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Ich, er und die Liebe

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hey ihr Lieben!

Diesmal hab ich ziemlich mit mir gerungen, bis das Kapitel fertig war. Es war nicht einfach, das zu schreiben, aber ich glaube, ich habe es jetzt einigermaßen hingekriegt. Bitte nicht im Bus oder an anderen öffentlichen Orten lesen... Komplett anzeigen

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Von kleinen Veränderungen und großen Schritten

Wisst ihr noch, dass ich mal gesagt habe, dass die Liebe gefährlich ist? Ich hatte ja nicht gewusst, wie recht ich damit hatte. Denn die eine Seite ist die, wo du den Mist abkriegst, den du dir der Liebe wegen antust. So Sachen wie nächtelang wachliegen oder dich in den Schlaf weinen. Nicht essen können vor Aufregung oder tonnenweise Schokolade in dich reinstopfen. Nervosität und abgekaute Fingernägel und horrende Telefonrechnungen, nur um ein Stückchen dieses kleinen Glücks zu erhaschen, das in diesem Moment einfach alles für dich ist. Und natürlich ist es dann besonders bitter, wenn du genau weißt, dass du chancenlos bist. Aber wirklich und richtig, richtig übel ist es dann, wenn du derjenige bist, der sich wie ein Arsch verhalten hat.

 

Dass ich das hatte, wurde mir spätestens in dem Moment wieder bewusst, als am Nachmittag des nächsten Tages endlich unsere Schule in Sicht kam. Bis dahin hatten wir schon eine ziemliche Odyssee hinter uns; angefangen von Regenschauern am Morgen, die den Abbau der Zelte nicht gerade erleichtert hatten, über Gegenwind und eine ziemlich holprige Überfahrt, bei der der eine oder andere sich lieber damit abgefunden hatte, sich draußen an Deck den Hintern abzufrieren, als drinnen das Risiko einzugehen, seinem Sitznachbarn auf den Schoß zu reihern, und schließlich noch die auch in umgekehrter Richtung nicht gerade kurze Tour bis zum Start- und Zielpunkt unserer Reise, dem altbekannten Pausenhof.

 

Hier zu stehen nach diesen zehn Tagen war unglaublich seltsam. Im Grunde genommen waren wir ja nicht lange weg gewesen, und doch hatte ich das Gefühl, gerade eine halbe Weltreise hinter mir zu haben. Körperlich und emotional. Ich konnte es dem einen oder anderen der Mädchen nicht verdenken, dass sie ein paar Tränen vergießen mussten, als sie endlich wieder von ihren Eltern in Empfang genommen wurden. Mir war eigentlich auch danach, aber als Junge durfte man das ja nicht, obwohl ich nun wirklich allen Grund dazu gehabt hätte. Stattdessen begrüßte ich meine Mutter, die natürlich erst erschien, als die meisten Eltern bereits mit ihren Sprösslingen verschwunden waren, nur mit einem einfachen „Hallo Mama“, und ließ mich von ihr in eine Umarmung ziehen.

 

Theo war zu diesem Zeitpunkt schon lange weg. Nachdem die Klassenfahrt offiziell als beendet erklärt worden war, hatte er sich einfach so auf sein Rad geschwungen und war gefahren. Ich hatte ihm nachgesehen und einen seltsamen Stich bei diesem Anblick gefühlt. Es hatte ihm also alles tatsächlich nichts bedeutet.

 

„Na, dann erzähl mal. Wie war’s denn?“

 

Meine Mutter war ganz aufgeregt und heiß darauf, die neuesten Neuigkeiten zu erfahren. Ich zuckte nur mit den Schultern.

 

„Anstrengend.“

„Hast du dich amüsiert?“

„Ja schon.“

„Wie waren die Campingplätze?“

„Okay.“

„Habt ihr irgendwas besichtigt?“

„Ein bisschen.“

 

Meine Mutter hielt in ihrem Fragenkatalog inne und warf mir einen scheelen Seitenblick zu, während ich vorgab, sehr mit dem Sitzgurt beschäftigt zu sein.
 

„Ist alles okay mit dir?“

 

Für einen Augenblick war ich versucht, ihr alles zu erzählen. Einfach mal alles rauszulassen, was mir in letzter Zeit passiert war. Doch dann fiel mir auf, dass hier im Auto vielleicht nicht gerade ein günstiger Zeitpunkt dafür war. Also versuchte ich mich an einer fröhlichen Grimasse.

 

„Es ist wirklich alles in Ordnung. Ich bin nur einfach ziemlich kaputt.“

 

Sie lächelte verständnisvoll.
 

„Na schön, dann komm erst mal an. Wie klingt Pizza heute Abend?“

„Toll.“

 

Klang es wirklich. Ich freute mich darauf, wieder zu Hause zu sein. Das Zelten war okay gewesen, aber in den eigenen vier Wänden war eben doch was anderes.

 

 

Als ich jedoch vor meinem Zimmer stand, die noch unausgepackte Reisetasche neben mir, wünschte ich mir auf einmal, ich wäre wieder zurück auf dem Campingplatz. Am besten irgendwann vor drei Tagen, als der ganze Mist mit Theo noch nicht passiert war. Aber die Zeit ließ sich nun einmal nicht zurückdrehen und deswegen stand ich jetzt hier und starrte mein Zimmer an, als wäre es das eines Fremden. Ich schaffte es einfach nicht, einen Fuß über die Schwelle zu setzen und mich wieder zurück in dieses alte Leben zu begeben. Dieses Leben, dass in den letzten anderthalb Wochen zwei Nummern zu klein geworden zu sein schien.

 

Meine Mutter kam hinter mir den Flur entlang.

 

„Benedikt? Soll ich gleich noch eine Wäsche machen? Du hast doch bestimmt einen Haufen dreckige Sachen mitgebracht.“

 

Ich drehte mich zu ihr um und ich sah, dass sie besorgt war. Dass sie wohl wusste, dass etwas nicht stimmte. Hieß es nicht immer, dass Mütter so etwas spüren konnten? War meine auch so? Ahnte sie, dass sich etwas verändert hatte?

 

Ich blickte wieder in mein Zimmer. Dort gab es keine Pokémon-Poster an den Wänden, die ich in einer dramatischen Aktion herunterreißen konnte. Ich besaß keine Comic-Sammlung, die ich mit entschlossener Miene ins Altpapier stopfen, keine Spiderman-Bettwäsche, die ich durch schwarze Satinlaken ersetzen konnte. (Mal ehrlich, wer wollte die auch? Das war doch bestimmt voll glibberig nachts.) Dies hier war immer noch mein Zimmer und abgesehen davon, dass es mal gelüftet gehörte, war noch alles beim Alten. Nur ich hatte mich verändert. Ich war in den letzten Tagen ein anderer geworden und auch wenn sich das jetzt viel zu dramatisch anhörte, hatte ich das Gefühl, dass ich an einem Punkt stand, an dem ich eine Entscheidung treffen musste.

 

Vielleicht ist das so, wenn man erwachsen wird, dachte ich mir und kam mir furchtbar pathetisch vor. In ein paar Tagen, wenn sich der eher psychische Jetlag gelegt hatte, würde ich vermutlich darüber lachen, aber vielleicht … vielleicht war das hier auch eine Chance. Die Chance einen weiteren Schritt in die Richtung des Menschen zu machen, der ich wirklich war. Oder sein wollte. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie dieser Mensch wohl tatsächlich aussehen mochte. Denn es gab etwas, das ich tun konnte, hier und jetzt. Und vielleicht war jetzt der richtige Augenblick dafür. Ich drehte mich um und sah meine Mutter an.

 

Mama. Meine Mama. Die ich so lange nicht gesehen hatte. Wie sie da stand, zurechtgemacht und geschminkt wie immer, wenn sie unter Leute ging. Beim Friseur war sie auch gewesen, das sah ich jetzt. Vielleicht, weil sie sich wieder mit Andreas treffen wollte. So viele Dinge, die sich veränderten. Ich schluckte.

 

„Ich … ich glaube, ich muss dir was erzählen. Hast du Zeit?“
 

Sie sah mich ein bisschen merkwürdig an, aber dann nickte sie.
 

„Natürlich, Schatz. Ich mache uns einen Tee.“

„Nein, Mama, keinen Tee. Ich muss es dir sofort erzählen.“

 

Wieder sah sie mich so komisch an, doch dann legte sie ein Lächeln auf.
 

„Na, dann komm.“

 

Als wir am Tisch saßen, wäre ich am liebsten wieder aufgesprungen und hätte gesagt, dass alles in Ordnung war, aber wenn ich diese Gelegenheit nicht nutzte, würde ich vermutlich noch die nächsten Jahre daran zu knabbern haben. Ich musste aufhören davonzulaufen.

 

„Ich … also es gibt da einen Jungen in meiner Schule und ich … ich bin in ihn verliebt. Weil … also die Sache ist die … ich … ich bin schwul.“

 

Nach diesem Satz war es einen Augenblick lang still im Raum. Ich hörte meine Mutter atmen und dachte plötzlich, dass ein Tee vielleicht doch keine schlechte Idee gewesen wäre. Jetzt musste es halt ohne gehen.

 

„Und das ist alles?“

 

Ich sah auf meine Hände und schüttelte den Kopf.
 

„Nein, nicht ganz. Aber der größte Teil davon. Es gibt da noch jemand anderen. Julius. Ich hatte dir schon von ihm erzählt. Ich … wir … wir haben was miteinander.“

 

Als ich das gesagt hatte, sah ich sie an. Ihre Augen schimmerten feucht und ich betete darum, dass sie jetzt nicht anfing zu heulen, denn dann würde ich das garantiert auch tun und darauf hatte ich gerade mal so überhaupt keine Lust.

 

„Und?“, fragte ich leise. „Was sagst du dazu?“

 

Sie schniefte und ich wusste, dass auch sie gerade um Fassung rang. Es war wohl die richtige Entscheidung gewesen, Manuel einfach mal nicht zu erwähnen.
 

„Das ist ne ziemliche Überraschung jetzt irgendwie. Ich meine, ich hatte mich ja schon mal gefragt, wann du wohl mal eine Freundin haben würdest, aber damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.“

 

Ich versuchte ein Lächeln. „Tja, ich auch nicht so wirklich.“

 

„Weiß es sonst noch jemand?“

„Ich hab’s Anton erzählt.“

 

„Das ist gut. Anton ist ein netter Junge.“ Sie überlegte kurz. „Mit ihm hattest du aber nichts, oder?“

 

Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte.

 

„Nein, Mama. Anton ist nur ein Freund.“

„Oh, okay.“

 

Sie atmete tief ein und ließ geräuschvoll die Luft entweichen. Danach sah sie mich an.

 

„Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast. Ich … also Diana hat schon mal so was angedeutet, aber ich hatte immer gedacht, dass es einfach nur daran liegt, dass du keinen Vater hast. Kein männliches Vorbild, an dem du dich orientieren kannst. Dass du einfach deswegen ein bisschen anders wärst.“

„Nein, Mama, das ist es nicht. Ich … ich bin einfach so. Niemand kann etwas dafür. Ich nicht und du auch nicht.“

„Ja, ich weiß.“

 

Sie lächelte, wenngleich auch etwas angestrengt.
 

„Ich hab mir da schon mal ein bisschen was durchgelesen. Am Computer, weißt du. Ich hab mich nämlich nicht getraut in den Buchladen zu gehen und zu sagen 'Oh entschuldigen Sie, ich hätte gerne ein Buch darüber, dass mein Sohn vielleicht schwul ist.' Aber vielleicht hätte ich das tun sollen, denn schließlich ist da doch überhaupt nichts Schlimmes daran.“

 

Bei den letzten Worten war ihre Stimme brüchig geworden und sie begann zu weinen. Und ich gleich mit. Einfach weil es gerade so viel auf einmal war. Ich nahm sie in den Arm und sie lachte und weinte gleichzeitig und dann wedelte sie mit den Händen und verkündete, dass sie nun endlich ein Taschentuch bräuchte, bevor ihr ganzes Make-up verliefe, woraufhin ich aufstand und einfach die Küchenrolle holte, weil bei uns Taschentücher sowieso nie da lagen, wo sie hingehörten. Sie riss sich eins ab, schnaubte sich ordentlich die Nase, tupfte sich die Augen ab und sah mich mit einem tränenverschmierten Lächeln an.
 

„Und jetzt? Was machen wir jetzt?“

„Was meinst du?“

„Na ja, ich meine, möchtest du es sonst noch jemandem sagen oder soll das erst mal unter uns bleiben?“

 

Ich überlegte. So weit hatte ich noch gar nicht gedacht.

 

„Wir sollten es vielleicht Diana erzählen“, meinte ich zögernd. „Wenn sie herausfindet, dass wir es ihr verschwiegen haben, reißt sie uns beiden den Kopf ab.“

„Da könnte was Wahres dran sein.“

„Aber du kannst ihr gleich den Zahn ziehen, dass ich deswegen jetzt mitkomme, um für sie ein Brautkleid auszusuchen.“

 

Meine Mutter lachte und griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand.
 

„Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich auf jeden Fall immer liebhaben werde. Du bist noch genauso mein Sohn wie vorher, weißt du das? Du wirst genauso den Rasen mähen und deine Wäsche waschen und wenn du meinst, dass du jetzt rosa Federboas tragen musst, ist mir das auch recht.“

 

Ich lachte auf.

 

„Nein, Mama. Keine Federn.“

„Und du magst immer noch Pizza mit Ananas?“

„Ja, auch das.“

„Na schön, dann sehen wir doch mal zu, dass wir den Ofen anheizen. Diese Pizza haben wir uns beide nämlich ganz schön verdient.“

 

Ich lachte und nickte und dann ging ich zurück in mein Zimmer, um nun doch endlich meine Tasche auszupacken. Als ich mein Handy fand, hielt ich es nachdenklich in der Hand. Wenn ich es anschaltete, würde ich vermutlich eine Nachricht von Julius darauf lesen können. Er wusste schließlich, dass ich heute zurückkam. Mit Sicherheit freute er sich schon wie verrückt darauf mich wiederzusehen, aber bei mir wollte diese Freude einfach nicht aufkommen. Ich wusste, was ich falsch gemacht hatte. Ich hatte ihn betrogen. Vielleicht nicht unbedingt im körperlichen Sinne, aber ich hatte bei diesem Kuss mit Theo mit keiner Silbe an ihn gedacht. Es war viel zu einfach für mich gewesen, ihn zu vergessen. Viel zu einfach, um darüber hinwegzusehen.

 

Mit einem Seufzen nahm ich mein Ladegerät heraus. Ich wartete, bis ich das Handy anschalten konnte, gab die PIN ein und dann las ich die erwartete Nachricht mit den vielen Smileys. Ich schrieb, dass ich am Freitag zu ihm kommen würde, und schloss dann die App. Mir graute vor diesem Besuch, aber ich hatte keine Wahl. Ich hatte mir diese Suppe eingebrockt, also würde ich sie auch auslöffeln müssen.

 

 

Die nächsten zwei Tage vergingen wie im Nebel. Ich bekam kaum etwas von meiner Umgebung mit und die einzige Konstante, die es darin gab, war Anton. Anton, der sich ebenfalls verändert hatte, wie ich am nächsten Tag feststellen musste, als ich ihn lesend im Flur vor unserem Klassenzimmer vorfand, wo er zusammen mit den anderen auf unseren Englischlehrer wartete.

 

„Du hast eine neue Brille“, meinte ich verblüfft, als er zu mir hochschaute.

 

„Ja, ich habe mir deinen Rat zu Herzen genommen und bin zum Optiker gegangen. Gefällt sie dir?“

 

Über die Antwort musste ich erst einen Augenblick lang nachdenken, denn die Tatsache, dass das neue Gestell nicht nur sehr viel kleiner und eckig, sondern obendrein auch noch knallrot war, war ziemlich gewöhnungsbedürftig. Es machte ihn nicht weniger nerdig, aber obendrein sah er jetzt irgendwie auch noch cool aus damit. Das war ein bisschen verstörend, wie ich zugeben musste. Aber auch irgendwie gut. Ich lächelte.
 

„Ich finde, sie passt zu dir.“

 

Er griff sich ins Gesicht und schob die Brille ein bisschen nach oben, obwohl das jetzt eigentlich nicht mehr notwendig war.
 

„Ich werte das mal als Kompliment.“

„Darfst du.“

„Vielen Dank.“

 

 

Natürlich begegnete ich auch Theo. Wir gingen ja immer noch in dieselbe Klasse und so blieb es nicht aus, das wir uns über den Weg liefen. Allerdings war dieses Über-den-Weg-Laufen mehr so ein Lasst-uns-bloß-nicht-die-Strahlen-kreuzen-sonst-passiert-irgendetwas-Furchtbares, wenn ihr versteht, was ich damit meine. (Wenn nicht, googelt mal ganz schnell „Ghostbusters“, dann seid ihr im Bilde.) Umso erstaunter war ich, als er mir am Freitag nach der sechsten Stunde geradezu auflauerte. Wir hatten Sport gehabt und die Umkleidekabine war nicht gerade der Ort, an dem ich mich in unmittelbarer Nähe zu Theo aufhalten wollte, aber einige Dinge im Leben konnte man sich eben nicht aussuchen.

 

„Benedikt?“

 

Ich blickte auf und sah, wie er da vor mir stand. Noch in seinen Sportklamotten, als hätte er bisher gar nicht ans Umziehen gedacht. War er nervös?
 

„Ja?“, fragte ich nur.

 

„Ich … ich weiß nicht, ob du’s schon gehört hast, aber ich mache am letzten Schultag abends eine Party.“

 

Natürlich. Die Party. Die, die er veranstalten wollte, um Mia anzusprechen. Ob er sie schon gefragt hatte?

 

„Was ist damit?“

„Na ja, ich wollte wissen, ob du auch kommst.“

 

Für einen kurzen Moment bildete ich mir ein, dass er nur mich einladen würde und nicht Mia. Aber natürlich war das Quatsch. Vermutlich würde er sowieso die ganze Klasse einladen. Den halben Jahrgang womöglich. Ich war nur einer von vielen.
 

„Kann ich noch wen mitbringen?“

 

Okay, das war gemein, denn so, wie er guckte, hatte er die Anspielung genau so verstanden, wie ich gewollt hatte, dass er sie verstand. Trotzdem nickte er tapfer.
 

„Klar, wenn du möchtest.“

„Gut. Ich komme gerne. Wir sehen uns dann am Montag.“

 

Ich ließ ihn stehen, wohl wissend, dass er sich jetzt gerade vermutlich tausend Gedanken machte. Aber das konnte ich nicht ändern. Ich war immer noch in ihn verliebt, aber jetzt musste ich erst einmal zu dem Menschen gehen, dem ich, ohne dass er davon wusste, sehr, sehr weh getan hatte.

 

 

Julius erwartete mich bereits. Nachdem ich den Klingelknopf gedrückt hatte, dauerte es keine zwei Sekunden, bis er die Tür aufriss und mich anstrahlte.
 

„Da bist du ja endlich. Ich hab dich so vermisst.“

 

Ich lächelte und ließ mich in eine Umarmung ziehen. Er freute sich so. Sein Gesicht leuchtete und seine Augen strahlten. Mir war hundeelend, wenn ich daran dachte, was ich im Begriff war zu tun, aber es ging nicht anders. Es musste sein.
 

„Willst du was essen? Ich hab alles vorbereitet. Ich hoffe du magst Tandoori.“

„Nein, danke. Ich denke, ich werde nicht lange bleiben.“

 

Nach diesen Worten huschte das erste Mal ein Schatten über sein Gesicht.
 

„Wollen wir nach oben gehen?“

„Ja, bitte.“

 

Ich stieg hinter ihm die Treppe hinauf und erkannte an seinen Schultern, wie verkrampft er bereits war. Wahrscheinlich ahnte er schon, was jetzt kommen würde.

 

Wir betraten sein Zimmer. Ich sah, dass er aufgeräumt hatte. Alles war vorbereitet für meinen Besuch. Auf dem Schreibtisch lagen seine Bücher. Für einen Moment überlegte ich, mit meiner Eröffnung noch bis nach seinen Prüfungen zu warten, aber ich wusste, dass ich das nicht konnte. Ich würde das jetzt durchziehen müssen, egal wie es ausging. Ich war es ihm schuldig.

 

„Du wolltest mit mir sprechen“, sagte Julius und in dem Moment erkannte ich, dass er bereits wusste, warum ich hergekommen war. Allein die Tatsache, dass er mich nicht gleich wieder hochkant rauswarf, ließ meine Brust eng werden. Er war so ein verdammt anständiger Kerl.
 

„Ich … ich hab nachgedacht. Über uns.“

„Und?“

„Ich … ich glaube, es wird nicht funktionieren.“

 

Julius blickte zu Boden. Wir saßen da auf seinem Bett und ich hätte meine Worte am liebsten zurückgenommen. Hätte ihn in meine Arme geschlossen und ihm gesagt, dass alles gut werden würde. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht mehr lügen.

 

„Ist etwas passiert?“
 

Er sah mich immer noch nicht an und seine Stimme war leise. So endlos leise.

 

„Ich … ich habe Theo geküsst.“

 

Er wandte sich ab. Es tat mir weh, ihn so zu sehen.
 

„Julius, es tut mir leid. Ich habe das nicht gewollt. Es ist einfach so passiert. Ich hab nicht nachgedacht und dann … dann war es zu spät.“

 

„War es wenigstens schön?“

 

In seiner Stimme lag eine Bitterkeit, die sich wie ein Messer in mein Herz bohrte. Da war so viel Schmerz. Schmerz, den ich auch auf seinem Gesicht sah, als er sich zu mir umdrehte.
 

„Seid ihr jetzt zusammen?“

 

Ich schüttelte langsam den Kopf. Fast wünschte ich, ich hätte ihm nur gesagt, dass ich mit ihm Schluss machte und dass es einfach nur daran lag, dass wir nicht zusammenpassten. Aber es wäre falsch gewesen, es ihm zu verschweigen. Es hätte mich nur besser dastehen lassen, als ich war, und er hätte sich vielleicht weiter Hoffnungen gemacht. Das wollte ich nicht. Sollte er mich ruhig als das Arschloch sehen, das ich gewesen war. Ich hatte es verdient.

 

Er lachte leicht, aber ich hörte genau, dass er eigentlich mit den Tränen kämpfte.

 

„Weißt du, ich habe es geahnt. Ich hab irgendwie geahnt, dass es dazu kommen würde. Sogar Lali hat mich davor gewarnt. Sie hat gesagt, dass du zu jung wärst und noch nicht wüsstest, was du willst. Dass du nicht der Richtige für mich wärst. Aber ich habe nicht auf sie hören wollen. Ich habe gedacht, dass du anders bist.“

 

Ein Teil von mir wollte dagegen aufbegehren. Wollte sich verteidigen, denn schließlich war es nicht meine Schuld, dass ich mehr für Theo empfand als für ihn. Aber gleichzeitig wusste ich, dass ich den Fehler schon viel früher gemacht hatte und zwar in dem Augenblick, indem ich mich auf Julius eingelassen hatte.
 

Vielleicht war es verständlich, so im Nachhinein. Ich hatte diese Schlappe mit Manuel erleben müssen, dem ich mich vermutlich ohnehin nur deswegen überhaupt so an den Hals geworfen hatte, weil Theo nichts von mir wissen wollte. Weil er eben da gewesen war und ich irgendwen gebraucht hatte, um mein „schwules Ich“ auszuleben, für das es in dem Moment nirgendwo anders einen Platz zu geben schien. Und als Manuel dann so abrupt aus meinem Leben gerissen worden war, hatte ich mein armes, geschundenes Herz in Sicherheit bringen wollen, bevor ich es wieder an Theo verlor. Also hatte ich es dem einen Menschen zur Aufbewahrung gegeben, der sich wirklich für mich zu interessieren schien. Ich hatte es Julius gegeben, ohne zu wissen, dass ein großer Teil davon immer noch bei Theo lag. Ich hatte es wirklich nicht gewusst, aber das machte den Vertrauensbruch, den ich begangen hatte, nicht weniger schlimm. Ich hatte eine Grenze überschritten, die ich nicht hätte überschreiten dürfen. Nicht, bevor ich für klare Verhältnisse gesorgt hatte.

 

„Es tut mir wirklich leid“, sagte ich noch einmal, einfach weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Denn es stimmte. Ich hätte alles dafür gegeben, wenn ich Theo hätte nicht lieben können. Wenn alles wieder gut gewesen wäre und ich bei Julius hätte bleiben können und wir glücklich bis ans Ende unserer Tage gewesen wären.

 

Doch irgendwo tief in mir drin wusste ich wohl, dass es selbst dann nicht hätte funktionieren können. Vielleicht wäre es tatsächlich gut gegangen. Für eine gewisse Zeit. Ein paar Monate oder sogar Jahre, bis dann irgendwann doch „der eine“ aufgetaucht wäre, in den ich mich Hals über Kopf verliebte. Dann stünde ich wieder vor der Entscheidung „Gehen oder Bleiben“ und ich wusste, dass, selbst wenn ich mich fürs Bleiben entschied, es immer einen Teil meines Herzens geben würde, der nicht Julius gehörte.

 

„Ich denke, ich finde alleine raus“, sagte ich leise und stand auf, um das Zimmer zu verlassen, doch Julius war schneller. Er kam vom Bett hoch, schlang die Arme um mich und drückte mich an sich.
 

„Geh nicht. Bleib bei mir. Wir … wir kriegen das hin. Irgendwie.“

 

Ich spürte die Feuchtigkeit, die über seine Wangen rann, und auch meine Augen begannen zu schwimmen.
 

„Es geht nicht“, flüsterte ich. „Bitte, Julius. Mach es uns beiden nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist.“

 

„Aber ich liebe dich“, wimmerte er und seine Hände krampften sich in meinen Rücken. „Ich liebe dich.“

 

„Ich dich auch. Und deswegen muss ich jetzt gehen.“

 

Vorsichtig löste ich mich aus seiner Umarmung. Ich wischte meine Tränen fort, während ihm seine jetzt ungehindert über das Gesicht rannen. Es war furchtbar, aber ich wusste, dass es nicht anders ging.

 

„Leb wohl, Julius.“

 

Ich ging die Treppe hinunter, während ich ihn oben weinen hörte. Es zerschnitt mir mein Herz in kleine Streifen, aber ich wusste, dass ich jetzt stark sein musste. Denn was ich ihm anzubieten hatte, war nicht genug. Nicht genug für diesen wunderbaren Menschen, der es verdient hatte, ganz und gar geliebt zu werden und nicht nur ein kleines bisschen. Der jemanden verdient hatte, der ihm sein ganzes Herz schenkte und nicht nur den kümmerlichen Rest davon.
 

Draußen hörte ich, wie er noch einmal meinen Namen rief. Ich warf einen kurzen Blick zurück und sah, wie er in der Tür stand. Er trug wieder eine dieser weiten Hosen und dazu ein T-Shirt, auf dessen dunklen Stoff große, nasse Flecken prangten. Am liebsten wäre ich zurückgelaufen und hätte mich in seine Arme geworfen, aber ich tat es nicht. Ich drehte mich um, ging einfach weiter und sah nicht zurück. Weil ich es ihm schuldig war. Ihm und auch mir selbst. Damit wir beide irgendwann glücklich werden konnten. Ohne einander.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  KaffeeFee
2020-09-12T14:33:03+00:00 12.09.2020 16:33
Ok, jetzt verstehe ich, warum man es nicht in der Öffentlichkeit lesen sollte... ich hab wirklich pipi in den Augen... ich hab die beiden richtig vor mir gesehen😢 fair von Benedikt, dass er Julius reinen Wein eingeschenkt hat. Aber das war er ihm auch schuldig.

Oh man... das wars dann wohl mit meinem süßen Julius... dann wird Benedikt wohl doch keinen mit zur Party bringen.

Und Theo... Theo ist sowas von in Nebel gehüllt, krass. Ich blick einfach nicht durch bei ihm. Und ich glaube immer noch, dass er die Sache mit Mia nur vorschiebt!

Das Outing war schön. Emotional und (zum Glück) wie erwartet. Tolle Reaktion von der Mama! Erst heulen, dann essen😅

Bis zum nächsten Kapitel, koffeeinhaltige Grüße, die KaffeeFee ☕☕
Antwort von:  Maginisha
12.09.2020 17:23
Okay, dann war also auch bei dir die Warnung angebracht. (Ich hab selbst so geheult dabei. Schon beim Planen der Szene. 😭) aber es musste halt sein. Eben der Fairness wegen. Es gibt zwar in Japan eine Handwerkskunst, das sogenannte Kintsugi, bei dem Zerbrochenes wieder zusammengefügt und die Risse mit Gold sichtbar gemacht werden, aber das wäre in diesem Fall wohl vergebene Liebesmüh gewesen. Nun müssen die beiden ohne den anderen klarkommen.

Das Outing kam irgendwie ganz spontan, weil es sich richtig angefühlt hat. Mir war es wichtig zu zeigen, dass es eben auch für die Eltern nicht so einfach ist. Aber Benedikts Mutter bemüht sich.

Zu der Party wird Benedikt trotzdem nicht allein gehen. Ich tippe schon fleißig. ^_~

Ich geb noch ne Runde Taschentücher aus und wünsche erst mal ein schönes Wochenende!

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Snowprinces
2020-09-12T07:18:06+00:00 12.09.2020 09:18
hey

schade das die beiden auseinander sind fand sie so süß zusammen

und wie geht es jetzt mit Theo und Benedikt weiter?

LG
Antwort von:  Maginisha
12.09.2020 10:21
Hey Snowprinces!

Ja, die beiden waren schon ein schönes Paar, aber Leibe kann man eben nicht erzwingen.

Wie es sonst weitergeht, sehen wir dann im nächsten Kapitel. ^_~

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2020-09-11T15:40:17+00:00 11.09.2020 17:40
Jetzt verstehe ich wieso wir es nicht im öffentlichen Raum lesen sollten T_T
Es bricht einem das Herz!
Was Benedikt eben gemacht hat war einfach.. wunderbar. Er ist wirklich erwachsen geworden. Er hätte Julius weiter belügen können, hätte sich weiter belügen können.
Respekt, wirklich.
Hoffentlich verkraftet Julius es bald.. will ihn einfach knuddeln und bei mir ausweinen lassen 🥺

Sooo... wen möchte unser Benedikt denn nun zur Party mitbringen?
Antwort von:  Maginisha
11.09.2020 17:50
Na dann war meine Warnung ja nicht ganz von ungefähr.

Aber keine Bange. Julius wird sich bald wieder fangen und einsehen, dass es so besser war.

Zur Party? Na das ist eigentlich kein großes Geheimnis. Er wollte ja eher Theo damit ein bisschen schocken. ^_~
Von:  z1ck3
2020-09-10T19:19:36+00:00 10.09.2020 21:19
Bühnenreifes Ende!
Armer Julius. Aber ich finde Benedikt hat das wirklich gut gemacht. Reflektiert und wohl überlegt. Vielleicht versteht Julius irgendwann, dass es das richtige war. Wahrscheinlich eher nicht aber naja
Antwort von:  Maginisha
11.09.2020 16:27
Ich denke auch, dass Julius das verstehen wird und sich vielleicht schneller damit abfindet, als gedacht. ;)
Antwort von:  z1ck3
11.09.2020 20:25
Das wäre schön!
Von:  Ana1993
2020-09-10T19:07:25+00:00 10.09.2020 21:07
Oh man... *ein tränchen aus dem augenwinkel wisch*
ich hab's ja geahnt... ich hasse Drama. Aber immerhin war er ehrlich und hat's durchgezogen.
Ach Mensch... *schnüff*
Antwort von:  Maginisha
11.09.2020 16:26
*Taschentuch reich*

Ja, ich musste auch ein bisschen weinen, dass es so mit den beiden zu Ende ging. :( Aber es ging halt einfach nicht anders.


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