „Und tanzen?“ „Auch.“   Ich seufzte tief. „Na schön, welchen Schmachtfetzen hast du im Sinn?“   Er grinste und erhob sich. „Wirst du dann ja sehen. Komm mit runter. Meine Mutter geht bestimmt hoch in ihr Zimmer, wenn ich sie darum bitte.“   Ich war wirklich auf die ärgsten Sachen gefasst, als Julius den DVD-Spieler betätigte, der unter einem ziemlich kleinen Fernseher stand. Auch sein breites Grinsen war nicht unbedingt dazu angetan, mich in Sicherheit zu wiegen. Als dann allerdings das Disney-Logo auf dem Bildschirm erschien, sah ich ihn erstaunt an. Er grinste noch breiter, was eigentlich nicht ging, weil die Natur der menschlichen Schadenfreude da in weiser Voraussicht organische Grenzen gesetzt hat. „Ich hab nie gesagt, dass ich nur indische Filme schaue. Und 'Mulan' ist schließlich ein Klassiker.“   Ich schüttelte den Kopf und streckte ihm die Zunge raus, bevor ich mich mit ihm auf das gar nicht mal so antike Sofa kuschelte. Es war orange und echt gemütlich. So gemütlich, dass ich doch glatt irgendwann einschlief, bevor der Film zu Ende war. Erst als eine sanfte Stimme in mein Ohr flüsterte, dass es Zeit war aufzustehen, erwachte ich langsam wieder aus meinem Schlummer. „Wie spät ist es?“ „Halb zehn.“ „Oh Mist. Ich muss nach Hause.“ „Ich weiß.“   Er strich mir durch die Haare und sah mich mit so einem Ausdruck auf dem Gesicht an, dass ich mich unmöglich erheben konnte. Stattdessen reckte ich den Kopf, damit er mich küsste. Was er tat. Allerdings nur kurz. Vernünftig wie immer beendete er es, bevor das hier ausartete. Wobei ich gegen ein bisschen ausarten nichts gehabt hätte. Wirklich nicht. „Soll ich dich nicht doch bringen?“, fragte er, während ich meine Schuhe anzog. „Und mein Rad?“ „Das holst du Sonntag ab.“   Ich überlegte ernsthaft zuzusagen, bis mir gerade noch rechtzeitig der Fehler im System auffiel. „Und wie komme ich dann Sonntag her? In meinem Kaff fährt an dem Tag kein Bus.“   Julius öffnete den Mund und ich wusste genau, was er sagen wollte. Dass er mich abholen würde. Aber dann fiel auch ihm ein, dass das nicht ging. Noch nicht. „Na gut, dann fahr vorsichtig“, sagte er stattdessen. „Klar, immer doch. Du weißt ja: Im Wald da sind die Räuber.“ „Quatschkopf.“ „Schisser.“   Er antwortete nicht, sondern lächelte nur und gab mir noch einen langen Abschiedskuss, bevor er mich hinaus auf die Straße entließ.   Der Samstag kam und ging fast ohne besondere Vorkommnisse. Meine Mutter war Freitagnacht erst lange nach mir nach Hause gekommen und ich hatte mich schlafend gestellt, sodass wir dort keinerlei Reibungspunkte hatten. Als ich ihr allerdings Samstagabend erzählte, dass ich am nächsten Tag weggehen wollte, wurde sie dann doch hellhörig. „Ach, du bist verabredet? Mit wem denn?   „Ich treff mich mit … “ Ich konnte nicht schon wieder Anton sagen. Zumal es ein Sonntag war. Wenn meiner Mutter vielleicht doch irgendwann einfiel, dass Anton sonntags eigentlich keinen Besuch bekam, war ich fällig. „…ein paar Leuten aus der Schule. Wir wollen … schwimmen gehen.“   „Wo wollt ihr denn hin?“ „Einfach ins Schwimmbad. Kann aber sein, dass wir danach noch zu McDonald’s gehen, um heimlich Fast Food zu essen, den unsere Mütter uns sonst immer verbieten.“ „Nun werd mal nicht frech, junger Mann.“ „Würde mir nie einfallen.“   Ich grinste und sie guckte nur einen Augenblick lang böse, bis sie seufzte und natürlich den obligatorischen Zeigefinger hob, dass ich nicht zu spät heimkommen sollte wegen der Hausaufgaben. Da Julius allerdings spätestens um 16 Uhr im „Monopoly“ erwartet wurde, würde das sicherlich kein Problem werden.   Julius wiederum guckte etwas sparsam, als ich am Sonntag mit meiner Sporttasche bei ihm aufschlug.   „Hast du vor hier zu übernachten?“ Der Gedanke war gar nicht mal so unreizvoll, trotzdem schüttelte ich den Kopf.   „Nee, meine Mutter denkt, ich bin mit ein paar Leuten zum Schwimmen verabredet.“ „Ach so.“   Ich warf noch einen Blick auf die Tasche, die ich in eine Zimmerecke geworfen hatte und kam nicht umhin zu denken, dass ein bisschen sportliche Betätigung mir durchaus lieber gewesen wäre, aber es half ja nichts. Julius und ich mussten Grammatik büffeln. Und wie. Er hatte zwar erwähnt, dass Sprachen nicht so seins waren, aber dass er so schlecht war, hatte selbst ich nicht gedacht. Nach knapp zwei Stunden hatten wir es allerdings so einigermaßen hin und uns das Mittagessen, das seine Mutter gekocht hatte, redlich verdient. Als wir danach wieder in seinem Zimmer standen, zog ich ihn an mich.   „Und was machen wir jetzt?“, fragte ich in möglichst neutralem Ton. „Was hast du dir denn vorgestellt?“ „Weiß nicht.“   Ich zuckte mit den Achseln. Eigentlich hatte ich schon eine Idee, was ich jetzt gerne mit ihm machen wollte, aber ich wusste nicht, ob das jetzt irgendwie komisch rüberkam. Zumal der Gedanke, dass wir beide uns hier mehr oder weniger unbekleidet herumwälzten, während die anderen, braven Bürger ihr sonntägliches Mittagsschläfchen hielt, fast schon ein wenig eigenartig war. Wir würden bestimmt leise sein müssen. Oder wenigstens das Fenster zumachen, was anhand der steigenden Temperaturen unterm Dach auch nicht gerade attraktiv erschien.   Er lächelte. „Was hältst du davon, wenn wir tatsächlich Baden gehen?“ „Ins Schwimmbad?“ „Nein, ich weiß da was Besseres. Dort sind wir vermutlich ungestört und haben den ganzen Strand für uns alleine.“   Okay, das klang doch gar nicht schlecht.   „Na dann pack mal die Badehose ein.“ „Ich wollte eigentlich nackt ins Wasser.“ „Himmel, meine Nerven.“   Natürlich packten wir doch ganz ordentlich eine Badehose für Julius ein, bevor wir uns ins Auto setzten und er mit mir erst einmal eine halbe Weltreise machte. Als wir in einer kleinen Seitenstraße irgendeines Dorfes anhielten, dachte ich wirklich, er hätte sich verfahren. Hier gab es nämlich nichts außer drei Häusern und jeder Menge Bäume. Von Strand keine Spur. „Wo sind wir hier?“ „Wirst du gleich sehen. Wir müssen erst noch ein Stück zu Fuß gehen.“ „Na da bin ich ja mal gespannt.“   War ich tatsächlich, denn nachdem wir erst durch ein kleines Waldstück gelaufen waren, standen wir plötzlich mitten im Schilf. Ich meine, ich bin ja nicht ganz klein, aber da war wirklich so überhaupt nichts mehr zu sehen außer einer grünen Blätterwand, die sich rechts und links des Weges im Wind wiegte. Außer dem Wispern der Blätter waren auch alle Geräusche verstummt. Wir waren vollkommen allein inmitten eines raschelnden, grünen Korridors, über dem sich ein wolkenloser, blauer Himmel spannte. „Was ist? Kommst du?“   Julius stand auf dem Weg und sah mich mit leicht zusammengekniffenen Augen an. Heute trug er eine khakifarbene, kurze Hose und ein enges, weißes T-Shirt. Seine bloßen Füße steckten in braunen Sandalen. Ich hingegen war in Jeans und Turnschuhen unterwegs. Müßig zu erwähnen, dass mir zu warm war.   „Ja, klar, warte.“   Ich schloss zu ihm auf und nach einem kurzen Zögern griff ich nach seiner Hand. Der Weg war breit genug, so dass wir nebeneinander laufen konnten, ohne kopfüber ins Schilf zu kippen. Er lächelte und seine Finger schlossen sich enger um meine, bevor wir tatsächlich Hand in Hand durch das grüne Dickicht liefen.   Hinter einer Biegung endete der ungewöhnliche Spazierweg dann plötzlich. Das allgegenwärtige Grün wich zurück und gab den Blick auf einen breiten Wasserlauf frei. Am anderen Ufer gab es einen Sandstreifen, der zunächst in eine unebene Wiese und dann wieder in eine bewaldete Fläche überging. Beherrscht wurde das Bild jedoch von einer breiten, hölzernen Treppe, deren rutschfeste Bohlen auf eine von vier massiven Betonpfeiler getragene Brücke hinaufführten. Von hier unten sah es aus, als würden die Stufen direkt in den Himmel führen.   „Wer zuerst oben ist.“   Kaum hatte er das gesagt, hatte Julius schon meine Hand losgelassen und war losgelaufen.   „Ey!“, rief ich ihm hinterher und schaffte es natürlich nicht, ihn einzuholen. Zum Glück wartete er oben auf mich. „Erster“, grinste er und lehnte sich an das graue Geländer. „Und? Hab ich zu viel versprochen?“   Ich sah mich um und wusste sofort, was er meinte. So weit das Auge reichte nur Wasser und Freiheit. Die Brücke, auf der wir standen, war an einer Engstelle zwischen zwei riesigen Seen errichtet worden. Die beiden von üppigen Schilfgürteln umrandeten Wasserflächen wurden lediglich durch eine schmale Landbrücke von dem mindestens noch einmal so breiten Meeresarm der Ostsee abgetrennt, auf dessen anderer Seite sich die Stadt befand, aus der wir gekommen waren. Von hier aus betrachtet wirkte sie seltsam unwirklich. Alles war so winzig klein. Selbst der markante Dom mutete an, als wäre er Teil einer Miniatur-Landschaft für Modelleisenbahnen. Vielleicht lag es auch daran, dass man die Menschen nicht mehr erkennen konnte. Man wusste, dass sie da waren, aber sie waren einfach so weit weg, so unerreichbar, das man unmöglich mit ihnen verbunden sein konnte. Als wären auch sie nur kleine Püppchen, nicht mehr als Spielzeuge, unecht und unbewegt. Eine Stadt in einer Schneekugel, während sich um uns herum das unendliche Wasser und das weite Grün der üppigen Landschaft ausbreitete.   Unwillkürlich atmete ich tief ein und konnte Julius neben mir lächeln hören. „Du merkst es auch, nicht wahr?“ „Was?“ „Das Gefühl, einfach mal durchatmen zu können. Sich keine Gedanken machen zu müssen und einfach nur zu sein, wer man ist.“   Wieder sah ich auf das Wasser hinaus. Ja, das war es, was ich in mir spürte. Dieses Gefühl größer zu sein, als man eigentlich war. Ein Teil des Ganzen, statt nur ein Fremdkörper in einer Welt, die anders funktionierte als man selbst. Nicht nur in sich zu ruhen, sondern auch aus sich herausgehen zu können. Ohne Angst etwas verkehrt zu machen. Ohne Angst, irgendwo anzuecken. Weil es hier vollkommen egal war. „Komm, wir schauen mal, wie die Wassertemperatur ist.“ „Dieses Mal bin ich aber Erster.“   Als ich tatsächlich vor Julius ins Wasser sprintete, nachdem ich mir meine Klamotten bis auf die Badehose vom Leib gerissen hatte, wünschte ich jedoch, dass ich lieber der ewige Zweite geblieben wäre. Es war nämlich einfach mal nur arschkalt. So zwei Zentimeter kalt, wenn ihr versteht, was ich meine.   „Ohne mich“, jaulte ich und sprang sofort wieder auf trockenen Boden zurück, wo ich bibbernd die Arme um mich schlang und mich die wunderbare Natur gerade mal kreuzweise konnte. Das war doch nicht in Ordnung. Von oben verbrennen und von unten in Eis packen. Aber ohne mich. Ich würde da ganz bestimmt nicht reingehen.   „Kneifst du etwa?“, lachte Julius, der sich gerade mal das T-Shirt über den Kopf gezogen hatte. „Du wusstest das!“, keifte ich zurück. „Du hast gewusst, dass das einfach mal mördermäßig kalt ist.“ „Was hast du erwartet? Es ist gerade mal Mai.“   Ich sah ihn grummelig an, während er doch jetzt tatsächlich Anstalten machte, ins Wasser zu waten. Meinetwegen. Sollte er. Ich war doch nicht Reinhold Messner oder wie auch immer die seeische Entsprechung dafür hieß. Ich musste mir hier gar nichts beweisen. Schon gar nicht, indem ich mir im wahrsten Sinne des Wortes einen abfror. „Wenn du mitkommst, könnten wir uns nachher gegenseitig wärmen“, bot Julius an und grinste, da man mir wohl ansah, dass ich aufgrund dieser Verlockung echt überlegte. Bei den Temperaturen wollte ich mir danach zwar eher was anziehen - viel anziehen wohlgemerkt – aber die Idee, das Julius dafür sorgen würde, dass mir wieder warm wurde, machte das Anbaden deutlich attraktiver. Und vielleicht musste ich mir ja doch ein ganz kleines bisschen was beweisen. Immerhin sah mein Beinahe-Freund zu. „Na gut. Du hast es nicht anders gewollt“, grollte ich und bevor Julius wusste, wie ihm geschah, hatte ich die Entfernung zwischen uns überwunden, ihn einfach ins Wasser geschmissen und mich gleich hinterher. Wurde ja eh nicht besser, wenn man lange wartete, nicht wahr?   Julius kreischte entgegen seiner gerade noch so großen Schnauze ziemlich erschreckt auf, rächte sich dann jedoch sofort, indem er mich in dem eiskalten Tümpel festhielt und unter Wasser drückte. Na warte, das wirst du mir büßen. Im nächsten Augenblick war er derjenige, der die Luft anhalten musste, als ich mich mit vollem Gewicht auf ihn schmiss. Wir tobten und balgten und dabei vergaß ich irgendwie völlig, dass mir eigentlich kalt war, bis ich irgendwann bemerkte, dass Julius am ganzen Leib Gänsehaut hatte. Als ich sah, dass er auch noch zitterte und schon ganz blaue Lippen hatte, schlug ich ihm fest vor die Brust. „Warum hast du nicht früher was gesagt?“ „W-wollte n-nicht a-aufgeben.“ „Spinner!“ „S-selber.“   Ich grinste und schob ihn in Richtung Ufer, wo wir uns zuerst abtrockneten und uns dann auf das verbliebene, trockene Handtuch quetschten. Julius war kalt wie ein Fisch, aber ich wickelte mich trotzdem um ihn, damit er endlich wieder ein bisschen Farbe ins Gesicht bekam. Als ich mich jedoch gerade darum bemühen wollte, die Durchblutung seiner Lippen noch ein bisschen zusätzlich anzukurbeln, hörten wir plötzlich einen Hund ganz in der Nähe bellen. Es folgte ein Pfiff und ein Ruf, der ankündigte, dass der Hund offenbar nicht allein war. Sofort stoben wir auseinander und setzten uns ganz manierlich nebeneinander hin. Julius zitterte immer noch und ich griff verstohlen nach seiner Hand, um wenigstens ein bisschen innere Wärme an ihn abzugeben, aber er entzog sie mir wieder und nickte nur in Richtung Brücke. Dort oben war jetzt ein Mann mit einem Boxer erschienen. Der Hund wetzte die Treppe hinunter, blieb kurz stehen um uns zu mustern und trollte sich dann ans Ufer, wo er interessiert an unseren Fußspuren herumschnüffelte. Sein Herrchen folgte deutlich gemächlicher und nickte uns freundlich zu. „Mutig. Ist doch bestimmt noch kalt.“ „Ach, geht“, gab ich zurück. Julius schwieg nur.   Der Mann pfiff wieder nach dem Hund, der bellend zurückgerannt kam und erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelte, als er sah, dass sein Herrchen einen großen Ast zur Hand genommen hatte und diesen kurzerhand ins Wasser warf. Sofort sprang der Hund hinterher und preschte in vollem Tempo in die kalten Fluten, um sich das gute Stück wieder unter den Nagel zu reißen. Stolz wie Oskar brachte er es seinem Herrn zurück, der das Spiel gleich nochmal wiederholte. Und nochmal. Und nochmal „Komm, wir gehen“, murmelte Julius.   Ich sah ihm an, dass er enttäuscht war. Natürlich konnte der Mann nichts dafür. Das hier war wahrscheinlich seine normale Ausgehroute oder er war halt hierher gekommen, um mit dem Hund schwimmen zu gehen. Konnte man ihm ja nicht verdenken. Aber für uns bedeutete das, dass die Realität in unsere kleine, grüne Blase eingebrochen war. Es hatte uns gezeigt, dass wir die in der Schneekugel gewesen waren. Und jetzt hatte sie jemand vom Regal gestoßen. Das Wasser war ausgelaufen, der Zauber verflogen. Willkommen zurück im richtigen Leben. „Wir könnten noch zu dir nach Hause“, schlug ich vor, als wir wieder am Auto waren, aber Julius schüttelte den Kopf.   „Ich muss mich langsam fertig machen. Duschen und so. Wäre eh Zeit gewesen zu gehen.“   Ich wollte irgendwas sagen, dass es besser machte, aber mir fiel nichts ein. Und irgendwie hatte ich auch ein wenig das Gefühl, dass es meine Schuld war. Wenn ich nicht … na ja. Es hätte vieles einfacher gemacht.   „Mach dir nichts draus“, unterbrach Julius meine Gedanken. „Wir kommen ein anderes Mal wieder.“   Ich sah ihn an und er lächelte. Keine Spur von Vorwurf oder gar Bedauern. Einfach nur sein liebes, sanftes Julius-Lächeln. Also schob auch ich meine Mundwinkel nach oben und hoffte, dass ich ebenso zufrieden aussah wie er. Manchmal war glücklich sein eben wohl doch Einstellungssache. Nur würde ich, wie es aussah, an meiner Einstellung noch ein bisschen arbeiten müssen. Kapitel 34: Von gemeinsamen Hausaufgaben und gefüllten Teigtaschen ------------------------------------------------------------------ Mit Montagen ist das ja so ne Sache. Wie schon Kater Garfield wusste, sind Montage die schlimmen Finger unter den Wochentagen. Die Igitt-Tage. Die, die man eigentlich aus dem Kalender streichen müsste, wenn dann nicht mit Sicherheit irgendein anderer Tag auf den Platz des Wochenbösewichts nachrücken würde. Der Mittwoch zum Beispiel, weil er einem vorgaukelt, man hätte es schon fast geschafft, nur um dann doch noch Donnerstag und Freitag hinterherzuschieben, bevor endlich Wochenende ist. Ich bedauere Leute, die an Samstagen arbeiten und somit einen Tag länger auf ihre verdiente Freizeit warten müssen. (Ganz zu schweigen natürlich von denen, die auch sonntags arbeiten und irgendwie gefühlt nie freihaben.) Inzwischen gehörte ich zwar gewissermaßen dazu, aber für mich war das ja mehr so „bezahlte Freizeitaktivität“ und nichts, mit dem ich für meine Miete und ähnliches aufkommen musste. Aber sei es, wie es ist. Montag gefällt eigentlich fast niemandem und ist daher lediglich in der Version „Pfingstmontag“ oder „Rosenmontag“ zu ertragen, wobei letztere bei uns hier oben auch irgendwie flachfällt. Bleibt halt nur noch zu hoffen, dass möglichst viele andere Feiertage auf diesen ersten aller Wochentage fallen und dass außerdem der Jahresanfang günstig liegt, sodass es insgesamt nur 52 dieser gemeinen Scheußlichkeiten gibt.   Heute allerdings führte kein Weg daran vorbei. Es war Montag und ich gähnte mir vor dem Physiksaal einen ab, weil ich vielleicht eventuell möglicherweise gestern Abend noch ein bisschen zu lange wach war. Eigentlich hatte ich nur noch ein winziges Stündchen zocken wollen und auf einmal hatte die Uhr dann eine Zeit mit ner Null vorne und ner ziemlich großen Zahl dahinter angezeigt. Dementsprechend hingen meine Augenlider heute Morgen auf Halbmast mit Tendenz nach unten.   „Weckst du mich, wenn Physik vorbei ist?“, fragte ich Anton. Ich brauchte echt noch ne Mütze voll Schlaf. Im Bus hätte ich ja gerne, aber ich war in so eine Schar kreischende Kiddies geraten, die sich auch von meiner extrem erwachsenen Ausstrahlung nicht hatten abschrecken lassen. Diese Jugend von heute. Echt mal, ging gar nicht. Allein die Tonfrequenz. Brr.   „Du solltest auf ausreichend Nachtschlaf achten“, gab Anton zurück.   Ich verzog das Gesicht. „Vielen Dank, Dr. Wischnewsky. Da wäre ich ja nie drauf gekommen.“   „Gern geschehen.“   Manchmal prallte Sarkasmus echt an ihm ab wie ein frisch ausgepackter Tennisball.   Während ich noch überlegte, ob ich Anton wohl ungestraft als Kopfkissen benutzen konnte, fiel mein Blick auf Theo. Der sah heute auch nicht gerade frisch aus. Na, das konnte ja was werden heute Nachmittag mit uns zwei Schlaftabletten. Ich hatte nämlich mitbekommen, dass wir wohl mal wieder zusammen Schicht hatten. Das ließ mich darüber nachdenken, ob wir eventuell die Zeit bis dahin zusammen verbringen konnten. Schließlich waren von Schulschluss bis Arbeitsantritt noch fast zwei Stunden rumzubringen. Ich beschloss, ihn nachher einfach mal danach zu fragen. War doch nichts dabei. Er war schließlich auch nichts Besonderes und ich hätte ebenso jeden anderen aus der Klasse danach fragen können. Warum also nicht ihn? Alles ganz easy.     Dass es nicht ganz so einfach werden würde, zeigte sich, als ich Theo tatsächlich nach dem Sport darauf ansprach. Er sah eigentlich ganz erfreut aus und wollte wohl gerade antworten, als ihm plötzlich Jo in die Parade fuhr.   „Warum sollte er denn mit dir rumhängen wollen?“ „Äh …“   Für einen Moment war ich echt sprachlos. Was ging ihn das denn an. Da sah ich auf einmal Oliver, der sich im Hintergrund einen abgrinste und mir war klar, woher Jos angestachelte Meinung kam. Man, den Kerl würde ich mir irgendwann mal zur Brust nehmen müssen. Jetzt jedoch hatte ich nicht vor, das Testosteron hier so hochkochen zu lassen. Deswegen setzte ich einfach ein Lächeln auf und sah Jo so freundlich wie möglich an.   „Na weil ich ein netter Typ bin. Ebenso wie du. Außerdem arbeiten wir nachher zusammen, warum also sollten wir nicht miteinander abhängen?“ „Aber …“   Jo wollte wohl noch irgendwas erwidern, aber Theo kam ihm zuvor.   „Man Jo, jetzt komm mal wieder runter. Du bist nicht meine Mutter und ich kann rumhängen mit wem ich will. Oder verbiete ich dir, dich mit irgendwelchen Leuten zu treffen, selbst wenn sie den geistigen IQ einer rechtsradikalen Amöbe haben?“   Mir war natürlich klar, auf wen er damit anspielte, und offenbar wusste Jo das auch. Er warf mir noch einen finsteren Blick zu und brummelte irgendwas Unfreundliches, bevor er sich verzog. Ich hätte mich ja gerne über seine Schlappe gefreut, aber als ich Theos Gesicht sah, war mir nicht mehr nach Feiern zumute. Hinter den randlosen Brillengläsern tobte ein Sturm und er musste sich sichtbar zwingen, mir wenigstens ein halbes Lächeln zu schenken.   „Klar machen wir nachher was zusammen. Bücherei oder Pausenhalle?“ „Pausenhalle klingt gut.“ „Okay, machen wir so.“   Ich nickte ihm nochmal zu, während ich mich an meinen Platz verzog und dort erst einmal meine Sachen vom Boden klauben musste. Wäre ja kein Problem gewesen, wenn nicht meine Hose gefehlt hätte. Suchend sah ich mich um, konnte sie aber nirgends entdecken. Voll unguter Vorahnungen wanderte mein Blick in Richtung Waschräume. Da drinnen lief eine Dusche.   Die Vorahnungen verdichteten sich, als ich die Tür aufschob und unter dem prasselnden Wasserstrahl ein nasses Stoffbündel auf dem Boden lag. Es brauchte nicht viel um sich auszurechnen, dass das meine Jeans war. Na prima. Würde ich also in Shorts den Tag bestreiten müssen, nur weil Oliver oder Jo oder beide sich auf den Schlips getreten fühlten. Na meinetwegen. War ja nur Wasser. Würde schon wieder trocknen.   „Was ist los?“, hörte ich da plötzlich eine Stimme neben mir. Theo. Er schob sich an mir vorbei und besah sich die Sauerei.   „Diese …“ Er ballte die Hand zur Faust, bevor er mich entschuldigend ansah. „Ich red mit ihm, okay?“   Es war wirklich verlockend, meine anscheinend gerade neu gewonnene Position auszunutzen und Jo eine Lektion zu erteilen, aber irgendwie … nein.   „Lass gut sein“, winkte ich ab. „Ich hab doch noch die Sporthose und wenn sie meinen, dass ich mich auf das Niveau herablasse, haben sie sich geschnitten. Dafür müsste ich mir nämlich erst mal ne Schaufel besorgen.“   Theo sah mich einen Augenblick irritiert an, bis er die Anspielung kapierte und anfing zu grinsen.   „Für Oliver bräuchtest du da vermutlich einen Bagger.“ „Bohrinsel womöglich.“ „Aber wenn du auf Öl stößt, will ich beteiligt werden.“   Ich schüttelte den Kopf und versuchte ein möglichst ernstes Gesicht zu machen.   „Keine Chance. Wenn ich tatsächlich damit reich werde, geht das ganze Geld an eine Stiftung für unterbelichtete Jugendliche. Wenn ich mir das hier so ansehe, gibt es da echt Bedarf.“   Wir lachten beide und auch wenn ich nicht so recht wusste, wo ich meine quatschnasse Hose jetzt lassen sollte, und mich einige belustigte Blicke trafen, als ich in den nicht ganz so schicken Shorts meinen restlichen Unterricht antrat, war ich mir dennoch sicher, dass dieser Montag unter einen der besseren fiel. Deswegen zog ich es wohl auch vor, Julius nach Schulschluss nichts von dem Vorfall zu schreiben, sondern erkundigte mich stattdessen nur bei ihm, wie seine Klassenarbeit gelaufen war. Er war zuversichtlich und schickte mir ein paar dankbare Smileys. Ich war gerade dabei, eine Antwort zu tippen, als sich jemand auf den Stuhl gegenüber fallen ließ. Es war Theo.   „Lass dich nicht stören“, meinte er und deutete auf mein Handy.   „Bin gleich fertig“, antwortete ich und schickte Julius noch einen Kuss und das Versprechen, dass wir uns morgen im „Monopoly“ sehen würden. Danach legte ich es auf den Tisch.   Theo musterte mich, als würde ihm eine Frage auf den Lippen brennen.   „Was?“, machte ich und fing an, meine Mathesachen rauszuholen. Herr Schrader hatte es heute gut mit uns gemeint. Eine ganze Reihe lecker Aufgaben wartete auf uns.   „Deine Freundin?“, meinte Theo plötzlich und deutete in die Richtung meines Handys.   Ich verschluckte mich fast an meiner eigenen Spucke. Wie war er denn jetzt darauf gekommen? Mist. Ich musste auf der Stelle aufhören, so ertappt auszusehen. War doch normal, dass man eine … Freundin hatte. Alles ganz cool.   „Ich … du sahst so aus“, murmelte Theo, als ich weiterhin schwieg, und holte nun ebenfalls irgendwelche Hefte aus seinem Rucksack.   „Ja, ja, das war meine Freundin“, beeilte ich mich zu versichern und schickte eine gedankliche Entschuldigung an Julius. „Also wir arbeiten zumindest daran.“   Warum sagte ich das jetzt?   Theo runzelte die Stirn. „Aber ich dachte …“   „Na ja, ist ein bisschen komplizierter. Da war zunächst noch jemand anderes und das … also …“   Man, was laberte ich denn da? Das war ja fast, als wollte ich, dass er mich erwischte. Ich musste echt damit aufhören. Also schloss ich den Mund und lächelte einfach nur ein bisschen nichtssagend. Theo sah mich noch einen Augenblick lang komisch an, bevor er sein Heft aufklappte. Mit aufgeblasenen Backen besah er sich die Gleichungen.   „Meinst du, du kannst mir das gleich noch erklären? Ich brauch immer Stunden dafür.“ „Klar, mache ich. Wo hast du denn am meisten Probleme?“ „Such dir irgendeine Stelle aus. Es kann nur die richtige sein.“   Ich grinste und dann machte ich mich daran, den Stoff so einfach wie möglich in Theos Kopf reinzukriegen. Es dauerte eine ganze Weile, aber irgendwann schien es tatsächlich 'Klick' zu machen und er löste die letzten Aufgaben ohne meine Hilfe. Als er damit fertig war, lehnte er sich auf dem Stuhl zurück, nahm die Brille ab und rieb sich über die Augen.   „Man, der Scheiß nervt vielleicht.“   Ich sah ihn ganz fasziniert an. Das letzte Mal ohne Brille hatte ich ihn an dem Tag gesehen, als er sie in dieser Mathestunde zerbrochen hatte. Als ich mich in ihn … Das schien schon eine Ewigkeit her zu sein.   „Du kommst schon noch dahinter.“   Er setzte die Brille wieder auf und seufzte. „Ich hoffe es. Momentan … ach, nicht so wichtig.“   Er begann, seine Sachen einzupacken, aber ich war mir sicher, dass da noch was war, über das er gerne geredet hätte. Aber sollte ich ihn einfach danach fragen? Vielleicht …   „Was ist denn nun eigentlich mit Mia?“   Er stockte kurz, bevor er weiter einpackte.   „Nichts.“ „Wie nichts?“ „Na nichts. Was soll mit ihr sein?“   Alles klar, mein Lieber. Dass du mich gerade nicht ansiehst und drei Ewigkeiten brauchst, um ein lächerliches Heft in deinen Rucksack zu friemeln, ist natürlich ganz klar nichts.   „Ich dachte, du bist in sie verknallt.“   Es war fast lustig zuzusehen, wie er krampfhaft versuchte, mir auszuweichen.   „Und?“ „Warum sprichst du sie dann nicht mal an?“ Er schnaubte. „Wegen Jo?“   Ich verkniff mir gerade noch so ein Augenrollen. „Der hat doch eh keine Chance bei ihr.“   „Na ja, aber …“ Theo zuckte mit den Schultern.   Einen Augenblick lang versuchte ich mir ernsthaft vorzustellen, wie es wäre, an seiner Stelle zu sein. Leider klappte das mit Anton so gar nicht. Der war ja anscheinend weder an weiblicher noch an männlicher Gesellschaft interessiert. Also anders. Was wäre, wenn … äh … Timo ein Computerspiel hätte, das Anton unbedingt haben wollte, Timo aber nur mir ausborgen wollte. Gut, das Beispiel hinkte auch, weil man so ein Spiel natürlich hätte zusammenspielen können und hinterher weiterverleihen und … Argh, ganz falsche Richtung. Menschen waren doch keine Gegenstände. Aber vielleicht …   „Warum besorgst du ihm nicht einfach ne andere Freundin?“   Theo sah mich an, als wäre ich gerade vom Mond gefallen mit nichts als einem rosa Tutu am Leib.   „Und wie soll ich das anstellen?“ „Keine Ahnung. Vielleicht machst du ihm ne Schleife um den Hals und versteigerst ihn auf dem Jahrmarkt. Oder du lässt ein paar Mädels Lose ziehen. Wer die Niete bekommt, hat dann Jo an der Backe.“   Ja, gut, der Seitenhieb war fies, aber Theo schien das nur halb zu bemerken. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und das Kinn auf die Hand gestützt. Klassische Denkerpose. Ein bisschen wie diese berühmte Statue.   Anscheinend hatte ich irgendein verräterisches Geräusch von mir gegeben, denn Theo sah plötzlich auf und mir direkt in die Augen.   „Was?“ „Ach nichts?“ „Sag schon?“ „Du sahst grad aus wie diese Statue. Du weißt schon 'Der Denker' oder wie die heißt.“ „Die von Rodin?“ „Äh … ja?“   Kunst? Theo kannte sich mit Kunst aus? Na ja, wer Gedichte schrieb …   „Was hältst du von einer Party?“, fragte er plötzlich. „Ich könnte ja ein paar Leute einladen und vielleicht bekomme ich ja Jo so dazu, mit jemand anderem anzubandeln. Ich glaube, Anne wäre nicht uninteressiert. Du weißt schon, Mias beste Freundin.“ „Klingt gut.“ „Würdest du auch kommen?“   Ich?   „Ich?“   Er schob einen Mundwinkel nach oben. „Na ja, du kennst Mia doch und ich dachte, du könntest sie vielleicht fragen, ob sie kommt.“   Ich sah ihn noch einen Augenblick mit hochgezogenen Augenbrauen an, bevor ich vehement den Kopf schüttelte.   „Vergiss es. Das wäre viel zu … keine Ahnung. Du und Jo habt doch schon mit ihr gesprochen. Lad sie selber ein. Ist doch nichts dabei. Außerdem ist es deine Party.“ „Ja, wahrscheinlich hast du recht. Aber …“   Er wollte offenbar noch etwas sagen, entschied sich dann jedoch um. Schwupp und zu das Schneckenhaus. Keine Ahnung, warum er überhaupt eins hatte und warum er sich nun ausgerechnet mir gegenüber so gab. Obwohl … laut Mia-Marie wirkte ich doch so tolerant. Vielleicht war es das, was ihn mir gegenüber offener machte. Kochte eben auch nur mit Wasser der Herr von und zu. Ein bisschen sticheln musste ich dennoch.   „Vielleicht schreibst du Mia ja ein Gedicht, in dem du ihr deine Liebe gestehst. Das findet sie bestimmt toll.“   Oh-oh. Der Blick, der mich gerade traf, war ganz und gar nicht amüsiert.   „Ich schreib keine Gedichte.“ „Aber du hast doch gesagt …“ „Es sind Songtexte.“   Einige verblüffte Momente lang starrte ich ihn nur an und auch ihm schien zu dämmern, was er da gerade gesagt hatte. Prompt lief er um die Nase herum ein bisschen rosa an.   „Das … äh … am besten vergisst du das einfach wieder, okay?“   Ihm schien das echt unangenehm zu sein. Er wusste auf einmal nicht mehr, wohin mit seinen Händen und wich schon wieder meinem Blick aus.   „Warum sollte ich es vergessen?“, hakte ich vorsichtig nach. „Das ist doch voll cool.“ „Nicht, wenn die Lieder schlecht sind.“ „Und wer sagt, dass sie das sind?“ „Na ich.“   Plötzlich hatte er es ziemlich eilig, noch den Rest seiner Sachen in seinen Rucksack zu werfen und wollte sich wohl gerade vom Acker machen, als er mitten in der Bewegung anhielt, hörbar ausatmete und sich mit der Hand durch die Haare fuhr.   „Tut mir leid. Das … ist nichts gegen dich. Ich … ich will nur einfach nicht, dass …“ „Es jemand erfährt?“   Er nickte und sah mich ein bisschen unsicher an. Ich lächelte leicht.   „Du hast ziemlich viele Geheimnisse.“ „Mhm.“ „Ich würde mir gerne mal was von dir anhören. Egal wie schlecht es ist.“   Er schüttelte den Kopf. „Das ist wirklich nur eine Spielerei.“ „Eine Spielerei, die dir ziemlich wichtig zu sein scheint.“   Er öffnete den Mund und wollte wohl gerade das nächste Nein von sich geben, als er es sich anders überlegte.   „Ich … mal sehen. Vielleicht auf der Klassenfahrt. Wenn kein anderer zuhört.“ „Okay.“ „Okay.“   Er zeigte mit dem Daumen in Richtung Ausgang. „Ich … ich geh schon mal vor. Wir sehen uns unten.“ „Klar, bis dann.“   Ich sah ihm noch eine Weile nach und wurde nicht so recht schlau aus der Sache. Theo schien so ganz anders zu sein, als ich immer gedacht hatte. Menschlicher irgendwie. Ich meine, er war wirklich manchmal ne fiese, überhebliche Lästertasche, aber auf der anderen Seite war er so … verletzlich. Als wäre die schöne, lässige Fassade nur eine dünne Schale, unter der sich ein empfindliches Weichtier verbarg.   Als mir bewusst wurde, was mein Gehirn da gerade wieder für Schwachsinn fabrizierte, schloss ich die Augen und stöhnte.   „Erst Katzen, jetzt Schnecken. Theo, du wirst immer unattraktiver.“   Ich ignorierte meinen inneren Anton, der gerade anfangen wollte, mir einen Vortrag über Schalen- und Krustentiere zu halten, stopfte das uralte Biologie-Wissen wieder dahin, wo es gehört, und machte mich auch endlich auf den Weg runter zum Sportgeschäft. Immerhin würde ich heute meinen ersten Lohn bekommen und je nachdem, wie der ausfiel, würde ich Julius damit irgendwohin einladen. Mal sehen, wofür es reichen würde.     Bei Friedrichsen angekommen, erwartete mich das gewohnte Bild. Theo, der locker-flockig drauf war und nicht aus dem Rahmen fiel. Er arbeitete, wechselte ab und an ein Wort mit mir und gab sich ansonsten unbeteiligt. Vermutlich war das seine Art mir zu zeigen, dass er über das Thema von vorhin nicht mehr reden wollte, aber das war mir auch ganz recht. Mich ging die ganze Sache ja im Grunde genommen auch nichts an.   Gegen Viertel vor sechs, als wir schon anfingen, die Waren von draußen reinzuräumen, entdeckte ich auf einmal eine höchst bekannte Gestalt, die mit einem strahlenden Lächeln auf mich zukam.   „Hey!“ „Julius? Was machst du denn hier?“ „Dich überraschen?“   Wir wussten beide, was wir jetzt am liebsten machen würden, aber natürlich beließen wir es bei einer kurzen Umarmung und einem flüchtigen Streifen seiner Lippen auf meiner Wange, das niemand sehen konnte. Statt einer innigen Begrüßung hielt Julius mir eine Stofftasche entgegen.   „Hab dir was mitgebracht.“ „Oh, was denn?“ „Schau rein.“   Ich nahm ihm den Beutel ab und fand darin eine Plastikdose. Als ich sie öffnete, entströmte ihr ein wunderbarer Geruch, der meinen Magen sofort zum Knurren brachte. Er stammte von einem Haufen kleiner, dreieckiger Teigtaschen.   „Samosas“, erklärte Julius. „Hab heute welche gemacht und … na ja. Morgen sind sie nicht mehr so gut, deswegen wollte ich dir lieber heute welche vorbeibringen. Als Dankeschön für die Nachhhilfe und so.“ „Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen.“ „Natürlich ist es das.“   Er grinste und ich griff einfach mal zu und probierte, was er mir da gebracht hatte. Es war köstlich. Außen eine knusprige Teighülle und innen eine weiche, würzige Masse, von der ich lediglich die Erbsen identifizieren konnte. Ich biss gleich nochmal ab und versuchte den Geschmack einzuordnen. „Oberlecker. Was ist da drin?“, wollte ich mit vollem Mund wissen. Julius lächelte. „Kartoffeln, Erbsen und Zwiebeln. Der Rest sind Gewürze. Garam Masala, Kreuzkümmel, Koriander, Ingwer und Chili.“ „Chili? Merkt man gar nicht.“ „Ich hab nicht so viel genommen.“   Mir war natürlich klar, dass er die Dinger nicht einfach so gemacht hatte und noch dazu durch die halbe Stadt gelaufen war, nur um mir für die Englisch-Sache zu danken. Als ich ihn darauf ansprach, schmunzelte er. „Na gut, hast mich erwischt. Ich wollte dich sehen.“ „Spinner.“   Das musste ich natürlich sagen, aber es war irgendwie toll. Mein Vielleicht-Fast-Beinahe-Freund, der sich extra für mich solche Mühe machte und das, obwohl ich eigentlich gar keine Zeit für ihn hatte. Das war so … süß von ihm.   Aus den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung hinter uns. Theo, der jetzt allein die Displays verräumen musste. Prompt bekam ich ein schlechtes Gewissen.   „Äh, oh. Sorry!“, rief ich ihm zu. „Kommst du klar oder soll ich noch helfen?“ „Nein, geht schon.“   Er nickte mir zu und nahm den letzten Korb mit rein. Julius beobachtete ihn aus schmalen Augen.   „Ihr arbeitet also zusammen hier?“ „Ja, ich und noch ein paar aus unserer Klasse. Hab ich dir doch erzählt.“ „Nicht, dass er auch hier ist.“   Julius’ verletzter Ton versetzte mir einen Stich. Es war ja nicht so, dass ich ihn absichtlich angelogen hatte. Ich hatte es einfach nur vergessen zu erwähnen. Um es wieder gutzumachen, nahm ich trotz der exponierten Position seine Hand.   „Hey, keine Sorge. Das hat sich erledigt, okay? Wir sind nur Freunde. Eigentlich noch nicht mal das.“   Einen Moment lang sah Julius noch so aus wie ein Teich, in den jemand einen Stein geworfen hatte, doch dann glätteten sich die Wogen ebenso schnell wieder, wie sie gekommen waren. Im nächsten Moment lächelte er mich wieder an.   „Natürlich, wie dumm von mir. Ihr seid ja auch in einer Klasse. Selbst wenn ich wollte, könnte ich wohl nicht verhindern, dass ihr euch seht. Das wäre ja, als würde ich dir verbieten, dich mit Anton zu treffen.“   Ganz kurz musste ich daran denken, dass er heute schon der Zweite war, der über Umgangsregelungen sprach, aber Julius mit Jo zu vergleichen wäre in etwa so, als würde man eine Rassekatze und ein Warzenschwein nebeneinanderstellen. Es ging einfach nicht zusammen.   „Du musst dir keine Sorgen machen“, sagte ich leise. „Für mich gibt es nur noch einen Mann in meinem Leben.“   Natürlich war das fürchterlich pathetisch, aber es zauberte ein so wunderbares Lächeln auf Julius’ Gesicht, dass ich mich beinahe vergessen und ihn geküsst hätte. Erst im allerletzten Moment fiel mir ein, dass das nicht ging und wieder einmal musste ich feststellen, dass geheime Beziehungen doch echt kacke waren. Ich musste mir das mit dem Coming Out wirklich nochmal überlegen. So, wie die Dinge im Moment lagen, hätten die Vorteile augenscheinlich überwogen. Andererseits war der Weg bis zur vollkommenen Bekanntgabe lang, angefangen bei meiner Mutter, von der ich immer noch nicht ganz sicher war, wie sie darauf reagieren würde.   Julius hatte anscheinend erraten, wie es in mir aussah. Er lächelte wieder. „Hey, keinen Stress. Ich … ich hätte dich vielleicht hier nicht so überfallen sollen. Das war nicht gut überlegt.“   „Ach was“, winkte ich ab. „Ich komme doch auch bei dir bei der Arbeit vorbei. Gleiches Recht für alle, nicht wahr?“   Julius schenkte mir noch einen letzten warmen Blick, bevor er in Richtung Geschäft nickte.   „Ich glaube, sie warten auf dich.“   Tatsächlich standen Holger und Theo schon vor der Tür. In Theos Hand baumelte mein Rucksack.   „Äh ja, ich muss dann los. Wir sehen uns morgen.“ „Okay, bis dann.“   Ich sprintete los und nahm Theo schnell meine Tasche ab.   „Hier ist noch euer Geld, Jungs“, meinte Holger und drückte jedem von uns einen Umschlag in die Hand. Da ich ihn nicht auf der Straße aufmachen wollte, steckte ich ihn einfach in die Tasche und trottete dann hinter Theo her zum Fahrradständer.   Während wir unsere Räder aufschlossen, fühlte ich förmlich Theos Blick in meinem Nacken kribbeln. Ob es ihm auch immer so gegangen war, wenn ich hinter ihm saß? Nachdenklich sah ich die Dose mit den Samosas an.   „Willst du mal probieren?“ fragte ich plötzlich und hielt sie Theo hin. „Sind ganz frisch.“   Ein bisschen zögernd griff er tatsächlich nach einer der Teigtaschen und biss vorsichtig hinein. Sein Gesicht hellte sich auf.   „Die sind gut.“ „Mhm, Julius ist ein ziemlich begnadeter Koch.“ „Julius … heißt er so?“ „Ja.“ „Kumpel von dir?“ „Jupp.“   Es fühlte sich falsch an, das zu sagen, aber … welche Wahl hatte ich denn?   „Er ist Antons Cousin.“ „Ach so.“   Anscheinend klärte dass hinlänglich, warum er hierauf einmal mit einer Portion indischer Snacks vor der Tür stand. Schließlich war Anton mein Freund, also war es nicht verwunderlich, dass ich auch Mitglieder seiner Familie kannte. Ganz einfach. So einfach wie es nur eben ging, wenn man seine Beziehung nicht offen ausleben konnte.   „Ich fahr dann mal“, meinte Theo und stieg auf sein Rad. „Danke für die …“ „Samosas.“ „Alles klar, dann danke dafür.“   Er lächelte mir noch einmal zu und ich … ich lächelte zurück. Einfach weil er freundlich war und ich auch und weil wir zusammen in eine Klasse gingen. Alles ganz cool und easy. Kapitel 35: Von hölzernen Blasen und zu vielen Zähnen ----------------------------------------------------- Die Kabinentür der Toilette krachte mit ohrenbetäubendem Lärm ins Schloss. Vermutlich hätte mich das kümmern sollen, aber ich war zu beschäftigt damit, Julius’ T-Shirt aus seiner Hose zu zerren, um endlich an mehr von ihm heranzukommen. Mehr von seiner Haut, mehr von seinem Körper, mehr von allem. Ihm schien es nicht anders zu gehen, denn auch seine Finger wanderten bereits zielstrebig unter meine Klamotten. Trotzdem nahm er sich die Zeit, mich anzuzischen. „Sch, wir müssen leise sein. Wenn Marco uns hört …“ „Weniger reden, mehr küssen.“   Er lachte und ich ließ mich einfach fallen. In den Kuss, in den Moment. Was kümmerte mich irgendein Koch von irgendeinem dummen Restaurant, wenn ich Julius haben konnte. Ihn berühren, ihn schmecken, seine Hände auf meinem Körper fühlen, wie sie mich streichelten und ihren Weg langsam aber sicher tiefer fanden. Ganz kurz zuckte der Gedanke durch meinen Kopf, dass ich doch heute Morgen unter der Dusche erst … aber meinem Schwanz war das egal. Er wollte angefasst werden. Jetzt, jetzt, JETZT!   Instinktiv presste ich mich enger an Julius und genoss den Druck, der so viel mehr versprach und doch nicht genug war. Gleichzeitig versuchte ich, unsere Münder noch näher aneinander zu bekommen. Was im Grunde genommen unmöglich war. Unsere Lippen klebten bereits aneinander und Julius’ Zunge streichelte jeden Quadratzentimeter meiner Mundhöhle mit einer Ausgiebigkeit, die mir sofort zwischen die Beine schoss. Aber ich wollte ihn noch intensiver spüren. Noch näher bei ihm sein. „Ich will mit dir schlafen“, murmelte ich, als wir uns einen kurzen Moment zum Luftholen gönnten.   „Jetzt?“, fragte Julius und lachte leicht. „Ja. Nein. Ich weiß nicht. Ich …“   Ich lehnte den Kopf zurück gegen die Toilettenwand und sah ihn an. Sein Gesicht war ebenso gerötet wie meines es wohl war, seine Augen dunkel in der spärlichen Beleuchtung. Hier gab es keine Bewegungsmelder, nur einen Lichtschalter, den wir beim Hereinkommen nicht betätigt hatten. Unter anderem weil unsere Hände anderweitig beschäftigt gewesen waren.   Ich schlang meine Arme um seinen Nacken. „Ich wünschte, wir könnten das hier öfter haben.“   „Ich auch.“ Er lächelte und küsste mich erneut, wenngleich auch unendlich zärtlicher. „Obwohl ich es vorziehen würde, dich das nächste Mal auf einem Bett liegen zu haben. Nackt.“   Julius’ Stimme ließ die Glut wieder auflodern. Es zog in meinem Schritt. „Und dann?“, fragte ich atemlos. „Was würdest du dann mit mir machen?“   Er lächelte wieder. „Oh, viele schöne Sachen. Zum Beispiel würde ich dich gerne mal …“   Er sprach nicht weiter, sondern ließ seine Zunge erneut in meinen Mund gleiten. Obwohl wir uns vorher schon geküsst hatten, war das hier ungleich obszöner. Die sanfte Bewegung suggerierte mir etwas ganz anderes, das mich unwillkürlich aufkeuchen ließ. Scheiße, war das heiß. Wenn er das noch ein bisschen weitermachte, würde er mich kaum mehr berühren müssen, bevor etwas passierte. Ich wollte aber, dass er mich anfasste. Jetzt sofort.   Ungeachtet dessen, was vielleicht der Etikette entsprach – nicht, dass ich das gewusst hätte, so viel Erfahrung hatte ich ja noch nicht – nahm ich seine Hand und schob sie in die Richtung meiner bereits schmerzhaft harten Erektion. Er verstand zum Glück sofort und ließ mich nicht erst noch lange betteln, sondern öffnete einfach nur meine Hose und kümmerte sich um das Problem.     Mit zitternden Knien lehnte ich danach an der Wand und war froh darum, dass Julius da war, um mich zu stützen. Himmel, war das heftig gewesen.   Julius’ Lippen streiften meine schweißnasse Stirn. „Warte kurz, ich muss mir mal eben die Hände waschen.“   Er verschwand, ich hörte den Wasserhahn und schon Augenblicke später war er wieder bei mir und zog mich in seine Arme. Ich hätte jetzt viel dafür gegeben, mich einfach mit ihm in ein weiches Bett fallen lassen zu können. Diese warme Schwere, die meinen ganzen Körper erfasst hatte, schrie förmlich danach. Langsam klärte sich mein Geist jedoch wieder und mir wurde bewusst, dass wir immer noch in dieser verdammten Kabine feststeckten, wo wir uns mangels anderer Möglichkeiten hin verzogen hatten. Es war einfach nicht fair.   Apropos fair …   „Was ist mit dir?“, fragte ich und schob meine Hand auf seinen Bauch. „Soll ich …?“   „Nein, nicht notwendig. Ich kann auch noch warten.“ „Und wenn ich will?“ „Dann würde ich dich nicht aufhalten.“   Ich lächelte und stahl mir noch einen Kuss, bevor ich begann, Julius’ Hose zu öffnen, und mich vor ihm auf die Knie sinken ließ. Er wollte zwar entgegen seiner Ankündigung doch protestieren, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. Stattdessen zog ich ihm einfach Hose und Unterwäsche nach unten und machte mich ans Werk. Es war wahnsinnig erregend zu hören, wie sich sein Atem beschleunigte. Zu sehen, wie er sich auf die Lippen biss, um nur ja kein verräterisches Geräusch von sich zu geben. Zu fühlen, wie sich seine Hände in meine Haare krallten und er zunehmend Schwierigkeiten hatte stillzuhalten, während ich ihm einen blies. Ich meine, ich war sicherlich noch weit entfernt von der Zungenfertigkeit, die er an den Tag legte, aber ich gab mir Mühe und das Ergebnis ließ nicht sehr lange auf sich warten. Von daher konnte ich es wohl nicht so verkehrt gemacht haben.   Als er mich danach zu sich nach oben zog und mir ohne zu Zögern einen tiefen Kuss gab, wurde ich ein bisschen rot. „Ist das nicht … eklig für dich?“ „Warum sollte es das sein? Weil du mich gerade im Mund hattest?“ „Ja, mhm … schon irgendwie.“ „Findest du es andersrum eklig?“ „Nein.“ „Warum sollte ich es dann tun?“   Ich zuckte mit den Schultern. Irgendwie war es mir jetzt doch unangenehm, dass ich das gemacht hatte. Das war ja schon ein bisschen geschmacklos, oder? Ganz schön notgeil auch. Immerhin war das mit ziemlicher Sicherheit nicht das, was Julius im Sinn gehabt hatte, als er mir heute die Nachricht geschickt hatte, ob ich ein bisschen früher ins „Monopoly“ kommen wollte, damit wir noch ein bisschen ungestört sein konnten. Aber als er mir dann die Tür geöffnet hatte in diesen engen, schwarzen Klamotten, war bei mir irgendeine Sicherung durchgeknallt und ich hatte nur noch daran denken können, wie ich ihn so schnell wie möglich aus dem Fummel wieder rausbekam. „Hey, was ist los?“ „Weiß nicht. Ist einfach doof, dass wir nur hier und so.“   Er strich mir durch die Haare. „Wir können immer zu mir nach Hause.“ „Ja, aber nicht heute.“ „Nein, heute nicht. Aber morgen. Wenn du möchtest.“   Ich lächelte. Ja, morgen war gut. Meine Mutter war zwar zu Hause, aber ich würde ihr einfach sagen, dass ich morgen arbeiten musste. Sie hatte ohnehin irgendwas mit Diana wegen der Hochzeit vorzubereiten, da würde sie mich schon nicht vermissen. So hätten Julius und ich einen ganzen Nachmittag für uns und könnten machen, wonach uns der Sinn stand.   „Wollen wir auch noch was anderes machen außer …?“ Ich grinste. Julius lachte. „Das werden wir wohl müssen. Oder hast du so eine Kondition?“ „Keine Ahnung. Wir könnten es ausprobieren.“ „Lustmolch.“ „Alter Mann.“ „Hey!“   Er versetzte mir einen leichten Stoß und seufzte. „Ich fürchte, ich muss dann mal. Nicht, dass uns doch noch jemand erwischt. Die schmeißen mich noch raus.“   „Okay, also keine heimlichen Handjobs mehr auf dem Klo.“ „Auch keine Blowjobs!“ „Was ist mit Küssen?“ „Das sollte wohl drin sein.“   Er zog mich noch einmal an sich und küsste mich. „Ich vermisse dich jetzt schon.“ „Dabei bin ich doch noch hier.“ „Du weißt, was ich meine.“ „Ja.“   Natürlich wusste ich das. Wenn wir diese Kabine jetzt verließen, würde die Scharade wieder losgehen. Der Maskenball, auf dem wir nicht mehr als normale Freunde waren. So langsam hatte ich das wirklich satt. Am liebsten hätte ich mir ein Schild umgehängt. „Schwul und verknallt“. Vielleicht sollte ich es wirklich machen.   „Also los, auf geht’s“, sagte Julius und schloss die Tür auf. Ich folgte ihm und seufzte innerlich. Ade du kleine Blase aus lackiertem Holz. War nett mit dir und auf Wiedersehen bis zum nächsten Mal. Bis zu dem Tag, wo ich endlich den Arsch in der Hose hatte, es der Welt wirklich öffentlich zu machen.     Der Gedanke daran, wie es wohl wäre, wenn ich „geoutet“ wäre, ließ mich auch den Rest des Tages nicht los. Beim Training fragte ich mich, ob David, mein aktueller Trainingspartner, wohl anders reagieren würde, wenn er wüsste, dass ich schwul bin. Normalerweise war das hier kein Problem. Niemand hier, ob männlich oder weiblich hatte ein Problem mit Berührungen. Es war klar, dass das hier Sport war. Es gab Regeln, es wurde miteinander trainiert; manchmal kam es mir sogar so vor, als wenn die Mädchen, die hier mitmachten, dadurch eher lockerer mit so was umgingen. Nicht eine von ihnen würde auf die Idee kommen, einen Griff durch die Beine oder ein Fassen der Hose als sexuelle Anspielung zu verstehen. Der Dojo war einfach kein Ort, wo so etwas eine Rolle spielte. Aber sähe das bei einem Homosexuellen genauso aus? Würden sich meine männlichen Mitsportler dabei unwohl fühlen? Immerhin galten Schwule ja als wandelndes „ich poppe alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist“. Würden sie mich vielleicht nicht mehr ernst nehmen? Oder im Gegenteil umso härter agieren, um sich abzugrenzen? Und mein Trainer? Würde er vielleicht aufhören, mich wegen der Wettkämpfe zu nerven, weil ich ja „so einer“ war? Eigentlich schätzte ich ihn so nicht ein, aber wer wusste schon, wie jemand im Fall der Fälle reagierte.     Dementsprechend in Gedanken versunken bemerkte ich gar nicht, dass meine Mutter nach dem Training bereits auf dem Parkplatz stand, als ich die Turnhalle verließ. Erst, als sie meinen Namen rief, hob ich den Kopf. „Hey Schatz, was machst du denn für ein Gesicht? Hast du dir wehgetan?“   „Nein, alles bestens, Mama“, log ich und schmiss die Sporttasche und meinen Rucksack hinten auf den Sitz. „Aber du bist früh dran. Ist bei dir denn alles in Ordnung?“   Dass sie daraufhin ein wenig nervös lachte, hätte mich wiederum stutzig machen sollen, aber ich begriff erst, was los war, als sie zu mir sagte: „Na ja, Andreas hat sich gemeldet. Mein Laptop ist fertig. Wir können es heute abholen und ich dachte, wo ich doch schon mal hier bin …“   Natürlich. Sie wollte, dass ich ihren Lover kennenlernte und hatte sich gedacht, wir könnten das ja mal eben auf neutralem Boden erledigen. Schien also was Ernsteres zu sein. Na gut, dann spielte ich doch mal den lieben Sohn. „Klar, kein Problem.“ „Fein, dann schnall dich an. Wir müssen uns beeilen, bevor die schließen.“     Gehorsam taperte ich also kurz darauf vom Parkplatz Richtung Elektrogroßgeschäft. Ganz ehrlich, ich glaube, ich war da noch nie drin gewesen. Das Ding lag etwas außerhalb in einer Art Gewerbegebiet und da meine Mutter solcherlei Dinge ähnlich oft kaufte wie Hundefutter – nämlich gar nicht – hatte ich den Markt noch nie von innen gesehen. Drinnen erwartete uns das, was einen eben so in einem Geschäft dieser Art erwartete. Ein buntes Sortiment von allem, was einen Stecker brauchte in der Größe von Smartphone bis Waschmaschine. Überall hingen Werbeschilder, die von dem allergünstigsten Angebot sprachen, und wo die nicht die Sicht versperrten, verzierzen große Parabolspiegel die Decke, damit auch jeder bezahlte, was er haben wollte, und nicht etwa einfach so durch die breiten Schiebetüren nach draußen stapfte. Auf Dutzenden von Fernsehern flimmerten die tollsten Testbilder und aus den Lautsprechern plärrte irgendein Hit, den man mit Sicherheit in der großen CD-Abteilung erstehen konnte. Eigentlich hätte ich mich lieber dorthin verzogen, aber ich war ja zum Freund-Angucken hier und nicht zum Musik abgreifen.   Innerlich seufzend folgte ich meiner Mutter bis ganz zum anderen Ende des Ladens, wo plötzlich wie aus dem Boden gewachsen ein Strahlemann vor uns stand. Alter Falter, der sah ja mal gut aus. Und wie es schien, war er auch noch derjenige, zu dem wir wollten, denn er begrüßte meine Mutter jetzt mit Küsschen links und Küsschen rechts. Oha.   „Hey, ich hab deine Nachricht bekommen. Darf ich vorstellen, dass ist mein Sohn Benedikt.“   Strahlemann sah mich an und strahlte noch mehr. Hatte mal bitte jemand ne Sonnenbrille für mich? Ich glaube, ich war gerade geblitzdingst worden.   „Hallo, Benedikt, ich bin Andreas. Freut mich, dich kennenzulernen.“   „Ja, ich mich auch“, krächzte ich und bekam die Hand geschüttelt, ohne es wirklich zu wollen.   Okay, erster Eindruck schon mal vergeigt. Wahrscheinlich hatte er das Gefühl gehabt, einen toten Fisch anzufassen. Er wiederum hatte genau den richtigen Druck benutzt. Fest, warm, nicht zu kräftig. Ebenso wie der Rest von ihm, wenn ich das so auf die Schnelle beurteilen konnte. Gute Figur, Dreitagebart, modische, leicht nach hintengekämmte Frisur, braune Augen und eben dieses blendende Lächeln. Outfit war auch okay. Braune Schuhe, hellgraue Hose und ein hellblaues Hemd, das vermutlich zur Arbeitsuniform gehörte, da das hier jeder trug. „A. Holzbaum“, stand auf dem Etikett an seiner Brust.   „Wo hast du denn das gute Stück?“, fragte meine Mutter.   Sogleich ließ Andreas von mir ab und richtete das waffenscheinpflichtige Lächeln wieder auf das eigentliche Objekt seiner Begierde. Äh, okay, falsche Wortwahl. Allerdings kam ich bei dem Kerl nicht umhin, an so was zu denken. Der war mit Sicherheit nicht nur auf Händchenhalten und Spaziergänge im Abendsonnenschein aus. Ziemlich ungewollt tauchte das Bild von ihm in Boxershorts am Frühstückstisch vor mir auf. Und daneben meine Mutter, die ihn verliebt anlächelte und … Nein, nein, nein, das würde ich mir jetzt definitiv nicht vorstellen. Es reichte mir schon, dass ich mir die Light-Version davon gerade live und in Farbe anschauen durfte. Ich meine, meine Mutter hatte wirklich schöne Zähne, aber musste sie die denn nun wirklich jedem vorführen? Noch dazu alle auf einmal? Und konnte dieser Andreas nicht ein bisschen Abstand halten? Da war man ja versucht, mit dem Wasserwerfer dazwischen zu gehen. Also gleich …   Ich stockte, als mir auffiel, was ich da gerade machte. Ich benahm mich ja wie ein kleiner, kläffender Köter, der meinte, dem neuen Rüden im Revier erst mal ans Bein pinkeln zu müssen. Da stand ich doch drüber, oder nicht? Na gut, nicht wirklich, aber ich konnte mich ja immerhin bemühen, das Ganze möglichst zivilisiert ablaufen zu lassen. Obwohl ich nicht versprechen konnte, nicht einen Auftritt à la „Du hast mir gar nicht zu sagen“ hinzulegen, sollte der Kerl irgendwann versuchen, einen auf „neuer Papa“ zu machen. Wobei er vermutlich eher zum Typ „bester Kumpel“ gehörte. Hoffentlich wollte der nicht mit mir angeln gehen oder so was. Das hatte ich in der Grundschule mal mit nem Klassenkameraden und seinem Vater zusammen versucht und … na sagen wir mal, es war ganz lustig gewesen bis zu dem Zeitpunkt, als ich von dem rutschigen Fähranleger ins Wasser gefallen war. Mama und Diana hatten sich trotzdem über den halben Eimer voller Heringe gefreut.   Mir schwanten gerade noch ein paar super-männliche Tätigkeiten, zu denen mich Mister Strahlemann wohl schleppen wollen würde, als ich auf einmal daran denken musste, wie er wohl reagieren würde, wenn er mitbekam, dass ich schwul war. Wie das Zahnpasta-Lächeln einfror und der feste Händedruck zu einem laschen Getätschel wurde. Wie er auf einmal nicht mehr mit mir allein in einem Raum sein wollte, nicht mehr vorbeikam, nicht mehr anrief und dann vollkommen verschwand. Natürlich wäre er dann ein intolerantes Arschloch, aber weg wäre er halt auch und meine Mutter würde wieder mit Ekel-Möller rumhängen.   Ich seufzte leise. Wenn ich noch ein bisschen weiter überlegte, fielen mir sogar noch mehr Dinge ein, die durch ein Outing meinerseits jetzt nicht unbedingt besser wurden. Dianas Hochzeit zum Beispiel. Wenn es dann nicht hieß: „Oh, hast du gesehen, Diana ist ja schon ganz schön fett geworden“ sondern stattdessen „Hast du schon gehört, Benedikt ist ja neuerdings schwul“. Oder wenn auf Mini-Dianas Babyfotos später mal „Onkel Benedikts erster Freund“ zu sehen war oder irgendsoein Mist. Weil natürlich meine Mutter sehr bemüht sein würde, alles richtig zu machen. Ebenso wie Diana, und Björn und ich und alle wären so furchtbar bemüht um alles, dass ich vom Darübernachdenken schon Kopfschmerzen bekam. Und hätte es denn wirklich so enorme Vorteile für mich gehabt, wie ich mir immer ausmalte? Vermutlich wäre meine Mutter auch nicht unbedingt begeistert gewesen, wenn sie gedacht hätte, dass ich mit einem Mädchen … Dinge machte. Auch wenn die Vorstellung ziemlich gruselig war. Der Stress, wenn sie sich darüber Gedanken machte, dass ich mit einem Jungen Sex haben könnte, war vermutlich nur umso größer. Womöglich würde sie mir sogar verbieten, mich allein mit Julius zu treffen.   Natürlich wäre es toll gewesen, wenn ich einfach so hätte sagen können: Ja, der da gehört zu mir. Aber andererseits wusste Julius das doch und ich wusste es auch. Ich hatte sogar noch Anton, mit dem ich darüber reden konnte. Mussten denn unbedingt noch mehr Menschen Kenntnis davon haben? Reichte es denn nicht, wenn es im kleinen Kreis blieb? Dann hatten wir eben in einer Toilette rumgemacht. Na und? War doch eigentlich ganz aufregend irgendwie. Und in der Schule kam ich mit Sicherheit besser klar, wenn niemand davon erfuhr. Wer wusste denn, was Oliver sich sonst noch einfallen ließ und ob er so nicht noch mehr Leute auf seine Seite ziehen würde? Dann würde ich womöglich noch öfter meine Sachen suchen oder mir dumme Sprüche anhören müssen. Also beließ ich es am besten in dem Status, in dem es jetzt war. Dem Leben die Zähne zeigen konnte ich später immer noch.     Abends im Bett nahm ich mir mein Handy zur Hand und schrieb Julius von dem Zusammentreffen mit Mamas vielleicht Zukünftigen. Er antwortete sofort.   'Wie ist er denn so?“   'Keine Ahnung. Außer dass er gut aussieht, kann ich dir nicht viel sagen.' 'Er sieht gut aus?'   'Na ja, so zahnpastareklamemäßig gut.'   'Modelmaße?'   'Keine Ahnung, so genau hab ich ihn mir nicht angesehen.'   'Nicht?'   'Nein.'   'Warum nicht?'   'Weil ich mir dann vorgekommen wäre, wie jemand, der die Insassen eines Altersheims bespannt. Der Typ ist … keine Ahnung. Über 40 auf jeden Fall.'   'Dann muss ich also keine Angst haben, dass du abends im Bett an ihn denkst?'   'Igitt.' Ich schüttelte den Kopf und schickte hinterher: 'Abends im Bett denke ich nur an einen.'   'Und an wen?'   'Channing Tatum!' (Ich hatte mir am Wochenende „Magic Mike“ reingezogen und das war der erste Name, der mir einfiel.) 'Was? Urgs. Der Typ hat einen Kopf wie ne Bowlingkugel und abstehende Ohren. Geht gar nicht. Außerdem ist der auch schon fast 40. Dann nimm wenigstens Ryan Gosling.'   Ich lächelte und tippte mit der Zunge zwischen den Zähnen: 'Oder ich denke einfach an dich.'   Es dauerte ein bisschen, bis Julius wieder antwortete. Was er dann jedoch schrieb, ließ meinen Atem schneller werden.   'Hab gerade die Tür abgeschlossen und mich aufs Bett gelegt. Vielleicht magst du mir ja erzählen, was genau du dir so vorstellst.'   Schnell versicherte ich mich, dass meine Mutter schon im Schlafzimmer verschwunden war, bevor ich es mir auch bequem machte und meine Hand in Richtung Süden schob. Es war zwar nicht ganz einfach, nur mit links zu tippen, aber mit der Zeit bekam man ja Übung in so ziemlich allem. Kapitel 36: Von bröckelnden Fassaden und neu gewonnenen Sicherheiten -------------------------------------------------------------------- „Benedikt? Denkst du bitte dran, die Wäsche aufzuhängen? Die liegt schon seit gestern in der Maschine.“   Oh Mist. Das hatte ich vollkommen vergessen. „Kannst du das nicht machen? Ich bin schon spät dran.“ „Dann machst du es nach der Schule.“ „Aber ich muss heute arbeiten.“ „Schon wieder? Und was ist mit Hausaufgaben?“ „Die mache ich danach.“   Meine Mutter seufzte. Natürlich war sie nicht begeistert, denn die Abmachung lautete ja eigentlich, das sich mich um meinen Kram selber kümmerte. Aber ich hatte es nach dem Tag gestern einfach vergessen.   „Ich mach’s … wieder gut?“   Am Wochenende, hatte ich eigentlich sagen wollen, aber dann war mir eingefallen, dass ich das auch schon wieder verplant hatte. Am Samstag musste ich tatsächlich arbeiten und am Sonntag hatte ich vor, mich mit Julius zu verabreden, weil ich Samstagnachmittag zusammen mit Anton lernen wollte. Montag stand eine Physikarbeit an, Dienstag ein Test in Bio, Mittwoch Philosophie und am Donnerstag war Englisch dran. Geschichte, Deutsch und Chemie waren bereits für die Woche darauf angekündigt und vermutlich kam auch nochmal ne Abfrage in Erdkunde dazu, für die ich ziemlich büffeln müssen würde, da ich bei den Referaten manchmal nicht soo ganz aufmerksam gewesen war. Wenigstens in Kunst würden wir von dem Mist verschont werden, aber ich sah auch schon einen Musiktest am Horizont vorbeireiten und in Französisch würde sich Frau Bertram bestimmt auch noch was einfallen lassen. Kurz: Unsere Lehrer hatten anscheinend beschlossen, dass wir nach der Klassenfahrt ohnehin zu nichts mehr zu gebrauchen waren und sie deswegen noch mal eben schnell die Noten für dieses Schuljahr festnageln mussten. Wirklich ganz toll. Dabei waren nach der Klassenfahrt doch noch drei Wochen Zeit bis zu den Ferien.Was sollten wir denn in der Zeit machen? Theater spielen und uns die Eier schaukeln?   Wieder seufzte meine Mutter. „Na schön, ich kümmere mich drum, sonst müssen wir die Sachen ja gleich noch mal waschen. Aber denk in Zukunft bitte dran. Ich hab grad auch viel um die Ohren.“ „Klar, Mama. Weiß ich doch.“   Ich hatte mitgekriegt, dass es wohl eine Doppelbuchung beim Caterer gegeben hatte und meine Mutter jetzt auf die Schnelle noch jemand neuen suchen musste, der nicht „Schinkenröllchen mit Dosenspargel“ für den Gipfel kulinarischen Genusses hielt. Jemanden, der bezahlbar war.   „Ich muss los. Bis heute Abend.“ „Bis dann. Und überarbeite dich nicht.“ „Nein, mach ich nicht. Tschüß.“   Ein bisschen schlechtes Gewissen hatte ich ja, aber der eine Nachmittag würde schon keinen Unterschied machen. Zumal ich bei dieser Hochzeitssache eh nicht helfen konnte. Vielleicht würde ich Freitag einfach mal ein bisschen ranklotzen, dann würde das schon gehen.     Als ich gerade meinen Rad an einem der Ständer des gerammelt vollen Fahrradkellers anschloss, hörte ich hinter mir das charakteristische Leerlaufgeräusch eines weiteren Drahtesels. Ich drehte den Kopf und erblickte Theo, der die breite Rampe hinunter gefahren kam. Er war wohl heute auch ein bisschen spät dran. Auf dem Rücken trug er seine Gitarre.   „Hey!“, grüßte ich und er nickte mir zu, während er sich in den Reihen nach einem freien Platz umsah. „Hast du heute wieder Unterricht?“, fragte ich und wies mit dem Kinn auf sein Instrument.   „Jupp, muss ja noch üben, damit du dir nicht die Ohren zuhalten musst.“ „Ach, dafür reicht bestimmt dein Gesang“   Für einen Moment guckte er komisch, aber nachdem er sich versichert hatte, dass uns niemand belauschte, schenkte er mir ein kleines Lächeln. „Du willst das wirklich hören, oder?“ „Unbedingt.“   Zuerst schien er noch etwas sagen zu wollen, aber dann erklang plötzlich das Klingeln zur ersten Stunde und er machte sich lieber daran, sein Rad noch zwischen zwei andere zu klemmen. Es klappte so semi-gut, weil er ständig mit der Gitarre irgendwo hängenblieb.   „Soll ich das Ding mal halten?“ „Ja gerne.“   Er gab mir die Gitarre und ich wartete, bis er endlich das schwere Schloss befestigt hatte. Danach händigte ich ihm seinen Besitz wieder aus und wir machten, dass wir zur Sporthalle kamen, denn in der ersten Stunde stand mal wieder Leibesertüchtigung auf dem Stundenplan. Leider waren wir wohl wirklich ziemlich spät dran, denn als wir unten ankamen, herrschte im Vorraum gähnende Leere. Auch im Gang vor den Umkleiden war niemand mehr zu entdecken und natürlich reagierten lediglich ein paar Sextaner auf unser Klopfen, nur um uns dann gleich wieder die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Ein Hoch auf denjenigen, der sich ausgedacht hatte, die Kabinen an den Außenseiten lediglich mit Türknäufen auszustatten. Wirklich ganz tolle Idee. „Mist“, machte Theo. „Und jetzt?“ „Ich guck mal, ob vorne schon jemand ist.“   Tatsächlich lief ich im Vorraum sogar in eine große Gruppe von Leuten hinein. Unsere Klasse samt Sportlehrer, die offenbar auf dem Weg nach draußen waren. Herr Jansen war nicht begeistert.   „Benedikt! Wo bleibst du denn? Ich hab doch gesagt, ihr sollt heute ein bisschen früher kommen, weil wir auf den Sportplatz wollen. Na los, umziehen. Zack-zack jetzt.“   Ups, ja, da war was gewesen. Mein Kopf war momentan echt ein Sieb.   „Ich … ja, Moment. Ich hol noch eben Theo.“ „Ich bitte darum.“ „Ich kann auch gehen.“   Der Einwurf kam von Jo, der mich unverhohlen böse anstarrte. Als wenn ich was dafür konnte, dass Theo heute verschlafen hatte. Also echt mal. „Nein, das macht Benedikt. Du gehst mit den anderen nach draußen. Hier, nimm den Schlüssel, falls hinten zu ist und kommt nach. Wir sind dann unten.“ „Okay.“   Ich nahm Herrn Jansen den Schlüssel zu den Umkleiden ab und trottete wieder in Richtung Gang, in dem Theo auf mich wartete. Irgendwer – vermutlich Oliver – blubberte noch was hinter mir her, das ich nicht verstand, brach aber gleich darauf in lautes Gemecker aus.   „Hey, spinnst du?“, schnauzte er und rieb sich den Arm.   Das richtete sich offenbar an Jo, denn der motzte gleich darauf zurück: „Halt die Klappe, Blödmann. T ist nicht so einer, klar?“   „Boah, könnt ihr beide jetzt mal mit der Scheiße aufhören und Benedikt in Ruhe lassen?“ Mia-Marie sah wütend von einem zum anderen.   Oliver verzog abschätzig das Gesicht. „Was geht dich denn das an, du fette Kuh?“   „Oliver!“Herr Jansen hatte wohl endlich mal die Trillerpfeife aus den Ohren gezogen und mitbekommen, was hier gerade abging. „Solche Ausdrücke will ich aber nicht hören. Das nächste Mal gibt es einen Eintrag ins Klassenbuch.“   Ich schnaubte leise. Als wenn Oliver das interessieren würde. Der Schwachmat beließ es allerdings bei einem Knurren und machte sich auf, um dem Rest der Klasse zu folgen, die sich bereits größtenteils nach draußen getrollt hatte. Eigentlich schade. Ich glaube, Sandra und einige andere hätten durchaus eine Meinung dazu gehabt, wie er sich hier benahm.   Theo, der bereits wieder von selbst an die Tür gekommen war, besah sich stirnrunzelnd die Szenerie. „Was ist los?“ „Wir sind heute auf dem Sportplatz.“ „Ach ja, scheiße. Voll vergessen.“ „Mhm, ich auch. Na los, beeilen wir uns.“   In der Tat zogen wir uns in Windeseile um und joggten dann locker nebeneinander her den Sandweg runter zum großen Sportplatz, wo die anderen bereits Runden liefen.   Kurz bevor wir da waren, fragte Theo plötzlich: „Was war da vorhin eigentlich los? Also mit Oliver. Hat sich angehört, als hätte er wieder Stress gemacht.“ „Ach, der übliche Mist. Kennst ihn doch.“ „Was hat er gesagt?“   Ich verdrehte die Augen. „Na, was wohl? Jo und Mia-Marie haben ihm aber Paroli geboten.“ „Jo auch?“ „Ja. Oliver hat … er hat wohl auch was gegen dich gesagt, das Jo nicht gepasst hat.“ „Und was?“ „Weiß ich nicht. Ich hab’s nicht gehört. Wenn du es wissen willst, musst du Jo fragen.“   Theo brummte noch etwas und setzte sich dann von mir ab, um zu Jo aufzuschließen, der gerade alleine vorbeikam. Als er weg war, kam ich mir wie ein Feigling vor. Natürlich ahnte ich, was Oliver gesagt hatte. Aber irgendwie …   Ich atmete tief durch und fing ebenfalls an, im Kreis um den Platz zu rennen. Als ich zu Mia-Marie kam, die ziemlich langsam unterwegs war, drosselte ich mein Tempo.   „Hey“, sagte ich. „Nochmal danke für vorhin.“ „Ach, kein Problem“, gab sie zurück und schnaufte ein wenig. „Oliver soll lieber seinen Mund halten. Immerhin kann ich abnehmen und er ist morgen immer noch dumm.“   Ich lachte und versuchte, den Rest des Aufwärmens mit ihr Schritt zu halten, aber das war gar nicht so einfach, weil sie echt nur im Schneckentempo lief. Danach wurden wir in verschiedene Gruppen aufgeteilt und übten entweder Kugelstoßen oder Weitsprung. Nicht so meine Lieblingsdisziplinen, aber da ich in beidem ganz passable Ergebnisse ablieferte, war die Stunde soweit entspannt. Auf jeden Fall weitaus entspannter als das Gespräch, das ich belauschte, als ich vor Jo und Theo wieder zurück zur Schule ging. „Der Typ hat einen Schaden“, meckerte Theo gerade und es war ziemlich offensichtlich, wen er damit meinte. „Man, Jo, mach doch mal die Augen auf.“ „Du hängst doch auch mit Benedikt rum.“ „Na und? Benedikt macht aber keine Leute fertig.“ „Aber er ist …“ „Was?“ Theos Ton war unvermittelt schärfer geworden? „Was wolltest du sagen? Na los, spuck’s aus. Was ist Benedikt?“   Ich war automatisch stehengeblieben und hatte mich umgedreht. Theo schien echt wütend zu sein, während Jo den Kopf eingezogen hatte. Sein Blick irrte zu mir und als er sah, dass ich sie beobachtete, verfinsterte sich seine Miene. „Ne scheißschwule Schwuchtel. Das ist er.“ Damit drehte er sich auf dem Absatz um und stürmte in Richtung Schule. Ich wäre ihm eigentlich ganz gerne nachgerannt und hätte ihn zur Rede gestellt, wenn ich nicht Theos Gesicht gesehen hätte. Der war weiß wie die Wand und sah aus, als würde er gleich umkippen. Erst als Leon hinter ihm auftauchte und ihm in die Seite stieß, erwachte er wieder aus seiner Starre und schloss sich dem an, um seinen Weg fortzusetzen.   Als er an mir vorbeikam, sah er kurz auf und in seinem Blick lag etwas, das ich nicht recht zu deuten wusste. Es ließ mich schlucken und versetzte mir gleichzeitig einen Stich. War es das jetzt? War das das Aus für unsere Freundschaft? Würde Jos Anschuldigung zusammen mit dem Treffen mit Julius von gestern dafür sorgen, dass er sich von mir fernhielt? Hielt er mich jetzt auch für eine „Schwuchtel“?     Der Gedanke ließ mich auch noch in der darauffolgenden Geschichtsstunde nicht los, in der Corinna und Jonas ein Referat über Anne Frank hielten. Also eigentlich hielt Jonas das Referat und Corinna saß nickend daneben, aber ich sah an den Schautafeln, dass sie anscheinend die Schreibarbeit übernommen hatte. Ihre große, runde Schrift war unmöglich mit Jonas’ Sauklaue zu verwechseln. Tatsächlich schien Herr Vogel sehr zufrieden – sicherlich auch, weil das Referat „nur“ dreißig Minuten gedauert hatte und damit gerade mal doppelt so lang gewesen war, wie ausgemacht. Er begann, Fragen zur Judenverfolgung und die damit zusammenhängenden Maßnahmen zu stellen.   Ich hätte mich ja eigentlich gerne an dem Thema beteiligt, aber als ich bemerkte, dass Oliver neben mir lediglich in seinem Heft herummalte, packte es mich auf einmal. Kurzentschlossen stieß ich ihn an.   „Vielleicht solltest du da mal aufpassen.“   Er funkelte mich wütend an. „Lass deine Finger von mir, du …“ „Schwuchtel, ja ja, schon klar. Deine Platte hat einen Sprung, ist dir das aufgefallen?“ „Mir doch egal.“ „Ja, mir auch. Aber das da ist wichtig. Also sperr gefälligst die Lauscher auf.“ „Warum? Ist doch eh alles nur Fake.“   Ich traute meinen Ohren nicht. War ich hier im falschen Film oder hatte Oliver gerade echt so einen neonazistischen Scheiß von sich gegeben?   „Das ist doch nicht erfunden“, zischte ich ihn an. „Das ist echt passiert.“ „Glaub ich nicht. Mein Vater …“   Mich hätte ja echt interessiert, was sein Vater wohl dazu zu sagen hatte, aber ein Räuspern direkt vor unserem Tisch unterbrach uns. Herr Vogel musterte mich und Oliver abwechselnd. „Habt ihr beide vielleicht irgendwas Sinnvolles zum Unterricht beizutragen?“   Ich wurde ein bisschen rot. Dieser Blick war echt nicht zum Aushalten. „Wir … äh … haben uns gerade über die Auschwitzlüge unterhalten. Weil es ja einige Leute gibt, die behaupten, dass das alles gar nicht passiert ist.“   Herr Vogel nickte langsam. „In der Tat ist die Holocaustleugnung, wie du es besser nennen solltest, denn der Begriff 'Auschwitzlüge' wird von den Leugnern selbst verwendet, ein großes Problem. Die historischen Ereignisse geraten in Vergessenheit. Gerade in der heutigen Zeit, wo man sich das Ausmaß dieser Gräueltaten gar nicht mehr so vorstellen kann oder es aufgrund der zunehmenden Verrohung und Abstumpfung als nicht mehr so schlimm wahrgenommen wird und wo moderne Medien vorgaukeln, dass man nahezu alles fälschen kann und deswegen eigentlich nichts mehr echt ist, können sich niedere Subjekte die Uninformiertheit einzelner oder sogar Gruppen für ihre eigenen Zwecke zunutze machen. Diese Leute behaupten, dass durch bewusste Fehlinformation die eigenen Rechte beschnitten würden. Es werden mit Hetze und Hass neue Feindbilder geschaffen, denen leider viele nur zu gerne folgen. Weil sie sich mächtiger fühlen, wenn sie sich gegen einen gemeinsamen Feind zusammenrotten können. Ein Mechanismus, den schon Hitler damals auszunutzen wusste. Dem kann man im Grunde nur mit Information begegnen und darauf hoffen, dass die Leute verstehen, wohin der Weg führt, den sie zu beschreiten gedenken. In eine Welt voller Angst, in denen sich jeder selbst der Nächste ist. Eine furchtbare Vorstellung, wie ich finde. Und eine sehr beklemmende.“   In diesem Moment klingelte es und Herr Vogel beendete die Stunde. Ein reges Zusammenpacken setzte ein und einer nach dem anderen – allen voran Oliver – stürmten der großen Pause entgegen. Als ich auch gerade mit Anton nach draußen gehen wollte, hielt Herr Vogel mich auf. „Benedikt, hast du mal einen Moment für mich? Vielleicht unter vier Augen?“ Anton nickte nur und meinte, dass er vorgehen würde.   Als wir allein waren, seufzte Herr Vogel schwer. „Ich wollte nochmal kurz mit dir reden. Wegen Oliver. Dir ist bekannt, dass sein Vater sich politisch engagiert?“ „Nein, das wusste ich nicht.“ „Nun ja, es war nicht zu erwarten, dass ihr die besten Freunde seid. Deswegen möchte ich dir sagen, dass mir Herr Neubauer nicht unbekannt ist. Er gilt als eher … extrem in seinen Ansichten und ist deswegen durchaus schon aufgefallen. Du solltest ein wenig vorsichtig sein, wenn du mit Oliver über solche Themen sprichst.“   Herr Vogel sah mich noch einen Moment lang an, bevor sich ein kleines Lächeln in sein Gesicht stahl. „Ich hoffe, ich habe dich jetzt nicht verunsichert. Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass du dich gerne an mich oder einen der anderen Kollegen wenden kannst, wenn Probleme auftreten sollten.“   Ich bemühte mich, das Lächeln zu erwidern. „Alles klar, Herr Vogel. Kann ich dann gehen?“ „Natürlich.“   Anton, der draußen auf mich wartete, schob seine Brille nach oben. Er sah ernst aus wie auch schon, als ich ihm von der Sache beim Sport erzählt hatte.   „Ist was passiert?“ „Nein, er hat nur … also durch die Blume hat er mir gesteckt, dass Olivers Vater ein Neonazi ist und ich aufpassen und mir im Fall der Fälle Hilfe holen soll. Meinst er hat was gemerkt?“ „Wovon?“ „Na davon, dass ich … du weißt schon.“   Anton schob erneut seine Brille nach oben. „Auszuschließen ist es nicht, aber ich glaube auch nicht, dass das eine Rolle spielt.“ „Wie meinst du das?“ „Na wenn Oliver dich angeht oder sogar mobbt, ist der Grund dafür doch egal. Der liegt ohnehin in den wenigsten Fällen beim Opfer selbst. Wichtiger ist, dass er damit nicht durchkommt. Und dass du dir den Schuh nicht anziehst, dass irgendwas mit dir nicht stimmen könnte.“   Ich sah Anton einen Augenblick lang verblüfft an, bevor ich anfing zu lächeln. „Ich würde dich gerade gern umarmen. Wäre das okay?“ „Solange du auf meine Brille aufpasst.“   Ich grinste noch breiter und dann zog ich Anton tatsächlich in meine Arme. Einfach so, weil er ein echt guter Freund war. Er hielt das einen Augenblick lang aus, bevor er sich wieder von mir losmachte. „Wir sollten in der Pausenhalle noch ein wenig Präsenz zeigen, meinst du nicht? Sonst wird uns noch eine Affäre angedichtet.“ Ich lachte laut los. „Uns beiden? Entschuldige bitte, aber du bist leider nicht mein Typ.“ „Ich weiß“, antwortete Anton und lächelte hinter seiner viel zu großen Brille viel zu wissend.     In der Pausenhalle herrschte das übliche Gedrängel, wobei viele Leute auch draußen auf dem Hof waren. Immerhin war schon fast Sommer und die Temperaturen zu dieser Zeit wirklich angenehm. Wir passierten das Hoheitsgebiet der Jahrgangsschüler und als ich im Vorbeigehen Theos Bruder erspähte, sah ich mich automatisch auch nach Theo um. Ich konnte ihn jedoch weder bei den älteren Schülern noch bei dem Haufen unserer Klassenkameraden ausmachen, der sich draußen um die große Säule versammelt hatte, die wohl so ziemlich alles von Kunstobjekt bis Schornstein sein konnte. Nirgends auf der Bank, die sich um das flaschengrüne Ding drumherum wand, war auch nur eine Haarsträhne von ihm zu entdecken. Das ließ mich stutzig werden, denn normalerweise war er eigentlich immer irgendwo mittendrin.   „Suchst du jemanden?“, fragte Anton neben mir. „Ich … ja, ich hab nach Theo geschaut. Wollte wissen, ob er sich wieder mit Jo vertragen hat.“ „Das erscheint mir unwahrscheinlich. Immerhin steht Jo dort und unterhält sich angeregt mit Oliver.“   Ich schaute in die Richtung, die Anton mir gewiesen hatte, und sah die beiden tatsächlich ein bisschen abseits von den anderen miteinander tuscheln. Etwas daran störte mich. Ich meine, ich konnte Jo zwar nicht besonders gut leiden, aber im Grunde genommen hatte ich nicht wirklich was gegen ihn. Auch nicht gegen Oliver. Dass die beiden jetzt allerdings darüber zusammenwuchsen, dass sie sich gegen mich verbündeten, passte mir zunehmend weniger. Aber was sollte ich dagegen tun? Mehr, als mich nicht unterkriegen lassen, blieb mir ja wohl nicht übrig. Ich seufzte. Und wo war nun Theo?   „Ich geh mal eben was nachsehen“, sagte ich zu Anton und ließ ihn bei den anderen, wo er sich überraschend gut einfügte. Er rückte seine Brille zurecht und stellte sich einfach dazu. War schon ne coole Socke, der Anton. Ich jedoch machte mir gerade Sorgen um jemanden, den ich bis jetzt eigentlich für den Coolsten von allen gehalten hatte. Natürlich war es möglich, dass Theo einfach nur auf dem Klo war, aber mein Gefühl sagte mir, dass das nicht stimmte.   Ich wollte zunächst bei den Fahrrädern nachsehen, doch der Keller war leer und eine freundliche Aufsicht wies mich darauf hin, dass der Aufenthalt hier unten nicht gestattet war. Also machte ich mich weiter auf die Suche und wollte schon gerade in die Raucherecke gehen, als ich ihn plötzlich entdeckte. Er saß am oberen Ende der großen Seitentreppe und starrte ins Leere.   Langsam machte ich mich an den Aufstieg. Als ich schon fast bei ihm war, sah er auf. „Hey“, meinte ich. „Ich hab dich gesucht.“ „Warum?“ „Weil du nicht da warst.“ „Tja, hier bin ich.“   Ich ließ mich neben ihn auf die Treppenstufe gleiten. Erst wartete ich noch, ob er von sich aus was sagen würde, aber als er nicht anfing, musste ich wohl oder übel fragen. „Warum bist du hier?“ „Was glaubst du, warum?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn ich es wüsste, würde ich nicht fragen.“   Theo antwortete nicht. Stattdessen begann er, an einem imaginären Fleck auf seiner Hose herumzukratzen. Ich hätte am liebsten seine Hand genommen, damit er damit aufhörte. Oder ihm was Aufmunterndes gesagt. Ihn so zu sehen machte mich ganz krank. Ich wollte den alten Theo wiederhaben. Den, der gut drauf war, auf Kosten anderer Witze machte und in die perfekte Mia verknallt war.   Als er immer noch nichts sagte, stieß ich ihn an. „Alles klar bei dir?“ „Ja klar. Alles klar.“ Es klingelte. „Komm, gehen wir rein.“   Er wollte sich erheben, aber ich hielt ihn fest. Fasste einfach seinen Arm und zog ihn wieder runter auf die roten Stufen. „Du kannst mit mir reden, okay? Über alles. Ich … bin da.“   Er sah auf meine Hand runter, die immer noch auf seinem bloßen Arm lag. Ich war versucht sie zurückzuziehen, um mich nicht zu verraten, aber da das noch viel verdächtiger gewesen wäre, ließ ich sie liegen. Stattdessen sah ich ihm in die Augen. „Über alles, okay?“ „Okay.“   Plötzlich hob sich sein Mundwinkel und er lächelte ein bisschen schief. Es sah wunderschön aus. „Danke, Benedikt.“ „Jederzeit.“   Als wir schon aufgestanden waren, holte er plötzlich tief Luft. „Ich … musste nachdenken.“ „Und worüber?“ „Über die Klassenfahrt. Ich … ich hab mir überlegt, dass ich eigentlich nicht mit Oliver zusammen in einem Zelt schlafen will.“   Ich wurde hellhörig, sagte aber nichts, sondern ließ ihn einfach weiterreden. „Ich hatte … ich hatte überlegt, ob ich dich frage, ob wir zusammen … du weißt schon. Aber … wenn ich gehe, ist Jo mit ihm alleine. Das ist …. also gelinde gesagt, ziemlich kacke. Ich hab Angst, dass Oliver Jo noch mehr Mist erzählt. Ich hab Angst ihn zu verlieren.“   Wow, das war ja mal ein Geständnis. Eigentlich noch mehr als die Sache mit Mia.   Ich nickte langsam. „Ich weiß, was du meinst. Vielleicht redest du nochmal mit Herrn Wilkens darüber. Ich glaube, die Lehrer wissen schon Bescheid, was Oliver angeht. Vielleicht fällt ihm ja eine Lösung ein.“   Theo wirkte nicht überzeugt, also setzte ich ein Grinsen auf und meinte in beiläufigem Ton: „Und wenn nicht, schubs ich Oliver einfach die Treppe runter. Mit einem gebrochenen Bein kann er schließlich nicht mitfahren.“ Theo runzelte die Stirn. „Das ist nicht lustig.“ „Und warum lachst du dann?“ „Tue ich gar nicht.“ „Doch, tust du. Ich seh genau, dass du lachst.“ „Spinner.“ „Gleichfalls.   Als ich sah, dass ich Erfolg gehabt hatte und er tatsächlich wieder lächelte, musste ich mal tief durchatmen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, gerade einen 400-Meter-Sprint hinter mir zu haben. Geschafft aber glücklich. Obwohl ich ja eigentlich gar nicht viel gemacht hatte. Ich meine, ich hatte ihm gesagt, dass er zu einem Lehrer gehen sollte. Große Heldentat und so. Aber … na ja. Es fühlte sich trotzdem so an, als würde man etwas tun und nicht nur wegsehen. Und das, so fand ich, war ziemlich wichtig.     Als ich allerdings Julius nachmittags davon erzählte, musste ich feststellen, dass er das vollkommen anders sah. Er schien regelrecht entsetzt, als ich ihm von Olivers Machenschaften erzählte. „Sei bloß vorsichtig“, warnte er mich. Wir waren gerade auf dem Weg zum Jahrmarkt, der ja immer noch in der Stadt gastierte, und ich hatte ihm die ganze Geschichte – na ja, fast die ganze – im Auto erzählt. Jetzt war seine Stirn voller Sorgenfalten. „Mit solchen Kerlen ist wirklich nicht zu spaßen. Halt lieber die Füße still.“ „Aber wenn alle nur den Mund halten, wird es doch nie besser.“ „Ach ja?“ Plötzlich fauchte mich Julius aus dem Nichts heraus an. „Ich will aber nicht, dass du dich mit irgendwelchen rechtsradikalen Schlägern anlegst und ich dich wegen deines dummen Heldenmuts im Krankenhaus besuchen darf. Wenn du es denn bis dahin schaffst.“   Völlig verdattert sah ich ihn an. „Äh, so schlimm wird es doch nicht sein, oder?“ „Ach meinst du?“ fuhr er mich an. „Du hast ja keine Ahnung. Ich hab da schon Sachen gehört, da …“ Er brach ab und sah mich entschuldigend an. „Tut mir leid, ich wollte dir nicht vorschreiben, was du tun sollst. Ich hab einfach nur Angst um dich, okay? Es gibt einfach eine Menge Leute da draußen, die was gegen Schwule, Lesben, Transgender oder ihnen sonstwie nicht in den Kram passenden Leute haben. Deswegen möchte ich, dass du vorsichtig bist. Versprichst du mir das?“ „Natürlich.“   Ich lehnte mich zu ihm rüber und gab ihm einen schnellen Kuss, damit er wusste, dass ich es ernst meinte. Hier im Auto konnte uns ja niemand sehen.   Julius’ Gesicht glättete sich binnen Sekunden. Er lächelte mich an. „ Na was ist? Willst du jetzt auf den Jahrmarkt?“ „Willst du denn noch?“ „Weiß nicht. Du hast dich doch so drauf gefreut.“ Ich verzog den Mund. „Na ja, wenn dir jetzt die Lust vergangen ist, können wir es auch noch verschieben. Auf Sonntag zum Beispiel.“ „Sonntag ist Muttertag.“ „Echt? Ach scheiße.“   Er hatte mir schon erzählt, dass er an dem Tag einen Ausflug mit seiner Mutter plante und ich würde wohl wenigstens bis zum Mittagessen anwesend sein müssen. Und danach noch Physik lernen. Dreck.   „Heißt das, wir sehen uns Sonntag nicht?“ „Sieht schlecht aus, wenn du abends nicht kannst.“ Ich schüttelte den Kopf. „Keine Chance. Und in der Woche werde ich wohl auch lernen müssen. Ich kann höchstens wieder am Dienstag im 'Monopoly' vorbeikommen.“ „Das würde mir gefallen.“   Julius griff nach meiner Hand. „Hey, sorry nochmal. Ich wollte den Tag nicht verderben.“ „Hast du nicht. Das hat Oliver schon erledigt. Ich kann einfach nicht verstehen, wie man so beschränkt sein kann.“ „Tja, wer weiß schon, was in den Köpfen der anderen vorgeht.“ „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wissen möchte.“ „Stimmt.“ Julius lachte. „Na komm, wir machen uns noch einen schönen Nachmittag. Und nächstes Wochenende fahren wir nach Hamburg.“   Ich lächelte tapfer. Eigentlich graute mir immer noch ein bisschen vor diesem Besuch, aber ich freute mich darauf, den ganzen Tag mit Julius verbringen zu können. Anton hatte sich sofort bereit erklärt, als mein Alibi herzuhalten, sodass eigentlich nichts mehr schiefgehen konnte.   „Ja, hast recht. Dann haben wir nochmal einen ganzen langen Tag, bevor ich für zwei Wochen weg bin.“ „Zehn Tage, denke ich.“ „Schon, aber meine Mutter wird mich dann vermutlich nicht gleich wieder weglassen. Ich will nicht, dass sie Verdacht schöpft.“ „Okay.“ Er drückte nochmal meine Hand. „Dann nächstes Wochenende. Ich sag Lali Bescheid.“ „’kay.“ „Und jetzt? Auf in die 'Wilde Maus' oder was auch immer du für Scheußlichkeiten für mich aussuchst.“ „Wie wäre es mit der Liebesraupe?“ „Das hört sich schon besser an.“ „Oder wir gehen Ponyreiten.“   Daraufhin streckte mir Julius die Zunge raus und ich schnappte sie mir noch einmal zu einem tiefen Kuss, bevor wir endgültig ausstiegen und uns unters Volk mischten. Natürlich konnten wir inmitten der ganzen Familien, die heute mit ihren Kindern die vergünstigten Fahrpreise ausnutzten, nicht händchenhaltend durch die Gegend laufen. Es war trotzdem schön, mit Julius zwischen den Schießbuden und Autoscootern, den Losverkäufern und Fresstempeln, den Ständen mit gebrannten Mandeln und dem Spiegelkabinett herumzuschlendern; zu schauen, zu riechen, zu lauschen und ihm ab und an mit einer Fahrattraktion zu drohen, in denen ihm angeblich immer schlecht wurde. Als wir schließlich doch bei der Liebesraupe angekommen waren und zwei Fahrchips erstanden hatten, wollte Julius mich zuerst einsteigen lassen, doch der Mann, der die kleinen Plastikteile vor der Fahrt wieder einsammelte, hielt uns auf. „Wenn ihr zusammen fahren wollt, muss er nach innen“, sagte er und nickte in Julius’ Richtung. „Er ist leichter. Aber es ist heute nicht so voll hier. Am besten nehmt ihr zwei Wagen.“   Ich wollte gerade wieder aussteigen und Julius vorbeilassen, als der lächelte und den Fuß von der Trittkante nahm.   „Na klar, gute Idee. Danke für den Hinweis.“   Fassungslos sah ich zu, wie Julius in den Wagen vor mir stieg und sich einfach hinsetzte. Ich ließ mich schwer auf meine gepolsterte Sitzbank fallen, gab meinen Fahrchip ab und warf Julius einen bösen Blick zu. Er fing ihn auf, hob entschuldigend die Schultern und richtete den Kopf wieder nach vorne. Am liebsten wäre ich nochmal ausgestiegen und hätte mich rübergesetzt, aber in diesem Moment ertönte bereits das Startsignal und die Bahn setzte sich in Bewegung. Rauf und runter rauschte der Endloskreis aus aneinandergehängten Gondeln an der Wirklichkeit vorbei. Es wurde abwechselnd dunkel und hell, aus den Lautsprechern dröhnte ein beatlastiger Hit nach dem anderen und hinter mir kreischten irgendwelche Kinder, aber ich konnte nur auf Julius’ Hinterkopf starren. „Und jetzt darf gekuschelt werden“, tönte plötzlich die Stimme des Kassenmanns zwischen die Klänge von „I’m too sexy“ und mit einem Rattern wurde die Abdeckung des Karussells hochgefahren. Von außen sah das Ganze jetzt aus wie die namensgebende Raupe, während es drinnen wie ein schummriger, roter Tunnel wirkte. Eigentlich war ich genau deswegen hier drin. Weil ich es mir romantisch vorgestellt hatte, mit Julius genau in dem Moment halt doch einen heimlichen Kuss auszutauschen. Vermutlich wäre es total unbequem gewesen und er hätte mich fast zerquetscht, wenn ihn die Fliehkräfte gegen mich gedrückt hätten, aber das wäre mir egal gewesen. Und hatte er nicht gewollt, dass wir solche Momente für uns hatten? Warum war er ausgestiegen?   Kurze Zeit später ratterte die Abdeckung wieder nach unten, wir drehten noch ein paar Runden, dann wurde die Bahn langsamer und hielt schließlich an. Die Sicherheitsbügel lösten sich und wir stiegen aus. Mit klopfendem Herzen ging ich zu Julius. Ich wollte ihn zur Rede stellen. Wollte wissen, was das sollte, doch er nahm mir sofort den Wind aus den Segeln. „Tut mir leid. Ich … ich dachte, du wolltest das so. Damit wir kein Aufsehen erregen.“ „Ich?“ Ich blinzelte verblüfft. „Warum sollte ich das wollen? Ich bin extra mit dem Ding gefahren, weil ich mit dir da drin sitzen wollte.“ „Aber der Typ …“ „Der Typ ist mir egal. Der arbeitet auf einem Jahrmarkt und ist in drei Tagen abgereist. Meinst du, es interessiert mich, was der von mir denkt?“   Betroffen senkte Julius den Kopf. „Tut mir leid“, wiederholte er. „Willst du … willst du nochmal rein?“   Ich war in Versuchung, aber eigentlich war mir die Lust ein bisschen vergangen. Ich zog die Nase kraus. „Nee. Jetzt will ich ein Eis.“   Julius schielte mich von unten herauf an. „Mit Streuseln?“   „Aber so was von.“ „Okay, ich lad dich ein.“   Wir mussten anhand der schier endlosen Schlange aus zumeist hüfthohen Eiskäufern nebst elterlichem Anhang ziemlich lange warten, aber dann gab es das ungefähr riesigste Softeis mit einer gefühlten Million Streuseln für mich, sodass ich glatt abwinkte, als Julius sich noch ein eigenes bestellen wollte. „Du musst mir helfen. Wenn ich das alleine esse, platze ich.“   Er grinste und bezahlte nur das eine Eis und dann suchten wir uns eine ruhige Stelle am Rand, wo wir uns auf eine Metallstange setzten, die zwischen zwei weißgetünchten Steinen steckte, um gemeinsam das Eis zu verspeisen. Und ganz vielleicht kamen wir uns dabei ziemlich nahe. Kann ja mal vorkommen, wenn man zusammen ein Eis isst, nicht wahr? Katzenaugen funkelten mich von der anderen Seite des Schoko-Vanillebergs aus an und ein hartnäckiger Zuckerstreusel, der in Julius’ Mundwinkel klebte, schrie förmlich danach, von meiner Zunge entfernt zu werden. Mit einem Mal hatte ich solche Sehnsucht nach ihm. „Lass uns zu dir fahren“, flüsterte ich. „Ich dachte schon, du würdest nie fragen“, wisperte er zurück, schmiss die bereits matschig gewordene Eiswaffel in eine Mülltonne und rannte mit mir zusammen um die Wette zum Auto.   Den Rest des Nachmittags verbrachten wir zusammen im Bett und ich kann nicht sagen, dass die Höhepunkte dort denen des Jahrmarkts in irgendeiner Weise nachstanden. Immerhin mussten wir ein bisschen Vorrat haben, wenn wir uns jetzt so lange nicht sehen konnten. Sexting war definitiv kein geeigneter Ersatz für den echten Julius. So überhaupt gar nicht. Kapitel 37: Von anstrengenden Wochen und indischem Blumenkohl ------------------------------------------------------------- Wenn es möglich wäre, würde ich diese Woche gern umtauschen. Ist mir auch egal, was ich stattdessen für eine bekomme. Meinetwegen nochmal die mit den Windpocken, wo ich gedacht hab, dass ich an diesem blöden Juckreiz eingehen muss. Oder die, wo ich mit dem Arm im Stacheldraht hängengeblieben bin und mit sage und schreibe fünf Stichen genäht werden musste und mir dieser Arsch von Notarzt ne mit Sicherheit mal stumpfe Spritze direkt neben der Wunde reingejagt hat. Angeblich um alles zu betäuben, aber ich schwöre, dem hat das gefallen, mich so leiden zu sehen. Das alles war jedoch ein Scheißdreck gegen die Tage, die hinter mir lagen. Gefühlt hatte ich sogar mit dem Kopf zwischen den Seiten eines Buches geschlafen und es waren keine angenehmen Träume gewesen, die mich dadurch heimgesucht hatten.   In unserer Klasse herrschte durch die vielen rauchenden Köpfe permanent Waldbrandgefahr und die Stimmung war insgesamt angespannt, was sicherlich auch noch auf einige andere in der Luft liegende Dinge zurückzuführen war. Zum Glück strengte sich selbst Oliver bei den Prüfungen an und hielt anderweitig erstaunlicherweise die Füße still. Lag vielleicht auch daran, dass Anton und ich wieder dazu übergegangen waren, die Pausen in der Bücherei zu verbringen. Das war zwar ein bisschen feige, aber immerhin besser als ständig auf Konfrontationskurs zu gehen und Streit zu provozieren. Auch Julius konnte ich durch diese Tatsache ein bisschen beruhigen, als ich am Dienstag im „Monopoly“ aufschlug.     „Es ist wirklich alles in Ordnung“, sagte ich, während ich an meiner Cola nippte. Draußen war es drückend warm und ich rechnete fast damit, abends nach dem Training durch einen Wolkenbruch zum Auto rennen zu müssen. Wobei das wirklich besser gewesen wäre als diese anhaltende Schwüle. „Oliver hat gerade genug damit zu tun, seine Versetzung zu retten. Wenn ich Glück habe, bin ich ihn nächstes Schuljahr ganz einfach durch natürliche Auslese los.“ „Ich hoffe es“, meinte Julius. „Mit solchen Typen ist wirklich nicht zu spaßen. Dumme Sprüche sind eine Sache und alles andere als angenehm, aber wenn du schon mal um dein Leben gerannt bist, weil dich eine Gruppe von irgendwelchen Idioten zusammenschlagen wollte, dann siehst du die Sache anders.“   Ich drehte mein Glas zwischen den Fingern. „Ist dir das schon mal passiert?   „Mir nicht, aber ich hab davon gehört. Beim Stammtisch und anderswo. Und auch ich bin durchaus schon mal einen Umweg gegangen, weil ich ein mulmiges Gefühl dabei hatte, einer Gruppe junger Männer ganz allein zu begegnen. Es gibt einfach viel zu viele Leute, die meinen, sich dadurch profilieren zu müssen, dass sie andere ausgrenzen, bedrohen oder sogar tätlich angreifen. Wobei natürlich längst nicht alle von denen irgendwelche Rechtsextremen sind. Das geht durch alle Gruppierungen und Schichten.“   „Mhm“, machte ich. „Ich versteh nur nicht, warum Oliver sich nun ausgerechnet auf mich so eingeschossen hat. In unserer Klasse gibt es auch zwei Mädchen mit nicht-deutschem Elternhaus. Warum hat er sich denen gegenüber nie irgendwie rassistisch geäußert? Da haut doch irgendwas nicht hin.“   Julius zuckte nur mit den Schultern und machte sich daran, eine Getränkebestellung nach draußen zu bringen, aber mich ließ die Frage nicht so ganz los. Genau dieses Thema hatte ich nämlich bereits mit Anton erörtert und die Antwort, die er mir gegeben hatte, hatte mich nachdenklich gemacht. Er hatte die Theorie aufgestellt, dass Oliver sich eventuell seiner sexuellen Orientierung selbst nicht so ganz sicher war und deswegen so stark auf mich reagierte, weil er unterbewusst seine eigenen Neigungen ablehnte. Auf dem Hintergrund seines offenbar nicht gerade toleranten Elternhauses schien das gar nicht mal so weit hergeholt. Doch so schön diese Idee ja auch war und so leid er mir tat, wenn das tatsächlich stimmte, beantwortete mir das immer noch nicht die Frage, wie ich jetzt damit umgehen sollte? Ich konnte ihm schließlich schlecht ne Blume ins Haar stecken und darauf hoffen, dass er darauf nicht mit einer Faust in meinem Gesicht antwortete. „Gibt es eigentlich auch homophobe Schwule?“, fragte ich Julius, als er wieder reinkam. Die wenigen Gäste, die bisher eingetrudelt waren, saßen zum Glück alle draußen im Biergarten, sodass wir uns ungestört unterhalten konnten. „So was kommt vor“, gab er zurück. „Ist wohl sogar gar nicht mal so selten. Warum? Glaubst du, dass dieser Oliver auch schwul ist?“ „Keine Ahnung. Möglich wär’s. Ich glaube, mein Gaydar ist irgendwie immer noch kaputt.“ „Du kriegst den Dreh schon noch raus.“ „Na, wenn du das sagst.“   Blaugrüne Katzenaugen funkelten mich von der anderen Seite des Tresens an.   „Du machst dir wirklich Gedanken um den Kerl, oder?“ „Klar mache ich das. Immerhin sitze ich neben ihm, da kann ich das Problem ja wohl kaum einfach ignorieren.“ „Nein, ich meinte, dass du dir weniger Sorgen darum machst, was dir passieren könnte, sondern dir darüber den Kopf zerbrichst, warum er nun so ein Arschloch ist.“ „Ist das nicht normal?“ „Nein, so überhaupt nicht.“   Julius lächelte jetzt, kam um den Tresen herum und streichelte mir, nachdem er sich mit einem schnellen Seitenblick versichert hatte, dass uns niemand zusah, mit der Hand über die Wange. „Das liebe ich so an dir. Du bist so ein wunderbarer Mensch. Warmherzig, tolerant, offen anderen gegenüber.“ Ein wenig verlegen senkte ich den Blick. „Oh ja, total offen. Vermutlich wirst du hier gleich aufwischen müssen.“ „Wie meinst du das?“ „Na wer für alles offen ist, kann doch schließlich nicht ganz dicht sein.“ „Blödmann.“   Er versetzte mir einen leichten Stoß und eilte dann nach draußen, weil dort jemand nach der Bedienung verlangt hatte. Ich blieb mit meiner mittlerweile warmen Cola zurück und konnte mir immer noch keinen Reim auf die ganze Sache mit Oliver machen.   Einerseits hatte Julius natürlich recht. Wenn Oliver es wirklich auf mich abgesehen hatte und womöglich noch auf die Idee kam, irgendwelche Kumpel anzuheuern, um mich fertigzumachen, konnte das richtig unangenehm, wenn nicht sogar gefährlich werden. Und was, wenn wir ihm mal zusammen begegneten? Ich würde mir nie verzeihen, wenn Julius meinetwegen etwas zustieß. Aber andererseits … Wenn Oliver tatsächlich selbst schwul war und nur wegen seines bescheuerten Vaters so reagierte, brauchte er doch Hilfe und nicht noch mehr Ausgrenzung. Er brauchte Freunde. Echte Freunde. Leute, denen er sich anvertrauen konnte. Aber wie sollte ich das bewerkstelligen, wenn er mich ja offenbar hasste wie die Pest?   Du kannst sie nicht alle retten, raunte mir ein kleines Stimmchen zu, das ausnahmsweise mal nicht wie Anton sondern eher wie Julius klang. Du hast selbst genug Probleme. Hör auf, dich mit denen von anderen zu belasten.   „Wie gern würde ich das tun“, seufzte ich und leerte mein Glas bis auf den letzten Tropfen.   Die Stimme hatte ja recht. Die Woche war noch nicht vorbei, ich hatte noch zwei Klassenarbeiten vor mir, musste so ganz nebenbei mal wieder den Rasen mähen und meine häuslichen Pflichten erfüllen (vielleicht wurde es besser, wenn ich bei meiner Mutter ein bisschen rumjaulte, wie viel ich zu tun hatte?) und dann rückte ja auch der Samstag jeden Tag ein Stückchen näher. Wenn mich jemand gefragt hätte, warum ich dem Besuch bei Lali mit solchen Bauchschmerzen entgegensah, ich hätte es nicht sagen können. Vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, dass ich in irgendeinem Punkt ganz gewaltig versagen würde. Ich wusste nur nicht so wirklich, welcher das sein würde.   Julius war wieder reingekommen und schenkte jetzt neue Getränke ein, bediente die Kaffeemaschine und orderte in der Küche zwei Eisbecher. Dabei musste ich quasi zwangsläufig die ganze Zeit auf seinen Hintern starren. Ich erinnerte mich, dass das Gespräch das letzte Mal im Bett nochmal auf gewisse Vorlieben gekommen war. Er hatte mich plötzlich gefragt, wie ich es gefunden hatte, mit Manuel zu schlafen, und ich hatte geantwortet, dass ich schon ziemlich begeistert gewesen war. Womit ich Julius allerdings erstaunt hatte, war die Tatsache gewesen, dass ich „unten“ gelegen hatte. „Das hätte ich nicht gedacht“, hatte er offen zugegeben und anschließend gemeint, dass es ihn allerdings nicht wirklich wunderte, dass Manuel mir nicht den leichteren Part überlassen hatte. Und dann hatte er mich gefragt, ob ich es mal andersrum ausprobieren wollen würde. Ich hatte mich bei der Antwort ein wenig bedeckt gehalten – schließlich hatte er ja deutlich gesagt, dass er das eigentlich nicht so mochte – aber der Gedanke ließ mich seit dem nicht mehr los. Und wenn ich Julius jetzt so beobachtete, waren die Assoziationen, die ich zu seinem Hinterteil in der engen Jeans hatte, nicht wirklich jugendfrei. „Ach fuck“, murmelte ich, als ich merkte, dass ich hart geworden war. Na ganz toll. Julius hatte jetzt definitiv keine Zeit und ich konnte ja wohl schlecht aufs Klo gehen und mir einen runterholen, während er hier vorne arbeitete. Und jetzt hatte er auch noch gemerkt, dass was nicht in Ordnung war. Fragend sah er mich an   „Kann ich dir irgendwie helfen?“ „Nee, geht schon.“ „Was ist denn los?“ „Nichts.“ „Du siehst nicht nach nichts aus.“   Ich stöhnte auf.   „Bitte, Julius, es ist nichts. Zumindest nicht, wenn du nicht weiter nachfragst.“ „Bist du sicher?“ „JA!“ Erschrocken hielt ich mir den Mund zu und Julius sah mich tadelnd an. Dabei war er es doch gewesen, der hier die ganze Zeit so dumm rumfragte. Grummelnd gab ich schließlich doch zu, wo das Problem lag. Er verkniff sich sichtbar ein Schmunzeln. „Hey, kenn ich. Passiert halt.“ „Dann hör auf, so blöd zu lachen.“   Er sah mich an und sein Blick wurde wärmer.   „Weißt du eigentlich, dass du manchmal schrecklich niedlich bist.“ „Oh ja, mach mir noch mehr solche Komplimente, dann hat sich mein Problem gleich ganz schnell von selbst erledigt.“ „Ich dachte, das wolltest du.“ „Will ich ja auch, aber … ach, geh und bring dein Eis weg. Das schmilzt sonst.“   Er lachte, schnappte sich sein Tablett und war gleich darauf verschwunden. Ich jedoch dachte sehnsüchtig daran, wann wir uns wohl das nächste Mal in den Laken wälzen würden und ob Julius seine Ankündigung dann tatsächlich wahrmachen würde. Irgendwie hoffte ich fast, dass er das tat.       „Sind wir bald daaaa?“   Ich gab mir redliche Mühe, das letzte Wort ordentlich zu dehnen und auch sonst möglichst nervig zu klingen. Julius lachte nur. „Ja, wir sind gleich da, du Quatschkopf.“ „Selber Quatschkopf.“ „Wenn du frech wirst, setze ich dich im Park aus. Und ich verrate dir nicht in welchem.“ „Fieser Möpp!“   Er grinste und betätigte den Blinker, woraufhin sich Ilonas Auto in eine Straße mit huckeligem Kopfsteinpflaster hineinbewegte. Waren wir gerade eben noch über zweispurige Straßen gebraust, holperten wir jetzt durch ein reines Wohngebiet. Viele mehrstöckige Häuser, viel Grün und wenig Parkplätze. Dafür allenthalben angeschlossene Fahrradanhänger auf den Bürgersteigen und irgendwie keine Sau auf der Straße. Man hätte denken können, dass es hier ruhig war, doch als ich ausstieg, ließ mich ein ohrenbetäubendes Tuten zusammenfahren. „Alsterdampfer“, erklärte Julius mit einem Grinsen. „Na komm, Lali wartet schon auf uns.“   Mit gemischten Gefühlen folgte ich Julius zu einem Haus, das zwei Straßen weiter lag. Die hellblaue Fassade mit den weißen Ornamenten und schmiedeeisernen Balkonen, den zahlreichen Erkern und Winkeln sowie dem vielen Grün drumherum wirkte gediegen und einladend. Da drinnen gab es bestimmt jede Menge weitläufige Altbauwohnungen mit Blick aufs Wasser und solche Scherze. Mich hätte man jedoch gerade genauso gut in eine Arrestzelle des Towers in London führen können. Ich bekam kalte Schweißausbrüche und hatte offenbar auch nicht die gesündeste Gesichtsfarbe, denn Julius sah mich besorgt an. „Ist alles okay mit dir? Du bist so blass.“ „Ja, ich … ich hab nur ein bisschen Panik, dass sie mich nicht leiden kann.“   Julius, der bereits auf der ersten Stufe der breiten Treppe mit dem schwarzen Geländer gestanden hatte, kam zurück und nahm mich in den Arm.   „Hey, jetzt bleib mal ganz locker. Sie wird dich mögen. Welchen Grund sollte sie haben, es nicht zu tun?“ „Keine Ahnung. Vielleicht gefällt ihr meine Nase nicht.“ „Sie wird deine Nase lieben.“ „Oder meine Haare. Ich muss ganz dringend mal wieder zum Friseur.“ „Ich finde, das steht dir so.“ „Und meine Klamotten sind ganz furchtbar.“ „Du siehst bezaubernd aus.“   Ich seufzte. Irgendwie musste er das wohl sagen, denn schließlich hatte ich dieselben Sachen an wie bei unserem ersten Date … Kuss … wie auch immer. Ich hatte einfach nichts Besseres finden können, als ich heute Morgen den Kleiderschrank durchforstet hatte. Zum Glück war meiner Mutter nicht aufgefallen, dass ich mich so herausgeputzt hatte. Sie wäre womöglich noch misstrauisch geworden. Immerhin dachte sie ja, dass ich den Tag bei Anton verbringen würde. „Na los, sie wird dich schon nicht fressen.“ „Versprichst du es?“ „Ja, tue ich. Lali ist nämlich Vegetarierin. Und mein Onkel ist heute nicht zu Hause, weil er arbeiten muss. Also komm schon.“   Ich seufzte noch einmal und erklomm an Julius’ Seite nun endlich die Treppe zur Haustür. Er klingelte und kurz darauf ertönte ein Summen, als von oben geöffnet wurde. Wir stiegen bis in den zweiten Stock hinauf, wo kaum, dass wir den Treppenabsatz erreicht hatten, eine der Wohnungstüren aufgerissen wurde. Vor uns stand eine junge, dunkelhaarige Frau, die uns beide anstrahlte. „Julius!“, quietschte sie und schwang sich in seine ausgebreiteten Arme. „Ihr habt viel zu lange gebraucht. Ich warte schon seit einer Ewigkeit.“ „In Stellingen war mal wieder Stau.“ „Wie immer also.“   Kaum hatte sie Julius losgelassen, wandte Lali sich mir zu. Sie war klein, schlank, hatte große, braune Augen und einen ziemlich breiten Mund. Und sie war jünger, als ich erwartet hatte. Maximal Ende 20. Außerdem trug sie eine normale Jeans und ein schwarzes Top und nicht etwa einen Sari, wie ich irgendwie angenommen hatte. Als ich ihr die Hand hinstreckte, legte sie ihre jedoch flach aneinander und beugte leicht den Kopf. „Du bist sicher Benedikt. Namaste.“   Sie lächelte und ich stand da mit meiner blöden Hand, die wie bestellt und nicht abgeholt zwischen uns in der Luft hing.   Julius bemerkte das und erklärte mir todernst: „In Indien gilt es als unhöflich, als Mann eine fremde Frau zu berühren. Selbst unter guten Bekannten ist das nicht üblich.“   Ich blinzelte ein paar Mal, merkte, wie ich knallrot anlief, und schaffte es dann endlich, meine Hand wieder zurückzuziehen. In dem Moment brachen Julius und Lali in schallendes Gelächter aus. „Nur ein Spaß“, sagte Lali immer noch lachend und zog jetzt auch mich hinab in eine Umarmung. „Du musst dir keine Gedanken machen. Wir leben hier ziemlich modern.“ „Na da bin ich aber froh“, krächzte ich noch und ließ mich widerstandslos nach drinnen zerren.   Die Wohnung war, wie ich bereits erwartet hatte, groß und hell. Es gab viel Weiß, viel helles Holz, einige bunte Accessoires und insgesamt weniger Indisches, als ich erwartet hatte. Allenfalls das Bild mit dem Elefanten, das über der großen Couchlandschaft hing, sowie einige Kunstgegenstände, ließen auf fremdländischen Einfluss schließen. Dafür gab es umso mehr Kinderspielzeug, das sich lustig durch das ganze Wohnzimmer verteilte. Mittendrin saß ein kleiner, schwarzhaariger Junge und kaute auf einer Gummigiraffe herum.   „Javan!“, rief Julius und kniete sich vor das Kind, dessen Alter ich nicht einschätzen konnte. „Oh, ist der groß geworden. Er sitzt ja schon ganz alleine.“ „Er krabbelt auch wie ein Wilder und zieht sich überall hoch. Furchtbar sage ich dir. Ich kann nichts mehr irgendwo liegen lassen. Bald fängt er bestimmt an zu laufen. Johann hat gesagt, er war auch so früh dran damit.“ „Dann pass bloß auf, dass du die Tischdecken weglässt. Das kann wirklich böse ausgehen.“ „Wem sagst du das. Letzte Woche hat er drei Teller zerdeppert. Zum Glück hat er dabei nichts abbekommen.“ „Oh Lali, du musst vorsichtiger sein.“   Julius sah seine Tante böse an, bevor er sich wieder dem mopsigen Kind zuwendete, das ihn aus großen, braunen Augen musterte. „Magst du mal zum Onkel Julius kommen?“, fragte Julius in säuseligem Tonfall und streckte die Arme aus. Das Kind schien wenig begeistert. Es verzog das Gesicht und suchte irgendwo hinter Julius nach Blickkontakt mit seiner Mutter. Die kam und nahm den kleinen Wonneproppen auf den Arm. „Siehst du? Du bist zu selten hier“, schimpfte sie. „Er kennt dich gar nicht mehr.“ „Was meinst du, wem von uns das am meisten leidtut.“   Mit leuchtenden Augen drehte sich Julius jetzt zu mir herum.   „Ist er nicht bezaubernd?“ „Äh ja, ganz toll. Ein wirklich süßes Kind. Wie alt ist er denn?“ „10 Monate.“   Lali hatte mir geantwortet und lächelte stolz.   „Julius hat mir erzählt, dass deine Schwester auch bald ein Baby bekommt.“ „Äh ja, das stimmt.“ „Wann ist es denn soweit?“ „Im Januar.“ „Oh, ein Winterkind! Wie schön.“ „Äh, ja.“ „Und sie heiratet bald?“ „Ja. Ende August.“   Gott, ich hörte mich so was von beschränkt an. Lali musste ja denken, dass ich ein vollkommener Vollidiot war. Und ehrlich gesagt fühlte ich mich auch wie einer. Ich stand hier in dieser schicken Wohnung, die vor Kindergedöns überquoll, und kam mir so dermaßen fehl am Platz vor, dass ich am liebsten schreiend das Weite gesucht hätte. Oder mich in Julius’ Arme geflüchtet, aber das ging nicht, weil Lali in diesem Moment Anstalten machte, Klein-wie-hieß-er-noch an Julius zu übergeben. Das Kind guckte zwar etwas kritisch, aber als Julius begann, mit ihm herumzulaufen und irgendwelchen Blödsinn zu erzählen, war das schnell vergessen. Glückliches Babyglucksen füllte den Raum. Ich hätte echt gerne mit dem Kleinen getauscht.   „Babys sind nicht so dein Ding, oder?“, fragte Lali und lächelte mich an. „Na ja, ich kenne mich da nicht so aus“, gab ich zu. „Ich hab ein bisschen Angst, dass ich was kaputtmache. Den Kopf abbreche oder so.“   Sie lachte und zeigte dabei wieder ihre weißen Zähne. Durch ihre leicht bräunliche Haut strahlten sie nur umso mehr. „Bei den ganz Kleinen muss man den Kopf tatsächlich stützen, aber bei Javan musst du dich davor nicht mehr fürchten. Der reißt eher dir ein paar Haare aus.“   Lali sah zu Julius, der immer noch vollauf beschäftigt war, danach wandte sie sich wieder an mich. „Möchtest du etwas trinken? Wir könnten in die Küche gehen. Ich muss noch das Mittagessen vorbereiten.“ „Gerne.“   Ich folgte ihr in die Küche, die nicht weniger geräumig war als der Rest der Wohnung. Der größte Teil des Platzes wurde allerdings von einem riesigen Küchentisch eingenommen, während die helle Küchenzeile eher klein gehalten war. Dementsprechend kam Lali zu mir an den Tisch, um Kartoffeln zu schälen. Und mich zu verhören natürlich. „Du gehst also noch zur Schule“, fing sie ganz harmlos an. „Weißt du schon, was du später mal machen willst?“ „Na ja, noch nicht so richtig. Bis dahin sind ja noch drei Jahre. Ich muss demnächst meine Leistungskurse wählen.“ „Und welche werden das sein?“ „Mathe, denke ich. Und dann noch was dazu.“ „Und was?“ „Weiß ich noch nicht genau. Physik wahrscheinlich.“ „Du willst also ein Wissenschaftler werden.“ „Ja, vielleicht.“ Sie lächelte und ging zum Kühlschrank, um einen Blumenkohl herauszuholen. Fragend hielt sie ihn hoch.   „Isst du Blumenkohl?“ „Ja, gerne. Bei uns gibt es den oft mit holländischer Soße.“ „Ach, was ist das für eine?“ „So ne weiße?“ „Aha.“   Sie machte sich daran, das Gemüse zu putzen und in kleine Röschen zu teilen, während ich betreten in mein Seltersglas schaute. Wie es aussah, stellte ich mich nicht besonders geschickt an. Ich hatte keine Ahnung, was ich mal werden wollte, ich konnte nicht kochen und ich mochte keine Kinder oder konnte zumindest nicht viel mit ihnen anfangen, während Julius mich angesichts dieses kleinen Fratzes anscheinend vollkommen vergessen hatte.   „Ist alles in Ordnung? Du guckst so bedrückt?“   Ich schreckte hoch. „Äh ja, ich … ich sollte vielleicht mal nachsehen, was Julius macht.“ „Ja, tu das. Er vermisst dich sicher schon.“   Leider hatte ich so gar nicht den Eindruck, dass das so war. Ich stand in dem Flur dieser liebevoll unordentlichen Wohnung und hatte das Gefühl, dass ich auch gehen könnte, ohne dass es jemand bemerkte. Ich würde keine Lücke hinterlassen. Als ich jedoch vorsichtig um die Ecke schielte, sah Julius freudestrahlend zu mir hoch. „Hey, ich hab mich schon gefragt, ob Lali dich vielleicht doch geschlachtet hat. Komm her. Wir spielen gerade Abgeben.“   Er saß auf dem Boden und hatte um sich herum eine Reihe Spielzeuge ausgebreitet. Das Kind … äh Javan, saß vor ihm und musterte mit ernster Miene einen roten Plastikbecher, bevor er ihn an Julius weiterreichte.   „Danke“, sagte Julius, lächelte Javan an, und gab den Becher dann wieder zurück. „Bitte sehr.“ Das Kind nahm den Becher und steckte ihn sich in den Mund. Es sabberte etwas.   „Ist er nicht süß.“ „Äh ja, ganz reizend. Wirklich.“   Ich musterte das Baby und es schaute kritisch zurück. Wahrscheinlich fragte es sich auch, wer wohl die zwei eigenartigen Onkel waren, die da plötzlich in sein riesiges Kinderzimmer geplatzt waren und seine Becher von ihm haben wollten. Wäre mir in dem Alter vermutlich auch komisch vorgekommen.   „Komm her“, sagte Julius nochmal und klopfte neben sich auf den Boden. „Kannst mitspielen.“ „Okay.“   Ich setzte mich und streckte die Hand aus. „Bekomme ich den Becher?“   Javan sah mich an und verzog die Stirn zu einem grüblerischen Runzeln. Als ich gerade dachte, dass er eingeschlafen war, nahm er doch tatsächlich den angesabberten Becher aus seinem Mund und reichte ihn mir. Ich lächelte etwas gequält, als ich das nasse Ding bekam.   „Danke“, sagte ich und zog den Becher zu mir rüber. Javans Miene wurde entsetzt, er verzog den Mund und begann zu weinen. „Hab ich was falsch gemacht?“   Julius lächelte. „Nein, alles ganz normal. Gib ihm den Becher einfach wieder.“   Ich versuchte es, aber Javan wollte den Becher nicht. Er wollte gar nichts mehr, sondern schrie nur umso lauter, bis Lali irgendwann aus der Küche geeilt kam. „Er hat nur Hunger“, erklärte sie. „Kommt, das Aloo Gobi ist fast fertig und Javans Essen hab ich bereits vorbereitet.“   Sie nahm den Kleinen hoch und ging vor uns her in die Küche. Ich wollte ihr gerade folgen, als Julius mich zurückhielt. Er strahlte mich regelrecht an und zog mich in seine Arme.   „Und, was sagst du? Gefällt sie dir?“ „Sie ist nett.“   War sie ja wirklich. Nichts von dem, was bisher passiert war, gab Anlass zur Sorge bis auf meine eigene, dumme Einbildung. Wahrscheinlich musste ich einfach ein bisschen lockerer werden.   „Sie hat dich ausgequetscht, oder?“   Ich versuchte gar nicht erst, es zu leugnen. Julius seufzte ein bisschen. „Tut mir leid, ich hätte dich vielleicht vorwarnen sollen. Lali sieht in mir manchmal eben doch noch ihr zweites Kind. Oder vielleicht ihren kleinen Bruder. Sie meint es aber nicht böse. Sie will nur …“   Er unterbrach sich und lächelte. Misstrauisch runzelte ich die Stirn. „Was will sie?“ „Nichts.“ „Julius!“ Er seufzte. „Sie will mich beschützen. Es gab da mal jemanden, der mir sehr wehgetan hat. Lali will einfach verhindern, dass das noch einmal passiert.“   Ich schwieg betreten. Anhand der Tatsache, dass sein Onkel Lali noch nicht gekannt hatte, als Julius noch in der Schule gewesen war, konnte es dieses Mal nicht um die Sache mit dem Mobbing gehen. Es musste also noch etwas in Julius’ Vergangenheit geben, von dem er mir bisher nichts gesagt hatte. Ich zog ihn ein wenig näher.   „Erzählst du mir davon?“ „Vielleicht später. Jetzt ist erst mal das Essen fertig. Komm, wir gehen in die Küche.“     Aloo Gobi stellte sich als Curry-Gericht mit Blumenkohl und Kartoffeln heraus. Der kleine Javan bekam im Prinzip das Gleiche, nur ohne Salz, wie mir Lali erklärte.   Während des Essens löste sich die angespannte Stimmung langsam. Wir aßen und redeten und sahen Javan dabei zu, wie er mit seinen speckigen Ärmchen eins ums andere Mal sein Essen vom Tisch fegte, das ihm seine Mutter immer wieder geduldig vorsetzte. Julius erzählte von seiner Schule und davon, dass ich ihm in Englisch buchstäblich den Hals gerettet hätte.   Lali lachte. „Dann hat er jetzt also ein anderes Opfer gefunden, der ihm das in seinen Schädel einnagelt.“ „Einhämmert“, korrigierte Julius sie. „Und es kann ja nicht jeder so talentiert sein wie du.“   Lali sprach wirklich gut Deutsch, nur die Art, wie sie die Worte betonte und ab und an eine falsche Vokabel benutzte, verrieten, dass sie eigentlich mit einer anderen Muttersprache groß geworden war. Sie wandte sich an mich. „Sprichst du viele Sprachen?“ „Na ja, was heißt viele? Englisch und ein bisschen Französisch. Davon zwar zu wenig für eine echte Unterhaltung, aber es würde reichen, um mich zum Eiffelturm durchzufragen.“ „Das ist gut. Dann geht ihr nicht verloren, wenn ihr mal zusammen in den Urlaub fahrt. Julius ist da ein hoffnungsloser Fall.“ „Hey!“   Er protestierte lachend und die beiden alberten ein bisschen herum, bevor sie anfingen, mich mit indischen Vokabeln zu füttern. So lernte ich, dass „Aloo“ Kartoffel heißt und „Gobi“ Blumenkohl und auch sonst noch allerlei, was in der Küche herumstand. Selbst der kleine Javan beobachtete meine Versuche, dieser neuen, ungewohnte Sprache Herr zu werden mit Vergnügen, bis er irgendwann anfing, sich mit den kleinen Fäusten die Augen zu reiben und unruhig in seinem Stuhl herumzuzappeln. Als sein Gemecker lauter wurde und sich nicht mehr ignorieren ließ, stand Lali auf.   „Er ist müde“, sagte sie und hob ihn auf den Arm. „Zeit fürs Mittagsschläfchen. Wollt ihr so lange warten? Es kann allerdings eine Weile dauern, bis er eingeschlafen ist.“ Ich erwartete fast, dass Julius zusagte, aber er überraschte mich. „Nein, wir gehen dann. Ich will mit Benedikt noch woanders hin. Wir bleiben ein anderes Mal länger, ja?“   Die Verabschiedung fiel deutlich kürzer aus, als die beiden sich sicherlich gewünscht hätten, denn Javan befand offenbar, dass es jetzt endgültig reichte mit dem Besuch. Er plärrte das halbe Treppenhaus zusammen, sodass wir uns schneller als erwartet auf den Weg machten. Unten angekommen nahm Julius meine Hand.   „Wollen wir ein bisschen spazieren gehen?“ „Ja gerne.“   Hand in Hand liefen wir durch die nahezu menschenleeren, sonnenbeschienenen Straßen, bis wir irgendwann an einen Kanal kamen, über den eine breite, steinerne Brücke führte. Wir stellten und darauf und sahen hinunter ins Wasser. Unten fuhren zwei Leute in Kanus vorbei. „Schön hier, oder?“, fragte Julius. Ich nickte.   „Ich hab überlegt, ob ich hierher ziehe, wenn ich mit der Lehre fertig bin. Also vielleicht nicht direkt hierhin, aber nach Hamburg halt.“ „Mhm.“ „Was hältst du davon?“   Ich schielte zu ihm rüber, wie er auf das Geländer gestützt dastand und mich erwartungsvoll ansah. Tja, was sollte ich dazu sagen? Hamburg war weit weg. Ziemlich weit sogar. Andererseits waren bis dahin ja auch noch drei Jahre hin. Dann wäre ich ebenfalls fertig mit der Schule. Ein seltsamer Gedanke. Langsam schob ich meine Mundwinkel nach oben. „Ich würde sagen, dass ich mir dann wohl ne Bahncard holen muss.“ „Das wäre natürlich eine Möglichkeit.“   Er lachte plötzlich und griff wieder nach meiner Hand.   „Komm, wir gehen zum Auto zurück. Ich will mit dir noch woanders hin.“ „Ach ja, und wohin?“ „Das ist eine Überraschung.“ Kapitel 38: Von vergangenem Kummer und momentanem Glück ------------------------------------------------------- Die Parkplatzsuche gestaltete sich beim zweiten Versuch sehr viel einfacher. Das lag vor allem daran, dass Julius einfach in ein Parkhaus mit absolut horrenden Gebühren fuhr. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, winkte er jedoch ab. „Du kriegst hier sonst kaum was und ich hab keine Lust, mich wegen irgendwelche abgelaufener Parkscheine beeilen zu müssen. Ich will die Zeit mit dir lieber genießen.“   Als wir das Parkhaus verließen, eröffnete sich der Blick auf ein riesiges Wasserbecken, in dessen Mitte eine gigantische Fontäne unermüdlich das kühle Nass in die Luft schleuderte. Und nicht nur der Wasserstrom riss nicht ab. Es sah aus, als wäre irgendwo auch eine gewaltige Tüte Menschen geplatzt und hätte sich ausgerechnet hier über die Stadt ergossen. Da war wirklich kaum Platz zwischen den vielen sich drängelnden Spaziergängern. Julius steuerte dieses Mal allerdings nicht das Wasser an, sondern zog mich weiter zwischen die umliegenden Gebäude. Wir liefen eine Weile, überquerten zwei Ampeln und standen dann plötzlich auf einer riesigen Einkaufsmeile. Und wenn ich riesig sage, dann meine ich riesig. Das hier war quasi eine vierspurige Shopping-Autobahn. Ich stöhnte. Innerlich und äußerlich. „Du willst jetzt aber nicht shoppen gehen, oder?“ „Was denn?“, neckte er mich. „Du bist schwul und gehst nicht gerne shoppen?“ „Nee, du etwa?“ „Es hält sich in Grenzen.“   Dessen ungeachtet begannen wir trotzdem, in gemächlichem Tempo durch die Stadt zu bummeln. Es war wirklich unglaublich, was die Leute hier alles durch die Gegend schleppten. Einmal kam uns sogar ein Mann mit einem Paar Skier entgegen, was immer er zu dieser Jahreszeit auch damit wollte. Vorherrschend waren allerdings allerhand Taschen und Täschchen der verschiedensten Bekleidungsgeschäfte und Schuhläden und natürlich gab es auch jede Menge Leute, die ebenso wie wir einfach nur mit leeren Händen unterwegs waren. „Der Wahnsinn“, entfuhr es mir, nachdem wir eine gefühlte Stunde lang nur herumgelaufen waren und jetzt im Eingang des wohl größten Buchladens standen, den ich je gesehen hatte. Während ich sofort losstürzte, um in der schier unendlichen Vielfalt an Gedrucktem nach neuem Lesestoff zu suchen, zog sich Julius heimlich, still und leise in die Kinderecke zurück. Ganz kurz überlegte ich noch, ob ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben musste, aber dann tauchte auf einmal die Science-Fiction- und Fantasy-Abteilung vor mir auf und ich vergaß, was ich hatte denken wollen. Meine Güte, was für eine Auswahl …     Als ich einige Zeit später reumütig zu Julius zurückschlich, unterhielt er sich gerade angeregt mit einem kleinen Mädchen über die Raupe Nimmersatt. Die Mutter, die das Ganze offenbar aus einiger Entfernung kritisch beäugt hatte, entspannte sich bei meinem Auftauchen sichtbar. Sie lächelte uns zu und rief dann das Mädchen zu sich, um eine ganze Reihe von Büchern zur Kasse zu tragen. Julius sah ihr nach und ein freudloses Lächeln verzog seine Lippen. „Tja, siehst du. Manchmal können Vorurteile auch nützlich sein.“ „Zum Beispiel?“ „Wenn du schwul bist, macht sich keiner mehr Sorgen, dass du dich an den kleinen Mädchen vergreifst.“ Ich lachte, bevor er hinzusetzte: „Dann geht es nämlich auf einmal um die kleinen Jungs.“   Ich sah ihn grummelig an und er machte ein zerknirschtes Gesicht.   „Tut mir leid. Ich hab nur vorhin bei Lali darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, später mal ein eigenes Kind zu haben. Aber eigentlich weiß ich gar nicht, ob das wirklich so eine gute Idee wäre.“ „Warum nicht? Du wärst bestimmt ein toller Vater.“   Er lachte. „Meinst du? Na ich weiß nicht. Vor allem hätte das Kind dann ja gleich zwei davon und ob das nun so super ist.“   Ich runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“   „Na, stell dir das doch mal vor. Das geht doch schon im Kindergarten los. Was meinst du denn, wie lange es dauert, bis die Frage 'Wo ist denn deine Mama?' auftaucht? Dass Babys nicht auf Bäumen wachsen, wissen heutzutage schließlich schon die Kleinsten. Von deren Eltern ganz zu schweigen. Und selbst wenn die Sache dann mit 'Ich hab eben zwei Papas' geklärt ist, werden Kinder älter. Sie verbringen den größten Teil ihres Tages mit unglaublich grausamen Menschen, nämlich mit anderen Kindern. Die Sprüche, die dann später in der Pubertät dazukommen, muss ich dir ja wohl nicht bildlich vor Augen führen. Ich weiß nicht, ob man einem Kind das zumuten sollte. Das kann dich doch eigentlich nur dafür hassen, dass du ihm mit voller Absicht den gleichen Scheiß antust, den du selbstschon durchhast.“   Julius unterbrach sich und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich weiß nicht, was heute mit mir los ist. Ich hab mich so auf diesen Tag gefreut und jetzt mache ich irgendwie alles kaputt.“   Ich trat ein Stück näher und nahm seine Hand. Hier achtete gerade sowieso keiner auf uns. „Quatsch. Du machst gar nichts kaputt.“   Er schüttelte noch einmal den Kopf.   „Wahrscheinlich liegt es einfach am Wetter.“ Er lächelte matt. „Komm. Ich hab dir doch noch eine Überraschung versprochen.“ „Ach, das Shopping war nicht die Überraschung?“ „Wo denkst du hin? Die liegt aber gleich hier um die Ecke. Du wirst staunen.“     Tatsächlich erwartete mich die „Überraschung“ gleich zwei Querstraßen weiter. Es war ein Café, vor dem auf dem Bürgersteig einige Tische und Stühle aufgestellt waren. Komischerweise waren die nicht alle besetzt. Stattdessen steppte drinnen der Bär.   „Los, komm mit rein.“   Julius fasste nach meiner Hand und zog mich nach drinnen. Als wir die Glastür passierten, schlug uns reges Stimmengewirr entgegen. Es war wirklich ziemlich voll. Und schon im nächsten Moment sah ich, warum wir hier waren. An einem Tisch saßen zwei Kerle. Und knutschten. Also eigentlich war es ein sehr zivilisierter Kuss, wenn wir mal ehrlich sind. Ich starrte sie trotzdem an, wie ne Kuh, wenn’s donnert, bis Julius mich anstieß. „Findest du das nicht ein bisschen unhöflich?“ „Äh, ja, natürlich.“   Oh man, war das peinlich. Ich benahm mich ja kein Stück besser als irgendwelche Heteros. Wobei das jetzt bitte nicht als Schimpfwort zu verstehen ist. Ich war einfach so überrascht. „Komm, da hinten ist noch was frei.“   Ich ließ mich zu einem Tisch bringen und saß nur kurze Zeit später auf einer braunen, ledernen Sitzbank, während mich Julius von der anderen Seite des Tisches vergnügt anfunkelte. Als der Kellner kam, um uns die Karten zu bringen, grinste er umso breiter. „Na, ihr zwei Hübschen. Wisst ihr schon, was ihr trinken wollt?“ „Milchkaffee“, antwortete Julius und sah zu mir rüber. „Äh … ne Cola.“ „Zum Kuchen?“ „Was für Kuchen?“   Der Ober schnalzte mit der Zunge. „Du bist wohl neu hier. Was dein Freund sicherlich meint, ist, dass du unmöglich gehen kannst, ohne was von unseren leckeren, selbstgebackenen Kuchen zu probieren. Ich würde übrigens die Rhabarber-Baiser-Torte nehmen. Die ist wirklich köstlich.“   Julius sah mich fragend an. „Willst du welche? Der Käsekuchen ist auch zu empfehlen.“ „Dann nehme ich den.“ „Zweimal“, machte Julius die Bestellung komplett. Als der Kellner weg war, griff er über den Tisch hinweg nach meiner Hand. „Und? Hab ich zu viel versprochen?“   Ich sah mich um. Optisch machte das Café jetzt nicht unbedingt was her. Also es war hübsch. Die Wände waren in einem mittleren Beige gestrichen, die Möbel in dunklem Holz gehalten, deren Farbton sich in einigen Wandtatoos mit kaffeehaltigen Themen wiederfand. Es gab eine große Glastheke, in der die angekündigten Kuchen und Torten aufgebahrt waren, dahinter standen zwei chromglänzende Kaffeeautomaten, ein gut ausgestattetes Flaschenregal und zwei rührige Kellner sowie eine Dame mittleren Alters, die offenbar die Herrschaft über die Kasse innehatte. Im Grunde war das Einzige, was es von jedem anderen Café unterschied die Tatsache, dass hier tatsächlich auffallend oft zwei Männer – oder eben Frauen – zusammen am Tisch saßen die ziemlich offensichtlich ein Paar waren. Hier und da saß auch jemand allein am Tisch, ob auf jemanden wartend oder vielleicht in der Hoffnung, dass sich jemand interessiertes dazu setzte, war auf den ersten Blick nicht erkennbar. Während ich noch schaute und dabei mit Julius Händchen hielt, kam bereits unsere Bestellung. Zwei riesige Stücke Käsekuchen. Mit Sahne. Ich stöhnte ein wenig.   „Du willst mich wohl mästen.“ „Musst ja nicht alles essen.“ „Bist du verrückt? Das ist Käsekuchen. Den kann ich doch nicht liegenlassen.“   Der erste Biss bestätigte mir, dass ich das wirklich nicht konnte. Der war so gut.   „Ich glaube, ich bin gestorben und in den Himmel gekommen.“ „Ich sagte ja, dass er lecker ist.“   Julius schmunzelte und steckte sich ebenfalls ein Stück Kuchen in den Mund. Dabei wirkte er entspannt wie schon den ganzen Tag nicht. Ich fragte mich …   „Warst du schon mal hier?“   Er verschluckte sich beinahe an seinem Kaffee.   „Wie kommst du darauf.“ „Na, weil du wusstest, dass der Kuchen so gut ist.“ „Könnte ich ja auch im Internet gelesen haben.“ „Mhm, nein. Das passt nicht zu dir.“   Er piekste noch ein winziges Stückchen Kuchen auf, steckte es aber nicht in den Mund, sondern betrachtete es nachdenklich. Schließlich seufzte er und legte die Gabel weg.   „Ja, ich war schon mal hier“, gab er zu. „Mit dem Kerl, von dem du mir erzählt hast?“   Er sah mich nicht an, sondern nickte nur.   „Ist ne Weile her.“ „Wie lange?“ „Ein Jahr ungefähr. Etwa genauso lange, wie wir vorher zusammen waren. Ich hatte immer gedacht … “ Er brach ab und sah mich entschuldigend an.   „Ich sollte nicht von irgendwelchen Exfreunden erzählen.“ Ich grinste ihn an. „Ach, gleiches Recht für alle. Immerhin kennst du ja auch alle meine Verflossenen.“ „Die Liste ist aber ausnehmend kurz.“ „Ist deine so viel länger?“ Er seufzte und fing nun doch an, seinen Kuchen zu essen.   „Nicht wirklich. Also da waren ein paar, aber nichts Ernstes. Nach der Sache an meiner Schule habe ich eine Weile gebraucht, um ich wieder zu fangen. Aber irgendwann wollte ich dann wenigstens was davon haben, dass alle Welt Bescheid wusste. Ich bin in Bars gegangen, Diskos, von denen ich wusste, dass sich dort Schwule treffen. Bin am Wochenende hier nach Hamburg gefahren, um mich auszuprobieren. Allerdings habe ich schnell gemerkt, dass das nicht meine Welt ist. Die meisten, die ich dort kennengelernt habe, wollte nur das Eine. Und sie wollten es auf eine Weise, die mir nicht gefiel. Es war nicht ganz schlecht, aber nicht das, wonach ich mich sehnte. Also hab ich mich im Internet umgesehen. Über eine Webseite habe ich dann jemanden kennengelernt. Er suchte eine diskrete Bekanntschaft. Wahrscheinlich hätte mir das schon komisch vorkommen sollen. Allerdings fand ich seine Anzeige so ansprechend, vor allem weil er gleich klarstellte, dass er nicht … nun ja … aufs Ganze gehen wollte. Viele, bei denen ich das vorher zur Sprache brachte, reagierten sofort ablehnend. Ganz oder gar nicht schien überall das Motto zu sein. Aber er war anders. Wir chatteten eine Weile, doch irgendwann wurde die Neugier auf ein Treffen zu groß.“   Julius machte eine Pause, um an seinem Kaffee zu nippen. Als er weitersprach, waren seine Augen in weite Ferne gerichtet. „Es harmonierte perfekt zwischen uns. Er war ein ganzes Stück älter als ich, aber das störte mich nicht. Auch dass wir uns immer nur alle paar Wochen an versteckten Orten treffen konnten, kam mir nicht komisch vor. Ich dachte, er sei eben nicht offiziell geoutet, zumal er irgendeinen einflussreicheren Posten zu haben schien, von dem er jedoch nie sprach. Wenn wir uns trafen, ging es immer nur um uns beide. Wir verbrachten allmählich mehr Zeit miteinander, fuhren sogar mal ein Wochenende zusammen weg. Drei volle Tage nur für uns. Es war toll. Doch irgendetwas verschwieg er mir und je länger es ging, desto misstrauischer wurde ich. Bis ich ihn irgendwann vor die Wahl stellte, mir endlich die Wahrheit zu sagen oder mich zu verlieren. Er versuchte zunächst noch mir auszuweichen, sich mit seiner Arbeit herauszureden, bis er mir schließlich auf den Kopf zusagte, dass er verheiratet sei und nicht vorhabe, seine Frau zu verlassen.“   Ich holte tief Luft. „Ist nicht dein Ernst? So ein Arsch!“   „Tja, das dachte ich auch. Ich wollte sofort mit ihm Schluss machen, aber es ging nicht. Die Sehnsucht war zu groß. Also tat ich etwas sehr Dummes. Ich fand heraus, wo er wohnte, und wollte ihn dort zur Rede stellen. Wollte ihm seine Ehe ruinieren, weil ich mir einbildete, dass er dann endlich zu mir stehen würde. Dass wir endlich glücklich miteinander sein würden, wenn er aufhörte, in dieser Lüge zu leben. Ich war so naiv.   Als ich klingelte, öffnet mir seine Frau. Ich fragte nach ihm, doch als er an die Tür kam, sah ich sofort, was für einen Riesenfehler ich gemacht hatte. Sein Gesicht war vollkommen versteinert, sein Blick wie Eis. Ich wusste instinktiv, dass ich das zwischen uns zerstört hatte. Endgültig. Als ich dann im Hintergrund auch noch eine helle Stimme nach ihrem Papa rufen hörte, war es vorbei. Ich drehte mich um und rannte so schnell ich nur konnte. Seit dem habe ich ihn nie wieder gesehen.“   Er rührte in seinem Kaffee herum und starrte blicklos in die braune Flüssigkeit.   „Ich bin dann zu Lali geflüchtet. Sie und mein Onkel haben mich quasi bei sich aufgenommen. Mehrere Wochen habe ich bei ihnen gewohnt, geschlafen und gegessen. Zumindest in denn Zeiten, in denen ich mir nicht die Augen aus dem Kopf geheult habe. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie er mir das antun konnte. Wie er seinem Kind das antun konnte. Seine Frau war mir, wie ich gestehen muss, dabei sogar total egal. Er liebte sie schließlich nicht und es wäre nur fair gewesen, sich von ihr zu trennen. Stattdessen hatte er ein doppeltes Spiel gespielt, bei dem es im Endeffekt nur Verlierer gegeben hatte. Seit dem hab ich niemandem mehr vertraut. Ich wollte nicht riskieren, mich noch einmal so zu verlieben. Noch einmal so verletzt zu werden.“   Julius sah auf und es war ein bisschen, als würde die Sonne an einem trüben Tag aufgehen.   „Und dann hab ich auf einmal dich da stehen sehen. Ich weiß nicht genau, was es war, das mich so angezogen hat. Ich glaube, es war der Ausdruck in deinen Augen. So warm und zärtlich und so … rein. Da konnte ich einfach nicht anders, als dich anzusprechen. Eigentlich hatte ich mir nicht einmal sehr große Chancen ausgerechnet. Vor allem nicht, als dann dieser Manuel auf der Bildfläche erschien. Aber jetzt … jetzt sitze ich hier. Mit dir. Ich kann’s eigentlich kaum fassen.“   Irgendwas zog ganz gewaltig in meiner Brust, als er das sagte. Ich glaube, ich war kurz davor anzufangen zu heulen. Stattdessen stand ich auf. Setzte mich neben Julius und nach einem kurzen Zögern lehnte ich mich zu ihm rüber und küsste ihn. Einfach so. Hier mitten in diesem Café. Und es war in Ordnung. Es war das, was er sich gewünscht hatte. So lange gewünscht hatte.   Er lächelte und strich mir zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Du hast deinen Kuchen noch nicht aufgegessen.“ „Ach, der kann warten. Ich habe gerade Wichtigeres zu tun.“ „Das sehe ich anhand der Güte des Kuchens als großes Kompliment an.“     Wir blieben noch eine ganze Weile in dem Café sitzen, bis es langsam Zeit wurde, wieder zurückzufahren. Draußen wollte Julius meine Hand loslassen, aber ich hielt sie fest, bis wir wieder beim Auto waren. Am helllichten Tag inmitten der ganzen Menschen würde uns schon nichts passieren. Nicht hier.   Einen Moment lang musste ich daran denken, was Manuel wohl sagen würde, wenn er mich so sehen könnte. Wahrscheinlich würde er gegen diese Mauer dort gelehnt stehen, spöttisch eine Augenbraue hochziehen und mich fragen: „Ist es das, was du willst, Bambi? Dein Leben mit diesem Waschlappen verbringen? Haus mit Garten, Kind und Hund? Das bist doch nicht du. Ich weiß das. Ich kenne dich.“   „Geh weg“, fauchte ich die Einbildung an, die mich den ganzen Weg über verfolgte. Vielleicht, weil ich mir vorstellte, dass wir uns, sollte ich irgendwann mal in Hamburg wohnen, tatsächlich über den Weg laufen könnten. Einfach so, weil er von hier kam und vielleicht hierher zurückkehrte, wenn er sein Leben in den Griff gekriegt hatte. Vielleicht würden er, Julius und ich uns mal auf der Straße treffen. In einem Club. In der U-Bahn. Irgendwo, wo ich ihn nicht erwartete. Vielleicht würde er mich anmachen. Einfach nur um zu sehen, ob er es noch schaffte, mich rumzukriegen. Natürlich würde ich ihm nicht nachgeben – der Zug war abgefahren – aber der Gedanke lag mir trotzdem wie ein Stein im Magen. Ärgerlich ging ich ein wenig schneller.   „Geh weg! Lass mich zufrieden. Du wolltest mich nicht. Du hast mich angelogen. Jetzt verschwinde aus meinem Leben. Ich bin glücklich.“   „Ach ja?“, spottete die Erinnerung, während sie hinter mir zurückblieb. „Bist du das? Oder wirst du es erst sein, wenn du ihn tatsächlich gefickt hast?“   Ich blickte mich nicht um, sondern fasste Julius’ Hand nur umso fester. Natürlich war ich glücklich. Julius war so ein wunderbarer Mensch. Ich würde ihm niemals so wehtun. Ich würde nicht so ein Arschloch sein. Ich nicht.     Schweigend fuhren wir wieder zurück, ein jeder von uns mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Erst, als wir von der Autobahn abfuhren, ergriff Julius wieder das Wort. „Soll ich dich nicht doch lieber gleich nach Hause fahren? Wir sind fast da.“   Ich überlegte und schüttelte den Kopf. „Nein, warte. Ich ruf mal schnell meine Mutter an.“   Er fuhr rechts ran und ich zog mein Handy und wählte die Nummer von zu Hause. Es dauerte nicht lange, bis meine Mutter abnahm.   „Dorn.“ „Hallo, Mama.“ „Benedikt, was gibt’s? Ist was passiert?“ „Nein, alles in Ordnung. Es ist nur gerade so schön und ich … ich würde gern über Nacht bleiben. Wäre das okay? Morgen ist doch Sonntag.“ „Wenn Antons Eltern nichts dagegen haben.“ „Nein, sicherlich nicht. Ich krieg auch ne Ersatzzahnbürste.“   Meine Mutter lachte.   „Na dann ist ja alles in Ordnung. Viel Spaß und komm morgen trotzdem nicht zu spät nach Hause. Du hast noch Hausaufgaben.“ „Ja, Mama, geht klar.“   Ich legte auf und sah Julius an. „Und? Kann ich bei dir übernachten?“ Er antwortete nicht, sondern lehnte sich zu mir rüber und gab mir einen langen, langen, sehr langen Kuss. Danach setzte er den Blinker und wendete das Auto, um wieder zu ihm nach Hause zu fahren.     Ilona begrüßte uns und wollte wissen, wie unser Besuch in Hamburg gewesen war, aber Julius wimmelte sie mit ein paar freundlichen Sätzen ab. Sie fragte nicht weiter nach, sondern lächelte nur und sagte dann, dass sie mal sehen würde, ob die Nachbarin nicht Zeit für sie hätte.   Als die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war, sah Julius mich an. „Wollen wir zusammen duschen?“ „Ich … ja gerne.“   Normalerweise war das bei uns selten ein Thema, aber nach diesem Tag hatte ich tatsächlich das Gefühl, eine Dusche gut gebrauchen zu können. Das kleine Badezimmer, in das neben Toilette, Waschbecken und Badewanne auch noch eine Waschmaschine gequetscht worden war, roch ein wenig komisch. So wie bei meiner Oma früher. Woher der Geruch kam, wusste ich nicht genau, doch das war im Grunde auch egal, denn im nächsten Moment war alles, was ich noch roch, Julius, der direkt vor mir stand. Sein warmer, irgendwie leicht an Räucherstäbchen erinnernder Geruch füllte meine Sinne. Langsam strichen seine Hände an meinen Seiten entlang, bis sie den Rand des T-Shirts erreichten. Sie schlüpften darunter und berührten meinen nackte Bauch. Ich bekam eine Gänsehaut. „Ist dir kalt?“ „Nein.“ „Gut.“   Er zog mir das Shirt über den Kopf und noch während er es zu Boden gleiten ließ, lagen bereits seine Lippen auf meinen. Sanft streichelten sie mich, ohne mich zu bedrängen. Genau wie seine Fingerspitzen, die über meinen Oberkörper glitten, gerade eben so, dass ich die Berührung spüren konnte. Als sie kurz meine Brustwarzen streiften, atmete ich scharf ein. Da war ich immer noch empfindlich. Ich spürte Julius in den Kuss lächeln. „Wollten wir nicht duschen?“, fragte er leise. „Ich bin immerhin schon nackter als du.“ „Stimmt auffallend.“ Er trat einen Schritt zurück und öffnete die Knöpfe seines Poloshirts. Einen Augenblick lang musste ich daran denken, wie dumm ich mich da mal angestellt hatte, aber die Erinnerung verflog, als Julius sich seines über den Kopf zog und als nächstes die Hand zu seiner Hose gleiten ließ. Langsam, sehr langsam öffnete er den obersten Knopf. „Soll ich weitermachen?“ „Unbedingt.“   Er grinste ein bisschen, aber das nahm ich nur am Rande wahr. Meine Augen klebten an seinem Schritt und seinen Händen, die sich jetzt daran zu schaffen machten. Der Reißverschluss schnurrte nach unten und darunter kam eine enge, schwarze Boxershorts zum Vorschein. Sie verbarg allerdings nur sehr unzureichend, was sich darin befand. Ganz im Gegenteil zeichnete es sich sogar sehr deutlich gegen den Stoff ab. Ich schluckte.   „Scheiße, bist du heiß.“   Er lachte.   „Ich nehme mal an, das sollte ein Kompliment sein.“ „Ja.“   Meine Stimme war nicht viel mehr als ein heiseres Flüstern. Keine Ahnung, warum ich jetzt auf einmal so geil war. Vielleicht weil … weil ich mir die ganze Woche ausgemalt hatte, wie es sein würde, wenn wir das nächste Mal zusammen waren. Teilweise mehrmals am Tag. Es kam trotzdem nicht an den Anblick heran, der sich mir bot, als Julius sich jetzt umdrehte. So ein … Fuck! Jetzt schob er sich doch glatt die Hose dermaßen aufreizend vom Hintern, dass ich einfach nicht anders konnte, als hinter ihn zu treten und mich an ihn zu drücken. Ich trug zwar immer noch meine Jeans, aber ich nahm an, dass er trotzdem spürte, was er für eine Wirkung auf mich hatte. Ich küsste seinen Nacken. Schlang die Arme um ihn und ließ meine Hände recht zielstrebig nach unten wandern. Scheiß auf verführerisch. Ich war hart und geil und er ebenso. Ich hielt das nicht länger aus.   Ganz automatisch drückte ich mich stärker an ihn, während ich ihn anfasste. Unser gemeinsames Keuchen hallte von den Badezimmerwänden wieder.   „Das muss doch unbequem sein“, wisperte er und griff zwischen uns. „Ich denke, du solltest das hier ausziehen.“   Ja. Ja! Ich wollte diese bescheuerte Hose sofort loswerden, aber das hätte bedeutet, dass ich mich von seiner Hand entfernen musste, die mich jetzt durch den festen Stoff hindurch massierte. Die Entscheidung war wirklich nicht einfach.   „Julius, ich komm gleich, wenn du so weitermachst.“   Sofort stoppte er die Bewegung.   „Ah, das wäre doch schade, obwohl …“ Er grinste, als er sich umdrehte. „Vielleicht solltest du dich erst mal ein bisschen abreagieren, bevor wir loslegen. Ich hab noch was mit dir vor.“   Fuck … fuckfuckfuck. Wir würden heute wirklich … oder? Warum hätte er sonst letztens gefragt. Mein Herz klopfte wie wild.   Das wurde auch nicht besser, als er sich jetzt tatsächlich komplett auszog und die Dusche anstellte. Der Anblick seines nackten Hinterns war einfach …   Belustigt funkelte er mich über die Schulter hinweg an.   „Willst du mit Klamotten duschen?“ „Was? Nein, natürlich nicht.“   Ich riss mir meine restlichen Sachen runter und stieg kurz darauf zu ihm in die Wanne. Ein wenig umständlich zog ich den Vorhang zu. Meine Finger zitterten.   Da der Wasserstrahl immer nur für einen von uns reichte, stellte ich mich nur kurz darunter, bevor ich für Julius Platz machte. Er ließ sich das Wasser über die dichten Locken laufen, bis sie nass und glatt herunter hingen. Dann nahm er das Duschgel. „Dreh dich um.“   Ich tat es und er zog mich an sich, sodass wir jetzt beide etwas von dem Wasser abbekamen. Seine Erektion drängte sich zwischen meine Pobacken. Ich bewegte mich leicht dagegen und erntete einen Biss ins Ohrläppchen.   „Nicht so ungeduldig. Erst waschen.“   Er ließ etwas von dem blauen Gel auf seine Hand tropfen und begann mich einzuseifen. Unnötig zu erwähnen, dass das das Ziehen zwischen meinen Beinen nur noch schlimmer machte. Diesen Bereich ließ er jedoch zu meinem Bedauern vollkommen aus. Erst, als schon ein Großteil des Schaums wieder heruntergewaschen war, nahm er noch eine neue Portion und griff zu. Dieses Mal an der richtigen Stelle. „Ah … Julius.“ „Mhm, ich bin da. Lass dich fallen.“   Und das tat ich. Lange dauerte es nicht, aber das hatte er wohl auch nicht erwartet. Sanft küsste er danach meinen Hals.   „Stütz dich an der Wand ab, ich erledige den Rest.“ Ich tat, was er gesagt hatte. In meinem Kopf drehte sich eh noch alles, also ließ ich ihn machen. Als er allerdings fertig war, nahm ich ihm das Duschgel ab. „Jetzt bin ich aber dran.“   Mit gleichmäßigen, kreisenden Bewegungen verteilte ich die frisch riechende Flüssigkeit auf seiner Vorderseite, bevor ich ihn auffordernd ansah.   „Umdrehen.“ „Wie du befiehlst.“   Zuerst wusch ich seine Schultern, dann den Rücken, aber schnell, viel zu schnell kam ich wieder bei diesem verführerischen Hintern an. Meine seifigen Finger glitten in das schmale Tal in dessen Mitte. Ich spürte kaum Widerstand. Und jetzt kam mir Julius auch noch ein Stück entgegen. Stemmte sich gegen meine Finger, die sich an dieser absolut intimen Stelle befanden. Ich meine, ja, ich hatte schon seinen Schwanz im Mund gehabt und auch sonst allerlei von ihm angefasst, aber das da hinten hatte ich schön in Ruhe gelassen. Jetzt jedoch schien ich wie fixiert darauf. Das war doch nicht normal. Zumal ihn das Ganze auch noch anzumachen schien, so wie er sich an meiner Hand rieb. Oh, heiliges Kanonenrohr. Bei mir regte sich schon wieder was. „Reicht das so?“, fragte ich krächzend. Meine Kehle war wie ausgedörrt, obwohl ich doch mitten im Wasser stand.   „Ich weiß nicht. Findest du, dass es reicht?“   Ich konnte nur noch nicken. Sprache wurde eh überbewertet. Gestik und Mimik brachten so viel besser zum Ausdruck, was ich jetzt wollte. Nicht zu vergessen die Körpersprache, denn mein Körper sprach gerade ganz außerordentlich deutlich. Da war absolut nichts genuschelt.   Mit einem Lächeln übernahm Julius es selbst, sich die Seife wieder herunterzuwaschen, während ich einfach nur zusah, wie seine Hände über seinen Körper glitten. Dabei wusste ich nicht, ob es mir lieber gewesen wäre, wenn ich ihn so angefasst hätte, oder ob ich wollte, dass er mich auf diese Weise berührte. All diese Wünsche verschwammen nur noch zu einem einzigen großen Wollen. Einem tiefen Drängen, einem Verlangen, das sich wohl auch in meinen Augen widerspiegelte und sein Pendant in Julius’ Blick fand. Auf einmal hatte er es sehr eilig, mich aus dem Bad in sein Zimmer zu bekommen. Nur mit zwei Handtüchern bekleidet jagten wir die enge Treppe hinauf, wobei ich meines schon kurz hinter der Zimmertür wieder verlor. Im nächsten Augenblick landete ich rücklings auf dem Bett, während Julius sich auf mich stürzte. Er küsste mich voller Leidenschaft. Seine Zunge tanzte in meinem Mund, bevor er begann, jeden Quadratzentimeter meines Körpers mit Küssen zu bedecken. Das hatte er zwar zuvor schon gemacht, doch heute schien er ungeduldiger, wilder, fast so als wäre er heute derjenige, der es nicht abwarten konnte.   Ich spürte ein Zittern durch meinen Körper laufen. Gefangen zwischen dem Drang, mich seiner Administration einfach zu ergeben oder aber selbst endlich wieder aktiver zu werden, lag ich regungslos da und genoss, was er mit mir tat. Willig spreizte ich die Beine, als er dazwischen und im nächsten Moment vom Bett glitt. Seine weichen Lippen und flinke Zunge erforschten jetzt mein Heiligstes und ich war nicht unerstaunt, als er nach noch mehr Platz verlangte, mich noch weiter entblößte und dann …   „Fuck, Julius!“   Oh Gott, fühlte sich das irre an. Ein bisschen eigenartig zwar, aber gut und mit absolut nichts zu vergleichen, was ich vorher schon mal gespürt hatte. Trotzdem war es nach dem ersten, guten Gefühl doch komisch. Außerdem war es nicht das, was ich wollte. Also streichelte ich ihm durch die Haare und als er mich ansah, lächelte ich. „Kommst du wieder zu mir hoch?“ „Gefällt es dir nicht?“ „Doch, aber ich … will dich lieber bei mir haben.“   Er lachte, bediente sich an einem der Handtücher, um sich das Gesicht abzuwischen, und kam dann zu mir aufs Bett. Sanft küsste er mich. „Und was möchtest du stattdessen machen?“   Ich wusste es. Ich wusste, was ich wollte. Und eigentlich war es mir sogar vollkommen egal, wie rum wir es taten. Das Einzige, was ich wollte, war, mich mit ihm zu vereinen. Ein Teil von mir wusste, dass das vollkommen bescheuert war und das wir auch ohne das sehr, sehr viel Spaß hatten, aber … es fühlte sich einfach richtig an. Für mich zumindest tat es das. Aber was war mit ihm?   Mein Zögern schien Julius Antwort genug zu sein. Er lächelte.   „Anscheinend hast du über meine Frage nachgedacht.“ „Ich … äh … ja.“ „Alles gut, keine Panik. Ich hätte es dir nicht angeboten, wenn ich nicht dazu bereit wäre.“ Er grinste und fügte hinzu: „Außerdem hätte ich ja sonst vollkommen umsonst eingekauft.“   Ein bedeutungsschwangerer Blick traf den Schreibtisch, der neben dem Bett stand.   Einen Moment lang starrte ich Julius nur an, dann drehte ich mich so schnell um, dass ich beinahe vom Bett fiel. Ich riss die Schublade des Tischs auf und fand eine Packung Gleitgel und Kondome. Wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum starrte ich die beiden Packungen an. „Aber du … du hast doch gesagt.“ „Mit dem richtigen Partner, kann man alles genießen.“   Ich schluckte. Plötzlich wusste ich nicht, ob ich das wirklich tun sollte. Julius war bereit, so weit für mich zu gehen. Für mich! Und ich … ich hatte auf einmal wieder Manuels höhnische Stimme im Kopf, die mich fragte, ob ich jetzt endlich einsah, dass ich auch nicht besser war als er. Langsam ließ ich meine Hände sinken. „Hey.“   Julius hatte meinen inneren Tumult anscheinend bemerkt. Er legte den Zeigefinger unter mein Kinn und hob es an, um mir in die Augen zu sehen. „Wir müssen auch nicht, wenn du nicht willst.“ „Doch, ich will ja, aber … ich glaube, ich will es nicht heute. Ich hatte gedacht, dass ich es will, aber ich kann auch noch ein bisschen warten.“   Julius lächelte und beugte sich vor, um mich zu küssen. „Dann lass uns einfach was anderes Schönes machen.“ „In Ordnung.“     Irgendwann später lag ich satt und befriedigt mit Julius zusammen auf dem Bett. Wir hatten hinterher nochmal geduscht und uns dann eine Pizza bestellt, deren Preis wir uns brüderlich geteilt hatten. Zum Glück mochten wir beide Ananas, sodass die Frage nach dem Belag ganz schnell geklärt gewesen war. Ich wusste wirklich nicht, was mir jetzt noch zu meinem Glück fehlen sollte. Außer vielleicht ein paar Zentimeter mehr Bett. „Meinst du, wir kriegen das heute Nacht hin?“ „Klar. Zusammen kriegen wir alles hin.“   Ich lächelte und er gab mir einen nach Hawaii-Pizza und Zahnpasta schmeckenden Kuss, bevor er das Licht löschte, damit wir noch ein bisschen die Sterne beobachten konnten, die langsam vor dem dreieckigen Dachfenster aufgingen. Mit einem Seufzen lehnte ich mich an ihn und war mir in diesem Moment absolut sicher, dass es genau das war, was ich wollte. Das und nichts anderes auf der ganzen großen, weiten Welt. Kapitel 39: Von verbrauchten Akkus und schützenden Helmen --------------------------------------------------------- Das Tolle an der nächsten Chemiestunde war, dass wir nach der Hälfte davon die letzte Klassenarbeit für dieses Jahr hinter uns hatten. Dumm war nur, dass der Unterricht dann noch nicht vorbei war. Und Herr Wilkens voller Tatendrang.   „Ihr braucht die Stifte gar nicht wegzulegen“, rief er und erntete dafür ein allgemeines Stöhnen. „Nun mal nicht so schlapp hier. Die meisten, also eigentlich alle von euch, haben ihre Leistungskurse noch nicht gewählt. Schöne Schlamperei. Also teilt doch mal eben die Zettel hier aus, dann können wir das schnell erledigen.“   Sandra sprang auf und holte gehorsam den Stapel Papier, mit dem Herr Wilkens herumwedelte, vom Lehrertisch ab und fing an, die Dinger nach hinten durchzugeben. Darauf stand nochmal genau erklärt, wie man die Fächer auszuwählen hatte, damit auch alle drei Lernfelder abgedeckt waren. Abitur mit Kunst und Sport war somit nicht drin und ich starrte auf den Zettel. Als erstes hatte ich natürlich Mathe reingeschrieben, aber was dazu? Wenn ich eine Naturwissenschaft wählte, würde ich mich zusätzlich noch in einer Sprache prüfen lassen müssen. Ob meine eigene oder eine fremde stand dabei nicht fest. Wobei Englisch als Prüfungsfach so schlecht nicht klang. Aus dem gesellschaftlichen Sektor hätte ich ja Erdkunde als mündliches Fach nicht übel gefunden, aber da ich Geschichte eh nicht abwählen konnte, nahm ich halt das als schriftliches Prüffach. Würde schon irgendwie gehen. Und ich würde so weniger Unterricht haben. Am Ende trug ich tatsächlich Physik als zweiten Leistungskurs ein.   Anton neben mir schob seine Brille nach oben. Seine Wahl sah ähnlich aus, nur dass er sich in Latein prüfen lassen wollte. Na dann mal frohes Vokabel-Lernen, mein kleiner Freund.   „So, nachdem ihr euch jetzt erfolgreich die Zukunft versaut habt, wollen wir noch mal ein paar kleine Sachen wegen der Klassenfahrt besprechen. Wie ihr wisst, wird das Gepäck mit dem Auto zum jeweiligen Zeltplatz transportiert. Das heißt jedoch nicht, dass jeder von euch drei Koffer mitschleppen kann. Eine Tasche für jeden. Ja, auch für dich Corinna.“   Corinna ließ ihren Arm wieder sinken. „Außerdem werden wir jeden Tag mehrere Kilometer radeln. Seht also zu, dass eure Räder fit sind. Von euch wage ich das ja nicht zu hoffen. Ihr hockt ja heutzutage nur noch drinnen und guckt auf irgendwelche Bildschirme. Womit wir beim nächsten Thema wären. Handys. Wir haben überlegt, die Mitnahme zu verbieten …“   Allgemeines Protestgeschrei erhob sich, wobei sich Ben und Sandras ausnahmsweise mal einig waren. Herr Wilkens wartete ab, bis sich der Tumult ein wenig gelegt hatte, dann schüttelte er den Kopf.   „Ich sagte, wir haben es überlegt. Aber ihr seid alt genug, um selbst zu entscheiden, ob ihr lieber eurem Nachbarn in die Augen oder auf euer Display gucken wollt. Ich möchte euch jedoch Folgendes zu bedenken geben: Wir werden auf Campingplätzen und in der freien Natur unterwegs sein, sodass es kaum Gelegenheit geben wird, die Akkus wieder aufzuladen. Zum anderen werden eure Sachen die meiste Zeit des Tages unbewacht auf dem Campingplatz herumliegen. Ihr könnt euer Handy natürlich mitnehmen, aber falls es verloren geht, ist es weg. Es wird keinerlei Haftung übernommen. Also überlegt euch gut, ob ihr das Ding wirklich einpacken wollt, nur um dann unter Umständen eine Woche lang eine batterieleere Leiche mit euch rumzuschleppen. Außerdem möchte ich eure elektronischen Freunde tagsüber maximal zum Fotografieren sehen. Abends dürft ihr dann gerne eure Mami anrufen und ihr sagen, was ihr doch für eine Sehnsucht nach ihr habt, aber nicht vorher.“   Herr Wilkens hatte sein Plädoyer offenbar beendet und schwadronierte noch weiter über wetterfeste Kleidung, geeignete Zelte, Warnwesten und Fahrradhelme, während ich die Backen aufplusterte und hörbar die Luft entweichen ließ. Anton sah mich fragend an. „Was ist los?“ „Ach, ich überlege wegen des Handys. Ist ja schon ne ganze Zeit. Meine Mutter würde ich nun nicht anrufen wollen, aber dich vielleicht.“   Anton schmunzelte ein bisschen. „Wieso habe ich das untrügliche Gefühl, dass ich nicht der Erste auf deiner Telefonliste wäre?“   Ich konnte mir ein Grinsen nicht ganz verkneifen. „Na schön, aber der zweite. Okay?“ „Klar.“   Anton hatte nicht noch mal gefragt, was jetzt mit mir und Julius war, obwohl ich natürlich ein bisschen was erzählt hatte. Unter anderem von dem Besuch bei Lali, aber das, was Julius mir in dem Café anvertraut hatte, hatte ich selbstverständlich nicht erwähnt. Das ging nur mich und Julius was an. Zudem hätte ich Anton nicht sagen können, wie denn nun unser offizieller Beziehungsstatus war. Eigentlich fühlte es sich an, als wären wir zusammen, aber irgendwie hatte ich den Eindruck, das Julius noch zögerte, es auszusprechen. Wir beide vielleicht ein bisschen. Im Grunde war es uns wohl klar, aber irgendwie … Andererseits: Wer brauchte schon Etiketten? Es war gut, wir hatten Spaß zusammen, verstanden uns manchmal ohne viele Worte und hatten andererseits kein Problem, über Dinge zu sprechen, die uns beschäftigten. Wir vertrauten einander blind. Und ich vermisste ihn jetzt schon ein bisschen. Die Zeit in Dänemark so ganz ohne ihn würde lang werden. „Triffst du dich nochmal mit ihm, bevor es losgeht?“   Ich seufzte und schüttelte den Kopf.   „Nicht wirklich. Meine Mutter hat drauf bestanden, dass ich noch die Dachrinne saubermache und irgendwelche Sachen aus dem Keller für den Sperrmüll rausstelle, bevor ich verschwinde. Am Samstag muss ich arbeiten und Sonntag hat Björn Geburtstag. Und natürlich muss ich mit. Die Veranstaltung ist so unnötig wie nur was. Bloß weil meine Schwester den Kerl heiratet, muss ich doch nicht den ganzen Tag da rumsitzen und mich zu Tode langweilen.“ „Du hast mein volles Mitgefühl.“ „Warum hört es sich dann so an, als würdest du lügen?“   Anton grinste und ich wuschelte ihm durch die Haare, was dazu führte, dass ihm die Brille fast von der Nase rutschte. Auf seinen Protest hin, rollte ich nur mit den Augen. „Besorg dir halt endlich mal eine, die passt. Das Ding ist dir doch eh viel zu groß.“ „Und was würdest du mir empfehlen?“ „Was weiß ich denn? Bin ich Optiker?“ „Vielleicht sollte ich Theo mal fragen, wo der seine herhat.“   Für einen Moment zuckte ich zusammen. War das grade eine Anspielung von Anton gewesen? Der sah zwar aus, als könne er kein Wässerchen krümmen und kein Härchen trüben, aber trotzdem. „Wie meinst du das?“ „Wenn du das nicht weißt.“ Das war alles, was Anton dazu zu sagen hatte, denn das Klingeln war so gnädig, ihn von einer weiteren Antwort zu entbinden. Reges Stühlerücken setzte ein, das Herr Wilkens noch versuchte, mit irgendwelchen Ermahnungen zu übertönen, bevor alle zum vorletzten Mal vor der großen Tour das Schulgelände verließen. Auch ich packte zusammen, doch als ich aufstand, galt mein Blick nicht der Tür. Ich suchte nach Theo. Überraschenderweise fand ich ihn in einem Gespräch mit … Oliver!   „Du musst aber einen Helm aufsetzen“, erklärte er den Blödmann gerade. „Ich hab aber keinen Bock darauf.“ „Dann kannst du nicht mitkommen.“ „Mir egal.“ Theo seufzte. „Was genau ist dein Problem? Ich find die Dinger auch nicht besonders, aber es dient nun mal der Sicherheit.“ „Da scheiß ich drauf.“ „Aber ich nicht. Und Herr Wilkens auch nicht. Wir werden alle einen aufhaben, also stell dich nicht so an.“   Oliver funkelte Theo wütend an, doch der ließ sich nicht einschüchtern. Plötzlich huschte allerdings Verstehen über sein Gesicht.   „Du hast keinen, oder?“   Oliver schnaubte, bevor er den Blick senkte und langsam den Kopf schüttelte.   „Soll ich dir einen leihen? Ich hab noch einen alten zu Hause, den könntest du haben.“ „Ich will deinen Scheiß nicht.“ „Gut, dann halt nicht. Wenn du unbedingt hierbleiben willst, von mir aus. Aber falls du deine Meinung änderst, sag Jo Bescheid, dann bring ich ihn Montag mit.“   Damit drehte Theo sich um und ließ Oliver stehen. Der hatte die Hände zu Fäusten geballt und sah gleichzeitig so aus, als könnte er nicht glauben, dass Theo so nett zu ihm gewesen war. Ich konnte es ihm nachfühlen.   Als er allerdings den Kopf hob und mich sah, wurde sein Gesicht wieder finster.   „Was glotzt du so, Schwuchtel?“ „Vielleicht genieße ich die Aussicht.“   Er klappte den Mund auf und starrte mich an, bevor er endlich wieder Luft bekam.   „Das ist widerlich!“, schrie er mich an, bevor er aus der Tür flüchtete. Ich bemerkte eine Bewegung neben mir. Es war Anton. „Das war nicht besonders klug.“ „Ich weiß“, seufzte ich. „Aber irgendwie muss ich mit ihm ja umgehen. Was würdest du denn empfehlen?“ „Provozier ihn nicht, bleib möglichst auf Abstand und lass dich nicht auf Stress ein.“ „Und wenn er mit dem Stress anfängt?“ „Dann such dir Hilfe.“   Ich sah Anton an, der zu mir hochblickte und dabei einmal mehr aussah wie ein Erdmännchen mit Brille. Plötzlich musste ich grinsen.   „Was?“, fragte er verwirrt. „Ach, ich musste nur gerade an 'König der Löwen' denken.“ „Was ist damit?“ „Ach nichts. Gar nichts.“ „Benedikt!“ „Anton?“ „Du bist unmöglich.“ „Aber du liebst mich trotzdem.“ „Wenn du das sagst.“   Ich summte „Can you feel the love tonight“ und Anton schüttelte lachend den Kopf, bevor wir endlich den Chemieraum verließen, vor dem Herr Wilkens schon ungeduldig wartete. Dabei musste ich nochmal an Theo denken. Anscheinend hatte er sich doch mit der Zeltsache mit Oliver abgefunden. Warum war mir schleierhaft und ich nahm mir vor, ihn nochmal danach zu fragen, wenn wir am Samstag zusammen Schicht hatten.     Erstaunlicherweise musste ich ziemlich lange warten, bevor Theo auftauchte. Fast eine Stunde nach Ladenöffnung erschien er endlich. In der Hand hatte er einen Fahrradhelm. „Was willst denn damit?“ „Der ist für Oliver.“   Ich folgte Theo zum Umkleideraum, wo er Helm und Rucksack im Schrank verstaute. Möglichst ignorierend, dass er sich danach das T-Shirt über den Kopf zog, fragte ich: „Und wieso schleppst du den hier mit her?“ „Musste ihn erst noch bei einem Freund abholen.“ „Hä?“   Er blieb stehen, das Arbeitsshirt in der Hand, und sah mich an.   „Was gibt es denn da zu hä-hen? „Na, ich dachte, du hast noch einen zu Hause.“ „Das hast du mitbekommen?“   Ups. Damit hatte ich wohl zugegeben, dass ich gelauscht hatte. Nicht gerade die feine, englische. Ich räusperte mich.   „Na ja, schon irgendwie. Ich hab dich mit Oliver stehen sehen und war neugierig, was du mit ihm zu besprechen hast. Ich dachte, du wolltest noch mal mit Herrn Wilkens reden.“ „Hab’s mir anders überlegt.“ „Und warum das?“   Er atmete tief durch.   „Ich wusste nicht so recht, was ich ihm sagen soll. Also hab ich beschlossen, das selbst zu regeln. Mich nicht rauszuhalten. Mich einzumischen und so Jo und hoffentlich auch Oliver klarzumachen, wie dämlich das ist, was sie da von sich geben.“   Er sah mich an und lächelte.   „Ich lasse nämlich nicht zu, dass jemand Schwachsinn über meine Freunde verbreitet. Noch nicht mal, wenn es ein anderer Freund ist.“ „Nicht mal dein bester?“ „Nein, auch der nicht.“   Für einen Moment lag mir auf der Zunge ihn zu fragen, was denn wäre, wenn es gar kein Schwachsinn wäre, den Oliver da rumposaunte. Einfach weil … weil ich ihm gegenüber ehrlich sein wollte. Weil ich wollte, dass er nicht irgendwann aus allen Wolken fiel, wenn es vielleicht doch rauskam. Aber dann ging mir zum Glück gerade noch rechtzeitig auf, dass das eine ziemlich dumme Idee war. Zumal ich mir nicht ganz sicher war, wie er wohl reagieren würde, wenn er davon erfuhr. Mein Blick fiel nochmal auf den Helm. Ich seufzte leise.   „Wenn du den nicht mitgebracht hättest, hätte Oliver vielleicht nicht mitgedurft.“   Theo blickte ebenfalls auf die Halbschale aus Plastik herab.   „Ja, da hast du wohl recht. Aber das Problem zu ignorieren macht es ja nicht besser. Wir sind in knapp zwei Wochen wieder da und dann? Soll es dann wieder von vorne losgehen? Nein. Dann lieber die Chance nutzen. Es heißt doch immer, solche Fahrten stärken die Gemeinschaft. Also stärken wir doch mal ein bisschen.“ „If you can’t beat them, join them.“ „Exakt.“   Ich sah Theo ein bisschen bewundernd an, während er mir jetzt den Rücken zudrehte um sich anzuziehen. Ich hatte mich immer gefragt, was die Leute denn an ihm fanden. Was ihn so besonders machte, denn schließlich konnten ja nicht alle nur auf sein Äußeres fliegen. Aber wahrscheinlich war es diese Art, die die Leute anzog. Dass er ihnen das Gefühl gab, etwas wert zu sein. Das Gefühl, etwas zu tun, statt nur darüber zu reden. Das Gefühl, zu etwas dazuzugehören.   Es wäre schön gewesen, mich noch ein bisschen an diesem Gefühl erfreuen zu können, aber kaum dass wir den Umkleideraum verlassen hatten, war die Zeit des Müßiggangs vorbei. Die Kunden stürmten das Sportgeschäft in Scharen und schienen bereit, buchstäblich die Regale leerzukaufen. Wären noch mehr Leute gekommen, wir hätten sie Nummern ziehen lassen müssen.     Am Ende des Tages wusste ich nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Vielleicht hatte ich meine grauen Zellen auch einfach nur an die vielen Klassenarbeiten verbraucht oder an den ganzen Mist, der mir sonst noch im Kopf herumspukte. Hätte mir so was zugestanden, hätte ich gesagt, ich wäre urlaubsreif.   Auch Theo sah ein bisschen mitgenommen aus. Er schnaufte, bevor er die Tür des Spinds öffnete und seine Sachen rausholte. Als ich ihm ein aufmunterndes Lächeln schenkte, erwiderte er es. „Hast du heute noch was vor?“   Ich schüttelte den Kopf. „Du?“   „Nein. Bisschen abhängen, vielleicht noch Gitarre üben.“   Ich lachte. „Besser ist das. Immerhin hast du mir was versprochen. Hast du schon ein Lied ausgesucht?“   Er wich meinem Blick aus. „Vielleicht. Ich schwanke noch, welches ich nehme.“ „Na, jetzt machst du mich ja neugierig. Was steht denn zur Auswahl?“   Ich sah, wie er sich auf die Lippen biss. Was hatte das zu bedeuten? „Theo?“ „Ja?“ „Alles in Ordnung?“ „Ich … ja. Ja, alles in Ordnung. Ich musste nur gerade an etwas denken.“   Ich hätte zwar nur zu gerne gewusst, an was genau er hatte denken müssen, aber in dem Moment erschien Holger, um uns rauszuwerfen. Auch schien Theo es plötzlich sehr eilig zu haben, nach Hause zu kommen, denn als ich mein Fahrradschloss gerade mal geöffnet hatte, hatte er sich bereits auf den Sattel geschwungen.   „Also dann, bis Montag.“ „Ja, bis Montag.“ „Und vergiss deinen Helm nicht.“ „Wieso? Würdest du mich dann etwa hier lassen und stattdessen Oliver mitnehmen.“   Er grinste. „Würde mir nie einfallen.“ „Na, da bin ich aber froh.“ Theo antwortete nicht mehr, sondern nickte mir nur noch einmal zu und trat dann in die Pedale. Im nächsten Moment war er bereits um die Ecke verschwunden. Ich sah ihm noch einen Augenblick lang nach, bevor ich mein Rad in Richtung Monopoly schob. Heute Nachmittag würde ich Julius das letzte Mal sehen, bevor es auf Klassenfahrt ging, und ich hatte nicht vor, mir diese Gelegenheit entgehen zu lassen.     Als ich am Sonntagabend in meinem Bett lag, den Blick an die Zimmerdecke gerichtet, meine Reisetasche in einer Ecke liegend wie ein schlafendes Raubtier, hatte ich das Gefühl, am Rand eines riesigen Ozeans zu stehen. Um mich herum nur Wasser, Wasser, Wasser. Kein Halt, kein Grund, keine Möglichkeit mich auszuruhen und zu verschnaufen. Wie würde es werden, solange ohne echte Rückzugsmöglichkeit mit den anderen zusammenzusein? Ich hatte mir, ehrlich gesagt, noch nie Gedanken gemacht, ob die anderen Jungs eigentlich solche Probleme auch hatten. Und selbst wenn, war es ja „okay“ dass sie die hatten. Die wollten schließlich was von Mädchen und mussten sich keine Gedanken darum machen, ob sie ihre Mitbewohner mit ungewollten Körperreaktionen belästigten. Natürlich wussten sie nichts davon und vermutlich musste ich mir auch einfach nur sagen, dass es ja nichts mit ihnen zu tun hatte, da ich ja schließlich nichts von ihnen wollte. Aber der Gedanke an Gemeinschaftsduschen und enge Zelte machte mich trotzdem ein bisschen nervös. Selbst wenn Timo und Elias nun wirklich out of question waren.   Die Szene am See aus dem Film, den ich mit Julius geguckt hatte, fiel mir ein und ich musste ein bisschen lachen. Ja, so in etwa würde es wohl sein. Mulan hatte sich zurückgezogen, um in Ruhe zu baden und dann? Kam auf einmal eine Herde nackter Männer herbeigestürmt und sie musste sich von Muschu retten lassen, damit niemand merkte, was mit ihr los war. Mal ganz davon abgesehen, dass sie gar nicht wusste, wo sie zuerst nicht hingucken sollte. Ich würde mich wohl geschickter anstellen müssen als Mulan, denn mir würde leider kein kleiner, roter Drache zur Seite stehen. Eigentlich schade. Die Rolle hätte Anton bestimmt gut gestanden.   Ich presste die Hände auf meine Augen und fuhr mir über das Gesicht. Ich musste dringend schlafen. Diese Gedanken halfen nämlich so überhaupt gar nicht. Ich würde es einfach auf mich zukommen lassen müssen. Wahrscheinlich würde ich abends sowieso nur wie tot ins Zelt fallen. Immerhin hatte unser Klassenlehrer ja angekündigt, dass er uns ordentlich auspowern wollte. Würde schon irgendwie gehen.   Ich griff nach meinem Handy, das ich gerade nochmal ans Ladekabel gehängt hatte, damit der Akku morgen auch wirklich randvoll war. Ein paar Prozent fehlten noch und so wollte ich es zuerst wieder weglegen, als ich kurzentschlossen noch einmal den Messenger öffnete.   'Hey, schläfst du schon?', schrieb ich an Julius. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er online war und mir angezeigt wurde, dass er eine Antwort tippte. 'Nein, noch nicht. Du?'   'Haha.'   'Also nicht? Dachte ich mir.'   'Ich kann nicht einschlafen.'   'Warum nicht?'   'Bin aufgeregt. Wegen morgen.'   'Verstehe. Wie war der Geburtstag?'   'Öde. Baby, Baby, Hochzeit, Baby, Hochzeit, freust du dich schon auf die Klassenfahrt, Baby, Hochzeit, Hochzeit, neue Wohnung, neue Wohnung, Baby, Hochzeit.'   Julius schickte lediglich ein paar sich beömmelnde Smileys zurück. Wütend schrieb ich eine neue Nachricht.   'Ey! Das war echt Folter!'   'Armes Hascherl. Ich würde ja gerne pusten, aber du bist zu weit weg.'   'Blasen wäre mir auch lieber.'   'Teenager! *augenrollender Smiley*'   'Wenn du nun mal so talentiert bist …'   Zufrieden registrierte ich, dass er auf meine Vorlage einstieg. Die nächste Nachricht war durchaus expliziter und ich ließ mit einem Grinsen meine Hand in meine Hose gleiten. Mit Chance würde mir das wenigstens für ein paar Tage Ausgeglichenheit bescheren. Kapitel 40: Von steilen Hügeln und hübschen Zelten -------------------------------------------------- Am Montagmorgen gegen halb acht herrschte auf dem Pausenhof geordnetes Chaos. Ein ganzer Haufen Schüler mit noch mehr Fahrrädern und dazu unsere Lehrer, die uns umrundeten, wie zwei Schäferhunde eine Herde Lämmer, damit auch keines ausbüxte. Der Anführer vons Janze war natürlich Herr Wilkens, der im schicken Sportdress und mit neonfarbenem Helm unterwegs war. Er bildete dabei einen krassen Gegensatz zu Frau Kuntze, die anscheinend die Gelegenheit genutzt hatte, sich endlich mal in ihre bequemen Gartenklamotten zu schmeißen, und mit einem kugelrunden, roten Topf auf dem Kopf herumrannte, der den Eindruck eines wild gewordenen Gummiballs nur noch verstärkte. Eigentlich wunderte es mich ein bisschen, das ausgerechnet sie mitgekommen war, aber andererseits war die Auswahl an weiblichen Lehrkräften bei uns ja auch nicht gerade groß. Und Frau Kuntze schien sportlicher zu sein, als man ihr bei ihrer Figur zugetraut hätte.   „Ich schwimme jeden Morgen bei uns im See“, hatte sie verkündet, woraufhin irgendjemand nur „Hoffentlich nicht nackt!“ dazwischen gerufen hatte. Zum Glück für denjenigen hatte sie nicht rausgekriegt, wer es war.   „Corinna, jetzt hör auf zu meckern und setz endlich deinen Helm auf“, blaffte Herr Wilkens gerade, nachdem er sich versichert hatte, dass der Rest von uns bereits eingenordet war. Selbst Oliver hatte so ein Ding auf dem Kopf. Es war der, den Theo ihm mitgebracht hatte.   „Aber meine Frisur!“, jammerte Corinna. „Die interessiert die nächsten zehn Tage niemanden. Wohl aber, wenn wir die Fähre verpassen. Also los jetzt. Sie haben die Adresse, Frau Degenhardt?“   Sandras Mutter, die sich bereit erklärt hatte, den Gepäcktransport zu übernehmen, nickte.   „Ja, ich fahre dann mal. Wir sehen uns drüben.“ „Fein, und ihr alle macht euch bereit zur Abfahrt. Wir fahren hintereinander. Ich vorneweg, Frau Kuntze bildet das Schlusslicht. Und jetzt mal zack-zack.“   Und dann ging’s los. Zuerst durch die Stadt, was bei jeder Ampel einen halben Auflauf verursachte, bis wir dann die Häuser hinter uns ließen und auf dem Weg, der parallel zur Straße verlief, mehr oder weniger geordnet durch die Landschaft radelten. Ich hatte bald ein einigermaßen angenehmes Tempo gefunden und trat so vor mich hin in die Pedale. An der Spitze der Gruppe lieferten sich Theo, Jo und ein paar andere ein regelrechtes Wettrennen. Na meinetwegen, sollten sie. Ich verspürte wenig Lust, mich jetzt schon total auszupowern, obwohl es bestimmt Spaß gemacht hätte, da vorne mitzufahren. Aber eile mit Weile hieß es ja nicht umsonst. Außerdem hatte ich noch Antons Warnung im Ohr und wollte mich erst mal ein bisschen fernhalten. Man musste ja nicht gleich am ersten Tag Stress riskieren.   Nach ungefähr der halben Strecke rief Herr Wilkens dann eine kurze Pause aus. Die Gruppe hatte sich bereits so weit auseinander gezogen, dass zwischen den ersten und den letzten Rädern gute zwei Kilometer lagen. Offenbar passte ihm das gar nicht.   „Da seid ihr ja endlich“, rief er, als Frau Kuntze mit den letzten, schon leicht erschöpften Radlerinnen ankam. Es waren Corinna, ihre beste Freundin Charlotte und Mia-Marie, die ziemlich rot im Gesicht war.   „Können wir dann weiter?“, drängelte Ben. Er war mit einer der ersten gewesen, die hier angekommen waren.   „Ja, lasst uns weiterfahren“, maulte jetzt auch Jonas. „Das ist voll öde hier nur rumzustehen.“   Keines der Mädchen wagte, etwas dagegen zu sagen, aber ich sah genau, dass gerade Mia-Marie unbedingt noch eine Pause brauchte. Schließlich war sie gerade erst vom Rad gestiegen. Ich wandte mich an Herrn Wilkens.   „Können wir nicht zwei Gruppen machen? Eine schnelle und eine langsamere? Dann müssten die ersten nicht warten und die anderen sich nicht so abhetzen.“   Herrn Wilkens’ Miene hellte sich auf. „Das ist eine gute Idee. Also los, wer sich traut, mit uns Schritt zu halten, kann jetzt weiter fahren. Der Rest bleibt bei Frau Kuntze. Kriegst du das hin, Barbara?“   „Klar“, meinte Frau Kuntze und reichte Mia-Marie eine Wasserflasche. „Aber zwei oder drei von den schnelleren Fahrern sollten bei uns bleiben, falls was ist.“   „Okay, wer meldet sich freiwillig?“   Sandra war die erste, deren Arm nach oben schnellte, sodass sich ihre Freundin Nele natürlich anschloss. Nachdem sonst keiner Anstalten machte, hob ich schließlich auch noch die Hand. Herr Wilkens nickte zufrieden.   „Gut, dann mal Abflug. Wir sehen uns an der Fähre.“   Ich stellte mein Rad ab und machte es mir neben Mia-Marie bequem, die sich kurzerhand auf dem Grünstreifen niedergelassen hatte.   „Geht’s?“, fragte ich. „Nee, es fährt“, erwiderte sie grummelig. „Ich bin einfach nicht für solche Sachen gemacht. Wer auch immer behauptet hat, hier gäbe es keine Berge, ist noch nie diesen beschissenen Weg lang gefahren.“   Ich lachte, obwohl sie nicht ganz Unrecht hatte. Wenn die Leute an Schleswig-Holstein denken, haben sie meist Strand und Meer vor Augen. Oder jede Menge Schlamm und Fischbrötchen. Aber es gab hier durchaus auch die eine oder andere Erhebung, von denen ich irgendwann mal gelernt hatte, dass das mit Eiszeit und Moränen und irgendsolchem Kram zu hatte. Lang, lang ist’s her. Frau Kuntze wäre sicherlich entzückt gewesen, uns das nochmal zu erläutern, aber ich würde mich hüten, sie zu fragen. Das Gute an Klassenfahrten war schließlich, dass man in der Zeit keinen Unterricht hatte. Na zumindest gab es hier natürlich keine riesigen Berge, aber wenn man so wie Mia-Marie mit drei Gängen die Steigungen hochstrampeln musste, war das schon nicht so super. Ich kniff die Augen zusammen und überlegte.   „Hey, Sandra“, rief ich. „Würdest du eventuell mit Mia-Marie das Rad tauschen? Deins hat doch ne anständige Gangschaltung.“ „Klar, warum nicht.“   Mia-Marie sah mich an wie ein Auto. Ich zuckte mit den Schultern.   „Reiner Eigennutz. Ich will ja auch irgendwann mal ankommen.“   Mia-Marie zog zuerst eine Schnute, dann grinste sie.   „Kannst du eigentlich auch zugeben, wenn du nett bist?“ „Mhm, manchmal. Aber das ist so uncool, deswegen versuche ich es lieber mit ein bisschen Machogehabe zu überspielen.“ „Also wenn irgendwer kein Macho ist, dann du.“   Ich wusste nicht so genau, ob das jetzt ein Kompliment war, aber da Frau Kuntze in dem Moment zum Aufbruch drängte, blieb mir eine Antwort ohnehin erspart. Auf zur nächsten Etappe.     Der kleine Fährhafen, den wir mit der zweiten Gruppe tatsächlich erst kurz vor knapp erreichten, lag in einem verschlafenen, kleinen Ort an der Ostseeküste. War es morgens noch kühl gewesen, sodass man ohne Jacke nicht draußen hatte herumlaufen wollen, knallte jetzt schon wieder die Sonne vom Himmel. Man hätte sich beschweren können, wenn die Alternative nicht Nieselregen gewesen wäre, und den würde es sicherlich innerhalb der nächsten Woche noch früh genug geben.   „Los, los“, drängelte Herr Wilkens auch prompt wieder. Der Besitzer der Fähre hatte mit der Anzahl unserer Räder ohnehin schon eine Ausnahme gemacht und wenn wir nicht pünktlich waren, würde er uns einfach stehenlassen.   „Dann zelten wir eben hier“, brummelte Mia-Marie und schob Sandras Rad nach vorne zu den anderen, wo es von einem Mitarbeiter der Fährgesellschaft in Empfang genommen wurde, um es zusammen mit den anderen fachmännisch zu verladen.   Während wir warteten, sah ich mich um. War schon ganz idyllisch hier. Eine kleine Hafenanlage, in der Reihen um Reihen weißer Boote in verschiedenen Größen vor sich hin dümpelten. An der Promenade gab es ein paar Fressbuden und ein Restaurant, das mit waschechten Strandkörben statt Sitzbänken aufwartete, sowie einen kleinen Supermarkt und einige Souvenirgeschäfte, in denen bereits die ersten Kunden unterwegs waren. Einer davon war Corinna.   Die Fähre, mit der wir übersetzen würden, befand sich ein Stück weiter draußen an einem Pier, der bestimmt einen halben Kilometer weit in die Förde hineinragte. Vermutlich wegen des tieferen Fahrwassers. Dorthin führte ein langer Holzsteg, der nur an einer Seite ein Geländer hatte. Irgendwie sah ich schon jemanden von dem Ding aus ins Wasser fliegen. Möglicherweise auch Corinna. (Die hatte leider ein Talent für so was.) Ein Stück weiter entlang der Küste erstreckte sich dann noch ein flacher Strand, der wohl zu einem Campingplatz gehörte, den man in der Ferne erkennen konnte. Alles in allem somit wohl tatsächlich nichts weltbewegend anderes als das, was uns auf der anderen Seite erwarten würde. Aber vorgenommen war eben vorgenommen.   „Also hört mal zu“, startete Herr Wilkens gleich wieder eine Ansprache. „Auf der Fähre möchte ich, dass ihr euch nicht wie eine Horde Wildschweine benehmt. Es werden noch andere Fahrgäste anwesend sein. Somit wird weder getobt, noch gerannt, nicht über der Reling gehangen oder irgendwo rumgeklettert, wo man nicht hindarf. Außerdem bleiben alle Rettungsringe an ihrem Platz, wenn nicht wirklich jemand ins Wasser gefallen ist. Hab ich mich da klar ausgedrückt?“   Einstimmiges Gemurmel antwortete ihm. Was dachte der denn? Dass wir uns nicht zivilisiert verhalten konnten? Wobei, wenn ich da so an Oliver und Jo dachte, war ich mir nicht so ganz sicher. Sie waren es nämlich, die für den Einwurf mit den Rettungsringen verantwortlich waren.   Ich seufzte, setzte mich zu Elias und Timo auf die Stufe vor der Imbissbude und harrte der Dinge, die da kommen sollten.     Kurz darauf wurde die Fähre für die Besucher geöffnet und wir bestiegen zusammen mit den anderen Unglücklichen, die die Reise mit uns Chaoten zusammen würden durchstehen müssen, das weiße Boot. Die meisten von uns stürmten direkt weiter aufs Oberdeck, wo sie mehr als die Hälfte der dort befindlichen Plastiksitze mit Beschlag belegten. Der Rest verteilte sich auf dem halben Weg dahin im Innenraum und ließ sich an den Tischen und Bänken nieder.   Ich stand vor der Treppe, die zum Aussichtsdeck führte, und überlegte. Hoch zu Oliver und Jo wollte ich eigentlich nicht unbedingt. Aber zu Elias und Timo, der wohlgemerkt gerade einen vielseitigen Würfel ausgepackt hatte, würde ich ganz bestimmt auch nicht gehen. Den Heldentod konnte dieses Mal jemand anderes sterben. Also blieb ich kurzerhand, wo ich war, stellte mich an das Geländer des kleinen Deckvorsprungs ganz am Ende des Bootes und guckte hinunter aufs Wasser. Auf der anderen Seite der Förde konnte man irgendwo im Dunst bereits die dänische Küste erahnen. Trotzdem war zwischen hier und da ganz schön viel Wasser. Wie lange man da wohl würde schwimmen müssen …   Ganz in Gedanken versunken merkte ich nicht, wie jemand hinter mich trat. Plötzlich wurde ich gepackt und bekam einen kräftigen Stoß. Ich schrie auf und klammerte mich erschrocken am Geländer fest, als ich bereits ein Lachen hörte und der Druck auf meinen Schultern nachließ.   „Hey, ganz locker. Hast du etwa gedacht, dass ich dich reinschmeiße?“ „Theo!“   Er grinste mich an und stellte sich neben mich. Gemeinsam stützten wir uns auf das Geländer.   „Wo ist denn der Rest der Gang?“, wollte ich wissen.   Natürlich wusste ich, wo sie waren. Immerhin konnte man das lautstarke Gemecker von Phillip, dem offenbar irgendein Idiot seine Spielkarten entwendet hatte mit dem Erfolg, dass die jetzt auf dem ganzen Deck herumflogen, und die entsprechenden Kommentare dazu kaum überhören, aber ich meinte mit der Frage ja auch was anderes.   Theo nickte nur mit dem Kopf in Richtung Oberdeck und sah raus aufs Wasser. Ich tat es ihm nach und der Frieden währte ungefähr zwei Minuten, bevor erneut jemand die Treppe heruntergepoltert kam. Es war Jo. Als er sah, dass Theo bei mir stand, wurden seine Augen schmal.   „Hey, T, wo bleibst du denn? Ich dachte, du wolltest nur mal aufs Klo.“ „Bin aufgehalten worden.“ „Kommst du dann jetzt wieder hoch?“ „Ja, gleich.“   Jo wartete noch einen Moment, aber als er sah, das Theo sich einfach wieder umdrehte, zockelte er zu den anderen zurück und warf nur ab und an einen feindseligen Blick in unsere Richtung. Theo schien das zu spüren. Er seufzte.   „Und es geht schon wieder los.“ „So schlimm? „Nein, schlimmer.“   Theo wandte ein bisschen den Kopf in meine Richtung und grinste und ich erwiderte sein Grinsen fast so, als hätten wir beide eine geheime Verschwörung.   „Wenn sie dich ärgern, kommst du einfach wieder zu mir“, sagte ich, woraufhin er ein amüsiertes Schnauben von sich gab.   „Sollte der Satz nicht eigentlich von mir kommen?“ „Dann beschützen wir uns eben gegenseitig.“   Er lachte. „Na schön. Gegen die Dummheit dieser Welt.“   Theo hielt mir die Faust hin und ich schlug mit meiner dagegen. Dann seufzte er noch einmal.   „Ich muss dann mal wieder.“   Damit drehte er sich um und stieg die Treppe hinauf zu der Sitzreihe, auf der sich die anderen niedergelassen hatten. Ich sah noch, wie Oliver von Jo einen Rüffel erhielt, weil er nicht schnell genug die Füße weggenommen hatte, als Theo vorbeiwollte. Es hätte mich amüsiert, wenn es nicht so albern gewesen wäre.   Mit einem Mal ging ein Ruck durch das Schiff. Es begann irgendwo unter meinen Füßen zu rumoren und der Boden erzitterte im Takt des großen Motors, der das Schiff antrieb. Es dauerte noch ein paar Minuten, in denen der Steg, über den wir die Fähre betreten hatten, eingeholt wurde, die Luken geschlossen und die Taue gelöst, bevor es auf einmal in den Lautsprechern knackte. Der Kapitän begrüßte alle Fahrgäste auf dem Schiff, gab noch einige Details zu Fahrtroute und -zeit zum Besten und wünschte anschließend allen einen schönen Aufenthalt. Danach knackte es wieder und die Durchsage erstarb.   „Na endlich geht’s los. Wir warten ja schon ne halbe Ewigkeit“, nölte irgendwer von unserem Haufen, aber da kam auch schon unser Klassenlehrer aufs Deck und alle Proteste verstummten. Ich tat einfach mal unauffällig und blieb, wo ich war. Von hier aus hatte man eh den besten Ausblick.   Tatsächlich begann das Schiff langsam, sich zu bewegen. Allerdings mit dem Heck voran, sodass ich quasi vorne am Schiff stand, das gemächlich Fahrt aufnahm und so einen großen Bogen in Richtung Küste beschrieb. Als wir schließlich gewendet hatten, wurde der Motor gedrosselt, die Fahrt kam zum Erliegen und mit einem gewaltigen Aufschäumen des dunklen Wassers direkt unter mir setzte sich die Fähre in Richtung Dänemark in Bewegung. Das Land fiel zunehmend hinter uns zurück, die Häuser wurden immer kleiner und die Fahrt schneller. Leichter Seegang setzte ein und ein paar Möwen folgten dem Schiff wohl in der Hoffnung, irgendwas von dem Proviant zu erhaschen, der jetzt allerorts mit großem Geraschel ausgepackt wurde. Auch ich verspürte leichten Hunger und nahm meinen Rucksack, um mich dann doch zu Timo und Elias zu setzen.   Während ich mit Blick aus dem leicht trüben Fenster in mein Brot biss und mit halbem Ohr den Gesprächen um mich herum lauschte, kam mir der Gedanke, wie es wohl wäre, mit anderen Leuten hier zu sitzen. Anton, Julius und Theo wären eine nette Runde gewesen, obwohl ich irgendwie bezweifelte, dass die so funktioniert hätte. Die drei passten einfach so gar nicht zusammen. Trotzdem hatte die Vorstellung ihren Reiz und ich versank in Tagträumen, während wir mit jedem verstreichenden Seemeter weiter auf unser Ziel zuschipperten.     Als das Schiff auf der dänischen Seite wieder anlegte, nahm uns dieses Mal ein massiver Betonkai in Empfang, der zu einem malerischen Ort mit vielen buntgestrichenen Stadthäusern gehörte. Es erinnerte mich an das Viertel, in dem Julius lebte. War vermutlich kein Wunder, denn die Grenzen hatten sich ja hier oben immer mal verschoben.   Während wir auf unsere Räder warteten, gab Herr Wilkens schon wieder Anweisungen. Hier und da hörte ich Gemurre, weil einige wohl gehofft hatten, dass wir uns noch ein wenig in der Stadt aufhalten würden, aber wir hatten noch eine weitere Tour vor uns und unser Klassenlehrer hatte in unsere Zeltaufbaukünste anscheinend ungefähr genauso viel Vertrauen wie in unsere Kondition. Er wollte daher rechtzeitig am Campingplatz ankommen.   „Außerdem wartet ja Frau Degenhardt auf uns. Also nicht motzen, sondern klotzen, meine Lieben. Auf geht’s.“     Was folgte war – man ahnt es – Radfahren. Der einzige Unterschied zu vorher war, dass wir es nicht mehr so eilig hatten, sodass ab und an auf die Nachzügler gewartet werden konnte, und die seltenen Straßenschilder in dänischer Sprache daherkamen. Ansonsten gab es um uns herum nur Landschaft, Landschaft, Landschaft. Ab und an lag mal ein See rechts oder links der Straße, manchmal auch ein paar Häuser, aber im Großen und Ganzen bewegten wir uns immer weiter durch grüne Felder und Wiesen in Richtung „nach vorne“, ohne wirklich zu wissen, wo es eigentlich hingehen sollte. Herr Wilkens fuhr mit ner Karte vorneweg (Ja wirklich, ne Karte. Er war da irgendwie altmodisch.) und wir wie die braven Schäfchen hinterdrein.   Anfangs versuchte ich ja noch, ein bisschen bei Mia-Marie zu bleiben, aber die meinte nur irgendwann, ich solle ruhig fahren, sie käme schon klar. Vielleicht war es ihr auch ein bisschen unangenehm, dass ich den einen Berg tatsächlich mit ihr zusammen geschoben hatte, während alle anderen mal eben locker hochgefahren waren.   „Meine Mutter meint, ein gutes Rad wäre bei mir Geldverschwendung und würde eh nur geklaut werden“, hatte Mia-Marie zwischendurch geschnauft. „Deswegen fahre ich nie Rad, weil es mir zu anstrengend ist.“   Ich fand die Logik bestechend. Ein perfektes Perpetuum mobile der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Half Mia-Marie jetzt aber auch nicht weiter, also ließ ich sie in Ruhe und machte mich auf, ein bisschen weiter zur Spitze aufzuschließen. Ich endete bei Timo und Elias, die gemütlich nebeneinander fuhren und so den Radweg blockierten. Na ja, sollte mir auch recht sein. Blieb ich eben hinter den beiden und sah mir weiter Dänemark an. War ja so auch ganz hübsch.     Als irgendwann das Meer in Sicht kam, seufzten trotzdem die meisten relativ erleichtert auf. Immerhin waren wir heute schon die zweite Strecke dieser Größenordnung unterwegs und ich orakelte mal, dass morgen nicht wenige von uns mit Muskelkater rumlaufen würden. Ausnahmen (aka Theo) bestätigten die Regel.   Grüne Hecken umfriedeten den Campingplatz und unterteilten ihn in verschiedene Bereiche. Als Herr Wilkens von der Platzleitung zurückkam, brachte er die Information mit, dass wir in einem der noch leeren Abschnitte ein Stück weit vom Hauptgebäude entfernt lagern würden. Den Platz hatte man extra von Wohnwagen und ähnlichem für uns freigehalten. Ich vermutete zwar stark, dass man die anderen Camper lieber von uns fernhielt, aber da der Bereich eben und sauber war, wollte ich mal nicht meckern. Frau Degenhardt war mit ihrem Kombi samt Anhänger auch schon vor Ort und so wurde erst mal fleißig ausgeladen.   Zelt um Zelt, Tasche um Tasche warf unser Lehrer aus dem Hänger und während die meisten schon dabei waren, sich häuslich einzurichten, warteten Timo, Elias und ich immer noch darauf, endlich unser Zelt zu bekommen. Als schließlich alle bunten Päckchen die Ladefläche verlassen hatten, stieg unser Lehrer ab.   „Das da ist dann wohl eures“, sagte er und zerrte eine riesiges, schmutzigweißes Paket vom Boden. Meine Augenbrauen schossen nach oben. Das war jetzt nicht Timos Ernst. „Ist halt ein LARP-Zelt“, meinte der nur und zuckte mit den Schultern. „Mein Bruder hat’s günstig gebraucht bekommen, deswegen ist es auch ein bisschen größer. Wir sollten uns also genug Platz suchen.“   Genug Platz war gar kein Ausdruck, denn wo die anderen auf minimalem Raum hausten und sich in ihrem Schlafkojen maximal halb umdrehen konnten, nahm der Wust an Zeltplane, den wir hier zu dritt entfalteten, so gar kein Ende. Am Schluss hatten wir ein rundes Gebilde auf dem Boden liegen, in das ich mich locker zweimal quer hineinlegen konnte. Mit Schuhen!   „Wie hoch wird denn das Ding?“, fragte ich vorsichtshalber, als ich dazu noch die jeweils etwa einen Meter langen Stangenstücke betrachtete, die Timo gerade zu einem Zeltmast zusammensteckte.   „Och, ich glaube, du kannst locker darin stehen“, gab der zurück und dachte wohl, dass mich das beruhigte. Was es nicht tat. So gar nicht. Statt jedoch auf meine leicht entgeisterte Miene einzugehen, fing Timo an, noch allerlei Dinge mehr auszupacken. Unter anderem einen Hammer. Kein Mensch hatte hier einen Hammer. Nur ich und diese zwei Nerdlinge, mit denen zusammen ich offenbar während der Klassenfahrt in einem echten Ritterzelt nächtigen würden. Na herzlichen Glückwunsch.   Andererseits konnte man bei der Besatzung des Zelts ja wirklich auf Ideen kommen.   Timo hatte es nämlich wie auch immer geschafft, selbst seine Sommerklamotten ausschließlich in den Farben Beige, Schlammbraun und Ocker zu bekommen. Zusammen mit der Prinz-Eisenherz-Frisur und der spindeldürren Gestalt wäre er in jedem Fantasystreifen sofort als Knappe oder dritter Waldelf von links engagiert worden. Elias hingegen war die Rolle des trutzigen Zwergs wie auf den Leib geschrieben, was allerdings mehr an seinem Äußeren denn an seinem Charakter lag. Elias war nämlich ausgesprochen höflich und geriet höchstens dann mal aus der Fassung, wenn jemand behauptete, klassische Musik wäre total langweilig.   Im Gegenzug zu seinem also eher langmütigen Charakter erschien sonst nahezu alles an Elias auf seltsame Weise zu kurz geraten. Er hatte kleine, klobige Füße, stämmige Beine, knubbelige Knie, einen Körper, der quasi keine Taille besaß, kräftige Arme und kurze, dicke Finger, mit denen er jedoch ungefähr einer Million Musikinstrumente Töne zu entlocken verstand. Das Ganze wurde dann noch von einem murmelförmigen Kopf und einer Haarmatte gekrönt, die mich immer ein wenig an ein braunes Schaf nach der Schur erinnerte. Das Einzige, was an Elias groß war, war seine Nase und nein, ich weiß nicht, ob man dadurch irgendwelche Rückschlüsse auf andere Körperteile ziehen konnte. Außerdem konnte er Unmengen von Essen vertilgen, was er jeden Tag aufs Neue mit seiner bis an den Rand gefüllten Brotbüchse unter Beweis stellte. Man sieht, die Assoziation zu so einem bärtigen Stollengräber kam nicht ganz von ungefähr.   So ganz überzeugt war ich trotzdem nicht, als nun ausgerechnet er den Hammer in die Hand bekam – immerhin war er Künstler, kein Zimmermann – um dann zu versuchen, die Heringe in den Boden zu schlagen, die von der Länge her locker ausgereicht hätten, um ein kleines Schwein daran zu grillen. Da ich ja aber dazu verdonnert worden war, am Ende der Prozedur ins Zelt zu kriechen, um dort irgendwie die Stelle zu finden, an der der Zeltpfahl durch ein winziges Loch gepiekt werden musste, um das ganze Ding aufzurichten, hielt ich schön die Füße still und wartete ab. Kurz darauf wünschte ich mir allerdings, Elias wäre etwas schneller zugange gewesen oder Timo hätte einen zweiten Hammer dabei gehabt, dann wäre ich nämlich bereits abgetaucht gewesen, als Dick und Doof auf der Bildfläche erschienen um rumzustänkern.   „Was macht ihr denn da?“ Jos Stimme triefte vor Hohn.   „Na Zelt aufbauen.“ Timo schien vollkommen unbeeindruckt und reichte Elias einen neuen Bratspieß.   „Sieht aber nicht so aus“, frotzelte Oliver.   „Stimmt“, fiel Jo gleich wieder mit ein. „Sieht eher aus, als würdet ihr für Halloween proben. Und ihr müsst euch gar nicht verkleiden.“   Oh man, die waren ja geistreich. Zum Glück hatte Elias bereits den vorletzten Hering in der Hand und ich machte mich einfach schon mal daran, mit der Zeltstange (dem Zeltpfahl) ins Innere zu kriechen. Leider war die Leinwand nicht schallisolierend, sodass mir das Gelächter der beiden Volltrottel und deren Witze über die dämliche Figur, die ich dabei abgab, laut in den Ohren dröhnte.   Ich knurrte und biss die Zähne zusammen, während ich mich drinnen durch das weiße Labyrinth tastete. Timos und Elias' Versuche, die Stoffmassen von außen anzuheben, machten das Ganze nur unwesentlich leichter und es dauerte eine ganze Weile, bis ich endlich die Stelle fand, an der ich den Mast einsetzen musste. Ich stach also zu und drückte und schob und binnen weniger Augenblicke erhob sich um mich herum ein Palast. Aber so richtig.   „Woah, wie groß ist denn das? Wollt ihr das untervermieten?“ „Und was sollen die dämlichen Girlanden.“   „Das ist eine Schabracke“, teilte Timo inzwischen schon etwas frostiger mit. „Und das da ist ein Ritterzelt, wie man es fürs Rollenspiel verwendet. Da sind solche bunten Plastikdinger wie eures nämlich absolut unerwünscht.“   Ich konnte regelrecht hören, wie die beiden Störenfriede Luft holten, um sich weiter über unsere Behausung lustig zu machen, als sich noch eine Stimme einmischte. Theo. Guter, alter Theo.   „Hey, das Ding ist ja voll riesig. Da wissen wir doch schon, wo abends die Party steigt.“   Äh, hatte er gerade Party gesagt? Theo, was machst du?   „Party?“, fragte jetzt auch Jo. „Na klar. In dem Ding kann man bestimmt locker mit sieben Mann oder so sitzen.“   Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Theo um den Hals zu fallen, weil er Oliver und Jo das Maul gestopft hatte, oder aber ihm selbigen umzudrehen, weil er uns die beiden anscheinend als abendliche Dauergäste unterzuschieben gedachte, entschied ich mich für Möglichkeit C. Jammern.   „Könnt ihr dann endlich mal die Seile spannen, damit ich hier wieder rauskann?“ „Ach Mensch, Benedikt, dich haben wir ja voll vergessen.“   Ja, danke Elias, das ist mir aufgefallen. Und jetzt husch, schwing den Hammer und mach endlich das blöde Zelt klar.   Es raschelte am Eingang und im nächsten Moment schob sich eine zweite Gestalt zu mir herein. Es war Theo. Er grinste.   „Du residierst ja hochherrschaftlich.“ „Mhm, super. Ich lebe in Hobbingen. Fehlen nur noch die sieben Zwerge, die hier einfallen und alles ratzekahl fressen.“ „Es waren 13.“ „Hä?“ „Beim Hobbit. 13 Zwerge.“   Ich blinzelte und konnte es kaum fassen. Theo kannte den Hobbit? Im Ernst jetzt?   „Soll ich dir helfen?“ Er wies auf die Zeltstange.   Ich wollte gerade sagen, dass das nicht notwendig war, als Elias draußen ans Werk ging und mir das Ding fast aus den Händen rutschte. Blitzschnell war Theo bei mir und gemeinsam schafften wir es gerade noch so zu verhindern, dass uns die Zeltplane und mitsamt dem Mast unter sich begrub. „Hey, erst hinterher spannen“, rief Theo nach draußen und schüttelte den Kopf. „Da hast du ja wirklich ein paar Spezialisten erwischt.“ „Tja, man muss nehmen, was man kriegen kann.“ „Wem sagst du das.“   Wir grinsten uns an und hielten gemeinsam die Zeltstange an Ort und Stelle, während Timo und Elias sich bemühten, das Ganze nun einigermaßen störungsfrei zu vertäuen. Keine halbe Stunde später stand unser neues Heim vollkommen korrekt und ziemlich groß zwischen all den bunten Plastikmuscheln. Und es hatte tatsächlich Schabracken. Wie wunderbar.   „Warum eigentlich immer ich“, murmelte ich so leise, dass mich niemand hören konnte. Niemand außer Theo, der immer noch neben mir stand und versuchte, sein Gesicht unter Kontrolle zu behalten. Es gelang ihm nicht so wirklich.   „Na dann, bis zum Abendessen, mein Herr Benedikt“, sagte er und deutete eine Verbeugung an, bevor er sich mit seinen beiden Vasallen zusammen vertrollte. Ich sah ihm nach und fand, dass es immer noch ziemlich viele Dinge gab, die ich über Theo nicht wusste. Und irgendwie drängte es mich, sie herauszufinden. Kapitel 41: Von erzwungener Gemeinschaft und wahren Lügen --------------------------------------------------------- Den Rest des Tages bis zum Abendessen bekamen wir doch tatsächlich „frei“, um uns mit den Begebenheiten der Umgebung vertraut zu machen, wie Herr Wilkens es ausdrückte. Ach ja, und Baden war verboten, wenn keine Aufsichtsperson dabei war. Eigentlich hätte er das wohl nicht erwähnen müssen, denn hier an der Küste war es durch den Wind deutlich kühler als noch bei uns zu Hause und das Meer, das nur einen Steinwurf entfernt auf der anderen Seite der Straße lag, lud mit seinem von Seetang übersäten Kiesstrand halt auch nicht gerade zum Reinsteigen ein. Trotzdem machte ich mich zusammen mit einigen anderen auf den Weg dorthin. Am Strand angekommen stürmten die ersten natürlich sofort auf den hölzernen Steg, der ein ganzes Stück weit ins Meer hineinragte, während andere zur Wasserlinie liefen, um wenigstens mal die Hand oder auch einen Fuß reinzuhalten, nur um dann kreischend das Weite zu suchen. Natürlich waren auch welche dabei, die rumnölten, dass hier ja nichts los sei, aber als dann jemand vorschlug, dass man ja abends ein Lagerfeuer am Strand machen könnte, waren wieder alle dabei. „Wir müssen aber fragen, ob das erlaubt ist“, warf Sandra ein und lief mit Nele zusammen los, um unsere Lehrer zu suchen, während alle anderen sich aufmachten, um schon mal Steine und Holz zusammenzusuchen. Auch ich ging los, um unter den Bäumen, die neben der Straße herumstanden, nach trocknen Ästen Ausschau zu halten. Natürlich war nichts mehr zu finden. „Das brennt ja nicht mal ne halbe Stunde“, kommentierte Ben unseren mickrigen Haufen. „Dann müssen wir eben mal drüben im Wald gucken, ob wir da was finden.“ Leons Vorschlag stieß auf allgemeine Zustimmung und so bewegte sich der Großteil der Gruppe zu dem kleinen Wäldchen, das ein Stück weit die Straße entlang lag, während der Rest dablieb, um eine Grube auszuheben und mit Steinen zu umfrieden. Ich entschloss mich, am Strand zu bleiben und beim Graben zu Helfen, als Sandra zurückkam. Ihr Gesicht versprach nichts Gutes. „Wird wohl nichts mit Lagerfeuer“, klärte sie uns auch gleich auf. „Die Campingplatzbesitzer haben zwar gesagt, dass es okay ist, aber Herr Wilkens war dagegen. Außerdem soll es heute Abend regnen.“ Tatsächlich sollte unser Lehrer recht behalten. Wir hatten uns gerade in einem Gemeinschaftsraum versammelt, in dem wir gemeinsam zu Abend essen sollten, als bereits die ersten Tropfen an die Scheiben klatschten. Noch während wir die mitgebrachten Würstchen mit Kartoffelsalat austeilten, wurde daraus ein ausgewachsener Platzregen, der dazu führte, dass Corinna wie von der Tarantel gestochen aufsprang, weil ihr einfiel, dass sie das Zelt nicht zugemacht hatte. Als sie wiederkam, sah sie aus wie eine ertränkte Maus und bekam erst mal einen ordentlichen Rüffel, weil sie nicht an wetterfeste Kleidung gedacht hatte. „Das gilt übrigens für alle von euch“, verkündete Herr Wilkens gleich weiter. „Ich hatte gesagt, dass ihr Regensachen braucht. Wir werden morgen einen Ausflug in die nahegelegene Stadt machen, dort könnt ihr euch umsehen und einkaufen. Es wird jeden Tag ein gemeinsames Frühstück geben, für die anderen Mahlzeiten seid ihr selbst verantwortlich. Und damit meine ich nicht, dass ihr euch einfach nur von Chips und Schokoriegeln ernährt. Es gibt hier im Haus eine Küche, die benutzt werden darf und soll.“ „Ich kann aber nur Fertigpizza“, kam es von irgendwo. Herr Wilkens seufzte ergeben. „Pizza könnt ihr natürlich auch machen, wenn es euer Budget hergibt. Wer die Herde benutzen will, muss sich dafür allerdings vorher Münzen für die Stromzähler beim Kiosk kaufen. Vergesst das nicht, sonst müsst ihr eure Pizza roh mümmeln. Nach der Benutzung werden alle Plätze ebenso sauber hinterlassen, wie ihr sie vorfindet. Gegessen werden kann dann hier im Raum, zum Spülen gibt es draußen eine Reihe Waschbecken, an denen ihr alles wieder sauber bekommt. Auch dort erwarte ich, dass ihr alles so hinterlasst, dass es für den nächsten problemlos benutzbar ist. Ebenso müsst ihr daran denken, euch Duschmünzen zu kaufen, wenn ihr morgens warmes Wasser haben wollt. Für morgen haben wir für jeden von euch eine besorgt, danach seid ihr selbst dafür verantwortlich. Auch dort gilt natürlich Rücksichtnahme auf die anderen Gäste.“ „Duschen wird eh überbewertet“, raunte jemand am anderen Jungstisch viel zu laut, woraufhin an den Mädchentischen eindeutige Igitt-Rufe laut wurden. Ich selbst saß mit Ben, Jonas und meinen Zeltpartnern am zweiten Tisch, der meiner Meinung nach der zivilisiertere war. Zumindest der mit der häufigeren Duschfrequenz, wie es aussah. Es folgten noch jede Menge andere Belehrungen über die Öffnungszeiten des Kiosks, generelle Dinge wie Nachtruhe, die Benutzung des Gemeinschaftsraums und so weiter, denen ich nur noch mit halbem Ohr zuhörte. Die Sache mit den Duschmünzen hatte mich wieder darauf gebracht, dass ich mir noch keine wirkliche Strategie dafür zurechtgelegt hatte. Umziehen und so würde sicherlich kein Problem werden, denn unser Zeltpalast bot da ja genug Möglichkeiten, das diskret zu erledigen, aber duschen? Ich beschloss, mir das nach dem Essen mal anzusehen. Während also die meisten dem gemeinschaftlichen Abwaschen frönten, machte ich mich unauffällig auf den Weg, um mir das Sanitärgebäude anzusehen. Da gab es zwei Türen, von denen die eine zu den Toiletten führte, während hinter der anderen die Duschen lagen. Vorsichtig öffnete ich die zweite und schlüpfte hinein. Der Geruch von abgestandenem Wasser schlug mir entgegen, während ich einen gekachelten Gang entlangging, an einigen Waschbecken vorbei und dann … sah ich das Schönste, was ich mir wohl hatte erhoffen können: Duschkabinen. Mit Tür. Mir fielen mindestens drei Steine vom Herzen. Einigermaßen beruhigt trat ich den Rückweg an. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, aber durch den Guss während des Essens war die Luft merklich abgekühlt. Ich zog meine Kapuze über den Kopf und steckte die Hände in die Taschen. Die Abwaschplätze waren inzwischen verwaist und drinnen wischten nur noch zwei Mädchen die Tische ab, während der Rest wohl bereits zu den Zelten zurückgegangen war. Ich wollte mich gerade ebenfalls auf dem Weg dahin machen, als ich plötzlich Stimmen hörte. Es klang eindeutig nach unseren Leuten. Nach einem kurzen Zögern ließ ich das Zelt Zelt sein und machte mich stattdessen auf zur anderen Seite des Hauptgebäudes, von wo der Lärm zu kommen schien. Wie sich herausstellte, gab es neben dem Kiosk, vor dem zwei momentan ziemlich nasse Tischtennisplatten im Regen vor sich hinglänzten, einen offenen Unterstand, in dem ein uralter Billardtisch und ein noch älterer Kicker standen. Und natürlich waren beide von einer dichten Traube von Leuten umlagert. „Na los, mach ihn rein“, johlte Ben gerade und meinte damit Jonas, der offenbar am Kicker in Ballbesitz war. Mia-Sophie und Pia auf der anderen Seite gaben sich jedoch nicht so schnell geschlagen und wehrten die beiden mit allen Mitteln ab. Am Billardtisch ging es nicht weniger laut zu, nur dass dort gerade Leon erfolglos versuchte, Theo auszustechen. „Beim nächsten Mal bilden wir aber Teams“, maulte Jo, der offenbar dazu verdammt worden war, die erste Runde auf der Ersatzbank zu verbringen. „Dann bin ich mit T in einem“, verkündete Leon und raufte sich die Haare. „Der zieht mich hier ab.“ Theo grinste nur, lehnte sich mit dem Queue über den Tisch, kniff ein Auge zusammen und maß die Richtung ab, die die Kugel nehmen würde. Offenbar unzufrieden mit dem Ergebnis kam er wieder hoch, ging um den Tisch herum, lehnte sich vor und zielte erneut. Er wirkte dabei hochkonzentriert. Mit offenem Mund verfolgte ich, wie er schließlich den Queue ansetzte, die Augenbrauen leicht furchte und zustieß. Die weiße Kugel schoss über den Tisch, prallte an der Bande ab und versenkte mit lauten Klackern die schwarze im Eckloch.Theo ballte die Hand zur Faust und grinste breit in die Runde. Dann fiel sein Blick auf mich. Für einen Moment blieb mein Herz stehen. Hatte ich ihn gerade echt beobachtet? Ich kam mir ein bisschen vor wie ein Stalker. Immerhin stand ich hier draußen im Halbdunkeln, den Kapuzenpullover über den Kopf gezogen, und hatte gehofft, dass mich niemand bemerkte. Dafür war es jetzt allerdings zu spät, denn Theo rief laut und deutlich meinen Namen. Ich sah, wie Oliver das Gesicht verzog und Jo etwas zuflüsterte. Der warf mir daraufhin einen finsteren Blick zu. Langsam trat ich einen Schritt zurück. Ich wollte da nicht reingehen. Also … ich wollte schon, aber ich hatte keinen Bock, mich blöd anlabern zu lassen. Theo hingegen schien wild entschlossen, mich dabei haben zu wollen. Er kam zu mir raus und nickte in Richtung Billardtisch. „Na, was ist? Hast du Lust mitzumachen?“ „Ich hab noch nie Billard gespielt.“ „Echt nicht? Das ist ganz leicht.“ „Mhm, hab ich ja bei Leon gesehen.“ „Ich zeig’s dir, wenn du willst.“ Ich schaute an Theo vorbei zu den anderen, die bereits eine neue Runde aufbauten. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Nee, lass mal. Vielleicht ein anderes Mal.“ „Versprochen?“ „Okay.“ Er lächelte. „Dann komm wenigstens mit rein. Es regnet.“ Dass ich tatsächlich schon wieder im Nieselregen stand, war mir gar nicht aufgefallen. Wenn ich hier weiter wie angewurzelt stehen blieb, würde ich nass werden bis auf die Haut. Also entweder rein oder ins Zelt. Ich gab mir einen Ruck und nickte. „Na schön, ich seh mir mal an, wie du sie fertigmachst.“ „So gefällt mir das.“ Tatsächlich war es ziemlich cool, Theo beim Billard zuzusehen. Ich ließ mir von Leon die Regeln erklären und konnte bald schon mitreden und mitlachen. Nur einmal kam es zu einer blöden Szene, als Jo mich angiftete, dass ich mich gefälligst hinter ihm verziehen sollte, während er spielte. Ich verkniff mir einen Kommentar und verzog mich einfach rüber an den Kicker, an dem sowieso mehr Action war. Ich versuchte mich sogar selbst an dem Ding und schaffte es doch tatsächlich, ein Tor zu schießen. Jubelnd klatschte ich mit Maja ab, die mir ein High Five anbot, bevor sie verkündete, dass sie jetzt dringend mal eine rauchen müsste. Heimlich natürlich. Wie ein schwarz gekleideter Schatten verschwand sie nach draußen. „Benedikt ist doch eigentlich weiter. Wer spielt denn jetzt mit ihm?“ „Ich“, hörte ich und bevor ich wusste, wie mir geschah, stand Theo neben mir. Er grinste mich an. „Musste den Queue mal abgeben. Sie haben drauf bestanden.“ „Na los, die schaffen wir mit links“, verkündete Sandra und warf die kleine Kugel aufs Spielfeld. Sie und Nele waren echt harte Gegner und ließen sich nicht so leicht die Butter vom Brot nehmen. Am Ende schossen die Mädchen das entscheidende dritte Tor und waren weiter, während Theo und ich ausschieden. Lachend machte ich den Tisch für die nächsten beiden frei und stand plötzlich mit Theo zusammen zwischen den Spielergruppen. „Und jetzt?“, fragte er. Ich sah mich nach Jo und Oliver um. Die beiden waren gerade beim Billard dran und somit auf die bunten Kugeln fixiert. Unentschieden zuckte ich mit den Schultern. „Weiß nicht. Ich werd vielleicht mal ins Zelt gehen. War ein langer Tag.“ „Mhm, keine schlechte Idee. Ich komm mit.“ Nochmal sah ich zum Billardtisch rüber. „Willst du den beiden nicht Bescheid sagen?“ „Wieso? Sind die etwa meine Mutter?“ Ich entgegnete nichts darauf, aber ich kam nicht umhin zu denken, dass die Strategie vielleicht nicht die klügste war. Allerdings war Theo schon raus in den Nieselregen getreten und hielt sich seine Jacke über den Kopf. „Kommst du?“ „Klar.“ Gemeinsam trabten wir in Richtung Zeltplatz, wo ich meinen Augen nicht so ganz traute. Unser Zelt war doch tatsächlich beleuchtet. Wie es schien, hatte Timo von seinem Bruder noch ein bisschen mehr praktische Ausrüstung mitbekommen. Drinnen im Zelt konnte man verschiedene Stimmen hören. Schatten geisterten über die weiße Leinwand. Anscheinend hatten wir Besuch. Ich hörte Theo leise neben mir lachen. „Siehst du, ich sag doch, eures wird das Partyzelt.“ Er sah mich an und ich … ich wusste nicht so recht, was ich jetzt tun sollte. Sollte ich mich von ihm verabschieden oder ihn fragen, ob er mit zu mir kommen wollte. Uns! Äh … „Äh …“ „Ja?“ „Willst du … ich mein …“ Ich gestikulierte ein bisschen hilflos in Richtung Zelt. Gott, was für ne bescheuerte Situation. Ich hatte ja keine Ahnung, wer da drin war und ob ich überhaupt wen mitbringen durfte. Andererseits war das ja irgendwo auch mein Zelt und wenn die anderen beiden Besuch haben konnten, warum dann nicht auch ich? Oder? „Klar komme ich mit.“ Natürlich kam er mit. Was auch sonst? Ich atmete tief durch, trat zum Zelt und schlug die Plane zurück. Drinnen erwartete uns eine nicht ganz so illustere Runde wie die, die wir gerade verlassen hatten. Dafür hatten sie es deutlich gemütlicher. Auf dem Boden hatte jemand eine Decke ausgebreitet und darauf saßen eine ganze Reihe Leute. Unter anderem Corinna, Charlotte und Vanessa, die letzte im Bunde der nicht so coolen Mädchen, die nie viel sagte, aber so ganz nett zu sein schien. Neben den dreien saß Mia-Marie und noch jemand, den ich hier nicht erwartet hatte. Meine Augenbrauen wanderten gen Haaransatz. „Frau Kuntze!“ Sie grinste und winkte fröhlich. „Ja~ha. Ich muss doch hier schön aufpassen, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Nicht, dass wir nachher mit mehr Kindern nach Hause kommen, als wir losgefahren sind.“ Ich blinzelte und verstand nicht. „Hä, wieso mehr? Müssten Sie nicht eher aufpassen, dass keiner verlorengeht?“ Gekicher antwortete mir und Theo stieß mich in die Seite. „Man, Benedikt. Mädchen und Jungen in einem Zelt. Klingelt da was bei dir?“ Theo sah mich erwartungsvoll an, aber in meinem Kopf tat sich immer noch nichts. Bis mich endlich das Gepruste der Mädchen und Elias’ etwas peinlich berührter Gesichtsausdruck darauf brachte, um was es ging. Oh … man. Ich lief knallrot an und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Manchmal stand ich aber auch echt auf dem Schlauch. Ich sollte erwägen, Elektriker zu werden mit so einer langen Leitung. „Tja, Benedikt ist zwar schlau, aber manchmal eben doch nicht der Schnellste“, lachte Mia-Marie. Als ich sie böse anfunkelte, grinste sie nur noch breiter und rutschte dann ein Stück, damit ich mich neben sie setzten konnte. Für Theo war eigentlich kein Platz mehr, aber er quetschte sich trotzdem noch dazwischen. Frau Kuntze strahlte in die Runde. „Und, machen wir jetzt weiter? „Womit?“ wollte Theo wissen. „Wir spielen Wahrheit oder …“ Oh Gott, wenn sie jetzt „Pflicht“ sagte, sterbe ich. „…Lüge.“ „Wie geht das?“ „Nun, jeder erzählt drei Dinge von sich. Zwei davon müssen die Wahrheit sein und eines eine Lüge. Die anderen müssen dann rausfinden, was es ist. Aber man muss sich schon Mühe geben und nicht so was wie 'Superman ist mein Großvater' oder etwas in der Art behaupten.“ „Ah, okay.“ Ich sah Theo an, dass er bereits im Kopf durchging, was er wohl erzählen würde. Zuerst war allerdings Mia-Marie dran. Sie überlegte kurz und legte dann los. „Ich stehe total auf Delfine, ich hatte mal einen Hund namens Charlie und ich mag keine Marschhmellows.“ „Das letzte ist bestimmt gelogen“, rief Theo gleich und erntete von Mia-Marie einen etwas säuerlichen Blick. „Nein, das stimmt. Das mit den Delfinen ist die Unwahrheit.“ Ich sah im Licht der Laterne, die Timo an einen Haken an unserem Zeltmast gehängt hatte, dass Theo tatsächlich ein bisschen rot wurde. Er nuschelte eine Entschuldigung und hielt für die nächsten Runden erst mal die Klappe. So erfuhren wir so spannende Sachen wie dass Elias keine Artischocken mochte, Timo von Grünkohl schlecht wurde, Vanessa Angst vor Clowns hatte, Charlotte als Baby blond war und Corinna sich mal auf ihren Hamster gesetzt hatte. Ach ja, und Frau Kuntze war großer Simon & Garfunkel Fan. „Die machen ja auch gute Musik“, meinte Theo dazu nur und sah mich auffordernd an. Ich war nämlich der Nächste und hatte mir schon die ganze Zeit den Kopf zerbrochen, was ich jetzt wohl sagen konnte. Am Ende hatte ich mich für was Harmloses entschieden, das vermutlich total langweilig war, aber lieber safe than sorry. „Also ich …“, begann ich, „lese gerne Fantasy, ich esse gerne Erdbeerkuchen und …“ Ich schwöre, ich hatte sagen wollen „Ich hab schon mal was geklaut“, aber als ich Theo ansah, kam plötzlich irgendwas in meinem Kopf durcheinander und ich hörte meinen Mund stattdessen von sich geben: „Und ich bin als Kind mal als Schmetterling verkleidet zum Fasching gegangen.“ „Das mit dem Schmetterling war gelogen. Aber das war zu einfach“, nörgelte Timo sofort. Ich nickte nur doof und dirigierte meine Augen schnell mal woanders hin. Warum bittesehr hatte ich jetzt drei Sachen erzählt, die stimmten? Und noch dazu so was Peinliches? Das hatte doch nie, nie, nie jemand erfahren sollen. Wobei sie ja alle sofort angenommen hatten, dass es nicht stimmte. Von daher war ich wohl einigermaßen gut raus. In meiner eigenen Peinlichkeit gefangen merkte ich gar nicht, dass Theo jetzt dran war. Das Letzte, was ich mitkriegte, war: „… und ich hab als Kind echt übel geschielt.“ „Ha, das ist auch zu einfach“, rief Mia-Marie sofort. „Dass du schlecht in Mathe bist, wissen wir alle, und dass du Gitarre spielst wie ein junger Gott, kannst du dann ja gleich morgen unter Beweis stellen.“ Theo lächelte nur. „Wenn du das sagst.“ Er schlug die Augen nieder und ich sah, dass er sich schon wieder auf die Lippe biss. Was hatte das denn jetzt zu bedeuten? Hatte er etwa auch … „T!“ Von draußen kam plötzlich lautes Rufen. Anscheinend hatte Jo das Fehlen seines Busenkumpels endlich bemerkt und war auf der Suche nach ihm. Theo hob den Kopf und lächelte charmant in die Runde. „Mein Typ wird verlangt. War nett bei euch.“ Er stand auf und stieg umständlich über mich hinweg, während ich mich nur zurücklehnte, weil ich gar nicht schnell genug hochkam, ohne ihn dabei zu Fall zu bringen. Im nächsten Moment schlug er schon die Zeltplane zurück und war verschwunden. Ich glotzte noch einen Augenblick lang auf die jetzt theoleere Stelle an der Zelttür, bis Frau Kuntze auf einmal in die Hände klatschte. „So, ihr Lieben, ich glaube, es wird langsam Zeit zum Schlafen. Wir haben ja morgen noch viel vor. Also schlaft gut und lasst euch nicht von den Bettwanzen beißen.“ Damit erhob auch sie sich und scheuchte dabei gleich noch die Mädchen nach draußen. Ohne die vielen Leute hatte das Zelt gleich wieder ganz andere Ausmaße. Elias stand ebenfalls auf und streckte sich. „Ich geh Zähne putzen. Kommt jemand mit?“ Timo schloss sich an, aber ich hatte irgendwie so gar keine Motivation, nochmal durch den inzwischen wieder stärker gewordenen Regen zu latschen. Also wartete ich, bis die beiden weg waren, um endlich mal mein Handy herauszukramen. Ich schaltete es an – Anton hatte mir den Tipp gegeben, es einfach tagsüber auszulassen, um den Akku zu schonen – und rief meinen Messenger auf. Julius hatte mir bereits um die Abendbrotzeit herum geschrieben, ob wir gut angekommen waren und wie der Campingplatz sei und noch einiges mehr. Ich lächelte und fing an, eine seiner Fragen nach der anderen zu beantworten. Leider dauerte die Tipperei so lange, dass Timo und Elias schon zurückkamen, bevor ich fertig war. Die beiden meinten, ich würde sie nicht stören, aber als dann das Licht gelöscht war und alle bereits in ihren Schlafsäcken lagen, wollte ich auch nicht mehr so lange das Display anlassen. Also setzte ich unter meine Antwort einfach noch einen Kuss-Smiley und schaltete das Handy dann wieder aus. Im Dunkeln ließ ich mich in meinen Schlafsack sinken und starrte an die Zeltdecke, auf die jetzt ohne Unterlass der Regen herabrauschte. Sonst war nichts mehr zu hören und obwohl das Geräusch echt einschläfernd war, kriegte ich nicht so wirklich ein Auge zu. Diese Sache mit Theo ging mir immer noch im Kopf herum. Nicht nur, dass er sich tatsächlich zur „Looser“-Truppe mit ins Zelt gesetzt hatte, nein, er hatte auch noch das blöde Spiel mitgespielt. Aber warum? Und warum wurde ich das Gefühl nicht los, dass irgendwas an seinen Antworten nicht stimmte? Ich grübelte und grübelte, aber es wollte mir einfach nicht einfallen. Über die Nachdenkerei musste ich dann wohl doch eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal blinzelte, war es bereits wieder hell und Herr Wilkens klopfte von draußen an unser Zelt, dass es Zeit zum Aufstehen sei. Murrend drehte ich mich auf die andere Seite und wünschte mir zum ersten Mal auf dieser Fahrt, dass ich auch eine Allergie gegen Fahrräder hätte. Kapitel 42: Von müden Cowboys und verpeilten Köchen --------------------------------------------------- Ganz ehrlich, morgens über nasse Wiesen latschen zu müssen, nur um mal aufs Klo gehen zu können, mochte für einige ja die Erfüllung ihrer größten Träume sein, aber ich fand das einfach mal nur lästig. Zumal mit Muskelkater, der sich leider doch ein wenig bemerkbar machte. So mussten sich Cowboys im wilden Westen morgens fühlen, wenn sie mit steifen Beinen und wund gescheuertem Hintern versuchten, ihr Lagerfeuer zu entzünden, um den Kaffee von gestern nochmal aufzuwärmen. Im Gegensatz zu so einem einsamen Viehtreiber konnte ich mich allerdings gleich bei der Rückkehr vom Waschhaus an einem reich gedeckten Frühstückstisch bedienen, der mich wenigstens ein bisschen mit dem gefühlt frühen Aufstehen nach einer ziemlich unruhigen Nacht versöhnte.   Ich saß also mit meinem dänischen Mohnbrötchen und meiner Tasse Tee inmitten der Meute und fing so langsam an, meine Umgebung wieder wahrzunehmen. Einige der Mädchen schienen schon früh aufgestanden zu sein, denn sie wirkten wie aus dem Ei gepellt. Andere mussten so aussehen, wie ich mich fühlte. Müde, verschlafen und ganz und gar nicht in der Lage, jetzt schon größere Entscheidungen zu treffen, die über „Erdbeer- oder Himbeermarmelade?“ hinausgingen. Zu unserem Glück hatte das aber Herr Wilkens schon für uns erledigt. Noch während ich die dritte Brötchenhälfte mit Margarine bestrich, sprang er bereits wieder voller Tatendrang auf und verkündete das Programm für den heutigen Tag. (Vielleicht sollte ich wirklich anfangen, Kaffee zu trinken. Schien ja zu helfen, das Zeug.)   „So, hört mal zu. Nach dem Frühstück habt ihr noch etwa eine Stunde Zeit bis zum Abflug. Wir werden heute nur eine kleinere Tour ins nahegelegene Städtchen machen. Dort sehen wir uns zunächst einige historische Bauwerke an, danach könnt ihr den Tag bis ca. 19 Uhr selbst gestalten. Am Abend machen wir dann wieder was zusammen. Denkt daran einzukaufen, da wir in den nächsten zwei Tagen dafür keine Zeit haben werden. Das wäre dann alles. Wir sehen uns später.“   Ich schnaufte und nahm mir nochmal von der Erdbeermarmelade. Die war echt lecker, musste man ja mal festhalten. Anders als Zuhause. Während ich kaute und die ersten bereits aufstanden, wanderte mein Blick rüber zum zweiten Jungstisch. Oliver hatte sich gerade erhoben und gab so die Sicht auf Theo frei, der zwar wach wirkte und sich gerade angeregt mit Leon unterhielt, aber an seinem Hinterkopf eine Strähne abstehen hatte, die ihm trotzdem ein leicht verpeiltes Aussehen gab. Völlig fasziniert beobachtete ich das widerspenstige Haarbüschel und kaute dabei weiter, bis mir auf einmal bewusst wurde, dass sich der Puschel irgendwie verschoben hatte. Was daran lag, das dessen Besitzer sich zu mir umgedreht hatte und mich unverhohlen angrinste.   „Na, schon wach?“, rief Theo zu mir rüber. Leon war weg und er der Letzte an seinem Tisch, ebenso wie ich an meinem.   „Mhm“, brummelte ich und wandte mich schnell wieder meinem Teller zu. Noch ein Brötchen oder nicht? Und wieso waren die eigentlich alle schon gegangen und ich mit dem ganzen Geschirr zurückgeblieben? Arschlöcher.   Der Stuhl neben mir wurde gerückt und ich wusste sofort, dass es Theo war, der sich da neben mich fallen ließ.   „Du siehst aus, als könntest du auch noch ne Mütze voll Schlaf vertragen.“ „Mhm“, machte ich wieder und fand, dass das anhand der Uhrzeit eine hinreichende Antwort war. „Bist wohl kein Frühaufsteher?“ „Doch, eigentlich schon, aber Elias hat die halbe Nacht geschnarcht. Ich hab kein Auge zubekommen.“   Was nicht stimmte, aber ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass ich sehr eigenartige Träume gehabt hatte, in denen er eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hatte. Ein Elefant war auch dabei gewesen und Sandra, die mir unbedingt ein Zitronenbäumchen hatte verkaufen wollen. Ich meine, so was erzählt man doch nicht. Da konnte man sich ja auch gleich einweisen lassen.   „Oh, das ist nichts gegen Jo. Der wälzt sich nachts rum, das geht auf keine Kuhhaut. Ich hatte ständig seinen Ellenbogen im Gesicht.“   Er sah mich an und ich grinste.   „Vielleicht solltest du ihn in der nächsten Nacht in seinen Schlafsack stecken und dann mit nem Strick umwickeln. Salamitaktik sozusagen.“   Nachdem ich das gesagt hatte, wurde mir plötzlich klar, dass das nicht die korrekte Verwendung des Begriffs war, aber ich hatte da dieses Bild eines mit Seilen umwickelten Schlafsacks vor Augen gehabt und das hatte mich eben an so eine Salami im Netz erinnert. Noch während ich das dachte, fiel mir auf, dass „Rollbraten“, vielleicht das verständlichere Beispiel gewesen wäre, aber Theo lachte. Er saß neben mir und lachte und hatte es trotz der verqueren Logik, die eigentlich nur in meinem Kopf Sinn ergab, verstanden. Meine Mundwinkel schoben sich noch ein Stück weiter nach oben.   Plötzlich beugte Theo sich zu mir rüber und raunte mir ins Ohr: „Oder ich schmeiß einfach Oliver raus, dann haben wir mehr Platz.“   Ich wollte noch darauf antworten, aber er hatte schon den Stuhl zurückgeschoben, mir zum Abschied auf den Rücken geklopft und war auf dem Weg nach draußen. Zurück blieb ich mit dem warmen Abdruck seiner Hand zwischen meinen Schulterblättern, der Erinnerung an das Kitzeln seines Atems an meinem Hals und dem Gefühl, dass irgendetwas fehlte.   „Bist du fertig, Benedikt?“   Mein Kopf ruckte nach oben. Nele sah mich erwartungsvoll an. Anscheinend wollten sie und noch zwei Mädchen abräumen. Die anderen Klassenmitglieder hatten sich allesamt schon verkrümelt und mir war klar, dass das spätestens heute Abend Thema werden würde. Das stand zumindest ziemlich deutlich auf Neles Stirn geschrieben, die sie recht eindrucksvoll unter ihrem Haaransatz in Falten gelegt hatte.   „Ich, äh … nein. Ich bin fertig“, murmelte ich. „Dann hilf uns gefälligst.“ „Na klar.“   Noch während ich mit kaltem Wasser und viel zu wenig Spülmittel unserem Geschirr zu Leibe rückte, kam mir erneut die Szene vom Frühstück in den Sinn. Es war schön gewesen, so vertraulich mit Theo zu reden. Seltsam … entspannt. Auf eine Weise, die mich fast ein bisschen an Julius erinnerte, obwohl die beiden doch so verschieden waren. Schon komisch.   Plötzlich hatte ich Sehnsucht nach Julius und nach zu Hause und einer Spülmaschine, mit dem man diesen ganzen Mist nicht selbst machen musste. Ich wollte nicht mehr auf diesem blöden Campingplatz sein und mich dauernd vor Oliver und Co zurücknehmen müssen. Mich verstellen und aufpassen und darauf achten, dass ich nur ja alles richtig machte. Ich wollte nicht.   Mit den Händen in der Abwaschbrühe, in der Brötchenkrümel und anderes umherschwammen, schloss ich die Augen und atmete einmal tief durch. Es half ja nichts. Ich war nun einmal hier und würde es die nächste Woche auch bleiben. Kein Grund in Selbstmitleid zu versinken. Ich würde das schon irgendwie hinkriegen. Und ich würde Julius schreiben, wenn ich denn irgendwann mal diesen Riesenberg Teller und Tassen fertig abgewaschen und mir vielleicht auch noch eine Zahnbürste zwischen die Zähne geschoben hatte. Ich hatte gehört, dass man das ab und an tun sollte.     „Benedikt, nun beeil dich doch mal! Wir wollen los.“   Herr Wilkens war schon wieder im Drängelmodus und die halbe Klasse bereits angetreten, als ich vom Waschhaus zurückkam.   „Hallo? Ich kann gar nichts dafür. Die anderen haben …“ „Ja ja, immer die anderen. Nun mach endlich. Hopp, hopp!“   Am liebsten hätte ich Herrn Wilkens mal ordentlich die Meinung gesagt, dass ich schließlich nur deswegen so spät dran war, weil der Rest sich vorm Abwaschen gedrückt hatte, aber ich verkniff es mir. Zumal Jo und Oliver schon so guckten, als wenn sie nur auf die Gelegenheit lauerten, mir einen Spruch zu drücken. Wahrscheinlich irgendwas über Schürzen und Zöpfchen oder irgendein anderer Blödsinn, über den sich die Mädchen schon aufgeregt hatten.   Ich machte also, dass ich ins Zelt kam, mein Handtuch auf der gespannten Wäscheleine aufhängte – Timo wurde immer mehr zu meinem persönlichen Helden – und mich dann mit Helm und Handy bewaffnet wieder auf den Rückweg machte. Was mich da erwartete, hätte mich natürlich nicht wundern dürfen, aber die absolute Einfallslosigkeit der Aktion an sich ließ mich einfach mal die Augen verdrehen.   „Ich hab einen Platten“, informierte ich meinen Lehrer, der daraufhin genervt stöhnte. „Dann flick ihn halt.“ „Ich glaube, aufpumpen dürfte reichen.“   Natürlich war mir klar, dass Oliver oder Jo mir die Luft abgelassen hatte, aber ich bezweifelte, dass sie so weit gegangen waren, den Reifen wirklich zu zerstechen. Vor allem: Womit denn? Mit diesen stumpfen Campingmessern, mit denen man kaum ein Brötchen aufschneiden konnte? Wohl kaum. Woran sie allerdings gedacht hatten war meine Luftpumpe. Die war nämlich weg.   „Hat mal jemand eine Pumpe für mich.“ „Wieso? Kannst du das nicht mit dem Mund auf … blasen?“   Oliver schien sich prächtig über seinen Spruch zu amüsieren. Ich schloss die Augen und zählte innerlich bis zehn. Das Einzige, was mich daran nicht ausrasten ließ, war die Tatsache, dass Oliver von eben diesem Thema vermutlich nicht die geringste Ahnung hatte.   „Gott, ihr seid so peinlich“, meckerte Mia-Marie. Sie war gerade mit ihrem Rad dazugekommen, stellte es jetzt ab und begann, umständlich ihre Fahrradpumpe aus der Halterung zu fummeln. Dummerweise machte sie sich damit gleich zur nächsten Zielscheibe.   „Wieso, Fetti? Sag bloß, du hast da Erfahrung?“   Auf Mia-Maries Wangen erschienen zwei rote Flecken, aber sie sah Oliver tapfer ins Gesicht.   „Na, ich weiß zumindest, dass man was falsch macht, wenn man da reinpustet wie in einen Fahrradschlauch. Solltest du deiner Freundin vielleicht auch mal stecken.“ „Welcher Freundin?“   Ich wusste nicht, worüber mich in dem Moment mehr freuen sollte. Darüber, dass Mia-Marie dem Blödmann so gut Paroli geboten hatte oder darüber, dass der Spruch mit der Freundin von Jo gekommen war. Dementsprechend wütend sah Oliver ihn nämlich an, bevor er einfach sein Fahrrad schnappte und es an einen anderen Platz schob. Jo blieb einen Augenblick unschlüssig stehen, bis er mit einem „Hey, warte doch mal!“ hinter Oliver herstratzte. Ich grinste und nahm Mia-Marie endlich die Pumpe ab, um mein Rad wieder auf Vordermann zu bringen, als sich plötzlich zwei Turnschuhe in mein Sichtfeld schoben. Sie gehörten Theo.   „Was ist denn hier los?“   „Ach, die Spinner haben bei Benedikt die Luft abgelassen und dann noch blöde Sprüche gemacht“, erklärte Mia-Marie sofort. Sie hatte immer noch hektische Flecken im Gesicht.   Theo knurrte unwillig. „Ich red mal mit ihnen.“   Er wollte sich gerade umdrehen, aber ich hielt ihn auf.   „Lass gut sein, das bringt doch eh nichts. Wenn du sie reizt, machen sie am Ende noch wirklich was kaputt. Ich werde mein Rad in Zukunft einfach mit ins Zelt nehmen. Platz genug ist ja.“   Theo sah mich einen Augenblick lang zweifelnd an, dann nickte er langsam.   „Wie du willst. Ist trotzdem nicht okay.“   Ich seufzte und machte mich endlich ans Pumpen, um nicht auch noch Ärger mit Herrn Wilkens zu bekommen. Als ich Mia-Marie die Pumpe wiedergab und mich bedankte, winkte sie ab.   „Kein Ding. Ist doch klar, dass wir gegen die Blödmänner zusammenhalten müssen.“   Sie lächelte mich noch einmal an und ging dann zu ihrem Rad zurück, um sich einzureihen. Ich ließ meinen Blick über die Gruppe wandern und entdeckte schließlich Timo und Elias recht weit am hinteren Ende. Kurzentschlossen wendete ich und stellte mich zu ihnen. Wir wollten ohnehin noch einkaufen und da Herr Wilkens gesagt hatte, dass immer mindestens drei Leute in einer Gruppe sein mussten, passte das ja ganz gut.     Der Ausflug, der nun folgte, war ungefähr so spannend, wie ich es mir vorgestellt hatte, als Herr Wilkens das Wort „historisch“ in den Mund genommen hatte. Wir besichtigten eine Windmühle, die soweit ganz interessant war, anschließend eine Kirche, die man nicht betreten durfte, und dann ein Schloss, das eigentlich eher wie ein großes Landgut aussah und in das man auch nicht hineinkonnte. Als unser Lehrer obendrein auch noch vorschlug, dass wir ja stattdessen einen Spaziergang durch den Schlossgarten machen könnten, streikten selbst diejenigen, die bis dahin tapfer die Gemeinschaftsfahne hochgehalten hatten.   „Na schön, dann schwirrt halt ab“, entließ uns unser Klassenlehrer etwas angesäuert und machte sich anschließend mit Frau Kuntze auf, um nur zu zweit die malerische Landschaft zu erkunden.     Timo, Elias und ich beschlossen sofort, dass wir an weiterem Sightseeing oder gar Shopping nicht interessiert waren, und steuerten daher auf direktem Weg den nächsten Supermarkt an. Eine Idee, die mit uns zusammen offenbar mehr als der Hälfte der Klasse gehabt hatte. In fast jedem Gang standen deutsche Schüler und versuchten sich daran, dänische Etiketten zu entziffern. Teilweise mit interessantem Erfolg.   „Was ist denn das hier? Forloren Skildpadde? Kannst du mal eben googlen?“ „Äh, Moment … Skildpadde bedeutet … Schildkröte?“ „Was? Das ist ja voll fies. Die armen Schildkröten! Stell das bloß wieder weg.“   Vanessa ließ die Dose mit dem zweifelhaften Inhalt sofort ins Regal zurückwandern und schüttelte sich.   „Ich glaube, ich verzichte aufs Kochen. Komm, wir gucken mal da drüben.“   Wir drei von der Wagenburg hatten es da auf jeden Fall leichter, standen wir doch in der Obst- und Gemüse-Abteilung und suchten eindeutig erkennbare Zutaten für einen Eintopf zusammen. Kartoffelsuppe sollte es werden und zu unserem Glück gab es Kartoffeln auch ganz prima in Dänemark zu kaufen. Stand sogar „kartofler“ dran und war somit quasi narrensicher. (Und ja, das war jetzt bereits die fünfte Sprache, in der ich Kartoffeln essen konnte. Wahrscheinlich wollte mir das Schicksal damit irgendetwas sagen. Vielleicht, dass ich später mal Frittenkoch werden würde.)   „Und jetzt?“, fragte ich, als wir kurz darauf mit zwei Einkaufstüten beladen aus dem Laden kamen.   „Jetzt fahren wir wieder zurück“, bestimmte Timo und Elias schloss sich ihm an. Ich hatte somit nicht viel Auswahl und so fuhren wir halt wieder zurück, nachdem wir in einer Bäckerei noch mit Hilfe von Händen und Füßen ein paar süße Teilchen erstanden hatten. Das hieß, eigentlich war nur ich der mit dem Süßkram, aber ihr müsst zugeben, dass man unmöglich in einen Laden mit drei verschiedenen Sorten Zimtschnecken gehen kann, ohne wenigstens zwei davon zu probieren.   Wieder am Zeltplatz angekommen, verstauten wir unsere Einkäufe und mein Fahrrad und zogen uns danach jeder mit einem Buch auf das jeweilige Lager zurück, um eine Runde friedlich vor uns hin zu lesen. Was konnte das Leben als Nerd doch entspannt sein.     Als nach und nach der Rest der Klasse eintrudelte, schloss ich mich jedoch Sandra und ein paar anderen an, um Holz zu sammeln und eine ordentliche Feuerstelle für das abendliche Lagerfeuer zu errichten. So verging der Nachmittag und mir wäre gar nicht aufgefallen, dass ich Theo und die beiden Chaoten fast den ganzen Tag nicht gesehen hatte, wenn sie nicht abends zur gleichen Zeit in der Gemeinschaftsküche des Campingplatzs aufgetaucht wären wie Timo, Elias und ich.   Das hieß, wenn man es genau nahm, waren wir eigentlich schon eine Weile dort, denn das Gemüse, das wir für die Suppe vorbereitet haben, lag schon bereits alles geputzt und in kleine Würfel geschnitten in unserem Topf. Dabei hatte Timo sich wieder mal als findiger erwiesen, als ich angenommen hatte, denn während ich noch erfolglos nach einem Sieb gesucht hatte, um das geschnittene Gemüse nochmal zu waschen, wie es meine Mutter immer machte, wusch er das Ganze einfach vorher und begann es dann nacheinander in dem mit Margarine ausgestrichenen Topf zu schichten.   „Das spart Zeit“, erklärte er und wies auf das Schild an der Wand, das auf Dänisch und Englisch erklärte, wie das mit dem Strom funktionierte. Man bekam für eine Münze immer nur eine bestimmte Menge an Strom und wenn die alle war, musste man entweder mit seinem Essen fertig sein oder eben nachlösen. Wir Schlaumeier hatten natürlich nur ganz genau eine Münze gekauft und gedacht, das würde schon reichen. Tja, und nun hieß es Daumen drücken, wobei Timo mich beruhigt hatte, dass Ankochen bei der Suppe eigentlich reichte, wenn wir die Stücke nur klein genug machten. Somit hatten wir uns einen regelrechten Wolf geschnippelt, waren aber frohen Mutes, dass wir doch noch ein leckeres Abendbrot bekommen würden, bis dann diese zwei Doofköppe aufgetaucht waren. Und Theo natürlich.   „Ach sieh mal, die vom Perfekten Diner sind auch schon hier“, frotzelte Oliver auch gleich, wobei ich feststellen musste, dass dieses Mal anscheinend Theo Ziel des Spotts gewesen war. Er knurrte genervt.   „Man, Oliver, dir wird schon nicht gleich der Schwanz abfallen, nur weil du mal was kochst.“   „Kochen ist Frauensache“, pöbelte der jedoch und grinste mich an. „Oder was sagst du dazu? Du kochst doch bestimmt voll gerne.“   Ich wollte gerade auffahren, als Timo mit die Münze in die Hand drückte.   „Würdest du?“   Ich blinzelte ihn erst etwas irritiert an, aber er sah mich nur durchdringend an und ich verstand. Er wollte Stress ebenso vermeiden wie ich, wenn ich nicht gerade rot sah, weil Oliver mich so dämlich provozierte.   „Na, sicher doch“, gab ich zurück, schnappte mir die Münze und warf sie in unseren Zähler. Sogleich flammte das Licht an den zwei Kochplatten auf und Timo drehte die größere der beiden Flammen auf höchste Stufe, um erst mal den Porree anzuschwitzen, bevor wir Wasser und Salz dazugaben.   „Ich mach auch mal“, sagte Jo und warf ebenfalls eine Münze ein, natürlich ohne vorher die Gebrauchsanweisung zu lesen. „Und jetzt?“   „Erst mal Wasser kochen für den Reis.“   Ich beobachtete, wie Theo einen großen Topf rausnahm und zur Hälfte mit eiskaltem Wasser füllte. Timo neben mir schüttelte nur den Kopf.   „Wenn er den zum Kochen gebracht hat, ist sein Strom weg“, murmelte er.   Ich sah ihn an und dann wieder rüber zu Theo. Sollte ich ihm das sagen? Aber andererseits war das ja eigentlich nicht mein Bier, oder? Also setzte ich mich auf meine verbalen Finger und tat nichts, außer möglichst unsichtbar zu bleiben.   „Und wie geht es dann weiter?“ „Wenn das Wasser kocht, muss der Reis rein und dann …“   Als Theos Stimme verstummte, horchte ich auf. Dem Ganzen war das Geräusch einer aufreißenden Papppackung vorausgegangen und das anschließende Schweigen hatte bestimmt nichts Gutes zu bedeuten. Das sahen Jo und Oliver offenbar genauso.   „Was ist los, T? Stimmt was nicht?“ „Da ist nur Reis drin.“ „Natürlich ist da Reis drin. Was hast du denn gedacht? Bananencracker?“ „Na, ich dachte, das sind so Beutel, wie wir die zu Hause immer haben. Aber da ist nur der Reis.“   Timo prustete leise und auch Elias musste sich anscheinend ein Lachen ziemlich verkneifen. Ich muss ja zugeben, ich hätte eigentlich auch gelacht – vor allem, als ich dazu auch noch Theos entgeisterten Gesichtsausdruck sah – aber irgendwie tat er mir auch ein bisschen leid. Doch Theo wäre nicht Theo gewesen, wenn er nicht gleich eine Lösung parat gehabt hätte.   „Dann kochen wir den eben so und schütten ihn dann durch ein Sieb. „Hier gibt’s kein Sieb.“   Okay, wer war das? Wer hatte das gerade gesagt? Doch wohl nicht etwa der Typ, den ich morgens im Spiegel sah, wenn ich aufstand. Denn wenn doch, wäre das ja nun wirklich dämlich gewesen, weil er damit nämlich zielsicher die Aufmerksamkeit von Leuten auf sich gezogen hätte, von denen er eigentlich lieber nicht gesehen werden wollte. Jo zum Beispiel. Oder Oliver.   „Hast du was gesagt?“   Ich atmete tief durch.   „Ich hab gesagt, dass es hier kein Sieb gibt. Ich hab vorhin schon gesucht.“   Oliver sah aus, als würde er mich dafür gerne ein bisschen schlagen, aber selbst sein Spatzenhirn schien einzusehen, dass das Nicht-Vorhandensein eines Siebs nicht meine Schuld war. Stattdessen wandte er sich an Theo.   „Und jetzt? Wie kriegen wir jetzt was zu essen?“ „Das weiß ich doch nicht. Müssen wir halt Brot nehmen.“ „Man, T, das ist doch Mist. Ich hab Kohldampf.“   Anscheinend probte jetzt auch Jo den Aufstand.   „Dann hättest du ja beim Einkaufen mal ein bisschen mitmachen können, statt immer nur irgendwelchen Mädels hinterherzuglotzen.“ „Wenigstens hat er gesehen, was das für scharfe Schnecken waren.“ „Was willst du damit sagen?“   Theo baute sich drohend vor Oliver auf, der daraufhin beschwichtigend die Hände hob.   „Nichts. Nur, dass ich mir jetzt was zum Abendessen organisiere. Kommst du mit, Jo?“   Jo nickte nur und gemeinsam machten die beiden sich aus dem Staub. Zurück blieb nur Theo, der die offene Reispackung anstarrte, als wäre sie sein persönlicher Feind. Wahrscheinlich grenzte es an ein Wunder, dass er sie nicht quer durch den Raum warf. Den ganzen Tag mit Oliver zu verbringen, machte vermutlich auch den freundlichsten Menschen irgendwann aggressiv.   Ich wandte mich an Elias und Timo.   „Wenn ihr wollt, pass ich auf die Suppe auf. Bringt ja nichts, wenn wir hier zu dritt rumstehen.“   Die beiden waren einverstanden und so waren im nächsten Moment nur noch ich, Theo und der Suppentopf anwesend. Ich warf nochmal einen Blick in letzteren, bevor ich mich vorsichtig an den anderen Tisch heranwagte, an dem die Zeichen immer noch auf Sturm standen. Mit einem letzten Atemzug machte ich mich bereit, den Tiger am Schwanz zu ziehen.   „Also, wenn du noch was kochen willst …“   Theo schnaubte nur.   „Wie denn ohne Sieb?“ „Du könntest Quellreis machen.“   Hätte ich von Theo verlangt, eine mathematische Gleichung mit dreizehn Unbekannten zu lösen, wäre die Reaktion wohl ähnlich ausgefallen.   „Quell…was?“ „Quellreis.“   Okay, okay, ich geb’s ja zu. Bis vor kurzem kannte ich auch nur Reis aus dem Kochbeutel, weil meine Mutter eben auch immer den kaufte. Aber Julius hatte mir gezeigt, wie man Basmati zubereitet und mir dabei erklärt, dass es viel besser war, wenn man diesen Reis nicht in Wasser total auslaugte, um das einzigartige Aroma zu erhalten. Und dass das Ganze natürlich auch mit normalem Reis funktionierte.   „Und wie geht das?“, wollte jetzt auch Theo wissen.   Ich grinste. „Na, dann sperr die Ohren auf und lerne.“   Von da an lief es eigentlich ganz einfach. Ich erklärte, Theo machte und am Schluss gab ich ihm noch was von unserem Salz, weil er das nämlich auch vergessen hatte, bevor wir den Deckel auf den Topf taten und uns ansahen.   „Und jetzt?“ „Wenn’s kocht, kannst du runterdrehen und dann quillt es.“ „Ganz von alleine?“ „Ja.“ „Super.“   Er grinste mich an und ich grinste zurück und dann rannte ich erst mal los, um die Platte unter unserer Suppe kleinzudrehen, die schon eine Weile vor sich hin überkochte. Ich fluchte und wischte an dem Herd herum, der natürlich aussah wie Sau, woraufhin Theo mir ein Handtuch holte und wir dann wiederum seinen Reis retten mussten, der ebenfalls drohte, die Kochplatte mit unschönen Krusten zu verzieren. Dabei verbrannte ich mir die Finger und schimpfte wie ein Rohrspatz, bis ich mir das verletzte Körperteil kurzerhand in den Mund steckte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stand ich da und tat mir ziemlich leid und Theo lachte mich aus.   „Mit dir koche ich nie wieder“, meinte er. „Du kannst das voll überhaupt nicht.“   „Aber du, oder was?“, meckerte ich zurück und starrte ihn dabei so finster an, dass wir schließlich beide lachen mussten.   „Und jetzt?“, fragte er, nachdem uns wieder beruhigt hatten. „Jetzt warten wir.“   Tja, und das taten wir dann auch. Wir standen in dieser Küche und schwiegen uns an, während unser Essen vor sich hin kochte, bis ich es nicht mehr aushielt.   „Wir machen heute Abend Lagerfeuer“, sagte ich mehr um überhaupt was zu sagen. „Ja, hab ich mitbekommen.“ „Dann kannst du deine Gitarrenkünste endlich unter Beweis stellen.“ „Mhm …“   Etwas an Theos Brummen kam mir komisch vor. Misstrauisch sah ich ihn an.   „Was? Du willst doch wohl nicht kneifen? Immerhin hast du gestern noch behauptet, dass du voll gut bist.“   Er stand da, die Hände in seinen Hosentaschen vergraben, und sah mich nicht an.   „War gelogen.“ „Wie bitte?“ „Das mit dem Gitarre spielen war gelogen. Ich, äh … ich bin nicht so sehr gut. Also Akkorde gehen einigermaßen, aber der Rest lässt noch sehr zu wünschen übrig. Ich dachte, du wüsstest das.“   Äh … was? Er hatte gedacht, dass ich das wüsste. Aber woher? Ich hatte ihn ja noch nie spielen hören. Ungläubig schüttelte ich den Kopf.   „Ich raff’s nicht. Wie hätte ich denn darauf kommen sollen? Und warum hast du dann die andere Geschich…?“   Ich verstummte, als mir aufging, was das bedeutete. Und offenbar war ihm auch klar, dass ich das jetzt wusste. Weiß der Himmel, was er sich dabei gedacht hatte, aber jetzt war es ihm anscheinend doch peinlich und ich fand das irgendwie … süß.   Mit bemüht ernstem Gesicht sagte ich: „Dir ist schon klar, dass dein Plan voll dämlich war.“ „Tja, sieht so aus, oder?“ „Und kochen kannst du auch nicht.“ „Du doch auch nicht!“ „Hey, ich hab immerhin dein Abendbrot gerettet.“ „Was noch zu beweisen wäre.“   Als hätten sie es gehört, sprangen die beiden Stromzähler in diesem Moment hintereinander auf Null und die Lichter an den Kochfeldern erloschen. Ich kostete zuerst unsere Kartoffelsuppe, die echt lecker geworden war, bevor ich rüber zu Theo ging und seinen Reis in Augenschein nahm. Auch der sah ziemlich gut aus und ich wollte daher gerade verkünden, dass das ja wohl eindeutig ein Punkt für mich war, als Theo sich gegen die Stirn schlug.   „Scheiße. Die Soße!“   Wir blickten beide zu der Dose, die still und friedlich auf der Arbeitsfläche stand und uns mit Unschuldsmiene däumchendrehend anzulächeln schien.   „Mhm, also Reis pur soll ja auch sehr gesund sein“, meinte ich langsam. „Bist du irre? Die lachen mich doch voll aus, wenn ich da nur mit Reis ankomme.“ „Dann könnten wir …“   Ich überlegte scharf, bis mir doch tatsächlich etwas einfiel. Etwas, das sogar funktionieren konnte.   „Schnell, hol mal den Dosenöffner. Wir kippen die Soße in den heißen Topf, dann wird das noch warm.“ „Meinst du?“ „Ja klar, das klappt. Also los. Hopp-hopp!“   Theo grinste bei der Andeutung auf unseren Klassenlehrer und dann werkelten wir beide abwechselnd mit dem absolut besch…eidensten Scheiß-Dosenöffner, den man sich vorstellen konnte, bis der Deckel wenigstens so weit zur Seite gebogen war, dass man den Inhalt durch die Öffnung herauskratzen konnte.   „In kleinen Stücken geht es eh schneller“, meinte ich und verteilte die restliche Soße im Topf. Danach rührte ich um und dann …   „Ähm … Theo?“ „Ja?“ „Ich will ja nicht meckern, aber …“ „Was denn?“ „Das sieht aus wie Hundefutter.“   Er stellte sich neben mich und blickte ebenfalls in den Topf. Darin bildeten Reis, kleingebrockte Hackklöße und braune Soße eine ziemlich unansehnliche Mischung. Theo atmete tief durch.   „Tja, dann muss ich wohl anfangen auf allen Vieren zu laufen und mit dem Schwanz zu wedeln, damit das nicht so auffällt.“   Er sagte das so trocken, dass ich einfach nicht anders konnte und schallend anfing zu lachen. Erst dachte ich ja, dass er jetzt sauer wäre, aber seine Mundwinkel begannen ebenfalls verdächtig zu zucken und irgendwann platzte es auch aus ihm heraus. Wir japsten und prusteten und jedes Mal, wenn einer von uns ein „Wuff“ von sich gab, fing der andere wieder an, bis mir irgendwann mein Bauch wehtat und ich mich in die andere Kochnische flüchtete, um endlich wieder zu Atem zu kommen. Als ich um die Ecke lugte, hatte Theo seine Brille abgenommen und wischte sich über die Augen. Wieder einmal fiel mir auf, wie anders er ohne sie aussah. Fast so wie an dem Tag, als …   „Sag mal, hast du echt so doll geschielt?“   Ich wusste nicht, wo das jetzt herkam, aber die Frage war mir einfach so durch den Kopf gegangen. Theo nickte.   „Ja, total. Auf Fotos sieht es aus, als hätte jemand Clarence mit ins Bild geschleift.“ „Und dann?“ „Hab ich so ein todschickes Augenpflaster bekommen, durch das ist es dann weggegangen. Ich hab das Ding gehasst, aber musste ja sein. Jetzt sieht man es fast gar nicht mehr, nur wenn man sehr genau hinschaut.“   Ich kam noch ein Stück näher und musterte ihn. Er hielt die Brille immer noch in der Hand und grinste.   „Was? Glaubst du mir nicht?“ „Nicht wirklich.“ „Dann schau doch nach.“   Er streckte den Kopf vor und sah mich herausfordernd an. Ich trat noch einen Schritt näher und dann noch einen, bis ich direkt vor ihm stand. Dabei sah ich ihm genau in die Augen und versuchte zu erkennen, ob es da wohl einen Unterschied gab.   Die Farbe der Iriden war wirklich kaum noch als blau zu bezeichnen. Eher grau. Sturmgrau und von kleinen, weißen Linien durchzogen, die sie noch heller wirken ließen. Unwillkürlich rückte ich noch ein Stück näher. Mein Blick huschte zwischen seinen Augen hin und her und ich gab mir wirklich alle Mühe, da irgendwas ausfindig zu machen, aber erfolglos.   „Ich seh nichts“, verkündete ich schließlich. „Wirklich nicht?“ „Nein.“ „Okay, dann hab ich heute wohl Glück.“   Ich visierte statt seiner Augen nun wieder sein ganzes Gesicht an und wurde mir bewusst, wie nahe wir einander gerade waren. Unsere Nasenspitzen berührten sich fast und wenn ich mich jetzt noch ein kleines bisschen weiter vorgelehnt hätte, dann hätte ich ihn glatt … Also dann hätte ich …   Theo sah mich immer noch an und machte keine Anstalten, sich von mir zurückzuziehen. Stattdessen erforschten seine Augen nun mein Gesicht. Die Augen, die Nase und schließlich meinen Mund. Er schluckte langsam und räusperte sich.   „Ob … äh … ob das Essen wohl fertig ist? Was meinst du? “   Ich blinzelte und hatte Schwierigkeiten, mein Gehirn zu benutzen. Was hatte er gefragt? Das Essen? Ach ja, das Essen! Eilig trat ich einen Schritt zurück und fuhr mir mit der Hand durch die Haare.   „Äh, ja, das ist bestimmt fertig.“ „Soll ich die anderen holen? “ „Nein lass, ich geh schon.“   Mit diesen Worten drehte ich mich um und sah zu, dass ich rauskam. Hinter mir meinte ich noch, Theo laut ausatmen zu hören, aber das konnte ich mir natürlich auch nur eingebildet haben. Genauso wie die Tatsache, dass er meinen Mund angestarrt hatte. Das war mit Sicherheit auch nur Einbildung gewesen. Alles nur reine Einbildung. Kapitel 43: Von klugen Ratschlägen und verschütteten Flüssigkeiten ------------------------------------------------------------------ Okay, jetzt mal ganz langsam mit den jungen Pferden. Ja, das in der Küche war eine echt eigenartige Situation, aber das wäre es mit jedem anderen auch gewesen. Kennt man doch. Man biegt nichtsahnend um irgendeine Ecke und auf einmal steht da jemand vor einem, den man nicht erwartet hat. Und was passiert? Man wird mal einen ganz kurzen Moment lang panisch, schmeißt, was immer man gerade in der Hand hat, in hohem Bogen von sich und kreischt wie ein kleines Mädchen. Ganz normale menschliche Reaktion. Es hatte somit nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, dass es sich dabei um Theo gehandelt hatte. Habt ihr das jetzt verstanden, ihr dummen Kartoffelstückchen? Gut. Dann kann ich euch jetzt ja essen. Und du guck nicht so doof, du blöde Möhre, sonst esse ich dich nämlich zuerst. Und wenn du, lieber Sellerie, nicht gleich aufhörst zu lachen, schmeiß ich dich in den Müll. Du bist eh nur da, um Geschmack zu geben, und hast am Ende die Konsistenz von eingeweichtem Weißbrot. Niemand kann dich leiden. Niemand!   Äh … was?   Warum ich mit meiner Kartoffelsuppe rede? Na weil mit jemandem darüber zur reden meine Nerven beruhigte. Ich hätte ja die Telefonseelsorge angerufen – oder Anton – aber dazu war das Ganze nun doch zu lächerlich. Von daher musste halt mein Abendessen für mein stummes Zwiegespräch herhalten. Weil’s nämlich wirklich, wirklich albern war, deswegen jetzt ein Fass aufzumachen. Immerhin tat Theo das auch nicht. Der saß nämlich ganz entspannt am anderen Tisch und aß sein Hundefutter. Was natürlich alle total witzig fanden und dumme Sprüche darüber machten und sich köstlich amüsierten. Warum also konnte ich das nicht einfach so abhaken? Warum musste ich jetzt bereits seit bestimmt zwanzig Minuten darauf rumdenken? Was stimmte nicht mit mir?   „Benedikt?“ „Hä?“   Ich sah auf und in Timos fragendes Gesicht. Anscheinend hatte ich mal wieder irgendwas nicht mitbekommen.   „Ich wollte wissen, ob ich deinen Teller mitabwaschen soll.“ „Äh, ja danke.“   Ich reichte ihm den Teller samt Löffel und war somit der Beschäftigung für Hände und Mund beraubt. Na toll. Und was machte ich jetzt? Ins Zelt gehen und noch ne Runde lesen lohnte sich nicht, denn die Uhr zeigte mir an, dass es bald mit der angekündigten Gruppenaktivität losgehen sollte. Ich hätte also schon mal zum Strand gehen können. Oder die Gelegenheit nutzen, um endlich Julius zu schreiben, was ich heute Morgen wegen Herrn Wilkens’ Drängelei und später wegen akuter Vergesseritis nicht geschafft hatte. Höchste Zeit, dass ich das nachholte.   Ich packte mich also auf meinen Schlafsack, kramte mein Handy heraus und öffnete den Messenger. Soweit schon mal geschafft. Aber was sollte ich jetzt schreiben?   'Sorry, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe.'   Mhm, doof. Ich hatte ihm doch gestern Abend erst ne lange Nachricht geschrieben, von daher war das irgendwie albern. Er wusste ja, dass wir tagsüber nicht so mit den Handys durften und meins auch eigentlich ausgeschaltet war. Ich betätigte also den Löschknopf und startete einen neuen Versuch.   'Wie war dein Tag?'   Ähm, ja nee. Das war ja mal total nichtssagend. Schnell löschte ich das ebenfalls wieder.   'Klassenfahrt ist voll blöd. Ich vermisse dich.'   Nein, dann würde er sich Sorgen machen. Also weg damit. Okay, jetzt hatte ich es.   'Hab heute einem Klassenkameraden mit deinem Reistrick das Leben gerettet. Er wird dir auf ewig dankbar sein. Aber Campingküchen sind der Hass. Und dänische Supermärkte auch. Bin froh, wenn ich wieder zu Hause bin.'   Zufrieden schickte ich die Nachricht ab und beobachtete gespannt die zwei Balken, aber es passierte nichts. Mhm, na gut. Julius konnte ja auch nicht die ganze Zeit auf seinem Handy sitzen. Außerdem war heute Dienstag, was vermutlich hieß, dass er schon im „Monopoly“ stand und Leute bediente. Da war zum Antworten natürlich keine Zeit.   „Na schön, dann eben lustiges Gruppenkuscheln mit den anderen“, seufzte ich halblaut, verstaute mein Handy wieder und machte mich auf den Weg ins Unvermeidliche.     Am Strand hatten die meisten schon Stellung bezogen und Timo war gerade dabei, das Lagerfeuer so zu präparieren, dass es auch wirklich anbrannte, während andere die schlauerweise mitgebrachten Isomatten auf dem Boden ausbreiteten.   „Nicht zu nah ran, damit ihr keine Funken abkriegt“, wies Frau Kuntze sie an und machte sich auch gleich daran, das vorbereitete Feuer zu entzünden.   Zuerst qualmte es nur, aber schon bald schlugen die ersten Flämmchen aus dem Reisighaufen, die schließlich auch auf die größeren Holzstücke übergriffen. Es dauerte nicht lange, da merkte man deutlich die vom Feuer ausgehende Hitze. Ich musste wieder an die Sache mit den Cowboys denken. Es war zwar noch nicht dunkel, aber die Sonne hatte sich bereits merklich dem Horizont genähert und der langsam auffrischende Wind brachte eine gewisse Kühle mit sich. Vermutlich würden die Plätze direkt am Feuer früher oder später im wahrsten Sinne des Wortes heißbegehrt sein.   Unsere Runde füllte sich langsam, sodass ich mich kurzerhand neben Mia-Marie auf eine der Matten setzte und wir uns ein wenig über unsere Einkaufserfahrungen austauschten, bis irgendwann Herr Wilkens zusammen mit Theo, Oliver und Jo auf der Bildfläche erschien. Theo hatte seine Gitarre in der Hand und bei dem Anblick machte irgendwas in mir einen kleinen Hüpfer. Schnell sah ich in eine andere Richtung. Man, was sollte der Mist denn jetzt? Ich war doch kein dämlicher Groupie, der sich beim Auftritt seines Lieblingsstars das T-Shirt vom Leib riss und „Ich will ein Kind von dir“ kreischte. Zumal das biologisch gesehen jetzt auch irgendwie ein bisschen schwierig werden konnte.   Zum Glück legte er das Ding erst mal weg und wir bekamen zunächst einen Fahrplan für die nächsten Tage von Herrn Wilkens vorgesetzt. Für morgen stand eine lange Tour rund um diese Hälfte der Halbinsel an und am Tag danach würden wir uns doch tatsächlich größtenteils zu Fuß bewegen und zwar durch einen Freizeitpark. Dem großen Begeisterungssturm, der auf diese Ankündigung folgte, versetzte unser Lehrer dann natürlich gleich einen Dämpfer, indem er erklärte, dass das Ding größtenteils aus wissenschaftlichen Experimenten zum Anfassen und Mitmachen bestand. Ich meine, mich schreckte das jetzt nicht (Hallo? Physikleistungskurs?) aber sowohl der größte Teil der Mädchenriege wie auch nicht weiter erwähnenswerte Spezialisten meines eigenen Geschlechts waren nicht unbedingt begeistert. An dieser Stelle fragte ich mich, ob Herr Wilkens eigentlich in seinem Pädagogikseminar damals geschlafen hatte, denn nach dieser Hiobsbotschaft war die Überleitung zum nächsten Programmpunkt ein Leichtes. Nicht.   „Nun hört mal mit der Nörgelei auf. Wir spielen jetzt was. Wer hat Lust?“   Unbegeistertes Murren beantwortete seine Frage, doch da schaltete sich Frau Kuntze ein.   „Nun kommt schon Leute, das wird lustig. Wir bilden jetzt erst mal zwei Gruppen, die gegeneinander spielen. Und dann dürft ihr mal zeigen, wie es um eure pantomimischen Fähigkeiten bestellt ist. Wir machen nämlich eine Scharade.“   An der Stelle erfolgte von allen – auch von mir – lautstarker Protest. Denn natürlich gab es nichts was schlimmer war als das. Wer sich unter dem Spiel nichts vorstellen kann, das läuft ungefähr so:   Man steht zwei Minuten lang wie der Horst vor seiner Gruppe und versucht, irgendwelche saudummen Begriffe nur mithilfe seines eigenen Körpers und mehr oder weniger einfallsreichem Gezappel darzustellen. Wenn die Mitspieler dann vor lauter Lachen noch zum Raten kommen und richtig liegen, bekommt man einen Punkt und die aus der anderen Mannschaft sind dran. Außerdem ist es extrem wichtig, noch bevor derjenige, der etwas vorführt, auch nur eine Handbewegung gemacht hat, sofort „Hund-Katze-Maus“ in die Runde zu brüllen und zwar jedes verdammte Mal. Das einzig Gute daran ist, dass es wirklich alle aus der Runde mal trifft und man somit nicht der einzige Volldepp ist, der vor Scham am liebsten im Boden versinken würde.   Der Anfang des Spiels war daher, wie erwartet, eher schleppend, aber mit der Zeit wurde es besser und als Herr Wilkens für die Siegergruppe auch noch eine große Tafel Schokolade auslobte, kam richtiggehend Stimmung auf. Am Ende gewann unsere Gruppe ganz knapp durch Vanessas überzeugende Darstellung des Begriffs „Käsefuß“, auch wenn sie dazu unberechtigterweise Leon hinzuzog und einfach seinen Fuß hochhielt, woraufhin sein Zeltpartner Philipp sofort die richtige Antwort wusste.   „Das war gemogelt“, rief Sandra natürlich sofort, aber Ben, der ausnahmsweise mal zusammen mit ihr in einer Mannschaft war, gab zu bedenken, dass die kreative Darstellung durchaus einen Sonderpunkt verdient hatte. Für diese Großzügigkeit rückte Herr Wilkens dann doch direkt noch eine zweite Tafel braunes Gold heraus und es endete somit quasi mit einem Unentschieden für beide Mannschaften.   Lachend ließ ich mich neben Mia-Marie fallen, nachdem ich mir meine Ration abgeholt hatte. Sie hatte immer noch ein bisschen schlechte Laune, weil ihre Verkörperung einer „Weinbergschnecke“ von Oliver mit „Walross“ verunglimpft worden war, aber ich erinnerte sie daran, dass der arme Elias einen „Zungenkuss“ hatte darstellen müssen und danach war sie wieder einigermaßen versöhnt. Theo hatte es da mit „Brillenputztuch“ ziemlich einfach gehabt, während meine höchst überzeugende Darstellung einer „Christbaumkugel“ keiner erraten hatte. Und über Jos Interpretation von „Eierlikör“ reden wir lieber erst gar nicht. Die war nämlich definitiv an der Grenze von jugendfrei.   „Jetzt soll Theo aber mal was spielen“, rief Mia-Sophie und sie und ihre vier Freundinnen machten es sich bequem, um ihn mit großen Augen anzuhimmeln. Theo lächelte nur und griff nach seiner Gitarre und ich konnte wieder einmal feststellen, was für ein großartiger Schauspieler er wohl sein musste, denn entweder hatte er mich ganz ordentlich aufs Glatteis geführt, als er behauptet hatte, dass er nicht spielen konnte, oder er versteckte seine Nervosität jetzt gerade absolut hervorragend.   „Was wollt ihr denn hören?“, fragte er und sofort kamen die abstrusesten Wünsche. Lachend hob er die Hände. „Hey, hey, ich bin nicht Jimmy Hendrix. Außerdem müsst ihr dazu auch singen. Ohne wird’s nichts.“   Als niemand sich für etwas entscheiden konnte, begann er auf einmal einfach zu spielen. Nur Akkorde, wir er es gesagt hatte, aber das kurze Intro war so charakteristisch, dass eigentlich jeder sofort „Sweet Home Alabama“ erkennen musste. Zuerst war der Gesang dazu zwar noch etwas verhalten, weil niemand den Text kannte, aber spätestens beim Refrain konnten die meisten dann doch mitsingen. Ich sang auch. Nicht ganz so laut, weil ich immer das Gefühl hatte, das ich die Töne sowieso nie richtig traf, aber so mit allen zusammen war das schon irgendwie cool. Es wurde sogar noch besser, als Herr Wilkens erlaubte, dass wir die Texte der Lieder googelten.   „Das nächste Mal machen wir vorher ein Liederbuch“, brummelte er, aber dann zückte auch er sein Handy, das er ganz pharisäermäßig natürlich trotzdem dabei hatte. Aber hey, was hatte er erwartet? Das hier war schließlich keine Chorfahrt.   Als es langsam dunkler wurde, legten wir noch eine Geschichtenrunde ein. Frau Kuntze las im Licht einer Taschenlampe eine Gruselgeschichte vor, die natürlich keinen wirklich schocken konnte, aber es war trotzdem ein bisschen eklig und passte irgendwie dazu. Nachdem sie fertig war, verabschiedeten sich die ersten Leute in ihr Zelt und eigentlich wollte ich auch gerade gehen, als Sandra plötzlich meinte:   „Hey, Theo, spielst du noch was? So für die Stimmung?“   Gespannt hielt ich in der Bewegung inne. Was würde er sagen?   „Ja klar“, kam es nur ganz cool von ihm.   Er schnappte sich die Gitarre, rückte sie zurecht und überlegte kurz. Dann begann er zu spielen. Mit leicht entrücktem Blick saß er da. Seine Finger glitten über die Seiten und entlockten ihnen weiche, beinahe traurige Töne, die zusammen mit den rotgoldenen Funken des Lagerfeuers in die Nacht hinaus schwärmten. Zuerst erkannte ich das Lied nicht, aber als er dann zu singen begann, jagte eine Gänsehaut meinen Rücken hinab.   „Mama, take this badge from me I can't use it anymore It's getting dark, too dark to see Feels like I'm knockin' on heaven's door“   Langsam ließ ich mich wieder auf die Isomatte sinken. Hier und da sang tatsächlich jemand im Schein des Handybildschirms mit, aber ich hatte das Gefühl, eigentlich nur Theos Stimme zu hören. Ich wusste, dass er sich vorher meist aufs Spielen konzentriert hatte, aber jetzt sang er definitiv mit und ich konnte ihn ganz klar aus der Masse heraushören. Es war … keine Ahnung. Himmlisch?   Ich saß einfach nur da und hörte zu. Unter meinen Füßen der Sand, die Wärme des langsam ersterbenden Feuers, das mir immer noch das Gesicht wärmte, während mein Rücken dem kalten Seewind ausgesetzt war. Im Hintergrund das Meer, das gegen den Strand rauschte, die Gitarre und Theos Stimme. Das war so … ich weiß nicht. Aber ich wollte nicht, dass er irgendwann aufhörte zu spielen. Oder zu singen. Was er natürlich leider tat. Als die letzten Akkorde verklangen, hob er kurz den Kopf und für einen Moment begegneten sich unsere Blicke über die Flammen hinweg. Es war wie ein Stromschlag. Dieser kurze Moment, in dem wir uns erneut in die Augen sahen, so wie heute schon einmal, so wie damals, das war … Fuck!   Ich senkte den Kopf und glaubte, nur noch mein eigenes Herz schlagen zu hören. Das durfte doch jetzt nicht wahr sein. Ich musste hier weg. Ganz, ganz schnell und so weit es nur ging.   „Ich geh mal ins Bett“, murmelte ich Mia-Marie zu und erhob mich. Ich konnte Theos Blick immer noch auf mir fühlen. Konnte das Unverständnis darin förmlich spüren. Er wollte wissen, warum ich jetzt ging. Vielleicht hatte er sogar geplant, heute noch sein Versprechen wahrzumachen. Keine Ahnung. Aber ich wusste, dass ich nicht bleiben konnte. Weil daraus zu viel werden würde. Mehr, als da zwischen uns sein sollte. Mehr, als gut für mich war. Mehr, als ich erlauben konnte oder wollte.   „Mal sehen, ob Julius inzwischen geschrieben hat“, sagte ich zur mir selbst und kroch ins Zelt, um mein Handy anzuschalten. Tatsächlich leuchtete das Symbol des Messengers auf, kaum dass ich die PIN eingegeben hatte. Julius hatte geantwortet. Was für ein Glück. Ich öffnete seine Nachricht.   'Hey Süßer, das hört sich ja abenteuerlich an bei dir. Aber schön, dass ich helfen konnte. Wer war denn der Glückliche?'   Ich las die Frage und musste schlucken, bevor ich antwortete. Wie von selbst bewegten sich meine Finger.   'Kennst du nicht', schrieben sie.   Nachdem die Nachricht rausgegangen war, ließ ich das Handy sinken. Scheiße. Ich hatte ihn angelogen. Warum hatte ich ihn angelogen? Da war doch nichts. Da konnte nichts sein, weswegen ich lügen musste. So überhaupt gar nichts.   Ich wartete nicht mehr auf eine Antwort. Wie erschlagen kroch ich einfach in meinen Schlafsack, nachdem ich gerade noch meine Klamotten abgestreift hatte, die nach Rauch stanken, und dann rollte ich mich so gut es ging zusammen. Im Schutz der Dunkelheit meines Schlafsacks öffnete ich einen Browser. Ich tippte etwas ein, klickte auf den Link und lauschte Guns N' Roses, wie sie noch einmal „Knockin' On Heaven's Door“ zum Besten gaben. Es klang lange nicht so gut wie bei Theo.   Plötzlich störte ein Signalton die Musik. Julius hatte geantwortet. Schnell öffnete ich die App.   'Geht’s dir sonst gut? Was macht der Typ aus deiner Klasse?'   Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass er Oliver meinte. Ich verzog das Gesicht. Über den wollte ich mir gerade eigentlich so gar keine Gedanken machen. Aber vielleicht sollte ich das. Es würde mich ablenken.   'Arschig wie immer. Hat sich an meinem Rad vergriffen. Zum Glück ist nichts kaputt.'   'Wenn’s zu arg wird, weih deine Lehrer ein. Hol dir Hilfe!'   'Nein, kein Problem. Mit dem werd ich schon fertig. Meine Betsy darf jetzt aber im Zelt schlafen.'   'Betsy? Klingt wie der Name einer Kuh.'   'Hey, lass sie das bloß nicht hören. Sie ist da sensibel.'   Er schickte mir einen lachenden Smiley zurück. Ich sah das kleine, bunte Bild an und lächelte. Guter, alter Julius. Ich vermisste ihn. Ich vermisste es, bei ihm zu sein. Einfach in seinen Armen zu liegen und mich sicher zu fühlen. Sicher und begehrt und …   Ich begann zu tippen. Als ich sah, was auf dem Bildschirm stand, zögerte ich. Das konnte ich nicht schreiben. Nicht jetzt. Nicht so. Also löschte ich es wieder. Zuerst das 'dich' dann das 'liebe' dann das 'ich'. Das würde ich ihm lieber selbst sagen, wenn ich zurückkam. Wenn alles wieder beim Alten war und die Welt in geregelten Bahnen lief. Wenn ich aufgehört hatte, irgendwelche dummen Luftschlösser zu bauen und mich schon wieder in Dinge zu verrennen, die nicht der Realität entsprachen. So dumm würde ich nicht noch einmal sein. 'Hör auf zu lachen', tippte ich stattdessen. 'Erzähl mir lieber von deinem Tag. Wie laufen die Prüfungen?'   Ich sah, wie er schrieb und ich wartete geduldig auf seine Antwort, während ich diesen Park googelte, in den wir übermorgen gehen würden. Das Ding sah wirklich interessant aus und so versank ich in Schilderungen von Segway-Touren und Raketenstart-Experimenten und Virtual Reality Trips und merkte dabei gar nicht, wie die Zeit verging, bis irgendwann Timo und Elias ins Zelt kamen.   „Hey, du bist ja noch wach“, meinte Timo erstaunt. „Ich dachte, du schläfst schon. Dann müssen wir ja nicht leise machen.“   „Nein, tut euch keinen Zwang an“, entgegnete ich und las mir noch einmal Julius’ letzte Nachricht durch, in der er mir tausend Küsse schickte und süße Träume wünschte. Ich sandte ihm das Gleiche zurück, bevor ich das Handy ausschaltete und gerade wegpacken wollte, als mir ein Gedanke durch den Kopf schoss. Ich würde jetzt endlich diesen Ratschlag annehmen. Ich würde mich ein für allemal von Theo fernhalten. Und morgen würde ich damit anfangen, indem ich vor allen anderen aufstand. Wäre doch gelacht, wenn man sich hier nicht aus dem Weg gehen konnte. Das würde ich schon hinkriegen.     Was soll ich sagen: Es klappte tatsächlich. Zwar war die Sache mit dem morgens in aller Herrgottsfrühe aufstehen wirklich grausam, aber es brachte mit sich, dass man die Duschen ganz für sich alleine hatte. Was als Teenager mit gewissen … ähm … Bedürfnissen schon mal eine recht gute Sache war.   Wobei ich euch jetzt, solltet ihr mal in der gleichen Lage sein wie ich, einen guten Tipp geben möchte: Die Duschen laufen nicht ewig. Und wenn die aus sind, bevor ihr fertig seid, seid ihr am Arsch, denn die Automaten zum Einwerfen einer weiteren Duschmünze sind draußen an der verfickten Kabine. Solltet ihr also nicht über einen unendlichen Vorrat an entbehrlichen Kleidungsstücken wie beispielsweise Socken verfügen, die ihr nach getaner Arbeit vorsichtshalber entsorgen könnt, damit man euch nicht etwa dabei erwischt, wie ihr den Mist auswascht, dann … äh … macht einfach ein bisschen schneller, ja? Gut. Wollte es nur mal erwähnt haben.   Auf den großen Touren war es nicht weiter schwer, einen gewissen Abstand zu wahren. Ich musste mich einfach nur an den Bummelletzten der Gruppe halten und schon hatte ich quasi einen völlig theo-freien Tag vor mir. In dem Freizeitpark versteckte ich mich einfach grundsätzlich an den nerdigsten und am wenigsten Spaß versprechenden Ecken und als wir dann am nächsten Tag den Campingplatz wechselten, blieb ich wiederum einfach am hintersten Ende der Gruppe und überredete Timo sogar, das Zelt ein Stück weit weg von den anderen aufzustellen, auch wenn Herr Wilkens uns deswegen anmeckerte. Ich nahm meine Mahlzeiten nur noch kalt und bevorzugt im Zelt ein, hielt mich von Gruppenaktivitäten, solange nicht ausdrücklich angeordnet, größtenteils fern und verabschiedete mich von dort, sobald es nur irgendwie ging. Auch beim großen Pizzaessen, zu dem unsere Lehrer uns am Freitag ausführten, setzte ich mich einfach an das andere Ende des Tisches und bewegte mich den ganzen Abend nicht von dort weg. Die einzigen Momente, die wirklich unerträglich waren, waren die, in denen Theo versuchte, mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich meine, ich war nicht wirklich unhöflich, aber ich machte es ziemlich deutlich, dass ich nicht an einem Gespräch interessiert war. Nach drei Tagen hörte er auf zu fragen und ich atmete innerlich auf. Zumal das Ganze noch den angenehmen Nebeneffekt hatte, dass ich auch Jo und Oliver immer weniger zu Gesicht bekam. Es hätte also wirklich alles super und stressfrei laufen können, wenn Corinna mir nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Ich würde sie heute gerne noch ein bisschen erwürgen dafür.     Es begann mit einem spitzen Schrei, der auf dem ganzen Campingplatz die Scheiben zum Klirren brachte. Dieser neue unterschied sich von dem alten übrigens nur insofern, als dass dieser hier am südlichen Ende der Halbinsel lag, über noch ältere Duschen ohne Kabinen – sehr hinderlich – und eine noch primitivere Küche verfügte, dafür aber einen Tennisplatz und eine ausgewiesene Feuerstelle zu bieten hatte, was Lagerfeuer an dem ohnehin nur sehr schmalen Strandstreifen kategorisch ausschloss. Und eben dieser Campingplatz wurde nun von den Todesschreien einer wildgewordenen Banshee in Angst und Schrecken versetzt. Oder vielmehr einem ganzen Haufen davon. Die meisten von ihnen heulten den Namen "Corinna".   „Wie konnte denn das passieren?“, wollte Charlotte wissen und war offenbar vollkommen fassungslos.   „Ich weiß ja auch nicht“, murmelte Corinna ziemlich kleinlaut. Man musste dazu wissen, dass Charlotte ein kleines bisschen wie eine weibliche Ausgabe von Anton war. Nur größer und ohne Brille, dafür aber mit immer korrekt frisiertem Pferdeschwanz. Man wusste quasi jetzt schon, dass sie mal Anwältin werden würde oder Bibliothekarin vom Schlage „Pscht!“. Vielleicht würde sie sich für den entsprechenden Blick ja sogar noch eine Brille zulegen.   Vanessa, die, seitdem wir auf Klassenfahrt waren, ziemlich aufgetaut war, versuchte die Wogen zu glätten.   „Am besten räumen wir erst mal alles raus, dann kann das auslüften.“ „Bis in drei Stunden?“ „Ähm, na ja …“   An dieser Stelle verließ dann auch Vanessa ihr Optimismus, was anhand des Ausmaßes der Katastrophe vielleicht nicht ganz unverständlich war. Immerhin hatte Corinna es geschafft, ihre gesamte Flasche Nagellackentferner im Zelt zu verteilen, was die drei Mädchen gerade gemerkt hatten, nachdem wir von der Inselumrundung zurückgekehrt waren. Somit stanken jetzt ihre Schlafsäcke und das Zelt zum Himmel und es sah nicht so aus, als wenn sie das bis zum Zapfenstreich noch in den Griff bekommen würden.   „Was ist denn hier los?“, wollte nun auch Herr Wilkens wissen. Als er gehört hatte, worum es ging, hatte ich echt ein bisschen Angst vor ihm. Mit dem Gesicht hätte man ungelogen Eier abschrecken können.   „Was hast du dir denn dabei bloß gedacht?“, fuhr er Corinna an. Die sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, weswegen Frau Kuntze sie ein wenig beiseite nahm und ihr beruhigend über den Rücken strich, bevor sie mit altbewährtem Pragmatismus an die Sache ranging.   „Da drinnen können die drei heute Nacht nicht schlafen“, stellte sie fest und legte die Dackelstirn in noch mehr Falten. „Wir müssen umdisponieren.“   Ihr Blick wanderte durch die Runde und blieb an Timo, Elias und mir hängen. Die Falten wurden tiefer.   „Ihr drei habt doch ein großes Zelt.“ „Ja?“ „Dann bekommt ihr jetzt Gäste.“ „Die Mädchen sollen bei uns schlafen?“   Ich weiß nicht, wer von beiden entsetzter guckte, aber Elias und Herr Wilkens machten einander ziemlich große Konkurrenz.   „Das geht nicht“, legte unser Lehrer sofort kategorisch fest. „Mädchen und Jungs in einem Zelt? Da steigen uns die Eltern aufs Dach. Wenn, dann müssen wir schon drei weitere Mädels dort mit einquartieren.“ „Oder eben drei Jungs …“   Frau Kuntzes Blick machte sich wieder auf den Weg und blieb dieses Mal an denjenigen haften, die davon ungefähr so begeistert waren wie ich.   „Was? Wir sollen bei denen mit ins Zelt? Kommt nicht infrage!“   Oliver reckte trotzig das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. Jo tat es ihm nach und einzig Theo schien nicht so recht zu wissen, wie er das jetzt finden sollte.   „Dann müssen eben insgesamt sechs Mädels in das Zelt und Timo und die anderen da raus.“ „Was? Aber das ist doch voll umständlich. Wie wäre es, wenn wir …“   Ich kürze das an dieser Stelle mal ab, weil es wirklich eine geschlagene halbe Stunde hin und her ging. Am Ende stand dann der Verlierer des Abends fest. Er hieß Benedikt Dorn und durfte mindestens eine Nacht mit seiner persönlichen Nemesis zusammen in einem Zelt verbringen. Ach, was war das Leben doch heute wieder spaßig.   „Wenn du mir zu nahe kommst, töte ich dich“, knurrte Oliver mich an und hob drohend die Faust.   „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, gab ich möglichst lässig zurück. Dass er seinen Schlafsack ganz ans andere Ende des Zeltes geschafft hatte und zwischen uns sage und schreibe vier weitere Personen liegen würden, reichte ihm offenbar nicht.   „Davon dass du Scheißschwuchtel meinen Arsch in Ruhe lassen sollst, sonst …“   Er kam nicht weiter, denn Theo betrat das Zelt zusammen mit Jo. Die beiden hatten genau wie er lediglich ihre Schlafsäcke mitgebracht, die Taschen sollten in die Zelte der Lehrer gebracht werden.   „Was ist hier los?“, wollte Theo wissen, obwohl ein Blinder mit nem Krückstock gesehen hätte, was hier abging.   „Oliver provoziert schon wieder Streit“, antwortete an meiner statt Elias. Er schien von dieser ganzen Sache auch nicht gerade begeistert zu sein. Nur Timo machte das Ganze offenbar wenig aus. Soweit ich wusste, hatte er zwei ältere und einen jüngeren Bruder. Da war man wohl Kummer gewohnt.   „Ich will bloß, dass mein Arsch Jungfrau bleibt.“ „So wie der Rest von dir?“   Ja, okay, der Spruch war vielleicht nicht besonders klug, aber so langsam reichte es mir. Olivers Antwort hätte vermutlich in einer Faust in meinem Gesicht bestanden, wenn Theo ihm nicht in den Weg getreten wäre.   „Lass Benedikt in Frieden.“ „Warum? Damit ihr in Ruhe Teeparty spielen könnt? Würde mich nicht wundern, wenn du auch so einer bist. Wer von euch ist denn das Kännchen und wer die Tasse?“ „Oliver!“   Dieses Mal war es Jo, der sich einmischte. Wütend funkelte er Oliver an.   „Ich hab dir gesagt, dass du T aus der Scheiße rauslassen sollst.“ „Warum? Du hast doch gemeint, dass er sowieso nur noch mit der Schwuchtel rumhängt. Warum weinst du ihm also noch nach?“ „Weil er verdammt nochmal mein Freund ist.“ „Schöner Freund. Warum hat er dich denn dann in letzter Zeit so hängen lassen? Erst als die kleine Tucke hier ihm die kalte Schulter gezeigt hat, ist er wieder angekrochen gekommen. Ist wohl Stress im Paradies und er darf nicht mehr ran.“ „HÖR AUF!“   Theos Stimme war wirklich beeindruckend, nicht nur wenn er sang, sondern auch wenn er brüllte. Allerdings schien er jetzt wirklich kurz davor, sich nicht nur verbal sondern auch physisch auf Oliver zu stürzen.   „Ich sag’s dir jetzt zum allerletzten Mal. Benedikt ist nicht schwul. Er hat eine Freundin.“ „Ach ja? Will ich sehen.“   Plötzlich befand ich mich wieder im Fokus des allgemeinen Interesses, was so an und für sich ja nicht schlecht war, weil es die Chance erhöhte, dass Theo und Oliver sich nicht gleich an die Gurgel gingen, aber andererseits musste ich jetzt wohl irgendetwas antworten. Etwas, dass mir und vielleicht somit auch Theo den Hals rettete. Ich war mir nämlich nicht ganz sicher, wie er aus einer körperlichen Auseinandersetzung mit Oliver herausgegangen wäre. Also versuchte ich möglichst unbeeindruckt zu wirken.   „Das geht dich einen Scheißdreck an“, antwortete ich. „Weil’s ne verdammte Lüge ist.“ „Ist es nicht.“ „Ach ja? Wie heißt sie denn? Wie sieht sie aus, wo wohnt sie und in welche Schule geht sie? Na? Und? Wie ich es mir dachte. Keine Antwort. Weil’s alles nur fake ist.“   Ich schloss die Augen und zählte innerlich bis zehn. Ich hätte ihm jetzt natürlich eine reinhauen können, aber das wäre im Grunde genommen nur ein Schuldeingeständnis gewesen. Wobei es da ja keine Schuld in dem Sinne gab. Ich konnte schließlich nichts dafür, dass ich nichts für Mädchen übrig hatte. Ich hatte mir das nicht ausgesucht. Aber das, was ich zu tun im Begriff war, das tat ich leider absolut freiwillig. Ich schickte Julius im Geiste eine Entschuldigung und öffnete den Mund.   „Ihr Name ist Julia, sie ist blond, hat blaugrüne Augen und macht dieses Jahr ihr Fachabi nach. Deswegen kennt sie auch keiner, weil sie nämlich am BBZ ist. Sie wohnt in der Nähe des Rathauses, steht auf kitschige Bollywoodfilme und kann ganz wunderbar kochen. Reicht das jetzt oder brauchst du auch noch Maße und Gewicht?“ „Ein Foto wäre nicht schlecht.“   Ich schob meine Mundwinkel nach oben. „Tut mir leid, aber da hab ich keins, das ich dir zeigen würde. Such dir deine eigenen Wichsvorlagen.“   Oliver sah mich an und wirkte zum ersten Mal unsicher. Ich hätte fast gelacht. Sollte es wirklich so einfach sein? Ich erfand einfach eine Freundin und hatte damit meine Ruhe? Ein bisschen auf die Brust trommeln, ein paar mal an den Sack greifen und schon glaubte der Spinner, wir würden am gleichen Ufer fischen? Wobei das ja immer noch sein konnte, aber darauf würde ich ihn ganz bestimmt nicht ansprechen.   „Hast du jetzt genug gehört?“, zischte jetzt auch Theo. Seine Wangen waren immer noch gerötet und hinter der sonst so coolen Fassade tobte unübersehbar ein Sturm.   Oliver knurrte unwillig.   „Ja, hab ich. Ich frag mich zwar, warum irgendein Mädel einen Lappen wie den ranlassen sollte, aber vielleicht ist sie ja hässlich. Die wollen ja auch schließlich mal was zwischen die Beine haben.“   Theo fuhr auf, ballte die Hand zur Faust und zischte: „Hau bloß ab, bevor ich mich vergesse.“   Oliver blieb noch einen Augenblick stehen – wahrscheinlich rein aus Prinzip – bevor er sich umdrehte und nach draußen stapfte. Zurück blieb ein vor Wut bebender Theo und ein ziemlich geknickt dreinblickender Jo. Der sich gleich darauf die nächste Schelle abholen durfte, als Theo zu ihm herumfuhr.   „Und du? Was hast du eigentlich für ein Problem? Du machst mit diesem Idioten gemeinsame Sache, weil du was? Eifersüchtig bist? Weil ich Zeit mit Benedikt verbringe? Meine Güte, ich finde ihn nett. Nichts weiter. Man kann sich gut mit ihm unterhalten, das ist alles. Und wenn du nicht so verblendet an dem festhalten würdest, was Oliver dir eingetrichtert hat, würdest du das vielleicht auch endlich erkennen.“ „A-aber ich hab echt gedacht, dass er …“ „Und wenn? Was wäre denn so schlimm daran? Meine Güte. Gibt ne Menge Kerle, die auf Kerle stehen. Sollen sie doch. Tut doch keinem weh.“ „Aber das ist eklig, wenn die …“ „Bei Frauen findest du das doch auch nicht eklig.“ „Ja aber …“   Jo wollte sich anscheinend gerne noch weiter um Kopf und Kragen reden, aber Theo schüttelte nur den Kopf. Er wirkte mit einem Mal müde.   „Lass gut sein. Der Tag war lang und die Tour anstrengend. Außerdem hab ich Hunger. Lass uns was essen gehen.“   Jo sah Theo an und dann nickte er. Gemeinsam verließen die beiden das Zelt.   Nachdem sie gegangen waren, ließ Timo geräuschvoll die Luft entweichen. „Also wenn das so weitergeht, schmeiß ich die drei hochkant wieder raus. Das ist immer noch mein Zelt.“   Ich sah ihn an und machte ein zerknirschtes Gesicht. „Tut mir leid, dass jetzt hier meinetwegen so ein Stress ist.“   Er winkte ab.   „Ist doch nicht deine Schuld, wenn Oliver so ein Arschloch ist. Aber wenn er sich weiter so benimmt, kann er trotzdem am Strand schlafen.“   Ich seufzte innerlich und dachte so bei mir, dass das vielleicht gar nicht mal so eine schlechte Idee war. Vielleicht sollte ich in dieser Nacht einfach am Strand schlafen, dann wäre ich alle Probleme mit einem Schlag los. Nahm ich zu diesem Zeitpunkt wenigstens noch an. Kapitel 44: Von romantischen Verwicklungen und nächtlichen Ausflügen -------------------------------------------------------------------- Die Stunde des Zubettgehens kam an diesem Abend sehr viel schneller, als mir lieb war. Zuerst lief alles noch ganz normal; es wurde heute sogar noch ein wenig später zur abendlichen Rudelversammlung geblasen, weil unsere Lehrer noch mit dem Organisieren von Ersatzdecken und ähnlichem für die Mädchen beschäftigt waren, doch gegen halb acht fanden sich wieder einmal alle am Lagerfeuer wieder. Dieses hier war auf einer Wiese errichtet worden und von den Ausmaßen her wesentlich größer als unser erstes. Es gab sogar einen richtigen Feuerholzstapel, an dem man sich bedienen konnte, wenn man dafür sorgte, dass der Nachschub gesichert war. Um die Feuerstelle herum waren große Baumstämme ausgelegt worden, auf denen wir uns jetzt den Hintern platt saßen und uns gerade an „Stille Post“ versuchten. Fragt mich nicht, wie unsere Lehrer uns dazu bekommen hatten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass da Erpressung im Spiel gewesen war.   „Es röhren die Hirsche im Silberhafen?“, meinte Sandra gerade und sah rüber zu Ben, der in dieser Runde der Ursprung des geflüsterten Satzes war. Er lachte sich halb scheckig. „Ich hab gesagt 'Ich höre gerne John Sinclair zum Einschlafen'. Solltest du auch mal versuchen.“ „Nee, das ist mir zu gruselig.“ „Ich würde dich auch beschützen.“   Die Augenbrauenwacklelei, die Ben daraufhin zum Besten gab, wurde von Sandra nur mit einem Schnauben beantwortet, das allerdings nicht ganz so genervt klang, wie es eigentlich sollte. Mia-Marie und ich sahen uns an und grinsten.   „Die beiden werden doch wohl nicht …“ „Och, warum nicht? Dann hätten wir wenigstens mal unsere Ruhe vor ihren anstrengenden Einfällen.“   Tatsächlich hatten die beiden Klassensprecher für morgen, dem letzten Tag bevor es zurück nach Hause gehen sollte, eine Art Olympiade ausgerufen. Mit Hindernisparcours und Staffellauf und solchen Sachen. Herr Wilkens war natürlich sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte gleich zugestimmt. Der Aufbau sollte am Vormittag stattfinden, aber mich beschäftigte eigentlich erst einmal die vor uns liegende Nacht.   In meinem Kopf spielte ich unaufhörlich zwei Varianten durch. Entweder würde ich superfrüh schlafen gehen und dann so tun, als wäre ich schon längst im Traumland verschwunden, wenn die anderen kamen, oder ich würde so lange am Feuer sitzen bleiben, dass Oliver bereits schlief, wenn ich das Zelt betrat. Leider gehörte er meist zu denen, die als Letzte die Runde verließen, und es würde somit wohl wieder ein kurzer Abend für mich werden. An und für sich kein Problem, wenn nicht gestern Abend mein Handyakku endgültig den Geist aufgegeben hätte und ich somit im Zelt nicht viel mehr würde machen können als zu schlafen.   Nachdem die Spielrunde beendet war, las Frau Kuntze wieder vor. Die Geschichte, die sie heute ausgesucht hatte, war seltsam verstörend und sorgte danach noch für Gesprächsstoff. Zumindest bei Ben und Sandra. „Hä? Ich versteh das nicht. Wieso endet das hier?“ „Hast du es nicht begriffen? Sie hat die ausgestopft.“ „Auch die Männer?“ „Ja, und den letzten hat sie gerade mit dem Tee vergiftet. Der Bittermandelgeschmack stammt vom Cyanid.“ „Und warum?“ „Weil sie ihn hübsch findet? Meine Güte, ich dachte du bist der mit den Horrorgeschichten. Da ergibt doch auch nicht immer alles einen Sinn.“   Während Ben wegen Sandras Spott schmollend das Gesicht verzog, wanderte mein Blick wie von selbst hinüber zu Theo. Der saß zusammen mit Jo auf der anderen Seite und zwischen ihnen schien so weit wieder alles okay zu sein. Zumindest redeten sie recht ungezwungen miteinander. Vielleicht hatte Oliver aus diesem Grund beschlossen, heute ein wenig Abstand zu halten. Er saß ein gutes Stück weit weg von den beiden und starrte finster in die Flammen des großen Scheiterhaufens, der in der Mitte eine wahnsinnige Hitze verbreitete.   Als es dunkler wurde, drängten die Mädchen Theo wieder dazu, etwas zu spielen. Es wurde gesungen, wobei die meisten inzwischen bei den gängigen Liedern so textsicher waren, dass es sich beinahe gut anhörte. In diesen Momenten hatte ich mir schon ein paar Mal gewünscht, Anton hätte dabei sein können. Besonders heute wäre das cool gewesen. Wir hätten uns im Zelt noch unterhalten können oder so. Leider war er kein großer Schreiber und unsere Chats somit immer ziemlich kurz ausgefallen. Aber heute Abend würde ich nicht mal das haben, genauso wenig wie meine allabendliche Konversation mit Julius.   „Ich glaube, ich geh ins Bett“, verkündete Elias plötzlich und stand auf. „Wenn die uns morgen tatsächlich rumscheuchen wollen, will ich lieber ausgeschlafen sein.“ „Gute Idee. Ich komm mit.“   Timo erhob sich ebenfalls und ich nutzte die Gelegenheit, um mich anzuschließen. So war es wenigstens nicht ganz so langweilig und ich lauschte den beiden, wie sie sich über dies und das unterhielten, während ich darauf wartete, dass ich endlich einschlief.   Nach und nach verstummte das Gespräch, doch der Schlaf ließ weiterhin auf sich warten. Kurz darauf wurde die Zeltleinwand erneut zurückgeschlagen. Dem Knurren nach zu urteilen war es Oliver, der sich wie ein Elefant im Porzellanladen verhielt. Nach einem schlaftrunkenem Anranzer von Timo kroch jedoch auch er endlich in seinen Schlafsack und hielt dort die Backen. Eigentlich hätte ich jetzt also beruhigt einschlafen können, aber es fehlten immer noch zwei Zeltgäste. Ich lag daher im Dunkeln und wartete. Und wartete. Und wartete. Endlich öffnete sich das Zelt und jemand schlüpfte durch die entstandene Öffnung. Ich versuchte rauszufinden, ob das nun Jo oder Theo war, aber natürlich ließ sich das nur anhand der Geräusche nicht feststellen. Sicher war ich mir nur bei einer Sache. Es war lediglich eine Person ins Zelt gekommen und somit fehlte noch jemand zu unserer illustren Sechserrunde.   Nachdem der Letzgekommene sich hingelegt hatte, wartete ich weiter, aber vergeblich. Wer auch immer noch fehlte, ließ sich Zeit. Viel Zeit. Vermutlich hätte ich einfach einschlafen sollen, aber es ging nicht. Je mehr ich es versuchte, desto wacher wurde ich. Elias, der neben mir lag, ratzte schon seit geraumer Zeit selig vor sich hin und auch die anderen schienen bereits zu schlafen. Nur ich und der fehlende sechste Mann waren noch wach.   Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich setzte mich auf und versuchte im Dunkeln zu erkennen, wer alles da war. Da lag Elias, daneben Timo und dann auf der anderen Seite der Zeltstange Oliver ganz am Rand und direkt neben ihm offenbar Jo. Der Platz, an dem Theos Isomatte nebst Schlafsack lag, war leer.   Er sitzt vielleicht noch am Feuer und spielt, dachte ich mir, allerdings war von draußen nichts mehr zu hören und es musste mittlerweile schon ziemlich spät sein. Zu spät, als das Herr Wilkens erlaubt hätte, dass noch jemand draußen unterwegs war. Aber wo war Theo?   Es geht dich nichts an, versuchte ich mir zu sagen und ließ mich wieder in meinen Schlafsack sinken. Er wird schon kommen. Schlaf jetzt!   Aber natürlich funktionierte diese Aufforderung an mich selbst ungefähr genauso gut wie die Sache mit dem „denk jetzt nicht an ein rosa Nilpferd“, an das man sonst nie denken musste, außer in dem Moment, in dem das verboten war. Je mehr ich versuchte, den leeren Schlafplatz zu ignorieren, desto mehr trieben die umherschwirrenden Fragen in meinem Kopf mich in den Wahnsinn. Schließlich gab ich auf. Ich öffnete möglichst geräuschlos den Reißverschluss, tastete im Dunklen nach meiner Hose und meinen Schuhen, zog beides an, griff mir noch meine Jacke und schlängelte mich an den Schlafenden vorbei aus dem Zelt.   Draußen war es, wie erwartet, kalt und dunkel. Allerdings nicht so dunkel, dass man nicht die vielen Halbkuppeln der Zelte erkennen konnte, die wie schlafende Tiere auf der Wiese verteilt lagen, als hätte man sie mit den Zeltschnüren für die Nacht dort festgebunden. Nirgends regte sich etwas und man hörte lediglich den Wind in den nahen Bäume rauschen. Nicht mal einen dämlichen Nachtvogel gab es hier. Nur Wind und Stille. Ich zog meine Jacke über und überlegte.   Sollte ich das wirklich machen? Sollte ich nach Theo suchen? Ich sah noch einmal zurück zum Zelt und wusste in dem Moment, dass ich ohnehin nicht würde schlafen können. Außerdem war da so ein kleines, zartes Stimmchen, das mir einzuflüstern versuchte, dass es meine Schuld war, dass er nicht da war. Ich hatte diesen ganzen Streit mit Oliver zwar nicht angefangen, aber ich hatte mitgemacht. Und ich hatte tatenlos zugesehen, wie Theo mich verteidigte. Es war feige gewesen und ich hatte das Gefühl, ihm deswegen etwas schuldig zu sein.   Mit einem tiefen Atemzug stopfte ich meine Hände in die Taschen und ging los. Zuerst über die Zeltwiese, dann am Haupthaus und dem leicht maroden Gebäude mit den Duschen und Toiletten vorbei weiter zu der Wiese, wo die Feuerstelle war. Warum ich ausgerechnet dort anfing zu suchen, wusste ich nicht genau. Es war nur so ein Gefühl. Wahrscheinlich verpasste ich ihn so, weil er einfach nur auf dem Klo war, aber dort würde ich ihn bestimmt nicht suchen. Der dachte ja nachher sonst was von mir.   Der Platz, wo früher am Abend noch das große Feuer gebrannt hatte, lag im Schatten. Trotzdem konnte ich deutlich die Gestalt erkennen, die auf einem der Baumstämme saß. Ich wusste sofort, dass es Theo war. Er saß einfach nur da, den Blick auf die mittlerweile gelöschten Überreste des Lagerfeuers gerichtet, und bewegte sich nicht. Als er mich kommen hörte, hob er den Kopf.   Ich blieb stehen. Was sollte ich jetzt machen? Oder sagen? Wie sollte ich mein Auftauchen hier erklären? Und was, wenn ihm das gar nicht recht war? Schließlich gab ich mir einen Ruck und kam noch ein Stück näher. „Hey“, sagte ich und räusperte mich. „Ich … ich hab dich gesucht.“   Ich hätte natürlich alles sagen können. Dass ich Sterne für die Astronomie-AG katalogisierte oder Eulen beobachten wollte oder dass ich ein Werwolf war, der nachts kleine Kinder in ihren Betten verspeiste, aber nein, ich musste ja die Wahrheit sagen. Mir war wohl wirklich nicht mehr zu helfen. Er erwiderte nichts darauf und weil ich mir blöd vorkam, wie ich da so herumstand, stieg ich über den Baumstamm vor mir und ließ mich darauf nieder. Nun saßen wir etwa drei Meter voneinander entfernt auf getrennten Stämmen und schwiegen uns an.   Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus.   „Was machst du hier?“ „Nachdenken“, antwortete er doch tatsächlich. „Worüber?“ „Verschiedenes.“   Okay, das war jetzt ja mal ein ganz tolles Gespräch. Ob ich doch wieder gehen sollte? Ich startete noch einen Versuch. „Was sagt denn Herr Wilkens dazu?“   (Hey, unartigen Kindern droht man schließlich auch mit dem Weihnachtsmann.)   „Er denkt vermutlich, dass ich nur noch die Gitarre weggebracht habe und jetzt im Zelt liege.“   Wie zum Beweis hielt er einen kleinen Schlüsselbund hoch und klimperte damit. Einer der Schlüssel passte vermutlich zu dem Schuppen, indem Theo sein Instrument tagsüber aufbewahrte.   „Und warum hast du’s nicht gemacht?“ „Was?“ „Na, die Gitarre weggebracht.“   Er zuckte mit den Schultern und ich musste einsehen, dass wir offenbar schon wieder an einem toten Punkt waren. Man, das war doch bekloppt. Ich meine, natürlich war das meine Schuld. Ich hatte mich ja die letzten Tage rar gemacht, ihn regelmäßig stehenlassen, alle Gespräche abgeblockt. Aus gutem Grund wohlgemerkt. Und wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich dabei geblieben wäre, aber die Wahrheit war, dass es mir fehlte. Mit ihm Unsinn zu machen, zu lachen, zu quatschen. Aber vielleicht …   „Also wenn du sie eh noch hier hast, könntest du ja mal dein Versprechen einlösen“, sagte ich und deutete auf die Gitarre. „Erinnerst du dich. Du wolltest mir noch was vorspielen.“ „Ich dachte, du magst mein Spiel nicht.“ „Bist du irre? Du bist fantastisch.“ „Warum bist du dann immer so früh gegangen?“ „Ich … äh.“   Scheiße. Was sollte ich denn jetzt darauf sagen? Die Wahrheit war natürlich vollkommen ausgeschlossen. Aber anlügen wollte ich ihn eigentlich auch nicht. Zumal ich ein miserabler Lügner war und er bestimmt merken würde, dass ich schwindelte. Aber was sollte ich ihm als Grund liefern? Was?   „Hab ich was falsch gemacht?“   Seine Frage holte mich wieder aus der geistigen Versenkung.   „Was? Nein! Himmel nein, du … es hat nichts mit dir zu tun.“   Eher mit mir. Mit mir und meinem dummen Herz, das sogar jetzt schon wieder viel zu schnell schlug, aber ich würde das hinkriegen. Kein Problem. Überhaupt und gar kein Problem. „Wirklich nicht?“ „Nein, ich … ich war einfach nur müde. Du weißt doch. Elias’ Schnarcherei. Da muss man Schlaf vorholen, bevor der einen wieder die halbe Nacht lang wachhält. Obwohl es jetzt besser zu werden scheint.“ „Ah“, machte er und glaubte mir anscheinend kein Wort. „Dann ist ja gut.“   Wieder drohte sich Schweigen auszubreiten, also startete ich noch einen letzten Versuch. Wenn das nicht klappte, würde ich einfach wieder ins Zelt gehen und ihn hier hocken lassen. „Also was nun? Spielst du noch was für mich? Ich … ich würde wirklich gerne mal was eigenes von dir hören.“   Ich sah Theo an, wie er nachdachte. Klack, klack, klack machten die Rädchen in seinem Kopf. Schließlich schüttelte er ihn und brachte damit alles wieder durcheinander, bevor es die Chance hatte, einen Sinn zu ergeben. „Ich … es ist zu spät. Wenn ich jetzt hier spiele, kriegen wir Ärger.“ „Dann gehen wir eben woanders hin.“   Wieder schwieg Theo, bevor er plötzlich aufstand. „Na los. Ich weiß wo.“ „Und wo?“ „Wirst du ja sehen.“   Mit einem merkwürdigen Gefühl im Bauch erhob ich mich und folgte ihm. Wie zwei Füchse, die einen Hühnerstall ausnehmen wollten, schlichen wir durch die Nacht. Am Hauptgebäude vorbei und den Wohnwagen der Dauergäste, bis wir zu dem schmalen Pfad kamen, der zwischen grasbewachsenen Dünen zum Strand runter führte.   Das Meer rauschte dunkel und einsam gegen das Gestade, dessen feiner Kies unter unseren Füßen knirschte. Es roch nach Algen und Tang. An der Wasserlinie angekommen blieb Theo stehen und deutete mit dem Kopf auf den Steg, der an dieser Stelle ins Meer hinausführte. Das Gebilde aus grauverfärbten Bohlen ragte weit ins Wasser hinein und wurde von dunklen, nahezu schwarz wirkenden Wellen umspült. Jedes Mal, wenn sie an den dicken Stützpfeilern leckten, gab es ein kleines Schwappgeräusch.   „Da hinten hört uns sicher keiner“, erklärte Theo und sah mich auffordernd an. Der Seewind fuhr ihm durch die Haare und gab ihm ein leicht verwegenes Aussehen. „Du bist vollkommen verrückt“, ließ ich ihn wissen, bevor ich ein wenig mutiger, als ich mich eigentlich fühlte, die kleine Treppe zu dem geländerlosen Gebilde emporstieg. Ohne mich umzudrehen stiefelte ich ganz bis zum Ende und ließ mich dort in einen Schneidersitz sinken. Theo setzte sich neben mich.   Es war kalt hier und ich zog ein wenig die Schultern hoch. „Frierst du?“ „Schon okay. Fang ruhig an.“   Für einen Augenblick schien es, als wollte er doch noch einen Rückzieher machen, aber dann griff er nach der Gitarre, legte die Finger auf die Seiten und begann zu spielen. Ich erkannte sofort den Unterschied zu vorher. Sonst hatte er meist mehrere Seiten gleichzeitig angeschlagen, doch jetzt zupfte er die Töne einzeln, sodass sie eine Melodie ergaben. Eine Weile lang spielte er einfach nur und ich lauschte ihm und den Wellen, als er mit einem Mal zu singen begann.   Ich hätt so gerne einen Song geschrieben Der sich reimt und all das Doch die Worte drehen sich in meinem Mund Und sie lachen mich aus   Alles was ich zu Papier bringe Hört sich wirr und wild an Und ich beginn an mir zu zweifeln Was mach ich eigentlich hier   Du und ich Das könnte so gut sein Das könnte so groß sein Trotzdem frag ich mich Mach ich mich lächerlich Wenn ich manchmal von dir träume Und wenn ich denke an dich Weiß ich immer ganz genau Was ich eigentlich will   Aber wenn ich dann erwache Kann ich nichts mehr davon aussprechen Und zurück bleibt nur das Schweigen Das mein Lachen langsam frisst   Du und ich Das könnte so gut sein Das könnte so groß sein Trotzdem frag ich mich Mach ich mich lächerlich   Mein Herz versucht mich bei der Hand zu nehmen Es sagt: Hab nur Mut Aber mein Kopf zählt mir tausend Dinge auf Die mich wieder zweifeln lassen   Ich wage den ersten Schritt nicht Und auch der zweite bleibt aus Daher wirst du niemals wissen Wie es in mir aussieht   Du und ich Das könnte so gut sein Das könnte so groß sein Trotzdem frag ich mich Mach ich mich lächerlich   Du und ich Das könnte so gut sein Das könnte so groß sein Und immer wieder frag ich mich Mach ich mich lächerlich   Als er geendet hatte, sagte ich erstmal gar nichts. Das war … das war einfach der Wahnsinn gewesen. Ich wusste genau, wie er sich fühlte. Was er mit diesem Lied ausdrücken wollte. Es war, als hätte er es für mich geschrieben.   Unsicher sah Theo mich an. „Und?“, fragte er leise. „Wie fandest du’s?“ „Es war … toll. Absolut Fantastisch.“ „Ja?“ „Ja klar.“   Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, bevor er den Blick abwandte. „Freut mich, dass es dir gefallen hat. Ich hab es für jemand sehr besonderen geschrieben.“   Für einen kurzen Augenblick stolperte mein Herz. Für jemand … besonderen? Doch dann erinnerte ich mich. Natürlich. Er musste Mia meinen. Das Lied … es passte perfekt. Ein perfektes Lied für ein perfektes Mädchen. Ich atmete tief durch. „Wirst du es ihr vorspielen?“ „Wem?“ „Na, Mia.“   Da war ein winziges Zögern, bevor er den Kopf schüttelte.   „Ich glaub nicht. Ich … es würde ihr bestimmt nicht gefallen.“ „Quatsch. Natürlich sie wird es lieben. Es ist wundervoll.“ „Wenn du das sagst.“   Wieder breitete sich Schweigen zwischen uns aus. Ein Schweigen, das gefüllt war mit verklungenen Gitarrenklängen, dem Rauschen des Meeres und dem Geräusch unserer schlagenden Herzen. Mit unausgesprochenen Worten und Träumen, die zu groß waren für diese Welt. Zu groß, um sie jemals Realität werden zu lassen.   Ganz unvermittelt sagte Theo: „Ich hab’s Jo erzählt.“   Ich drehte den Kopf zu ihm. Er sah aufs Wasser hinaus, den Blick an den fernen Horizont gerichtet.   „Was hast du ihm erzählt?“ „Das mit Mia.“   Ich riss die Augenbrauen nach oben. „Was? Aber warum das denn? Ich dachte …“   Theo zuckte mit den Schultern.   „Er wollte wissen, warum ich in letzter Zeit so komisch war. Hat gemeint, ich hätte mich zurückgezogen und nichts mehr erzählt. Er hat gedacht, dass das an dir liegt. Ich … ich wollte nicht, dass er das denkt.“   Mhm, okay, das war natürlich ein Argument. Hätte ich auch nicht gewollt, wenn ich ehrlich war.   „Wie hat er reagiert?“ „Er hat gesagt, dass ich ein Idiot bin.“ „Echt? Warum?“ „Weil er neuerdings auf Nele steht.“ Nach einem kurzen Schreckmoment konnte ich nicht anders, ich musste lachen. Theo schwieg einen Augenblick lang, bevor auch er anfing zu glucksen. Allerdings nicht lange. Dann atmete er plötzlich tief ein. Es klang beinahe wie ein Seufzen.   „Und jetzt?“ „Jetzt werde ich Nele wohl zu der Party einladen müssen.“ „Dann vergiss Sandra nicht. Ohne ihre beste Freundin kommt sie bestimmt nicht.“ „Aber wenn ich die einlade, hat Jo keine Chance.“ „Auch wieder wahr. Es sei denn, du lädst auch Ben ein, dann ist Sandra bestimmt beschäftigt.“ „Das wäre natürlich eine Idee.“   Wieder verstummten wir. Über uns kam der Mond hervorgekrochen und sandte sein silbriges Licht übers Wasser. Der Wind wurde weniger und die Wolken kamen über uns zum Stillstand. Selbst das Meer rauschte irgendwie ein wenig leiser. Es war Theo, der wiederum das Wort ergriff. „Glaubst du, das funktioniert?“ „Was?“ „Na das mit der Party. Wenn ich Mia einlade, glaubst du, sie kommt?“ „Klar, warum denn nicht?“ „Weiß nicht. Vielleicht, weil sie keine Lust hat. Oder Partys doof findet.“ „Quatsch. Kein Mensch findet Partys doof.“ „Also da gibt’s schon welche.“ „Aber nicht auf diesem Planeten.“ Ich lächelte leicht. „Und wenn, dann würden die zu deiner Party bestimmt trotzdem kommen wollen. Immerhin bist du Theodor von Hohenstein. Eine Einladung von dir ist quasi so, als wäre man von der Queen persönlich zum Tee gebeten worden.“   Er schwieg daraufhin, aber es war kein gutes Schweigen. Sein Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Unruhig rutschte ich auf dem Steg hin und her.   „Hey, was ist los? Hab ich was Falsches gesagt?“   Theo atmete tief durch.   „Nein. Natürlich nicht. Du hast nur ausgesprochen, was alle denken.“ „Was meinst du?“ „Dass ich ja so perfekt bin. Dass mir alles gelingt. Dass ich was Tolles und Besonderes bin und ich … ich bin das nicht. Ich kann das nicht.“ „Was kannst du nicht?“ „Ich … das mit Mia meine ich. Ich werd’s nie hinkriegen, sie anzusprechen.“   Er legte die Gitarre, die er die ganze Zeit noch in der Hand gehalten hatte, beiseite, schlang die Arme um die Knie und legte sein Kinn darauf. Sein Blick war immer noch in die Ferne gerichtet. Ich zögerte kurz, bevor ich ein Stückchen näher rückte.   „Ich kann das einfach nicht“, wiederholte er. „Hey.“   Behutsam legte ich ihm den Arm um die Schultern. Er war warm unter meiner Hand.   „Klar kriegst du das hin. Ich mein, das ist Mia. Sie wird dir schon nicht den Kopf abreißen.“ „Das nicht, aber … wenn ich vor Ihr stehe, klopft mein Herz wie verrückt und ich krieg keinen Ton mehr raus. Meine Knie zittern und ich hab das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Und ich hab Angst … also wenn … wenn ich sie … dann will sie doch bestimmt …“   Der Rest des Gestotters in seiner Kehle erstarb und das, was dann noch herauskam, klang irgendwie wie „müssen“. Ich runzelte die Stirn und überlegte. Was hörte sich denn an wie …? Oh.   „Du hast Angst, sie zu küssen?“   Er nickte und blickte zu Boden. „Du findest das bestimmt voll dumm.“ „Nein, gar nicht.“ „Nicht?“ „Na ja, wenn ich da so an meinen ersten Kuss denke. Der war auch nicht gerade der Bringer. Bin irgendwie abgerutscht und …“ „Benedikt! Das ist nicht hilfreich.“   Ich lachte leicht. Und natürlich hätte ich jetzt tausend Sachen sagen können. Sachen wie „Entspann dich einfach“ oder „Lass es auf dich zukommen“ oder „Ihr kriegt das zusammen schon irgendwie hin“. Aber als ich meinen Mund öffnete kam etwas ganz anderes heraus. „Soll ich es dir zeigen?“   Und natürlich hätte er darauf so was antworten sollen wie „Du spinnst ja“ oder „Sehr witzig“ oder „Lass den Scheiß“. Stattdessen sah er mich einen Augenblick lang an und dann sagte er einfach:   „Ja.“   Im ersten Moment war ich wie paralysiert. Hatte er gerade tatsächlich „Ja“ gesagt? Es musste wohl so sein, denn sein Blick wanderte wie von selbst hinab zu meinem Mund, bevor er mir wieder in die Augen sah. Und er war so nah. So nah wie noch nie zuvor.   Langsam, ganz langsam beugte ich mich zu ihm hinüber. Mein Herz klopfte so laut, dass ich glaubte, es müsse gleich zerspringen. Das hier musste ein völlig verrückter Traum sein. Das konnte nicht passieren. Ich stand kurz davor, ihn zu küssen. Wahrscheinlich würde er gleich zurückschrecken und verkünden, dass er es sich anders überlegt hatte, dass alles nur ein Scherz gewesen war, aber er tat es nicht. Er blieb und hielt ebenso den Atem an wie ich. Also nahm ich all meinen Mut zusammen, schloss die Augen und überbrückte auch noch das letzte Stück, um unsere Lippen endlich zusammenzubringen. Kapitel 45: Von wunderbaren Gefühlen und klaren Ansagen ------------------------------------------------------- Theos Mund war fest und warm. Ich merkte, wie er die ungewohnte Berührung erst einen Augenblick lang auskostete, bevor er sie erwiderte. Ganz leicht und vorsichtig, so als könnte tatsächlich irgendetwas Schlimmes passieren. Ich passte mich ihm an. Strich nur ganz sacht mit meinen Lippen über seine und ließ ihn das Tempo bestimmen. Eigentlich konnte man es kaum einen Kuss nennen und doch war es das Beste, was ich je gefühlt hatte. „Siehst du“, sagte ich leise, nachdem ich die Berührung wieder beendet hatte. „Es ist ganz einfach.“   Er leckte sich über die Lippen. Sah mich an.   „Ich … ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich es verstanden habe. Könntest du es nochmal machen?“   Ich lächelte   „Klar.“   Wieder lehnte ich mich vor und dieses Mal küsste ich ihn richtig. Es war, als würden über mir die Sterne explodieren. Wie oft hatte ich mir diesen Moment vorgestellt? Wie oft davon geträumt, ihn tatsächlich einmal zu küssen? Ihn in meinen Armen zu halten und einfach nur mit ihm zusammen sein zu können. Und plötzlich schien es, als wäre jeder Zentimeter, der zwischen uns lag, zu viel.   Er entknotete seine Beine und ich meine und ich weiß nicht, wie wir es hinkriegten, dabei den Kuss kaum zu unterbrechen, aber im nächsten Moment saß er halb auf meinem Schoß und meine Hände fuhren seinen Rücken hinab während unsere Münder sich wieder und wieder zu einem Kuss nach dem nächsten fanden.   In einem seltsam abgetrennten Winkel meines Hirns stellte ich fest, dass er sich wirklich keine Sorgen hätte zu machen brauchen, denn er küsste absolut wundervoll, aber der Rest von mir war viel zu beschäftigt damit, jede noch so kleine Kleinigkeit in sich aufzusaugen. Das Gefühl seines Gewichts auf meinen Beinen, die Berührung unserer Lippen und das leise Keuchen, als ich irgendwann ganz sanft mit meiner Zunge um Einlass bat. Seine Hände, von denen mittlerweile eine in meinem Nacken lag, während die andere sich in meine Jacke krallte. Meine Hände, die noch etwas kecker und vorwitziger waren und an einer Stelle unter sein Sweatshirt schlüpften, um dort die warme Haut seines unteren Rückens zu streicheln. Sein Geruch, der über dem des Meeres fast nicht wahrnehmbar war und mich fast den Kuss unterbrechen ließ, damit ich meine Nase tief an der Stelle zwischen seiner Schulter und seinem Hals vergraben konnte, um diesen wunderbaren Duft einzuatmen und nie wieder etwas anderes riechen zu müssen. Es war so groß, so gigantisch, dass mein Herz kaum hinterherkam, all das zu fühlen, was in diesem Moment über mir zusammenschlug. Das hier war alles, was ich je gewollt hatte, und es war perfekt.     Nach einer gefühlten Ewigkeit unterbrach Theo den Kuss und sah mich an. Seine sonst so hellen Augen waren dunkel und sturmumwölkt. Ich hörte, wie er schluckte und offenbar nach Worten suchte. Ein Lächeln zuckte über mein Gesicht. Anscheinend konnte er ebenso wenig wie ich begreifen, was gerade geschehen war. Ich fühlte mich genötigt, irgendetwas zu sagen.   „Ich glaube, du hast es begriffen.“ „Ja?“   Es klang atemlos, als wäre er zu schnell gerannt.   „Ja, wirklich. Das war ausgesprochen gut.“ „O-okay.“   Wieder schwiegen wir, als könnte jedes Wort, jede Bewegung das zerbrechliche Gebilde zwischen uns in tausend Stücke zerspringen lassen. Ich war sogar versucht die Luft anzuhalten, nur um es noch ein wenig länger andauern zu lassen. Dabei wusste ich, dass es nicht für immer sein würde. Ich wusste es, bevor er es aussprach. „Es ist spät. Wir … wir sollten vielleicht langsam zurückgehen.“ „Ja, das sollten wir.“   Aber ich will nicht, fügte ich in Gedanken hinzu. Am liebsten wäre ich ewig hier sitzengeblieben, um ihn die ganze Nacht lang zu halten und zu küssen. Einen ganz kurzen Moment huschte der Plan durch meinen Kopf, uns ins Zelt der Mädchen zu legen. Inzwischen hatte sich der Gestank bestimmt verzogen, und dort könnten wir … Dinge tun. Ich. Mit Theo. Oh mein Gott! Die Bilder in meinem Kopf waren viel zu gut, um nicht wenigstens kurz mal darüber nachzudenken. Nackte Haut und feuchte Küsse. Meine Hand, die sich tastend über seinen gesamten Körper schob. Seine Brust, seinen Bauch und schließlich in die Region, die jenseits der Gürtellinie lag. Seine Finger, die dasselbe bei mir taten. Wie wir uns anstrengten, leise zu sein, damit es auch ja niemand mitbekam. Theo, dessen Atem ganz dicht an meinem Ohr immer schneller wurde, bis er schließlich mit einem erstickten Laut auf den Lippen kam. Wie er mich daraufhin ebenfalls zum Höhepunkt brachte und wie wir danach einander in den Armen lagen und langsam wegdämmerten, bis uns dann am nächsten Morgen irgendwer fand. Eng umschlungen, die untrüglichen Spuren unseres Tuns noch deutlich sichtbar, doch es wäre uns egal, weil wir uns endlich hatten. Aber natürlich würde es so nicht laufen. Ich wusste das, auch wenn die Vorstellung sich mehr als real anfühlte.   Stattdessen kletterte Theo ein bisschen umständlich wieder von meinem Schoß herunter und ordnete seine Kleidung. Ich reichte ihm die Gitarre und gemeinsam gingen wir nebeneinander zum Strand zurück. Niemand sagte ein Wort.   Vor dem Zelt angekommen blieben wir schließlich stehen. Ich denke, uns war beiden klar, dass es hier erst einmal enden würde. Stumm standen wir da und sahen uns an. Ich hätte ihn nur zu gerne noch einmal geküsst, aber vermutlich war das hier weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt. Also griff ich nur irgendwann nach der Zeltleinwand und zog sie beiseite, sodass Theo ins Innere schlüpfen konnte. Ich folgte ihm und wusste in dem Moment, in dem ich mich in meinem Schlafsack zusammenrollte, dass ich sowieso nicht würde schlafen können. In meinem Kopf kreisten kleine, rosarote Sterne und die ganze Zeit über konnte ich nur noch daran denken, was gerade geschehen war. Ich hatte ihn geküsst. Ich hatte ihn wirklich geküsst. Und er mich. Der absolute Wahnsinn!     Der nächste Morgen kam viel zu früh und ich bekam meine Augen kaum auf, als Timo mich an der Schulter rüttelte und mir sagte, dass ich endlich aufstehen musste, wenn ich noch Frühstück haben wollte. Mühsam erhob ich mich und schaute sofort rüber zu Theos Schlafplatz. Auch er schlief noch. Mit dem Rücken zu mir lag er da, den blonden Schopf fast völlig im Schlafsack vergraben. Es saß süß aus und ich hätte ihm noch ewig beim Schlafen zusehen können. Leider machte mir Timo einen Strich durch die Rechnung und weckte auch ihn. Ebenso schlaftrunken wie ich setzte Theo sich auf und strich sich die Müdigkeit aus dem Gesicht. Ganz kurz fiel sein Blick auf mich, bevor er den Kopf abwandte und hörbar ausatmete.   Ich zwang mich, ebenfalls woanders hinzugucken. Ich wollte ja nicht, dass wir auffielen. Also zog ich mich an und sagte nichts, während er sich aus seinem Schlafsack schälte und es mir nachtat. Meine Klamotten rochen nach Feuer und Rauch, aber das würde jetzt erst mal so gehen müssen. Zumal … das hier hatte ich angehabt, als Theo mich das erste Mal geküsst hatte. Vermutlich würde mich der Geruch ewig daran erinnern.   „Kommst du mit zum Frühstück?“, fragte ich in möglichst neutralem Ton. „Ja.“   Ich merkte gleich, dass die Stimmung eigenartig war. Die Art, wie er meinem Blick auswich und ein Stück weit von mir entfernt über den Rasen ging. All das schrie förmlich danach, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich hätte ihn am liebsten gefragt, aber die Gelegenheit ergab sich nicht und so beobachtete ich nur, wie er sich an einen der massiven, hölzernen Picknicktische setzte, die wir hier mangels Speisesaal zu unserem Frühstücksplatz umfunktioniert hatten. Sie standen direkt vorne am Wasser und von hier aus hatte man an einigen Booten vorbei eine tolle Aussicht auf den Steg, auf dem Theo und ich heute Nacht gesessen hatten. Auf dem wir uns geküsst hatten.   Mit Gewalt wandte ich mich ab, setzte mich an den zweiten Tisch und nahm mir eines der Brötchen. Kaum hatte ich es jedoch auf meinen Teller gelegt, verging mir schon wieder der Appetit. Ich wusste, dass ich mich beeilen musste, denn schon bald würde Herr Wilkens die Sachen wieder in seinem Zelt verstauen und dann würde ich das Ding trocken essen müssen. Ein Umstand, der mir in Anbetracht dessen, was mir gerade durch den Kopf ging, vollkommen egal war.   Ich hatte Theo geküsst und es war toll gewesen. Der Wahnsinn. Aber jetzt? Jetzt stand dieses Schweigen zwischen uns, das von Minute zu Minute lauter wurde. Es verdrängte alles. Den Sonnenschein über dem rauschenden Meer, das fröhliche Kinderlachen, das vom nahen Spielplatz zu uns herüberwehte, die neckende Kabbelei zwischen Sandra und Ben, die bereits dabei waren, Material für das Hindernisrennen zusammenzusuchen, die Unterhaltung zweier Camper, die irgendwas an ihrem Boot herumwerkelten und auf Dänisch vermutlich darüber schwadronierten, wo sie heute wohl hinfahren würden. Zum Baden oder Angeln oder sonst irgendwas. All das ging unter in diesem übermächtigen Schweigen, das in meinen Ohren dröhnte und mich schwindeln ließ. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich schnappte mir meinen Teller und ging rüber zu Theo.   „Ist da noch frei?“, fragte ich und deutete auf die Bank neben ihm. „Ja. Ich wollte eh gerade gehen.“   Noch bevor ich reagieren konnte, erhob er sich, nahm seinen Teller und ging zu dem Spülbecken, das hier ganz in der Nähe der Mülltonnen als Abwaschplatz diente. Ich sah zu, wie er den Teller kurz unter Wasser hielt, bevor er ihn tropfend und vermutlich nicht gerade sauber mit in Richtung Zelt nahm. Ich folgte ihm mit den Augen und spürte einen Stich in meinem Magen. Denn die Botschaft dahinter war klar. Rühr mich nicht an und sprich nicht mit mir. Es schmerzte mich, dass er so war, aber ich würde ihm wohl Zeit geben müssen. Viel Zeit. Dabei wollte ich nichts lieber, als wieder mit ihm zusammen zu sein. Nur war ich, wie es aussah, mit diesem Wunsch allein. Theo brauchte Abstand und mir blieb nichts anderes übrig, als diesen Wunsch zu respektieren. Aber je länger der Tag dauerte, desto schwerer wurde es, diesem Vorsatz gerecht zu werden.   Nach dem Frühstück wurden wir eingeteilt, die Vorbereitungen für den Parcours zu treffen. Ich landete mit Theo bei denen, die die Baumstämme des Lagerfeuers zu Hindernissen umschichteten. Einige wurden längs, andere quer aufgereiht, zum Balancieren, Darüberhocken oder -springen. Ben hatte irgendwo ein paar alte Autoreifen aufgetrieben und versuchte mit zwei anderen Jungs etwas daraus zu bauen, während die Mädchen Stecken für einen Slalom in die Erde bohrten und sich darüber beratschlagten, ob man das Ganze wohl noch mit einer Art Eierlaufen verbinden sollte. Mangels Eiern wurde die Idee wieder verworfen und es gab stattdessen ein Gebilde aus verschieden hohen Stangen und Seilen, unter denen man hindurchkriechen musste. Unnötig zu sagen, dass ich mich auf diese Station am wenigsten freute.   Zum Mittagessen hatten unsere Lehrer für belegte Brote gesorgt und ich sah zu, wie Theo sich mitten unter das schmausende Volk mischte, während ich mit meinem Essen ein wenig abseits saß. Er hatte bereits den ganzen Vormittag über dafür gesorgt, dass wir nie allein miteinander waren, und inzwischen war ich mir sicher, dass das Absicht war. Er wollte nicht mit mir reden. Und ich versuchte, mich damit abzufinden. Ich lenkte mich ab. Strengte mich bei diesem dämlichen Rennen richtig an und kam sogar unter die ersten fünf. Wohnte der Siegerehrung bei und schleppte am Schluss alles wieder zurück an seinen Platz. Doch erst, als ich danach duschen gehen wollte, fiel mir mal wieder mein anderes Problem ein. Oliver.   Er hatte schon einen halben Aufstand gemacht, als es am Mittag geheißen hatte, dass wir für die letzte Nacht die Zeltbelegung nicht mehr ändern würden und das inzwischen ausgelüftete Zelt der Mädchen als Gepäcklager dienen sollte, damit wir am nächsten Morgen alles zügig verladen konnten. Als ich jedoch nach meinem Handtuch und meiner Waschtasche griff, um mich wie alle anderen nach dem anstrengenden Nachmittag zum Duschen zu begeben, verstellte Oliver mir den Weg. „Die Dusche bleibt schwuchtelfreie Zone, ist das klar?“   Ich blieb stehen und sah ihn nur an. An anderen Tagen hätte ich ihn vielleicht einfach ignoriert oder mit einem Spruch gekontert, aber heute …. heute war ich einfach nicht in der Stimmung dazu, mich mit seinen Kindereien auseinanderzusetzen.   „Wie du meinst“, sagte ich daher nur, drehte mich um und setzte mich wieder auf meinen Schlafsack. Ich hörte förmlich, wie er in meinem Rücken unschlüssig herumstand. War das jetzt ein Geständnis gewesen? Ich wusste es nicht und es war mir auch egal. Mir war eigentlich alles egal. Das Einzige, was mich interessierte, war Theo und die Tatsache, dass er nicht mit mir reden wollte.   „Kommst du jetzt?“, rief Jo von draußen und natürlich meinte er damit Oliver.   „Ja“, antwortete der. Ich hörte, wie die Zeltplane zurückgeschlagen wurde, danach war es still. Nun, nicht ganz still. Man konnte von draußen noch die Geräusche der spielenden Kinder hören, das Gespräch mehrerer Leute, die eben vorbeigingen, und irgendwo bellte ein Hund.   Plötzlich raschelte es und das Zelt öffnete sich erneut. Erstaunt drehte ich mich um und blickte direkt in Theos sturmgraue Augen. Er schenkte mir ein verlegenes Lächeln.   „Hi“, sagte er, als hätten wir uns den ganzen Tag nicht gesehen.   „Hi“, erwiderte ich. Mein Herz hatte angefangen, schneller zu klopfen. Er war zurückgekommen. Meinetwegen? „Ich hab mein Duschgel vergessen“, folgte jedoch sofort die Erklärung, die meine Hoffnung wieder zunichtemachte. Er ging zu seiner Tasche, kniete sich daneben und begann darin herumzuwühlen.   Ich saß da und sah ihn an. Lange. Und lange suchte er nach dem Duschgel. Als er es irgendwann fand, zögerte er mit der Flasche in der Hand. Ich überlegte. Sollte ich ihn ansprechen? Ich meine, wir hatten uns geküsst. GEKÜSST! Und es hatte ihm gefallen, dessen war ich mir sicher. Warum sagte er denn nur nichts dazu? Warum wich er mir aus? „Ich muss dann mal wieder“, murmelte er leise und zog den Reißverschluss seiner Reisetasche zu. Ich holte tief Luft und sah ihn an. Ganz kurz begegneten sich unsere Blicke, bevor er wieder auf die Flasche in seinen Händen sah. Sie war grün. Keine Ahnung, warum mir das auffiel, aber vielleicht, weil die meisten Duschgele irgendwie blau waren. Seines nicht. Seines war grün.   Als ich immer noch nichts sagte, wandte er sich zum Gehen. Ich wusste, dass ich kurz davor war, meine Chance zu vertun, also gab ich mir einen Ruck und öffnete endlich den Mund. „Theo?“ Er blieb stehen, sah mich aber nicht an.   „Ja?“   Ich schluckte. Das hier war so schwer. „Wegen gestern Nacht. Ich … sollten wir darüber reden?“   Zuerst erwartete ich, dass er den Kopf schütteln und einfach gehen würde. Doch er tat es nicht. Er stand einfach nur da mit hängenden Schultern und abgewandtem Gesicht und plötzlich ahnte ich, was passieren würde. Ich wusste es, bevor er es aussprach. Trotzdem hätte mich ein Schlag in die Magengrube nicht tiefer treffen können.   „Ich glaube, da gibt es nicht viel zu reden. Es war schön, aber … Ich bin in Mia verliebt und du hast doch … Julia, nicht wahr?“   Ganz kurz traf mich ein unsicherer Blick und in dem Moment verstand ich. Er wusste Bescheid. Ob er es gleich kapiert hatte oder ob es ihm erst später klar geworden war, dass es zwischen meiner „Freundin“ und Julius, der mir die Samosas vorbeigebracht hatte, einen Zusammenhang gab, wusste ich nicht. Aber Theo hatte zwei und zwei zusammengezählt und war dabei nicht auf fünf gekommen. Zum ersten Mal im Leben wünschte ich mir, er wäre noch ein bisschen schlechter in Mathe gewesen.   Wie betäubt nickte ich. „Am besten vergessen wir die Sache einfach.“   Wieder nickte ich. Zu mehr war ich gerade nicht in der Lage. Ich meine, was hätte ich auch sonst tun sollen? Ihm meine Liebe gestehen? Mich ihm zu Füßen werfen und ihn anflehen nicht zu gehen? Einfach aufstehen, ihn nehmen und ihn noch einmal küssen, damit er verstand, was ich für ihn empfand? Aber was hätte das bringen sollen? Er hatte es doch gerade noch einmal deutlich gesagt. Er war in Mia verliebt. Diesbezüglich war er von Anfang an ehrlich gewesen und nur ich war derjenige, der sich etwas vorgemacht hatte. Und außerdem … er hatte recht. Ich hatte Julius. Julius, an den ich heute kaum zwei Gedanken verschwendet hatte, weil ich so damit beschäftigt gewesen war, auf irgendeine Reaktion von Theo zu hoffen. Ich war ein Arsch. Und ein Dummkopf. Und eigentlich wusste ich nicht, was davon wohl überwog.   Theo stand immer noch am Zeltausgang und sah aus, als wolle er noch etwas sagen, doch dann nickte er mir nur zu. „Wir sehen uns.“   Damit war er fort und ich starrte immer noch auf die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. Es war aus. Vorbei. Endgültig vorbei, noch bevor es begonnen hatte. Er hatte mir einen Korb gegeben, wie man so schön sagte. Ein Teil von mir weigerte sich schlichtweg, das zu begreifen. Heute Nacht das war so … so einzigartig gewesen. Da war etwas zwischen uns. Etwas Großes. So wie in diesem Lied, das er mir vorgesungen hatte. Etwas, das ganz sicher nicht nur ich gespürt hatte. Etwas, das mein Herz immer noch aus dem Takt brachte, wenn ich nur daran dachte. Aber jetzt war es, als hätte mich jemand in einen Fahrstuhl gestellt und den Knopf für die Tiefgarage gedrückt. Hilflos musste ich zusehen, wie die Türen zugingen und die Kabine sich langsam in Bewegung setzte. Immer tiefer und tiefer ging die Reise und alle Hoffnung, jemals wieder das Tageslicht zu erblicken, war dahin. Hinfortgefegt von einem einzigen Satz. Am besten vergessen wir die Sache einfach.   „Benedikt?“   Ich hatte nicht gemerkt, dass jemand ins Zelt gekommen war. Es war Timo, der mich fragend ansah. „Ist alles in Ordnung bei dir?“ „Ja, ich … ja. Ich wollte gerade duschen gehen.“   Ich floh aus dem Zelt und wusste, dass ich mich damit nur noch verdächtiger machte, aber das war nun nicht mehr zu ändern. Ich würde mich in den Griff kriegen und einfach weitermachen müssen. Denn was blieb mir schon anderes übrig? Theo hatte mir gegenüber eine klare Ansage gemacht. Er wollte nichts, was über diese eine Nacht hinausging. Warum er dem Ganzen überhaupt zugestimmt hatte, darüber konnte ich nur spekulieren. Vielleicht war er einfach neugierig gewesen. Hatte mal ausprobieren wollen, wie es war, einen Jungen zu küssen. Hatte Anton nicht gesagt, dass so etwas häufiger vorkam? Es hatte also nichts zu bedeuten. Eine rein … körperliche Angelegenheit. Zumindest versuchte ich mir das einzureden. Dabei hatte es sich nach so viel mehr angefühlt.   Ich duschte. Stand unter dem warmen Wasserstrahl zwischen den Duschabtrennungen und fragte mich, warum ich sie nicht einfach auf kalt stellte. Dann hätte es wenigstens zu dem gepasst, wie es in mir aussah. Kalt, nass, grau und dunkel. Aber ich schaffte es irgendwie mich zu waschen, abzutrocknen und anzuziehen. Zum Abendessen zu erscheinen. Am Lagerfeuer zu sitzen und Theos Anblick zu ertragen, wie er zwischen all den anderen saß und lachte, als wäre nie etwas passiert. Ich ertrug, dass er mir ab und an einen Blick zuwarf, so als wolle er sehen, dass ich auch ja nichts verriet. Wann immer ich seine verstohlenen Blicke erwiderte, drehte er schnell den Kopf weg. Ich wusste, was er gesagt hatte, und doch setzte mein Herz jedes Mal einen Schlag aus, wenn er mich ansah. Tief in mir wusste ich, was das hieß, auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte. Darum tat auch ich, als wäre nichts gewesen. Als hätte diese Nacht nie stattgefunden. Als hätten wir nie dieses ganz besondere Gefühl miteinander geteilt. Ich tat, als wäre alles in bester Ordnung, und es brachte mich fast um. Kapitel 46: Von kleinen Veränderungen und großen Schritten ---------------------------------------------------------- Wisst ihr noch, dass ich mal gesagt habe, dass die Liebe gefährlich ist? Ich hatte ja nicht gewusst, wie recht ich damit hatte. Denn die eine Seite ist die, wo du den Mist abkriegst, den du dir der Liebe wegen antust. So Sachen wie nächtelang wachliegen oder dich in den Schlaf weinen. Nicht essen können vor Aufregung oder tonnenweise Schokolade in dich reinstopfen. Nervosität und abgekaute Fingernägel und horrende Telefonrechnungen, nur um ein Stückchen dieses kleinen Glücks zu erhaschen, das in diesem Moment einfach alles für dich ist. Und natürlich ist es dann besonders bitter, wenn du genau weißt, dass du chancenlos bist. Aber wirklich und richtig, richtig übel ist es dann, wenn du derjenige bist, der sich wie ein Arsch verhalten hat.   Dass ich das hatte, wurde mir spätestens in dem Moment wieder bewusst, als am Nachmittag des nächsten Tages endlich unsere Schule in Sicht kam. Bis dahin hatten wir schon eine ziemliche Odyssee hinter uns; angefangen von Regenschauern am Morgen, die den Abbau der Zelte nicht gerade erleichtert hatten, über Gegenwind und eine ziemlich holprige Überfahrt, bei der der eine oder andere sich lieber damit abgefunden hatte, sich draußen an Deck den Hintern abzufrieren, als drinnen das Risiko einzugehen, seinem Sitznachbarn auf den Schoß zu reihern, und schließlich noch die auch in umgekehrter Richtung nicht gerade kurze Tour bis zum Start- und Zielpunkt unserer Reise, dem altbekannten Pausenhof.   Hier zu stehen nach diesen zehn Tagen war unglaublich seltsam. Im Grunde genommen waren wir ja nicht lange weg gewesen, und doch hatte ich das Gefühl, gerade eine halbe Weltreise hinter mir zu haben. Körperlich und emotional. Ich konnte es dem einen oder anderen der Mädchen nicht verdenken, dass sie ein paar Tränen vergießen mussten, als sie endlich wieder von ihren Eltern in Empfang genommen wurden. Mir war eigentlich auch danach, aber als Junge durfte man das ja nicht, obwohl ich nun wirklich allen Grund dazu gehabt hätte. Stattdessen begrüßte ich meine Mutter, die natürlich erst erschien, als die meisten Eltern bereits mit ihren Sprösslingen verschwunden waren, nur mit einem einfachen „Hallo Mama“, und ließ mich von ihr in eine Umarmung ziehen.   Theo war zu diesem Zeitpunkt schon lange weg. Nachdem die Klassenfahrt offiziell als beendet erklärt worden war, hatte er sich einfach so auf sein Rad geschwungen und war gefahren. Ich hatte ihm nachgesehen und einen seltsamen Stich bei diesem Anblick gefühlt. Es hatte ihm also alles tatsächlich nichts bedeutet.   „Na, dann erzähl mal. Wie war’s denn?“   Meine Mutter war ganz aufgeregt und heiß darauf, die neuesten Neuigkeiten zu erfahren. Ich zuckte nur mit den Schultern.   „Anstrengend.“ „Hast du dich amüsiert?“ „Ja schon.“ „Wie waren die Campingplätze?“ „Okay.“ „Habt ihr irgendwas besichtigt?“ „Ein bisschen.“   Meine Mutter hielt in ihrem Fragenkatalog inne und warf mir einen scheelen Seitenblick zu, während ich vorgab, sehr mit dem Sitzgurt beschäftigt zu sein. „Ist alles okay mit dir?“   Für einen Augenblick war ich versucht, ihr alles zu erzählen. Einfach mal alles rauszulassen, was mir in letzter Zeit passiert war. Doch dann fiel mir auf, dass hier im Auto vielleicht nicht gerade ein günstiger Zeitpunkt dafür war. Also versuchte ich mich an einer fröhlichen Grimasse.   „Es ist wirklich alles in Ordnung. Ich bin nur einfach ziemlich kaputt.“   Sie lächelte verständnisvoll. „Na schön, dann komm erst mal an. Wie klingt Pizza heute Abend?“ „Toll.“   Klang es wirklich. Ich freute mich darauf, wieder zu Hause zu sein. Das Zelten war okay gewesen, aber in den eigenen vier Wänden war eben doch was anderes.     Als ich jedoch vor meinem Zimmer stand, die noch unausgepackte Reisetasche neben mir, wünschte ich mir auf einmal, ich wäre wieder zurück auf dem Campingplatz. Am besten irgendwann vor drei Tagen, als der ganze Mist mit Theo noch nicht passiert war. Aber die Zeit ließ sich nun einmal nicht zurückdrehen und deswegen stand ich jetzt hier und starrte mein Zimmer an, als wäre es das eines Fremden. Ich schaffte es einfach nicht, einen Fuß über die Schwelle zu setzen und mich wieder zurück in dieses alte Leben zu begeben. Dieses Leben, dass in den letzten anderthalb Wochen zwei Nummern zu klein geworden zu sein schien.   Meine Mutter kam hinter mir den Flur entlang.   „Benedikt? Soll ich gleich noch eine Wäsche machen? Du hast doch bestimmt einen Haufen dreckige Sachen mitgebracht.“   Ich drehte mich zu ihr um und ich sah, dass sie besorgt war. Dass sie wohl wusste, dass etwas nicht stimmte. Hieß es nicht immer, dass Mütter so etwas spüren konnten? War meine auch so? Ahnte sie, dass sich etwas verändert hatte?   Ich blickte wieder in mein Zimmer. Dort gab es keine Pokémon-Poster an den Wänden, die ich in einer dramatischen Aktion herunterreißen konnte. Ich besaß keine Comic-Sammlung, die ich mit entschlossener Miene ins Altpapier stopfen, keine Spiderman-Bettwäsche, die ich durch schwarze Satinlaken ersetzen konnte. (Mal ehrlich, wer wollte die auch? Das war doch bestimmt voll glibberig nachts.) Dies hier war immer noch mein Zimmer und abgesehen davon, dass es mal gelüftet gehörte, war noch alles beim Alten. Nur ich hatte mich verändert. Ich war in den letzten Tagen ein anderer geworden und auch wenn sich das jetzt viel zu dramatisch anhörte, hatte ich das Gefühl, dass ich an einem Punkt stand, an dem ich eine Entscheidung treffen musste.   Vielleicht ist das so, wenn man erwachsen wird, dachte ich mir und kam mir furchtbar pathetisch vor. In ein paar Tagen, wenn sich der eher psychische Jetlag gelegt hatte, würde ich vermutlich darüber lachen, aber vielleicht … vielleicht war das hier auch eine Chance. Die Chance einen weiteren Schritt in die Richtung des Menschen zu machen, der ich wirklich war. Oder sein wollte. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie dieser Mensch wohl tatsächlich aussehen mochte. Denn es gab etwas, das ich tun konnte, hier und jetzt. Und vielleicht war jetzt der richtige Augenblick dafür. Ich drehte mich um und sah meine Mutter an.   Mama. Meine Mama. Die ich so lange nicht gesehen hatte. Wie sie da stand, zurechtgemacht und geschminkt wie immer, wenn sie unter Leute ging. Beim Friseur war sie auch gewesen, das sah ich jetzt. Vielleicht, weil sie sich wieder mit Andreas treffen wollte. So viele Dinge, die sich veränderten. Ich schluckte.   „Ich … ich glaube, ich muss dir was erzählen. Hast du Zeit?“ Sie sah mich ein bisschen merkwürdig an, aber dann nickte sie. „Natürlich, Schatz. Ich mache uns einen Tee.“ „Nein, Mama, keinen Tee. Ich muss es dir sofort erzählen.“   Wieder sah sie mich so komisch an, doch dann legte sie ein Lächeln auf. „Na, dann komm.“   Als wir am Tisch saßen, wäre ich am liebsten wieder aufgesprungen und hätte gesagt, dass alles in Ordnung war, aber wenn ich diese Gelegenheit nicht nutzte, würde ich vermutlich noch die nächsten Jahre daran zu knabbern haben. Ich musste aufhören davonzulaufen.   „Ich … also es gibt da einen Jungen in meiner Schule und ich … ich bin in ihn verliebt. Weil … also die Sache ist die … ich … ich bin schwul.“   Nach diesem Satz war es einen Augenblick lang still im Raum. Ich hörte meine Mutter atmen und dachte plötzlich, dass ein Tee vielleicht doch keine schlechte Idee gewesen wäre. Jetzt musste es halt ohne gehen.   „Und das ist alles?“   Ich sah auf meine Hände und schüttelte den Kopf. „Nein, nicht ganz. Aber der größte Teil davon. Es gibt da noch jemand anderen. Julius. Ich hatte dir schon von ihm erzählt. Ich … wir … wir haben was miteinander.“   Als ich das gesagt hatte, sah ich sie an. Ihre Augen schimmerten feucht und ich betete darum, dass sie jetzt nicht anfing zu heulen, denn dann würde ich das garantiert auch tun und darauf hatte ich gerade mal so überhaupt keine Lust.   „Und?“, fragte ich leise. „Was sagst du dazu?“   Sie schniefte und ich wusste, dass auch sie gerade um Fassung rang. Es war wohl die richtige Entscheidung gewesen, Manuel einfach mal nicht zu erwähnen. „Das ist ne ziemliche Überraschung jetzt irgendwie. Ich meine, ich hatte mich ja schon mal gefragt, wann du wohl mal eine Freundin haben würdest, aber damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.“   Ich versuchte ein Lächeln. „Tja, ich auch nicht so wirklich.“   „Weiß es sonst noch jemand?“ „Ich hab’s Anton erzählt.“   „Das ist gut. Anton ist ein netter Junge.“ Sie überlegte kurz. „Mit ihm hattest du aber nichts, oder?“   Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte.   „Nein, Mama. Anton ist nur ein Freund.“ „Oh, okay.“   Sie atmete tief ein und ließ geräuschvoll die Luft entweichen. Danach sah sie mich an.   „Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast. Ich … also Diana hat schon mal so was angedeutet, aber ich hatte immer gedacht, dass es einfach nur daran liegt, dass du keinen Vater hast. Kein männliches Vorbild, an dem du dich orientieren kannst. Dass du einfach deswegen ein bisschen anders wärst.“ „Nein, Mama, das ist es nicht. Ich … ich bin einfach so. Niemand kann etwas dafür. Ich nicht und du auch nicht.“ „Ja, ich weiß.“   Sie lächelte, wenngleich auch etwas angestrengt. „Ich hab mir da schon mal ein bisschen was durchgelesen. Am Computer, weißt du. Ich hab mich nämlich nicht getraut in den Buchladen zu gehen und zu sagen 'Oh entschuldigen Sie, ich hätte gerne ein Buch darüber, dass mein Sohn vielleicht schwul ist.' Aber vielleicht hätte ich das tun sollen, denn schließlich ist da doch überhaupt nichts Schlimmes daran.“   Bei den letzten Worten war ihre Stimme brüchig geworden und sie begann zu weinen. Und ich gleich mit. Einfach weil es gerade so viel auf einmal war. Ich nahm sie in den Arm und sie lachte und weinte gleichzeitig und dann wedelte sie mit den Händen und verkündete, dass sie nun endlich ein Taschentuch bräuchte, bevor ihr ganzes Make-up verliefe, woraufhin ich aufstand und einfach die Küchenrolle holte, weil bei uns Taschentücher sowieso nie da lagen, wo sie hingehörten. Sie riss sich eins ab, schnaubte sich ordentlich die Nase, tupfte sich die Augen ab und sah mich mit einem tränenverschmierten Lächeln an. „Und jetzt? Was machen wir jetzt?“ „Was meinst du?“ „Na ja, ich meine, möchtest du es sonst noch jemandem sagen oder soll das erst mal unter uns bleiben?“   Ich überlegte. So weit hatte ich noch gar nicht gedacht.   „Wir sollten es vielleicht Diana erzählen“, meinte ich zögernd. „Wenn sie herausfindet, dass wir es ihr verschwiegen haben, reißt sie uns beiden den Kopf ab.“ „Da könnte was Wahres dran sein.“ „Aber du kannst ihr gleich den Zahn ziehen, dass ich deswegen jetzt mitkomme, um für sie ein Brautkleid auszusuchen.“   Meine Mutter lachte und griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand. „Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich auf jeden Fall immer liebhaben werde. Du bist noch genauso mein Sohn wie vorher, weißt du das? Du wirst genauso den Rasen mähen und deine Wäsche waschen und wenn du meinst, dass du jetzt rosa Federboas tragen musst, ist mir das auch recht.“   Ich lachte auf.   „Nein, Mama. Keine Federn.“ „Und du magst immer noch Pizza mit Ananas?“ „Ja, auch das.“ „Na schön, dann sehen wir doch mal zu, dass wir den Ofen anheizen. Diese Pizza haben wir uns beide nämlich ganz schön verdient.“   Ich lachte und nickte und dann ging ich zurück in mein Zimmer, um nun doch endlich meine Tasche auszupacken. Als ich mein Handy fand, hielt ich es nachdenklich in der Hand. Wenn ich es anschaltete, würde ich vermutlich eine Nachricht von Julius darauf lesen können. Er wusste schließlich, dass ich heute zurückkam. Mit Sicherheit freute er sich schon wie verrückt darauf mich wiederzusehen, aber bei mir wollte diese Freude einfach nicht aufkommen. Ich wusste, was ich falsch gemacht hatte. Ich hatte ihn betrogen. Vielleicht nicht unbedingt im körperlichen Sinne, aber ich hatte bei diesem Kuss mit Theo mit keiner Silbe an ihn gedacht. Es war viel zu einfach für mich gewesen, ihn zu vergessen. Viel zu einfach, um darüber hinwegzusehen.   Mit einem Seufzen nahm ich mein Ladegerät heraus. Ich wartete, bis ich das Handy anschalten konnte, gab die PIN ein und dann las ich die erwartete Nachricht mit den vielen Smileys. Ich schrieb, dass ich am Freitag zu ihm kommen würde, und schloss dann die App. Mir graute vor diesem Besuch, aber ich hatte keine Wahl. Ich hatte mir diese Suppe eingebrockt, also würde ich sie auch auslöffeln müssen.     Die nächsten zwei Tage vergingen wie im Nebel. Ich bekam kaum etwas von meiner Umgebung mit und die einzige Konstante, die es darin gab, war Anton. Anton, der sich ebenfalls verändert hatte, wie ich am nächsten Tag feststellen musste, als ich ihn lesend im Flur vor unserem Klassenzimmer vorfand, wo er zusammen mit den anderen auf unseren Englischlehrer wartete.   „Du hast eine neue Brille“, meinte ich verblüfft, als er zu mir hochschaute.   „Ja, ich habe mir deinen Rat zu Herzen genommen und bin zum Optiker gegangen. Gefällt sie dir?“   Über die Antwort musste ich erst einen Augenblick lang nachdenken, denn die Tatsache, dass das neue Gestell nicht nur sehr viel kleiner und eckig, sondern obendrein auch noch knallrot war, war ziemlich gewöhnungsbedürftig. Es machte ihn nicht weniger nerdig, aber obendrein sah er jetzt irgendwie auch noch cool aus damit. Das war ein bisschen verstörend, wie ich zugeben musste. Aber auch irgendwie gut. Ich lächelte. „Ich finde, sie passt zu dir.“   Er griff sich ins Gesicht und schob die Brille ein bisschen nach oben, obwohl das jetzt eigentlich nicht mehr notwendig war. „Ich werte das mal als Kompliment.“ „Darfst du.“ „Vielen Dank.“     Natürlich begegnete ich auch Theo. Wir gingen ja immer noch in dieselbe Klasse und so blieb es nicht aus, das wir uns über den Weg liefen. Allerdings war dieses Über-den-Weg-Laufen mehr so ein Lasst-uns-bloß-nicht-die-Strahlen-kreuzen-sonst-passiert-irgendetwas-Furchtbares, wenn ihr versteht, was ich damit meine. (Wenn nicht, googelt mal ganz schnell „Ghostbusters“, dann seid ihr im Bilde.) Umso erstaunter war ich, als er mir am Freitag nach der sechsten Stunde geradezu auflauerte. Wir hatten Sport gehabt und die Umkleidekabine war nicht gerade der Ort, an dem ich mich in unmittelbarer Nähe zu Theo aufhalten wollte, aber einige Dinge im Leben konnte man sich eben nicht aussuchen.   „Benedikt?“   Ich blickte auf und sah, wie er da vor mir stand. Noch in seinen Sportklamotten, als hätte er bisher gar nicht ans Umziehen gedacht. War er nervös? „Ja?“, fragte ich nur.   „Ich … ich weiß nicht, ob du’s schon gehört hast, aber ich mache am letzten Schultag abends eine Party.“   Natürlich. Die Party. Die, die er veranstalten wollte, um Mia anzusprechen. Ob er sie schon gefragt hatte?   „Was ist damit?“ „Na ja, ich wollte wissen, ob du auch kommst.“   Für einen kurzen Moment bildete ich mir ein, dass er nur mich einladen würde und nicht Mia. Aber natürlich war das Quatsch. Vermutlich würde er sowieso die ganze Klasse einladen. Den halben Jahrgang womöglich. Ich war nur einer von vielen. „Kann ich noch wen mitbringen?“   Okay, das war gemein, denn so, wie er guckte, hatte er die Anspielung genau so verstanden, wie ich gewollt hatte, dass er sie verstand. Trotzdem nickte er tapfer. „Klar, wenn du möchtest.“ „Gut. Ich komme gerne. Wir sehen uns dann am Montag.“   Ich ließ ihn stehen, wohl wissend, dass er sich jetzt gerade vermutlich tausend Gedanken machte. Aber das konnte ich nicht ändern. Ich war immer noch in ihn verliebt, aber jetzt musste ich erst einmal zu dem Menschen gehen, dem ich, ohne dass er davon wusste, sehr, sehr weh getan hatte.     Julius erwartete mich bereits. Nachdem ich den Klingelknopf gedrückt hatte, dauerte es keine zwei Sekunden, bis er die Tür aufriss und mich anstrahlte. „Da bist du ja endlich. Ich hab dich so vermisst.“   Ich lächelte und ließ mich in eine Umarmung ziehen. Er freute sich so. Sein Gesicht leuchtete und seine Augen strahlten. Mir war hundeelend, wenn ich daran dachte, was ich im Begriff war zu tun, aber es ging nicht anders. Es musste sein. „Willst du was essen? Ich hab alles vorbereitet. Ich hoffe du magst Tandoori.“ „Nein, danke. Ich denke, ich werde nicht lange bleiben.“   Nach diesen Worten huschte das erste Mal ein Schatten über sein Gesicht. „Wollen wir nach oben gehen?“ „Ja, bitte.“   Ich stieg hinter ihm die Treppe hinauf und erkannte an seinen Schultern, wie verkrampft er bereits war. Wahrscheinlich ahnte er schon, was jetzt kommen würde.   Wir betraten sein Zimmer. Ich sah, dass er aufgeräumt hatte. Alles war vorbereitet für meinen Besuch. Auf dem Schreibtisch lagen seine Bücher. Für einen Moment überlegte ich, mit meiner Eröffnung noch bis nach seinen Prüfungen zu warten, aber ich wusste, dass ich das nicht konnte. Ich würde das jetzt durchziehen müssen, egal wie es ausging. Ich war es ihm schuldig.   „Du wolltest mit mir sprechen“, sagte Julius und in dem Moment erkannte ich, dass er bereits wusste, warum ich hergekommen war. Allein die Tatsache, dass er mich nicht gleich wieder hochkant rauswarf, ließ meine Brust eng werden. Er war so ein verdammt anständiger Kerl. „Ich … ich hab nachgedacht. Über uns.“ „Und?“ „Ich … ich glaube, es wird nicht funktionieren.“   Julius blickte zu Boden. Wir saßen da auf seinem Bett und ich hätte meine Worte am liebsten zurückgenommen. Hätte ihn in meine Arme geschlossen und ihm gesagt, dass alles gut werden würde. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht mehr lügen.   „Ist etwas passiert?“ Er sah mich immer noch nicht an und seine Stimme war leise. So endlos leise.   „Ich … ich habe Theo geküsst.“   Er wandte sich ab. Es tat mir weh, ihn so zu sehen. „Julius, es tut mir leid. Ich habe das nicht gewollt. Es ist einfach so passiert. Ich hab nicht nachgedacht und dann … dann war es zu spät.“   „War es wenigstens schön?“   In seiner Stimme lag eine Bitterkeit, die sich wie ein Messer in mein Herz bohrte. Da war so viel Schmerz. Schmerz, den ich auch auf seinem Gesicht sah, als er sich zu mir umdrehte. „Seid ihr jetzt zusammen?“   Ich schüttelte langsam den Kopf. Fast wünschte ich, ich hätte ihm nur gesagt, dass ich mit ihm Schluss machte und dass es einfach nur daran lag, dass wir nicht zusammenpassten. Aber es wäre falsch gewesen, es ihm zu verschweigen. Es hätte mich nur besser dastehen lassen, als ich war, und er hätte sich vielleicht weiter Hoffnungen gemacht. Das wollte ich nicht. Sollte er mich ruhig als das Arschloch sehen, das ich gewesen war. Ich hatte es verdient.   Er lachte leicht, aber ich hörte genau, dass er eigentlich mit den Tränen kämpfte.   „Weißt du, ich habe es geahnt. Ich hab irgendwie geahnt, dass es dazu kommen würde. Sogar Lali hat mich davor gewarnt. Sie hat gesagt, dass du zu jung wärst und noch nicht wüsstest, was du willst. Dass du nicht der Richtige für mich wärst. Aber ich habe nicht auf sie hören wollen. Ich habe gedacht, dass du anders bist.“   Ein Teil von mir wollte dagegen aufbegehren. Wollte sich verteidigen, denn schließlich war es nicht meine Schuld, dass ich mehr für Theo empfand als für ihn. Aber gleichzeitig wusste ich, dass ich den Fehler schon viel früher gemacht hatte und zwar in dem Augenblick, indem ich mich auf Julius eingelassen hatte. Vielleicht war es verständlich, so im Nachhinein. Ich hatte diese Schlappe mit Manuel erleben müssen, dem ich mich vermutlich ohnehin nur deswegen überhaupt so an den Hals geworfen hatte, weil Theo nichts von mir wissen wollte. Weil er eben da gewesen war und ich irgendwen gebraucht hatte, um mein „schwules Ich“ auszuleben, für das es in dem Moment nirgendwo anders einen Platz zu geben schien. Und als Manuel dann so abrupt aus meinem Leben gerissen worden war, hatte ich mein armes, geschundenes Herz in Sicherheit bringen wollen, bevor ich es wieder an Theo verlor. Also hatte ich es dem einen Menschen zur Aufbewahrung gegeben, der sich wirklich für mich zu interessieren schien. Ich hatte es Julius gegeben, ohne zu wissen, dass ein großer Teil davon immer noch bei Theo lag. Ich hatte es wirklich nicht gewusst, aber das machte den Vertrauensbruch, den ich begangen hatte, nicht weniger schlimm. Ich hatte eine Grenze überschritten, die ich nicht hätte überschreiten dürfen. Nicht, bevor ich für klare Verhältnisse gesorgt hatte.   „Es tut mir wirklich leid“, sagte ich noch einmal, einfach weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Denn es stimmte. Ich hätte alles dafür gegeben, wenn ich Theo hätte nicht lieben können. Wenn alles wieder gut gewesen wäre und ich bei Julius hätte bleiben können und wir glücklich bis ans Ende unserer Tage gewesen wären.   Doch irgendwo tief in mir drin wusste ich wohl, dass es selbst dann nicht hätte funktionieren können. Vielleicht wäre es tatsächlich gut gegangen. Für eine gewisse Zeit. Ein paar Monate oder sogar Jahre, bis dann irgendwann doch „der eine“ aufgetaucht wäre, in den ich mich Hals über Kopf verliebte. Dann stünde ich wieder vor der Entscheidung „Gehen oder Bleiben“ und ich wusste, dass, selbst wenn ich mich fürs Bleiben entschied, es immer einen Teil meines Herzens geben würde, der nicht Julius gehörte.   „Ich denke, ich finde alleine raus“, sagte ich leise und stand auf, um das Zimmer zu verlassen, doch Julius war schneller. Er kam vom Bett hoch, schlang die Arme um mich und drückte mich an sich. „Geh nicht. Bleib bei mir. Wir … wir kriegen das hin. Irgendwie.“   Ich spürte die Feuchtigkeit, die über seine Wangen rann, und auch meine Augen begannen zu schwimmen. „Es geht nicht“, flüsterte ich. „Bitte, Julius. Mach es uns beiden nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist.“   „Aber ich liebe dich“, wimmerte er und seine Hände krampften sich in meinen Rücken. „Ich liebe dich.“   „Ich dich auch. Und deswegen muss ich jetzt gehen.“   Vorsichtig löste ich mich aus seiner Umarmung. Ich wischte meine Tränen fort, während ihm seine jetzt ungehindert über das Gesicht rannen. Es war furchtbar, aber ich wusste, dass es nicht anders ging.   „Leb wohl, Julius.“   Ich ging die Treppe hinunter, während ich ihn oben weinen hörte. Es zerschnitt mir mein Herz in kleine Streifen, aber ich wusste, dass ich jetzt stark sein musste. Denn was ich ihm anzubieten hatte, war nicht genug. Nicht genug für diesen wunderbaren Menschen, der es verdient hatte, ganz und gar geliebt zu werden und nicht nur ein kleines bisschen. Der jemanden verdient hatte, der ihm sein ganzes Herz schenkte und nicht nur den kümmerlichen Rest davon. Draußen hörte ich, wie er noch einmal meinen Namen rief. Ich warf einen kurzen Blick zurück und sah, wie er in der Tür stand. Er trug wieder eine dieser weiten Hosen und dazu ein T-Shirt, auf dessen dunklen Stoff große, nasse Flecken prangten. Am liebsten wäre ich zurückgelaufen und hätte mich in seine Arme geworfen, aber ich tat es nicht. Ich drehte mich um, ging einfach weiter und sah nicht zurück. Weil ich es ihm schuldig war. Ihm und auch mir selbst. Damit wir beide irgendwann glücklich werden konnten. Ohne einander. Kapitel 47: Von edlen Prinzessinnen und ungeküssten Fröschen ------------------------------------------------------------ Mitte der nächsten Woche wurde es heiß. Natürlich war mir das bereits aufgefallen, aber so wirklich bewusst, dass der Sommer nun endgültig Einzug gehalten hatte, wurde mir erst in dem Moment, als unser Postbote in kurzen Hosen vor mir stand. Er hielt mir ein Päckchen entgegen. „Muss ich was unterschreiben?“ „Nein, das geht so.“   Er nickte mir noch einmal zu und schwang sich dann auf sein Postrad, um zum nächsten Nachbarn zu fahren. Ich sah auf die kleine Pappschachtel runter und entdeckte meinen Namen auf dem Adressaufkleber. Einen Absender gab es nicht. Mit gerunzelter Stirn nahm ich das Päckchen mit rein und öffnete es mit Hilfe unserer Küchenschere. Meine Mutter steckte den Kopf durch die Terrassentür. „War was, Schatz?“ „Nein, nur die Post. Ein Päckchen für mich.“ „Und was ist drin?“ „Gucke ich gerade.   Als ich endlich die Flügel des Pappkartons beiseite klappen konnte, stockte mir für einen Moment der Atem. Darin lag eine Packung Kondome und eine Tube Gleitgel. Dazu ein Zettel. Er war nicht unterschrieben, aber ich wusste auch so, dass er von Julius war. Viel Spaß damit, stand auf dem Stückchen Papier, das er anscheinend aus einem Collegeblock herausgerissen hatte. Ich fühlte einen Stich bei diesen Worten. Es zeigte mir noch einmal, wie sehr ich ihn verletzt hatte, aber auch, dass er seine Trauer offenbar überwunden hatte und jetzt sauer auf mich war. Damit konnte ich leben. Ich musste es wohl, auch wenn der Preis, den ich dafür bekam, mehr als mager war. Durch diese ganze Sache hatte ich nicht nur keine Beziehung mehr. Ich hatte auch einen sehr wertvollen Menschen und guten Freund verloren. Aber vielleicht hatte es so kommen müssen, damit wir beide aufwachten. Ich wünschte Julius zumindest, dass er bald darüber hinwegkam und sich von dieser Geste nicht versprach, dass ich mich wieder bei ihm meldete. Denn das würde ich nicht tun. Ich musste darauf vertrauen, dass Julius sich von sich aus Hilfe suchen würde, wenn er sie brauchte. Er hatte Familie und Freunde, die für ihn da sein würden. Er brauchte mich nicht.   Einen Moment lang war ich versucht, den Inhalt des Päckchens in den Müll zu werfen, aber dann verstaute ich die Sachen doch in meiner Sockenschublade. Inzwischen musste ich mir ja keine Sorgen mehr machen, dass meine Mutter sie fand. Im Gegenteil. Vielleicht war es sogar gut, wenn sie es sah. Ich glaube, es hätte sie beruhigt, denn natürlich war das Thema „Safer Sex“ nochmal auf dem Tablett gelandet, nachdem die Tatsache, dass sie nun einen schwulen Teenager zu Hause hatte, sich ein wenig gesetzt hatte. Ich hatte ihr versichert, dass ich auf jeden Fall aufpassen und mich verantwortungsbewusst benehmen würde. Und dass in nächster Zeit vermutlich ohnehin keine Gefahr bestand, da ich wieder Single war. Sie hatte ein bisschen traurig gelächelt und dann das Thema gewechselt. Ich wusste, dass da bestimmt noch einiges an Arbeit auf uns zukam, aber ich war mir ziemlich sicher, dass wir das hinkriegen würden.     Meine Schwester war, was meine Homosexualität anging, relativ locker vom Hocker. Sie maulte nur rum, dass ich ihr nicht früher was erzählt hatte. Björn war da nicht ganz so entspannt und wusste anscheinend noch viel weniger als zuvor etwas mit mir anzufangen. Als wir uns dann mal über den Weg liefen, meinte er gar, dass es ja doch ganz nett wäre, so einen schwulen Onkel in der Familie zu haben. Ich zeigte ihm einen Vogel und seitdem vermieden wir das Thema erst mal, so gut es ging. Immerhin hatten wir ja noch genug andere Sachen um die Ohren.     In der Schule herrschte dagegen relative Flaute. Dadurch, dass bereits alle Klassenarbeiten geschrieben waren und auch schon die meisten Zeugniskonferenzen hinter uns lagen, waren sowohl Lehrer wie auch Schüler so was wie „stets bemüht“. Es war daher für Frau Bertram nicht weiter schwer, die Schüler ihres Französischkurses immer mal aus dem anderen Unterricht abzuziehen, um mit uns zusätzliche Proben zu veranstalten oder die Kostüme für die Aufführung vorzubereiten. Wir hatten uns darauf geeinigt, jeder mit zwei großen Pappschildern vor Rücken und Bauch herumzulaufen, auf denen der jeweilige Name des Buches abgebildet war, das wir darstellten. Was die Gestaltung anging, war Mia diejenige, die am meisten Geschick bewies. Wo die meisten von uns sich damit begnügten, ihren Einband einfach in einer hübschen Farbe anzupinseln draufzuschreiben, hatte sie ihren vorderen Pappaufleger mit einer stilisierten Weltkugel verziert. Darüber verkündeten goldene Buchstaben „Géographie“. „Das sieht toll aus“, meinte ich zu ihr und sie freute sich sichtlich über das Lob, während sie mir eins ihrer hinreißenden Lächeln schenkte   „Danke. Deins ist aber auch nicht schlecht.“   Ich besah mir meinen dunkelblauen Einband. „Na ja, ist nichts Besonderes. Ich meine, ein Buch über Schimpfwörter? Gibt es das überhaupt?“ „Oh, wenn du wüsstest. Einige Sprachen sind wirklich sehr blumig, wenn es um Beleidigungen geht.“ „Ach wirklich?“ „Ja. Zumindest habe ich das bei meinen Reisen so erlebt. Es ist wirklich erstaunlich, was alles so jenseits unserer Grenzen passiert.“   Ich lächelte und kam mir ein weiteres Mal sehr unbedeutend neben ihr vor. Das wurde auch nicht besser, als schließlich der letzte Schultag herannahte und somit der Tag der Aufführung. Wobei eigentlich schon die ganze Woche merkwürdig gewesen war, angefangen vom Montag, an dem Herr Vogel verkündet hatte, dass er die Deutschstunden, die uns nach dem Abschluss unserer Buchbesprechung noch blieben, für die ausstehenden Geschichtsreferate und deren Besprechung nutzen würde.   Ich freute mich logischerweise nicht unbedingt darüber, nun noch mehr Geschichte zu haben, aber ich musste zugeben, dass das Thema Nationalsozialismus eines der bisher interessantesten gewesen war. Außerdem hatte „Unterm Rad“ mit dem Tod des Protagonisten geendet, von dem man nicht recht wusste, ob er den nicht wohl doch selbst herbeigeführt hatte und das war mir nun wirklich zu deprimierend. Somit fügte ich mich relativ willig in mein Schicksal und hielt abwechselnd mit Mia-Marie unseren Vortrag über die Widerstandsbewegung „Weiße Rose“. Das Abschlusswort hatte Mia-Marie großzügig mir überlassen und ich war ein wenig nervös, als ich da so mit meinem Zettel vor der Klasse stand. Trotzdem hielt ich meinen Kopf hoch und atmete noch einmal tief durch, bevor ich begann.   „Die Ereignisse von damals scheinen uns allen sehr weit weg und viele fragen sich vielleicht, warum sie sich überhaupt noch damit beschäftigen sollen. Schließlich wissen wir doch heute, was recht und was unrecht ist. Wir sind alle viel informierter als damals und denken uns, dass im Zuge der Globalisierung so eine Katastrophe doch nur noch in rückständigen Ländern, weit, weit weg von uns stattfinden kann. Doch im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Missstände ist jeder von uns gefragt. Wenn man sich einmal vorstellt, dass zu dem Zeitpunkt, an dem Hitler an die Macht kam, Hans Scholl gerade mal fünfzehn Jahre alt war, dann kann man sich vielleicht vorstellen, in was für einer Welt er damals aufwuchs. Es war normal rechts zu sein. Es war normal, Vorurteile zu haben. Es wurde zunehmend normaler, wegzusehen und Gewalt und Ungerechtigkeit zu tolerieren, solange sie einen nicht selber betraf. Das Opfer, dass damals er und viele, viele andere gebracht haben, um die Welt zum Aufwachen und Umdenken zu bringen, darf nicht umsonst gewesen sein. Denn es kommt auf jeden einzelnen von uns an. Auf die Taten und Worte jedes einzelnen, der sich fragen sollte: Was für ein Mensch möchte ich eigentlich sein?“   Als ich meinen Mund wieder zuklappte und meinen Zettel zusammenfaltete, herrschte für einen Augenblick lang Schweigen im Klassenzimmer. Ich wusste nicht, ob es nun an meiner Ansprache lag oder daran, dass eigentlich keiner mehr aufgepasst hatte, weil sowieso nur noch knapp fünf Tage bis zu den Ferien waren, aber als irgendeiner begann, auf den Tisch zu klopfen, schloss sich ihm der Rest der Klasse schnell an und Mia-Marie und ich durften uns eine Zwei für unser Referat abholen, bevor wir uns wieder setzten.   Nach diesem Vortrag vergingen zwei Tage, bis Jo mich eines Morgens ansprach. Ich wollte eigentlich gerade zur nächsten Geschichtsstunde aufbrechen – heute sollten Theo und Oliver ihr Referat halten – als er plötzlich vor mir stand und mich nicht wirklich ansah, während er in seinen Bart murmelte. „Also ich … ich wollte mich bei dir entschuldigen. Weil ich mich so blöd benommen habe.“   Ich wartete noch, ob er sich noch eine Begründung oder irgendwelche Details aus den Rippen leiern würde, was nun besonders dämlich daran gewesen war, aber da nichts mehr kam, seufzte ich einfach und meinte nur: „Ist gut, Schwamm drüber. Ist ja nichts Schlimmes passiert.“ „Dann sind wir klar miteinander?“ „Klar.“ „Gut. Du … du kommst Freitag?“ „Ja, vermutlich. Mal sehen.“   Die Wahrheit war nämlich, dass ich mir tatsächlich nicht sicher war, ob das eine gute Idee war. Auf Theos Party würde es mit Sicherheit Alkohol geben und wie das das letzte Mal geendet hatte, wussten wir wohl alle noch gut genug. Allerdings hatte ich da so meine Vorsichtsmaßnahmen getroffen, von denen ich hoffte, das sie ausreichend sein würden. Zuerst galt es jedoch, diese unsägliche Theateraufführung hinter uns zu bringen.     Die Aula war gerammelt voll, was mich nicht wirklich verwunderte. Zwar würden sicherlich einige der Anwesenden kein Wort der Aufführung verstehen – immerhin waren beide Lateinkurse vollständig vertreten und das vermutlich auch nur deswegen, weil die Alternative in schnödem Unterricht bestanden hätte – aber das war immer noch besser, als sich vor fünf Hanseln die Seele aus dem Leib zu spielen. Nicht, dass ich das vorhatte (wir erinnern uns mal eben daran, dass ich kaum drei Sätze zu sagen hatte) aber ich freute mich für die anderen, dass sie ein so zahlreiches Publikum hatten.   „Ich krieg ne Krise“, verkündete Mia-Marie nun schon zum dritten Mal, nachdem sie einen Blick in die Aula geworfen hatte. „Was wollen die alle hier?“   „Dich als Katze sehen?“   „Sollen sich Karten für Cats besorgen“, fauchte sie und wollte schon wieder an ihrer Nase reiben.   „Lass das, du verwischst den Kajal“, wies ich sie zurecht. Immerhin hatte ich mir echt Mühe gegeben, ihr eine Katzennase zu malen. Ich fand, dass es gar nicht schlecht aussah und wirklich gut zu dem Haarreif mit den schwarzen Ohren passte, der aus ihrem dichten Haarschopf hervorragte. Ihr hatte ich ehrlicherweise noch nichts von meinem Schwulsein erzählt, aber ich war mir relativ sicher, dass sie eine der Nächsten sein würde, die es erfuhren. Dann könnte sie aufhören, rot zu werden, wenn wir miteinander sprachen, und ich musste mir nicht innerlich einen abkrampfen, wenn sie mich nach meiner Freundin fragte. Win-Win-Situation sozusagen.   „Seid ihr alle soweit“?, wollte Frau Bertram wissen. Sie lief heute ganz stilecht mit einer Baskenmütze herum und würde die einzige Rolle übernehmen, die noch weniger zu sagen hatte als ich. Den Herd. Das erlaubte ihr, die ganze Zeit in einem großen Pappkarton auf der Bühne herumzusitzen und uns im Notfall soufflieren zu können, falls jemand seinen Text vergaß.   Ihre Sorge war jedoch unbegründet. Die Proben machten sich durchaus bezahlt und während wir also als übergroße Buchattrappen über die Bühne stolperten und uns am Ende alle zusammen eine „Gute Nacht“ wünschten, musste unsere Lehrerin uns nicht einmal einsagen.   Ich selbst war auch ganz zufrieden mit meiner Performance als chauvinistisches Schimpfwörterbuch und verbrachte nach meinem Auftritt die meiste Zeit damit, in meinem „Regal“ zu stehen und die anderen Bücher sowie das Publikum zu beobachten.   Okay, ja, ihr habt mich erwischt. Ich hab natürlich nicht das ganze Publikum beobachtet, sondern nur einen ganz bestimmten Schüler, der in der vierten Reihe ganz außen saß und die Aufführung trotz vermutlich nicht vorhandenen Sprachkenntnissen wie gebannt verfolgte. Die Rede ist natürlich von Theo und auch wenn ich in der Lage war, ihn während meines eigenen Auftritts aus meinem Kopf zu verbannen, so kam ich nicht umhin, den Ausdruck auf seinem Gesicht zu bemerken, wann immer Mia dran war, wieder ein Stück Text vorzutragen. Da sie die Hauptperson war, hatte er viel damit zu tun, an ihren Lippen zu hängen, und je länger er das tat, desto sicherer war ich mir, dass ich auf dieser Party heute Abend nichts verloren hatte. Es würde ja doch nur mit einem weiteren gebrochenen Herzen enden.   Als der „Vorhang“ fiel und wir alle noch einmal auf der Bühne mit Applaus bedacht wurden – den wir stehend absolvierten, weil man sich in unseren Verkleidungen nämlich nicht verbeugen konnte – hatte ich einmal kurz das Gefühl, dass sich mein Blick mit Theos traf. Es war nur ein flüchtiger Moment und doch glaubte ich, dass sich unsere Augen für einige Millisekunden ineinander verhakten, bevor er wieder wegsah und ich mich anstrengte mich daran zu erinnern, dass es nur eine Einbildung gewesen war. Es klappte nicht besonders gut und in diesem Moment war mir klar, dass ich auf die Party gehen würde, komme was da wolle.     Der Abend des letzten Schultags kam und mit ihm mein Auftritt, für den ich leider kein Skript bekommen hatte. Entschlossen drückte ich auf den Klingelknopf. Es dauerte, bis ich drinnen Schritte hörte und sich die Tür vor meiner Nase einen Spalt breit öffnete. „Ja?“   Ich setzte ein Lächeln auf. „Guten Abend, Frau Wischnewsky. Ist Anton fertig?“ Antons Mutter rümpfte die Nase.   „Ich muss dich enttäuschen, Benedikt, aber du kommst umsonst. Anton wird nicht auf diese Party gehen. Er hat mir gesagt, dass sie auf einem Bauernhof stattfindet. Weißt du, gegen wie viele Tiere Anton allergisch ist?“   „Gegen alle?“, mutmaßte ich vorsichtig. „Aber Frau Wischnewsky, Sie können Anton nicht immer hier einsperren. Er muss rausgehen und sein Leben leben. Sie können ihn nicht vor allem beschützen.“   „Aber …“, begann sie, wurde jedoch von Anton unterbrochen, der hinter ihr die Treppe runterkam. „Mutter, ich werde auf diese Party gehen. Egal ob du es mir erlaubst oder nicht.“   Wäre Frau Wischnewsky ein Hund gewesen, so hätten sich jetzt wohl ihre Nackenhaare zu einer empörten Bürste aufgestellt. So aber beließ sie es bei einem sauertöpfischen Gesichtsausdruck.   „Wenn du das machst, brauchst du gar nicht erst wiederzukommen.“ „Gut“, sagte Anton nur. „Ich schlaf dann bei Benedikt.“ Damit ließ er seine Mutter stehen und kam mit mir zum Gartentor, hinter dem meine Mutter schon in unserem kleinen, roten Auto auf uns wartete. „Hast du dir das auch gut überlegt?“, fragte ich.   „Nein“, gab er ehrlich zu und schob seine Brille unnötigerweise nach oben. „Aber du hast gesagt, dass du mich mit dabeihaben willst, also komme ich. Ich bin doch schließlich dein Freund.“   „Der beste“, bestätigte ich und ließ ihn vor mir einsteigen, bevor ich mich zu ihm auf den Rücksitz quetschte. „Ich bin froh, dass du da bist.“   „Ich auch“, sagte er und wandte sich dann an meine Mutter. „Sie können losfahren, Frau Dorn. Ich bin angeschnallt.“   „Das ist gut zu hören“, lachte meine Mutter und startete den Wagen, um uns endlich zu dieser Party zu bringen.     Das Anwesen, auf das wir einige Zeit später einbogen, verdiente gut und gerne das Attribut groß. Im Grunde genommen war das vielleicht sogar fast ein wenig untertrieben, wenn man sich die Ausmaße des blitzsauberen und aufwendig restaurierten Dreiseitenhofes so ansah. Es war unverkennbar, dass das „von“ bei Theo nicht nur dem Namen nach existierte. Sogar meine Mutter staunte ehrfürchtig über die üppigen Rosenbeete und die fast schon parkähnliche Gartenanlage, die sich neben einem der Gebäude ausbreitete, das wohl das Haupthaus darstellte. „Hier würde ich auch mal Urlaub machen“, meinte sie und spielte damit wohl darauf an, dass ein Schild an der großen Auffahrt auf freie Ferienwohnungen hingewiesen hatte. Auf einer Weide daneben hatten einige Ponys gegrast. Die würden die Nacht wohl im Freien verbringen, denn aus dem Gebäude, das offenbar die Scheune nebst Stall beherbergte, drang bereits laute Musik. Die lieben Tierchen schonten daher vermutlich ihre Ohren und ließen uns unsere Party alleine feiern.   „Also, ich hole euch dann nachher wieder ab. Macht keinen Blödsinn und trinkt nicht so viel.“ „Ist gut, Mama“, versicherte ich und ließ mich sogar zu einem höchstpeinlichen Wangenkuss hinreißen, bevor meine Mutter das Autofenster wieder hochkurbelte und endlich von dannen fuhr.   Mit gemischten Gefühlen sah ich zu dem grün gestrichenen Tor, hinter dem mich sozusagen mein Schicksal erwartete. „Möchtest du lieber wieder nach Hause?“, fragte mich Anton ernst und ich zog das tatsächlich einen Augenblick lang in Erwägung, bevor ich langsam den Kopf schüttelte.   „Nein, es endet hier und heute. Auf die eine oder andere Weise.“ Anton sagte nichts zu meiner dramatischen Ansprache. Ich brauchte auch nicht zu fragen, ob er darüber im Bilde war, was diese Party für mich bedeutete. Inzwischen hatte ich mich damit abgefunden, dass Anton Dinge eben einfach wusste. Er selbst war an diesen ganzen Liebesverwicklungen sogar hochinteressiert, wenngleich auch eher als Beobachter. Er meinte, dass er vermutlich entweder sehr spätentwickelnd wäre oder schlichtweg über eine nicht vorhandene Libido verfügte. Ich wusste nicht recht, ob ich ihn darum beneiden sollte, aber ihm schien nichts zu fehlen und immerhin blieb ihm so jede Menge Ärger erspart.   Als ein weiteres Auto hielt und einige Mädchen aus unserer Klasse ausstiegen, nutzten wir die Gelegenheit, um mit ihnen hineinzugehen. Stallgeruch schlug uns entgegen zusammen mit wummernden Bässen, die von irgendwo oberhalb kamen. Eine steile Holztreppe führte weiter nach oben zu einer gläsernen Galerie, über der ein Gewirr aus Holzbalken die von mehreren Fenstern durchbrochene Wellblechdecke trug. Während auf der einen Seite des riesigen Areals meterdicke, runde Strohballen aufgetürmt waren, von denen einige auseinandergefplückt als Fußbodenbelag dienten, waren auf der anderen ein Tisch mit Essen und Getränken sowie eine Musikanlage und eine Tanzfläche aufgebaut worden. Rote, grüne und blaue Lichter flackerten abwechselnd darüber und tauchten den Heuboden in die buntesten Farben. „Oh weh“, sagte ich und zeigte auf das Stroh, das natürlich von einigen gleich als Balg- und Liegewiese missbraucht wurde. „Schaffst du das mit deiner Allergie.“ „Klar“, meinte Anton nur und nahm zur Sicherheit noch einen Zug aus seinem Asthmaspray, bevor wir uns ins Getümmel stürzten. Es dauerte nicht lange, bis Theo uns entdeckte. Als er Anton an meiner Seite entdeckte, hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, dass er erleichtert war. Dann jedoch erschien wieder sein übliches Pokerface. „Hey, schön dass ihr kommen konntet.“   „Klar, das lassen wir uns doch nicht entgehen“, gab ich lässig zurück und fand mich wirklich cool in Anbetracht der Tatsache, dass ich gerade vor dem Typen stand, in den ich immer noch bis über beide Ohren verliebt war. Vor allem, weil Theo sich heute auch noch zurechtgemacht hatte. Also nicht wirklich fein oder so. Er trug helle Jeans, ein einfaches weißes T-Shirt und seine Haare saßen so, wie Out-of-Bed-Style auszusehen hatte, wenn er richtig gut gemacht war, und nicht so, wie wenn ich mir einfach nach dem Duschen die Haare trockengerubbelt hatte. Dagegen wirkte ich mit meinem Hemd (ja, das dunkelblau-gemusterte wieder; meine Güte, ich hab halt kein anderes) und Anton mit seinem biederen Poloshirt und der Brille ein bisschen wie die Streber von der letzten Bank. Was wir wohl irgendwie auch waren.   „Nehmt euch Essen und Trinken, was ihr wollt. Schnaps steht übrigens unterm Tisch.“   Er lächelte und ich fühlte mein Herz einen kleinen Hüpfer machen. Das würde schwerer werden, als ich gedacht hatte. Ich bekam ein schiefes Grinsen zustande.   „Danke, ich bleib heute nüchtern. Hat mir mein Arzt geraten.“   Theo wollte wohl gerade noch etwas dazu sagen, als sein Blick auf einmal unkonzentriert an mir vorbei in Richtung Treppe glitt. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer da gerade gekommen war.   „Ich, äh … ihr findet dann alles?“, fragte Theo und wischte sich fahrig die Hände an seiner Jeans ab. Ich nickte, obwohl sich alles an mir sträubte, ihn gehen zu lassen. Trotz des allgegenwärtigen Heubodengeruchs war ich mir sicher, sein After Shave riechen zu können.   „Klar, geh nur“, meinte ich locker und verzog mich mit Anton in eine Ecke. Ich besorgte uns zwei Becher mit Cola und sah zu, wie Theo Mia begrüßte. Sie trug heute ebenfalls eine Jeans und ein weißes Top mit einer hellblauen Strickjacke darüber. Es war, als hätten die beiden sich abgesprochen. Und wie sie sich anlächelten … als wären die restlichen Gäste nicht mehr als Fliegen auf einer Kuhweide. Lästig aber irgendwie unvermeidbar. Es war klar, dass der Gast, auf den Theo gewartet hatte, endlich angekommen war.   Ich seufzte leise.   „Mach dir nichts daraus“, tröstete Anton mich und ich versuchte, so gut es ging zu verbergen, dass ich eigentlich gerne gleich wieder nach Haus gewollt hätte. Denn es gab noch etwas, dass ich sehen musste. Etwas, das es endgültig machte.     Es wurde zunehmend später, der Abend lustiger, die Leute betrunkener. Der harte Alkohol tat in Zusammenarbeit mit diversen Bierkästen seine Wirkung, und wenn mich nicht alles täuschte, würde der eine oder andere morgen sicherlich mit einem Kater aufwachen. Anton und ich verbrachten nicht zuletzt wegen Antons Allergie die meiste Zeit des Abends auf der Bank in der Ecke, die am weitesten von all dem Stroh entfernt war. Nur einmal entschuldigte ich mich zur Toilette und warf dabei einen Blick in die Welt, in der Theo normalerweise lebte.   Eine große, behaglich eingerichtete Diele empfing mich. Von hier aus führte eine offene Holztreppe nach oben und verschwand irgendwo in den oberen Stockwerken. Für einen Augenblick war ich versucht ihr zu folgen, um mir Theos Zimmer anzusehen, aber dann fiel mir auf, wie lächerlich dieser Gedanke war. Ich war hier nicht mehr als ein Gast und würde auch nie mehr sein. Es wäre töricht gewesen, sich etwas anderes zu erhoffen. Daher drehte ich mich um und schlüpfte durch die gekennzeichnete Tür um zu erledigen, weswegen ich gekommen war und nicht mehr.   Als ich zurückkam, waren die harten Beats gerade zu etwas ruhigeren Rhythmen übergegangen und jemand hatte die großen Scheinwerfer gelöscht, sodass behagliches Licht die ehemalige Scheune erleuchtete. Ich sah mich nach Theo um und entdeckte ihn in einer Ecke, von der aus er in eine für mich nicht schwer erkennbare Richtung starrte. Das Objekt seiner Begierde stand allerdings völlig ahnungslos am Rand der Tanzfläche herum und unterhielt sich.   So wird das ja nie was, dachte ich bei mir und sah noch einmal zwischen den beiden hin und her. Natürlich hätte ich jetzt zu Theo gehen und ihn in ein Gespräch verwickeln können. Wir hätten uns anschweigen oder anstottern können und es wäre vermutlich nichts dabei herausgekommen. Oder aber ich tat etwas dafür, damit ich endlich mit ihm abschließen konnte.   Ich warf noch einen Blick auf Anton, der ziemlich vergnügt auf seiner Bank saß und vermutlich von der ganzen Cola in seinem Bauch einen Zuckerrausch hatte. Er würde meine Abwesenheit wohl noch einen Augenblick länger ertragen.   Mit einem festen Ziel vor Augen bahnte ich mir einen Weg durch die Menge, bis ich vor Mia und ihrer besten Freundin stehenblieb. „Hey Anne. Würdest du mit mir tanzen?“   Mia und ihre Freundin sahen sich erstaunt an und flüsterten kurz miteinander, bevor Anne mir ein wenig zögernd auf die Tanzfläche folgte. Dort angekommen lächelte ich sie an und begann, mehr schlecht als recht mit ihr zu tanzen – ohne sie anzufassen selbstverständlich – während ich immer mal zu Theo rüberschielte, der hoffentlich den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hatte.   Ich beobachtete, wie er in seiner Ecke mit einem tiefen Atemzug seinen Pappbecher leerte und sich dann doch tatsächlich in Richtung Mia in Bewegung setzte. Als er sie ansprach, lächelte sie und sie begannen sich zu unterhalten. Es sah aus, als wenn sie sich gut verstehen würden. „Äh, weißt du, wo hier das Klo ist?“   Ich blinzelte und wandte meine Aufmerksamkeit wieder Anne zu. Sie sah nicht unbedingt begeistert aus. „Ja, die Treppe runter und über den Hof ins Wohngebäude. Erste Tür links. „Okay, ich geh dann mal.“   Sie verabschiedete sich und ließ mich einfach stehen, aber mir war das egal. Ich hatte sie ja ohnehin nur weglocken wollen, denn jetzt passierte doch tatsächlich das, weswegen ich eigentlich gekommen war.   Immer noch auf der Tanzfläche zwischen all den Pärchen stand ich da und beobachtete, wie Theo Mia zum Tanzen aufforderte. Ein wenig ungeschickt legte er im Schein der rot, blau und gelb blinkenden Scheinwerfer die Arme um sie, während sie einen Schritt näher trat und seinen Nacken umfasste. Ich sah zu, wie sie miteinander tanzten, sich danach unterhielten und als sie irgendwann kurz darauf in Richtung des Strohlagers verschwanden, folgte ich ihnen unauffällig.   Ganz kurz meldete sich mein schlechtes Gewissen, dass ich eigentlich so langsam mal zurück zu Anton müsste, aber ich war mir sicher, dass er Verständnis haben würde. So man denn Verständnis dafür haben konnte, dass ich hier wie ein Stalker meinem Schwarm und seiner Angebeteten hinterherschlich und sie beobachtete, wie sie sich hinter einen der Strohballen zurückzogen, die hier zu Dutzenden herumlagen.   Ich wartete eine ganze Weile und es bedurfte nicht viel Fantasie mir auszumalen, was jetzt auf der anderen Seite passierte. Doch ich konnte meinen Posten einfach nicht verlassen. Ich musste es sehen.   Als sie irgendwann tatsächlich wieder auftauchten, sagte mir die Art, wie ihre Augen leuchteten, alles, was ich wissen musste. Es hätte nicht das Händchenhalten gebraucht, um zu wissen, dass es vorbei war. Ich hatte verloren. Cinderella hatte den Prinzen geküsst und von nun an würde er unter ihrem Bann stehen. Der Frosch konnte wieder zurück in seinen Teich hüpfen.   Langsam drehte ich mich um und ging zu Anton zurück, der mir mit einem fast schon mitleidigen Ausdruck auf dem Gesicht entgegenblickte. „Und?“, fragte er und wusste wohl, warum ich so lange weg gewesen war.   „Fahren wir heim“, sagte ich lediglich, während ich mich noch einmal nach dem glücklichen Paar umsah, das am anderen Rand der Tanzfläche stand. Tatsächlich schienen beide gerade mal nicht nur Augen füreinander zu haben, sondern suchten beide die Menge ab. Vermutlich wollte Mia ihrer Freundin die guten Neuigkeiten verkünden. Ich wollte mich gerade abwenden, als sich Theos und mein Blick trafen.   Mir war, als hätte ich einen elektrischen Schlag bekommen. Es war womöglich nur Einbildung – schließlich war es dunkel und all das – aber für diesen einen Moment war es, als würde Theo mich und nur mich ansehen. Ich blickte zurück über die Masse an Leuten hinweg und ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen steigen wollten.   Verdammt, nein, das würde ich nicht zulassen. Ich würde es nicht verderben, denn nur so konnte es endlich vorbei sein. Nur so konnte ich endlich wieder frei sein von diesem Trugbild, das mich jetzt schon so lange verfolgte und dem ich noch in tausend Jahren nachjagen würde, ohne es jemals zu erreichen. Es würde mich auffressen und kaputtmachen, wenn ich es jetzt nicht beendete. Ich musste endlich mit Theo abschließen.   Also nahm ich all meine Selbstbeherrschung, all meinen Mut und alle Kraft, die ich noch in mir hatte, zusammen und schob meine Mundwinkel ganz langsam nach oben. Ich zwang sie förmlich sich zu erheben und dann lächelte ich. Für ihn.   Theo schien einen Augenblick lang irritiert, doch dann breitete sich auch auf seinem Gesicht ein Lächeln aus. Eines, das sagen wollte: Guck mal, ich hab’s geschafft. Vielen Dank für alles. Aber vielleicht war das auch nur meine Einbildung. Ich war ja bekanntlich gut darin, mir etwas einzubilden. „Wollen wir dann?“, fragte Anton und sah mich durch seine neue Brille an, als wüsste er ganz genau, was gerade passiert war. „Ja, los. Lass uns meine Mutter anrufen.“   Wir hätten natürlich noch drinnen bleiben können, denn schließlich würde meine Frau Mama noch eine Weile brauchen, bis sie hier ankam, aber ich fand, dass ich Anton für heute Abend genug zugemutet hatte. Es wurde Zeit, den Ort des Geschehens zu verlassen.     Draußen an der frischen Luft war auch mir, als könne ich wieder freier atmen. Der Mond schien aus einem wolkenlosen Himmel herab und tauchte das ganze Anwesen in silbriges Licht. „Weißt du, ich glaube, das mit der Liebe ist irgendwie noch nichts für mich“, schwadronierte ich tiefsinnig, während wir über den knirschenden Kies in Richtung Straße gingen. „Ich meine, wer braucht denn diesen ganzen Zirkus mit Herzschmerz und Liebeskummer und der ständigen Unsicherheit, ob man nun endlich den oder die eine gefunden hat. Allein ist man doch bestimmt viel besser dran.“   „Der Mensch ist ein soziales Wesen“, gab Anton sachlich zur Antwort. „Außerdem sind sexuelle Gelüste in deinem Alter was ganz normales.“ Ich musste lachen.   „Tja, dann werde ich das wohl einfach aushalten müssen, bis sich das wieder gelegt hat so in 20 oder 30 Jahren.“ „Viele Männer sind bis ins hohe Alter potent. Selbst mit 70 ist es theoretisch gesehen noch möglich, Vater zu werden.“ „Du findest doch immer wieder die richtigen Worte.“ „Ich nehme nicht an, dass das ernst gemeint war?“ „Nein, natürlich nicht.“   Ich grinste Anton an und er schob – mal wieder – seine Brille nach oben, bevor ihm aufging, dass er das jetzt nicht mehr musste. Er sah seine Hand an und seufzte. „Einige Angewohnheiten brauchen wohl länger, bis man sie sich abgewöhnt hat.“ Ich grinste ihn an. „Na dann haben wir jetzt ja beide etwas, an dem wir arbeiten können.“   Er lachte und ich schlang, einem plötzlichen Gefühl folgend, meinen Arm um Antons Schulter. Mochte sein, dass ich das mit der Liebe nicht so drauf hatte, aber vielleicht sollte ich mich in nächster Zeit erst einmal darauf konzentrieren, wie man ein guter Freund war. Für alles andere hatte ich ja, Antons Informationen zufolge, noch den Rest meines Lebens lang Zeit. Ende Epilog: Von bekannten Mustern und neuen Zielen ---------------------------------------------- Ein Jahr später     Ach, ihr seid ja immer noch da. Hätt ich jetzt nicht gedacht. Ich meine, die Geschichte ist zu Ende, die Prinzessin hat ihren Märchenprinz und der Frosch ist wieder zurück in den Teich gehüpft. Alles prima, oder? Was?   Ich hab noch was vergessen?   Was denn nur?   Oliver?   Ach, du meine Güte, ja. Den Knilch hab ich wohl echt verdrängt. Also gut, ich geb euch nochmal die Schnellzusammenfassung. Nachdem wir von der Klassenfahrt wiedergekommen waren, hielt der gute Oliver erstaunlicherweise seine Füße still. Keine Ahnung, ob es daran lag, dass Jo ihm quasi die Freundschaft gekündigt hatte oder an meinem neuen, selbstsicheren Auftreten. (Haha!) Aber nachdem das mit Julius ausgestanden war, hatte ich für Oliver eigentlich nur noch ein müdes Lächeln übrig. Was wollte er denn machen? Mich vor der Schule outen? Sollte er doch. Mir war das inzwischen relativ egal. Außerdem hörte ihm sowieso keiner mehr so wirklich zu. Tja und zwei Tage vor Ferienbeginn kam er dann plötzlich nicht mehr. Warum erfuhren wir erst im neuen Schuljahr. Er war klebengeblieben und durfte jetzt den Leuten eine Stufe unter uns auf die Nerven gehen. Ich war, wie fast alle anderen auch, in die Oberstufe aufgestiegen und durfte daher einen neuen Platz in der Pausenhalle beziehen, sodass sich selbst in den Zeiten zwischen den Unterrichtsstunden unsere Wege nur noch selten kreuzten. Irgendwann ist er dann mitten im Schuljahr vollkommen von der Bildfläche verschwunden. Ganz kurz kam zwar mal das Gerücht auf, er hätte sich was angetan, aber der Grund für sein Wegbleiben war wohl sehr viel simpler. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen und er war mit seiner Mutter irgendwo zu ihrer Familie nach Süddeutschland gezogen. Ich hoffe, dass er sich dort jetzt ein bisschen besser benimmt.   Was noch …?   Die Hochzeit. Ja, das war schon so ganz nett. Nicht meine Art von Veranstaltung, aber meine Schwester sah toll aus, mit dem Caterer hat fast alles geklappt, es ist keiner betrunken in den Gartenteich gefallen und am Ende waren sie und Björn verheiratet und das ist ja nun irgendwie der eigentliche Sinn des Ganzen gewesen. Ich hatte mir Anton als seelische Unterstützung miteingeladen und wir haben uns irgendwann zum Zocken in mein Zimmer verzogen. War also erträglich.   Kurz nach Weihnachten kam dann auch das Baby. Etwas zu früh, war aber wohl nicht schlimm und nach ein paar Tagen durfte ich mir dieses schrumpelige Bisschen Mensch dann auch aus der Nähe angucken. Ein Mädchen war es geworden. Warum meine Schwester sie nun unbedingt Josephine nennen musste, geht mir zwar immer noch nicht in den Kopf, aber Josie und ich kommen so ganz gut miteinander klar, wenn sie nicht gerade schreit oder stinkt oder am Busen ihrer Mutter hängt. Inzwischen kann man sie auch schon auf den Arm nehmen, ohne gleich irgendwas abzubrechen, und wenn sie mich dann mit ihren mittlerweile schon anderthalb Zähnchen anlächelt und vergnügt quietscht, bevor sie mir den Finger ins Auge bohrt, dann ist das schon so ganz niedlich.     Der eine oder andere fragt sich vielleicht auch, was aus Julius geworden ist und bis vor ein paar Wochen hätte ich gesagt, dass ich euch das leider nicht sagen kann, aber dann sind meine Mutter und ich ihm Pfingsten auf einem Kunsthandwerks-Markt über den Weg gelaufen. Das war total seltsam, weil wir da eine ganze Strecke mit dem Auto hingefahren sind und ich so gar nicht mit ihm gerechnet hatte, aber dann stand er auf einmal da zwischen Töpferkram und handgewebtem Schurwollsachen und strahlte von einem Ohr zum anderen. An seiner Seite hatte er nämlich einen Mann und – und nun haltet euch fest – ein kleines Mädchen. Die Lütte war vielleicht vier und streckte gerade die Arme aus, um von Julius hochgehoben zu werden. Der andere Mann, von dem ich vermute, dass es der Vater des Mädchens war, da die beiden die gleichen, dunklen Haare hatten, drohte ihr spielerisch mit dem Zeigefinger, woraufhin sich Julius mit ihr gegen ihren Papa verbündete und sie schließlich doch eine der Tonpfeifen bekam, die an dem Stand verkauft wurden, vor dem sie standen. Just in dem Moment, in dem Julius dem Mädchen das wie ein Vogel geformte Instrument in die Hand gedrückt hatte, sah er hoch und unsere Blicke begegneten sich. Er guckte erst ein wenig komisch, bevor er sich bei seinem Begleiter entschuldigte und doch tatsächlich zu mir rüberkam. Da meine Mutter gerade die Nase in irgendwelchen rostigen Gartendekorationen vergraben hatte, nutzte ich die Gelegenheit, um mich von ihr loszueisen und ihm entgegenzugehen. Tja, und da standen wir nun inmitten der Mengen und schauten uns an. „Hallo Benedikt“, sagte er irgendwann. „Hallo Julius“, antwortete ich. Es war eigenartig, ihn wiederzusehen nach all der Zeit. Ich sah ihm an, dass ihm das Ganze auch unangenehm war, weswegen ich hinter ihn deutete. „Ist das dein neuer … äh … Freund?“   Er lächelte. „Ja, ist er. Wir … wir wohnen zusammen.“   Ich schluckte das „so schnell“ herunter, das mir auf der Zunge lag. Es wäre nicht richtig gewesen, ihn das zu fragen. Zumal der Typ aussah, als hätte er Kohle. Keine Ahnung, wie ich darauf kam, aber er wirkte so … gediegen. Im Grunde genau so, wie ich mir Julius’ Ex immer vorgestellt hatte. Der, der ihm damals Frau und Kinder verschwiegen hatte. Anhand des Alters der Kleinen konnte es jedoch nicht derselbe Mann sein. Er musste jemand neuen kennengelernt haben, der aber wie es aussah, zu seiner Homosexualität stand. Immerhin war er mit Julius hier oder nicht?   „Was macht die Ausbildung?“, fragte ich, um das Gespräch nicht vollkommen einschlafen zu lassen. „Mache ich jetzt im Fernstudium. Ich arbeite in Rafaels Büro und … na ja. Das willst du bestimmt alles gar nicht wissen.“ Ich lächelte. „Ich denke mal, es geht mich wohl auch nichts an.“ Er nickte und wollte sich schon umdrehen, als ich ihn noch einmal aufhielt. Er sah mich ein wenig irritiert an, also ließ ich seine Hand schnell los und steckte meine zur Sicherheit gleich in die Hosentasche.   „Ich … ich freu mich für dich“, sagte ich und er nickte nur, bevor er wieder zurückging zu seiner kleinen Familie. Die, die er sich so lange gewünscht hatte.     Ich selbst habe inzwischen noch keine neue Beziehung gehabt. Es mangelt irgendwie ein wenig an Angebot und außerdem … na ja. Da ist immer noch Theo. Dass Theo und Mia das neue Traumpaar waren, muss ich vermutlich nicht unbedingt erwähnen. Sie waren allerdings nicht die einzigen, die zueinander gefunden hatten, und so durfte man seit den letzten Ferien auch Ben und Sandra beim Händchenhalten (und Streiten) beobachten. Jo führte nach Nele und noch irgendwem inzwischen ein Mädchen aus der ehemaligen 10c spazieren und dann gibt es noch einige andere, die ich euch jetzt mal erspare, weil ihr euch die sowieso nicht alle merken könnt. Es wird also heftig geturtelt – jetzt nicht so, dass sich da wer in aller Öffentlichkeit die Zunge in den Hals steckt, aber man merkt halt, wenn zwei zusammen sind – und ich beobachte das Ganze eher misstrauisch aus der Ferne, weil ich dieser ganzen Sache mit der Liebe immer noch nicht so recht traue.   Nur manchmal, wenn ich nachts wachliege, denke ich darüber nach, was wohl passiert wäre, wenn ich Theo damals gesagt hätte, was Sache ist. Was ich für ihn empfand und vielleicht immer noch empfinde. Denn warum sonst würde es mir so einen Stich versetzen, wenn ich ihn und Mia zusammen sehe. Oder warum hab ich so grinsen müssen, als unser Deutschlehrer letztens sagte: „Von Hohenstein ist schlecht? Aber den habe ich doch gerade noch in der Mittagspause mit seiner Freundin in der Stadt gesehen. Na ja, da würde mir auch schlecht werden.“   Aber die Gelegenheiten, zu denen Theo und ich uns über den Weg laufen, sind akut weniger geworden. Dank des Kurssystems haben wir kaum noch Stunden zusammen. Sogar in unterschiedliche Sportkurse sind wir eingeteilt worden und wenn ich irgendwann endlich Erdkunde abwählen kann, haben wir noch ganz genau Deutsch und Geschichte zusammen. Wobei das auch eher daran liegt, dass es keinen Deutschleistungskurs gibt, den er wohl eigentlich gerne gewählt hätte, wie ich mal mitbekommen habe, aber es haben sich nicht genug Leute dafür zusammen gefunden. Die einzige andere Gelegenheit, die sich dann noch ergibt, ist, wenn er Mia vom Französisch abholt, denn meinen Job im Sportladen habe ich inzwischen geschmissen. Ich wollte einfach nicht mehr so viel Zeit mit Theo allein verbringen. Wir haben uns zwar nicht gestritten, aber das ständige Lächeln, während er mir von Mia vorschwärmt, war doch etwas anstrengend. Wobei es wirklich echt schwierig ist, sie nicht zu mögen, aber gleichzeitig ist sie halt die, die das Rennen gemacht und sich noch nicht mal dafür angestrengt hat. Es gibt eben so Leute, die alles schaffen, nur weil sie existieren. Die perfekt sind, ohne jemals etwas dafür zu tun. So jemand ist Mia und ich glaube, dass sie Theo sehr glücklich macht.   Wobei … ganz manchmal erwische ich ihn dabei, dass er noch zu mir rübersieht. Bilde ich mir wenigstens ein. Er kommt auch ab und an zu mir und beginnt ein Gespräch über irgendetwas total Belangloses, fast so als wäre er mit der Entscheidung, die er damals gefällt hat, doch nicht so hundertprozentig zufrieden. Aber vermutlich ist das mal wieder nur meine blühende Fantasie, die mir da einen Streich spielt. Inzwischen meide ich Gelegenheiten, wo wir uns über den Weg laufen können, auch tunlichst. Ich will nicht noch Öl ins Feuer gießen, denn, wenn ich ehrlich bin, bin ich noch nicht so wirklich über ihn hinweg. Anton hat gesagt, es gäbe einen sehr passenden, englischen Ausdruck dafür. „The one that got away“. Der oder die eine, der wie für dich geschaffen schien und den das Schicksal dir wieder entrissen hat, ohne dich nach deiner Meinung zu fragen. Es hat nicht gepasst, warum auch immer. Und im Nachhinein fragt man sich dann wieder und wieder, was wohl daraus geworden wäre. Man idealisiert und romantisiert und betrachtet denjenigen durch eine ganz furchtbar rosarot gefärbte Brille und ist der Meinung, dass man vermutlich viel glücklicher wäre, wenn man nur diese eine Beziehung hätte retten können. Aber es hat eben einfach nicht sollen sein und vielleicht war es am Ende besser so. Versuche ich mir zumindest immer einzureden.   Bei Theo muss ich inzwischen wohl davon ausgehen, dass er halt doch einfach nicht auf Kerle steht, obwohl … wie gesagt … manchmal da denke ich, dass da … Ach lassen wir das. Es hat ja doch keinen Sinn. Theo ist mit Mia zusammen und ich bin nur der Typ, den er gut leiden kann und irgendwann mal geküsst hat und den er aus welchen Gründen auch immer auch dieses Jahr wieder zu seiner Party eingeladen hat. Wobei auch das nichts heißen muss, denn, wie ich schon beim ersten Mal orakelt habe, hat sich das Ganze zu einem jahrgangsweiten Sache entwickelt, sodass eben heute einfach jeder hier ist. Leider konnte Anton nicht kommen, denn er muss morgen zu irgendeinem Tanten-Geburtstag in Hintertupfingen. Seine Mutter hat darauf bestanden und, obwohl er sich inzwischen schon nicht mehr so viel von ihr sagen lässt, hat er gemeint, dass er da wohl mitmüsse. Des lieben Friedens willen. Also sind sie heute direkt nach der Schule losgefahren und mich hat meine Mutter alleine hier abgesetzt.   Aber ich komme klar, ja wirklich. Ich hab mir eine der Flaschen geschnappt, die dieses Mal schon öffentlich auf dem Tisch stehen – immerhin sind wir ja jetzt schon ein ganzes Jahr älter und reifer – und hab mich damit in eine Ecke des Strohbodens verzogen. Ist so ganz nett hier zu liegen und das duftende Heu zu riechen, das Gekicher und Geraschel der knutschenden Pärchen und wenn ich jetzt nicht mal müsste, würde ich wohl hier liegenbleiben und irgendwann einpennen. Aber das geht ja nun wirklich nicht, also werde ich mich mal aufmachen und drüben das Örtchen aufsuchen. Ihr wisst schon. Das in der Diele, wo die Treppe nach oben führt in Theos Zimmer. Und vielleicht gucke ich mir das doch mal an. Wird schon keiner mitkriegen. Ich meine, irgendwie ist er mir das doch schuldig, oder? Dass ich wenigstens einmal das Bett sehe, in dem ich nie liegen werde, weil er sich für Mia entschieden hat. Ich finde schon.   Also dann: Macht’s gut. Ich gehe jetzt nämlich mal dahin, wo auch der Kaiser zu Fuß hingeht, und da müsst ihr ja nun wirklich nicht mitkommen. Von daher wünsche ich euch noch ein wundervolles Leben und vor allem mehr Glück als ich mit dieser seltsamen Sache namens Liebe. Denn denkt immer an meine Worte: Die Liebe ist saugefährlich aber irgendwie auch wunderschön. Deswegen lasst sie euch nicht entwischen und haltet sie fest, wenn ihr sie mal gefunden habt. Manche Gelegenheiten kommen nämlich einfach nicht wieder. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)