Ich, er und die Liebe von Maginisha ================================================================================ Kapitel 44: Von romantischen Verwicklungen und nächtlichen Ausflügen -------------------------------------------------------------------- Die Stunde des Zubettgehens kam an diesem Abend sehr viel schneller, als mir lieb war. Zuerst lief alles noch ganz normal; es wurde heute sogar noch ein wenig später zur abendlichen Rudelversammlung geblasen, weil unsere Lehrer noch mit dem Organisieren von Ersatzdecken und ähnlichem für die Mädchen beschäftigt waren, doch gegen halb acht fanden sich wieder einmal alle am Lagerfeuer wieder. Dieses hier war auf einer Wiese errichtet worden und von den Ausmaßen her wesentlich größer als unser erstes. Es gab sogar einen richtigen Feuerholzstapel, an dem man sich bedienen konnte, wenn man dafür sorgte, dass der Nachschub gesichert war. Um die Feuerstelle herum waren große Baumstämme ausgelegt worden, auf denen wir uns jetzt den Hintern platt saßen und uns gerade an „Stille Post“ versuchten. Fragt mich nicht, wie unsere Lehrer uns dazu bekommen hatten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass da Erpressung im Spiel gewesen war.   „Es röhren die Hirsche im Silberhafen?“, meinte Sandra gerade und sah rüber zu Ben, der in dieser Runde der Ursprung des geflüsterten Satzes war. Er lachte sich halb scheckig. „Ich hab gesagt 'Ich höre gerne John Sinclair zum Einschlafen'. Solltest du auch mal versuchen.“ „Nee, das ist mir zu gruselig.“ „Ich würde dich auch beschützen.“   Die Augenbrauenwacklelei, die Ben daraufhin zum Besten gab, wurde von Sandra nur mit einem Schnauben beantwortet, das allerdings nicht ganz so genervt klang, wie es eigentlich sollte. Mia-Marie und ich sahen uns an und grinsten.   „Die beiden werden doch wohl nicht …“ „Och, warum nicht? Dann hätten wir wenigstens mal unsere Ruhe vor ihren anstrengenden Einfällen.“   Tatsächlich hatten die beiden Klassensprecher für morgen, dem letzten Tag bevor es zurück nach Hause gehen sollte, eine Art Olympiade ausgerufen. Mit Hindernisparcours und Staffellauf und solchen Sachen. Herr Wilkens war natürlich sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte gleich zugestimmt. Der Aufbau sollte am Vormittag stattfinden, aber mich beschäftigte eigentlich erst einmal die vor uns liegende Nacht.   In meinem Kopf spielte ich unaufhörlich zwei Varianten durch. Entweder würde ich superfrüh schlafen gehen und dann so tun, als wäre ich schon längst im Traumland verschwunden, wenn die anderen kamen, oder ich würde so lange am Feuer sitzen bleiben, dass Oliver bereits schlief, wenn ich das Zelt betrat. Leider gehörte er meist zu denen, die als Letzte die Runde verließen, und es würde somit wohl wieder ein kurzer Abend für mich werden. An und für sich kein Problem, wenn nicht gestern Abend mein Handyakku endgültig den Geist aufgegeben hätte und ich somit im Zelt nicht viel mehr würde machen können als zu schlafen.   Nachdem die Spielrunde beendet war, las Frau Kuntze wieder vor. Die Geschichte, die sie heute ausgesucht hatte, war seltsam verstörend und sorgte danach noch für Gesprächsstoff. Zumindest bei Ben und Sandra. „Hä? Ich versteh das nicht. Wieso endet das hier?“ „Hast du es nicht begriffen? Sie hat die ausgestopft.“ „Auch die Männer?“ „Ja, und den letzten hat sie gerade mit dem Tee vergiftet. Der Bittermandelgeschmack stammt vom Cyanid.“ „Und warum?“ „Weil sie ihn hübsch findet? Meine Güte, ich dachte du bist der mit den Horrorgeschichten. Da ergibt doch auch nicht immer alles einen Sinn.“   Während Ben wegen Sandras Spott schmollend das Gesicht verzog, wanderte mein Blick wie von selbst hinüber zu Theo. Der saß zusammen mit Jo auf der anderen Seite und zwischen ihnen schien so weit wieder alles okay zu sein. Zumindest redeten sie recht ungezwungen miteinander. Vielleicht hatte Oliver aus diesem Grund beschlossen, heute ein wenig Abstand zu halten. Er saß ein gutes Stück weit weg von den beiden und starrte finster in die Flammen des großen Scheiterhaufens, der in der Mitte eine wahnsinnige Hitze verbreitete.   Als es dunkler wurde, drängten die Mädchen Theo wieder dazu, etwas zu spielen. Es wurde gesungen, wobei die meisten inzwischen bei den gängigen Liedern so textsicher waren, dass es sich beinahe gut anhörte. In diesen Momenten hatte ich mir schon ein paar Mal gewünscht, Anton hätte dabei sein können. Besonders heute wäre das cool gewesen. Wir hätten uns im Zelt noch unterhalten können oder so. Leider war er kein großer Schreiber und unsere Chats somit immer ziemlich kurz ausgefallen. Aber heute Abend würde ich nicht mal das haben, genauso wenig wie meine allabendliche Konversation mit Julius.   „Ich glaube, ich geh ins Bett“, verkündete Elias plötzlich und stand auf. „Wenn die uns morgen tatsächlich rumscheuchen wollen, will ich lieber ausgeschlafen sein.“ „Gute Idee. Ich komm mit.“   Timo erhob sich ebenfalls und ich nutzte die Gelegenheit, um mich anzuschließen. So war es wenigstens nicht ganz so langweilig und ich lauschte den beiden, wie sie sich über dies und das unterhielten, während ich darauf wartete, dass ich endlich einschlief.   Nach und nach verstummte das Gespräch, doch der Schlaf ließ weiterhin auf sich warten. Kurz darauf wurde die Zeltleinwand erneut zurückgeschlagen. Dem Knurren nach zu urteilen war es Oliver, der sich wie ein Elefant im Porzellanladen verhielt. Nach einem schlaftrunkenem Anranzer von Timo kroch jedoch auch er endlich in seinen Schlafsack und hielt dort die Backen. Eigentlich hätte ich jetzt also beruhigt einschlafen können, aber es fehlten immer noch zwei Zeltgäste. Ich lag daher im Dunkeln und wartete. Und wartete. Und wartete. Endlich öffnete sich das Zelt und jemand schlüpfte durch die entstandene Öffnung. Ich versuchte rauszufinden, ob das nun Jo oder Theo war, aber natürlich ließ sich das nur anhand der Geräusche nicht feststellen. Sicher war ich mir nur bei einer Sache. Es war lediglich eine Person ins Zelt gekommen und somit fehlte noch jemand zu unserer illustren Sechserrunde.   Nachdem der Letzgekommene sich hingelegt hatte, wartete ich weiter, aber vergeblich. Wer auch immer noch fehlte, ließ sich Zeit. Viel Zeit. Vermutlich hätte ich einfach einschlafen sollen, aber es ging nicht. Je mehr ich es versuchte, desto wacher wurde ich. Elias, der neben mir lag, ratzte schon seit geraumer Zeit selig vor sich hin und auch die anderen schienen bereits zu schlafen. Nur ich und der fehlende sechste Mann waren noch wach.   Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich setzte mich auf und versuchte im Dunkeln zu erkennen, wer alles da war. Da lag Elias, daneben Timo und dann auf der anderen Seite der Zeltstange Oliver ganz am Rand und direkt neben ihm offenbar Jo. Der Platz, an dem Theos Isomatte nebst Schlafsack lag, war leer.   Er sitzt vielleicht noch am Feuer und spielt, dachte ich mir, allerdings war von draußen nichts mehr zu hören und es musste mittlerweile schon ziemlich spät sein. Zu spät, als das Herr Wilkens erlaubt hätte, dass noch jemand draußen unterwegs war. Aber wo war Theo?   Es geht dich nichts an, versuchte ich mir zu sagen und ließ mich wieder in meinen Schlafsack sinken. Er wird schon kommen. Schlaf jetzt!   Aber natürlich funktionierte diese Aufforderung an mich selbst ungefähr genauso gut wie die Sache mit dem „denk jetzt nicht an ein rosa Nilpferd“, an das man sonst nie denken musste, außer in dem Moment, in dem das verboten war. Je mehr ich versuchte, den leeren Schlafplatz zu ignorieren, desto mehr trieben die umherschwirrenden Fragen in meinem Kopf mich in den Wahnsinn. Schließlich gab ich auf. Ich öffnete möglichst geräuschlos den Reißverschluss, tastete im Dunklen nach meiner Hose und meinen Schuhen, zog beides an, griff mir noch meine Jacke und schlängelte mich an den Schlafenden vorbei aus dem Zelt.   Draußen war es, wie erwartet, kalt und dunkel. Allerdings nicht so dunkel, dass man nicht die vielen Halbkuppeln der Zelte erkennen konnte, die wie schlafende Tiere auf der Wiese verteilt lagen, als hätte man sie mit den Zeltschnüren für die Nacht dort festgebunden. Nirgends regte sich etwas und man hörte lediglich den Wind in den nahen Bäume rauschen. Nicht mal einen dämlichen Nachtvogel gab es hier. Nur Wind und Stille. Ich zog meine Jacke über und überlegte.   Sollte ich das wirklich machen? Sollte ich nach Theo suchen? Ich sah noch einmal zurück zum Zelt und wusste in dem Moment, dass ich ohnehin nicht würde schlafen können. Außerdem war da so ein kleines, zartes Stimmchen, das mir einzuflüstern versuchte, dass es meine Schuld war, dass er nicht da war. Ich hatte diesen ganzen Streit mit Oliver zwar nicht angefangen, aber ich hatte mitgemacht. Und ich hatte tatenlos zugesehen, wie Theo mich verteidigte. Es war feige gewesen und ich hatte das Gefühl, ihm deswegen etwas schuldig zu sein.   Mit einem tiefen Atemzug stopfte ich meine Hände in die Taschen und ging los. Zuerst über die Zeltwiese, dann am Haupthaus und dem leicht maroden Gebäude mit den Duschen und Toiletten vorbei weiter zu der Wiese, wo die Feuerstelle war. Warum ich ausgerechnet dort anfing zu suchen, wusste ich nicht genau. Es war nur so ein Gefühl. Wahrscheinlich verpasste ich ihn so, weil er einfach nur auf dem Klo war, aber dort würde ich ihn bestimmt nicht suchen. Der dachte ja nachher sonst was von mir.   Der Platz, wo früher am Abend noch das große Feuer gebrannt hatte, lag im Schatten. Trotzdem konnte ich deutlich die Gestalt erkennen, die auf einem der Baumstämme saß. Ich wusste sofort, dass es Theo war. Er saß einfach nur da, den Blick auf die mittlerweile gelöschten Überreste des Lagerfeuers gerichtet, und bewegte sich nicht. Als er mich kommen hörte, hob er den Kopf.   Ich blieb stehen. Was sollte ich jetzt machen? Oder sagen? Wie sollte ich mein Auftauchen hier erklären? Und was, wenn ihm das gar nicht recht war? Schließlich gab ich mir einen Ruck und kam noch ein Stück näher. „Hey“, sagte ich und räusperte mich. „Ich … ich hab dich gesucht.“   Ich hätte natürlich alles sagen können. Dass ich Sterne für die Astronomie-AG katalogisierte oder Eulen beobachten wollte oder dass ich ein Werwolf war, der nachts kleine Kinder in ihren Betten verspeiste, aber nein, ich musste ja die Wahrheit sagen. Mir war wohl wirklich nicht mehr zu helfen. Er erwiderte nichts darauf und weil ich mir blöd vorkam, wie ich da so herumstand, stieg ich über den Baumstamm vor mir und ließ mich darauf nieder. Nun saßen wir etwa drei Meter voneinander entfernt auf getrennten Stämmen und schwiegen uns an.   Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus.   „Was machst du hier?“ „Nachdenken“, antwortete er doch tatsächlich. „Worüber?“ „Verschiedenes.“   Okay, das war jetzt ja mal ein ganz tolles Gespräch. Ob ich doch wieder gehen sollte? Ich startete noch einen Versuch. „Was sagt denn Herr Wilkens dazu?“   (Hey, unartigen Kindern droht man schließlich auch mit dem Weihnachtsmann.)   „Er denkt vermutlich, dass ich nur noch die Gitarre weggebracht habe und jetzt im Zelt liege.“   Wie zum Beweis hielt er einen kleinen Schlüsselbund hoch und klimperte damit. Einer der Schlüssel passte vermutlich zu dem Schuppen, indem Theo sein Instrument tagsüber aufbewahrte.   „Und warum hast du’s nicht gemacht?“ „Was?“ „Na, die Gitarre weggebracht.“   Er zuckte mit den Schultern und ich musste einsehen, dass wir offenbar schon wieder an einem toten Punkt waren. Man, das war doch bekloppt. Ich meine, natürlich war das meine Schuld. Ich hatte mich ja die letzten Tage rar gemacht, ihn regelmäßig stehenlassen, alle Gespräche abgeblockt. Aus gutem Grund wohlgemerkt. Und wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich dabei geblieben wäre, aber die Wahrheit war, dass es mir fehlte. Mit ihm Unsinn zu machen, zu lachen, zu quatschen. Aber vielleicht …   „Also wenn du sie eh noch hier hast, könntest du ja mal dein Versprechen einlösen“, sagte ich und deutete auf die Gitarre. „Erinnerst du dich. Du wolltest mir noch was vorspielen.“ „Ich dachte, du magst mein Spiel nicht.“ „Bist du irre? Du bist fantastisch.“ „Warum bist du dann immer so früh gegangen?“ „Ich … äh.“   Scheiße. Was sollte ich denn jetzt darauf sagen? Die Wahrheit war natürlich vollkommen ausgeschlossen. Aber anlügen wollte ich ihn eigentlich auch nicht. Zumal ich ein miserabler Lügner war und er bestimmt merken würde, dass ich schwindelte. Aber was sollte ich ihm als Grund liefern? Was?   „Hab ich was falsch gemacht?“   Seine Frage holte mich wieder aus der geistigen Versenkung.   „Was? Nein! Himmel nein, du … es hat nichts mit dir zu tun.“   Eher mit mir. Mit mir und meinem dummen Herz, das sogar jetzt schon wieder viel zu schnell schlug, aber ich würde das hinkriegen. Kein Problem. Überhaupt und gar kein Problem. „Wirklich nicht?“ „Nein, ich … ich war einfach nur müde. Du weißt doch. Elias’ Schnarcherei. Da muss man Schlaf vorholen, bevor der einen wieder die halbe Nacht lang wachhält. Obwohl es jetzt besser zu werden scheint.“ „Ah“, machte er und glaubte mir anscheinend kein Wort. „Dann ist ja gut.“   Wieder drohte sich Schweigen auszubreiten, also startete ich noch einen letzten Versuch. Wenn das nicht klappte, würde ich einfach wieder ins Zelt gehen und ihn hier hocken lassen. „Also was nun? Spielst du noch was für mich? Ich … ich würde wirklich gerne mal was eigenes von dir hören.“   Ich sah Theo an, wie er nachdachte. Klack, klack, klack machten die Rädchen in seinem Kopf. Schließlich schüttelte er ihn und brachte damit alles wieder durcheinander, bevor es die Chance hatte, einen Sinn zu ergeben. „Ich … es ist zu spät. Wenn ich jetzt hier spiele, kriegen wir Ärger.“ „Dann gehen wir eben woanders hin.“   Wieder schwieg Theo, bevor er plötzlich aufstand. „Na los. Ich weiß wo.“ „Und wo?“ „Wirst du ja sehen.“   Mit einem merkwürdigen Gefühl im Bauch erhob ich mich und folgte ihm. Wie zwei Füchse, die einen Hühnerstall ausnehmen wollten, schlichen wir durch die Nacht. Am Hauptgebäude vorbei und den Wohnwagen der Dauergäste, bis wir zu dem schmalen Pfad kamen, der zwischen grasbewachsenen Dünen zum Strand runter führte.   Das Meer rauschte dunkel und einsam gegen das Gestade, dessen feiner Kies unter unseren Füßen knirschte. Es roch nach Algen und Tang. An der Wasserlinie angekommen blieb Theo stehen und deutete mit dem Kopf auf den Steg, der an dieser Stelle ins Meer hinausführte. Das Gebilde aus grauverfärbten Bohlen ragte weit ins Wasser hinein und wurde von dunklen, nahezu schwarz wirkenden Wellen umspült. Jedes Mal, wenn sie an den dicken Stützpfeilern leckten, gab es ein kleines Schwappgeräusch.   „Da hinten hört uns sicher keiner“, erklärte Theo und sah mich auffordernd an. Der Seewind fuhr ihm durch die Haare und gab ihm ein leicht verwegenes Aussehen. „Du bist vollkommen verrückt“, ließ ich ihn wissen, bevor ich ein wenig mutiger, als ich mich eigentlich fühlte, die kleine Treppe zu dem geländerlosen Gebilde emporstieg. Ohne mich umzudrehen stiefelte ich ganz bis zum Ende und ließ mich dort in einen Schneidersitz sinken. Theo setzte sich neben mich.   Es war kalt hier und ich zog ein wenig die Schultern hoch. „Frierst du?“ „Schon okay. Fang ruhig an.“   Für einen Augenblick schien es, als wollte er doch noch einen Rückzieher machen, aber dann griff er nach der Gitarre, legte die Finger auf die Seiten und begann zu spielen. Ich erkannte sofort den Unterschied zu vorher. Sonst hatte er meist mehrere Seiten gleichzeitig angeschlagen, doch jetzt zupfte er die Töne einzeln, sodass sie eine Melodie ergaben. Eine Weile lang spielte er einfach nur und ich lauschte ihm und den Wellen, als er mit einem Mal zu singen begann.   Ich hätt so gerne einen Song geschrieben Der sich reimt und all das Doch die Worte drehen sich in meinem Mund Und sie lachen mich aus   Alles was ich zu Papier bringe Hört sich wirr und wild an Und ich beginn an mir zu zweifeln Was mach ich eigentlich hier   Du und ich Das könnte so gut sein Das könnte so groß sein Trotzdem frag ich mich Mach ich mich lächerlich Wenn ich manchmal von dir träume Und wenn ich denke an dich Weiß ich immer ganz genau Was ich eigentlich will   Aber wenn ich dann erwache Kann ich nichts mehr davon aussprechen Und zurück bleibt nur das Schweigen Das mein Lachen langsam frisst   Du und ich Das könnte so gut sein Das könnte so groß sein Trotzdem frag ich mich Mach ich mich lächerlich   Mein Herz versucht mich bei der Hand zu nehmen Es sagt: Hab nur Mut Aber mein Kopf zählt mir tausend Dinge auf Die mich wieder zweifeln lassen   Ich wage den ersten Schritt nicht Und auch der zweite bleibt aus Daher wirst du niemals wissen Wie es in mir aussieht   Du und ich Das könnte so gut sein Das könnte so groß sein Trotzdem frag ich mich Mach ich mich lächerlich   Du und ich Das könnte so gut sein Das könnte so groß sein Und immer wieder frag ich mich Mach ich mich lächerlich   Als er geendet hatte, sagte ich erstmal gar nichts. Das war … das war einfach der Wahnsinn gewesen. Ich wusste genau, wie er sich fühlte. Was er mit diesem Lied ausdrücken wollte. Es war, als hätte er es für mich geschrieben.   Unsicher sah Theo mich an. „Und?“, fragte er leise. „Wie fandest du’s?“ „Es war … toll. Absolut Fantastisch.“ „Ja?“ „Ja klar.“   Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, bevor er den Blick abwandte. „Freut mich, dass es dir gefallen hat. Ich hab es für jemand sehr besonderen geschrieben.“   Für einen kurzen Augenblick stolperte mein Herz. Für jemand … besonderen? Doch dann erinnerte ich mich. Natürlich. Er musste Mia meinen. Das Lied … es passte perfekt. Ein perfektes Lied für ein perfektes Mädchen. Ich atmete tief durch. „Wirst du es ihr vorspielen?“ „Wem?“ „Na, Mia.“   Da war ein winziges Zögern, bevor er den Kopf schüttelte.   „Ich glaub nicht. Ich … es würde ihr bestimmt nicht gefallen.“ „Quatsch. Natürlich sie wird es lieben. Es ist wundervoll.“ „Wenn du das sagst.“   Wieder breitete sich Schweigen zwischen uns aus. Ein Schweigen, das gefüllt war mit verklungenen Gitarrenklängen, dem Rauschen des Meeres und dem Geräusch unserer schlagenden Herzen. Mit unausgesprochenen Worten und Träumen, die zu groß waren für diese Welt. Zu groß, um sie jemals Realität werden zu lassen.   Ganz unvermittelt sagte Theo: „Ich hab’s Jo erzählt.“   Ich drehte den Kopf zu ihm. Er sah aufs Wasser hinaus, den Blick an den fernen Horizont gerichtet.   „Was hast du ihm erzählt?“ „Das mit Mia.“   Ich riss die Augenbrauen nach oben. „Was? Aber warum das denn? Ich dachte …“   Theo zuckte mit den Schultern.   „Er wollte wissen, warum ich in letzter Zeit so komisch war. Hat gemeint, ich hätte mich zurückgezogen und nichts mehr erzählt. Er hat gedacht, dass das an dir liegt. Ich … ich wollte nicht, dass er das denkt.“   Mhm, okay, das war natürlich ein Argument. Hätte ich auch nicht gewollt, wenn ich ehrlich war.   „Wie hat er reagiert?“ „Er hat gesagt, dass ich ein Idiot bin.“ „Echt? Warum?“ „Weil er neuerdings auf Nele steht.“ Nach einem kurzen Schreckmoment konnte ich nicht anders, ich musste lachen. Theo schwieg einen Augenblick lang, bevor auch er anfing zu glucksen. Allerdings nicht lange. Dann atmete er plötzlich tief ein. Es klang beinahe wie ein Seufzen.   „Und jetzt?“ „Jetzt werde ich Nele wohl zu der Party einladen müssen.“ „Dann vergiss Sandra nicht. Ohne ihre beste Freundin kommt sie bestimmt nicht.“ „Aber wenn ich die einlade, hat Jo keine Chance.“ „Auch wieder wahr. Es sei denn, du lädst auch Ben ein, dann ist Sandra bestimmt beschäftigt.“ „Das wäre natürlich eine Idee.“   Wieder verstummten wir. Über uns kam der Mond hervorgekrochen und sandte sein silbriges Licht übers Wasser. Der Wind wurde weniger und die Wolken kamen über uns zum Stillstand. Selbst das Meer rauschte irgendwie ein wenig leiser. Es war Theo, der wiederum das Wort ergriff. „Glaubst du, das funktioniert?“ „Was?“ „Na das mit der Party. Wenn ich Mia einlade, glaubst du, sie kommt?“ „Klar, warum denn nicht?“ „Weiß nicht. Vielleicht, weil sie keine Lust hat. Oder Partys doof findet.“ „Quatsch. Kein Mensch findet Partys doof.“ „Also da gibt’s schon welche.“ „Aber nicht auf diesem Planeten.“ Ich lächelte leicht. „Und wenn, dann würden die zu deiner Party bestimmt trotzdem kommen wollen. Immerhin bist du Theodor von Hohenstein. Eine Einladung von dir ist quasi so, als wäre man von der Queen persönlich zum Tee gebeten worden.“   Er schwieg daraufhin, aber es war kein gutes Schweigen. Sein Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Unruhig rutschte ich auf dem Steg hin und her.   „Hey, was ist los? Hab ich was Falsches gesagt?“   Theo atmete tief durch.   „Nein. Natürlich nicht. Du hast nur ausgesprochen, was alle denken.“ „Was meinst du?“ „Dass ich ja so perfekt bin. Dass mir alles gelingt. Dass ich was Tolles und Besonderes bin und ich … ich bin das nicht. Ich kann das nicht.“ „Was kannst du nicht?“ „Ich … das mit Mia meine ich. Ich werd’s nie hinkriegen, sie anzusprechen.“   Er legte die Gitarre, die er die ganze Zeit noch in der Hand gehalten hatte, beiseite, schlang die Arme um die Knie und legte sein Kinn darauf. Sein Blick war immer noch in die Ferne gerichtet. Ich zögerte kurz, bevor ich ein Stückchen näher rückte.   „Ich kann das einfach nicht“, wiederholte er. „Hey.“   Behutsam legte ich ihm den Arm um die Schultern. Er war warm unter meiner Hand.   „Klar kriegst du das hin. Ich mein, das ist Mia. Sie wird dir schon nicht den Kopf abreißen.“ „Das nicht, aber … wenn ich vor Ihr stehe, klopft mein Herz wie verrückt und ich krieg keinen Ton mehr raus. Meine Knie zittern und ich hab das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Und ich hab Angst … also wenn … wenn ich sie … dann will sie doch bestimmt …“   Der Rest des Gestotters in seiner Kehle erstarb und das, was dann noch herauskam, klang irgendwie wie „müssen“. Ich runzelte die Stirn und überlegte. Was hörte sich denn an wie …? Oh.   „Du hast Angst, sie zu küssen?“   Er nickte und blickte zu Boden. „Du findest das bestimmt voll dumm.“ „Nein, gar nicht.“ „Nicht?“ „Na ja, wenn ich da so an meinen ersten Kuss denke. Der war auch nicht gerade der Bringer. Bin irgendwie abgerutscht und …“ „Benedikt! Das ist nicht hilfreich.“   Ich lachte leicht. Und natürlich hätte ich jetzt tausend Sachen sagen können. Sachen wie „Entspann dich einfach“ oder „Lass es auf dich zukommen“ oder „Ihr kriegt das zusammen schon irgendwie hin“. Aber als ich meinen Mund öffnete kam etwas ganz anderes heraus. „Soll ich es dir zeigen?“   Und natürlich hätte er darauf so was antworten sollen wie „Du spinnst ja“ oder „Sehr witzig“ oder „Lass den Scheiß“. Stattdessen sah er mich einen Augenblick lang an und dann sagte er einfach:   „Ja.“   Im ersten Moment war ich wie paralysiert. Hatte er gerade tatsächlich „Ja“ gesagt? Es musste wohl so sein, denn sein Blick wanderte wie von selbst hinab zu meinem Mund, bevor er mir wieder in die Augen sah. Und er war so nah. So nah wie noch nie zuvor.   Langsam, ganz langsam beugte ich mich zu ihm hinüber. Mein Herz klopfte so laut, dass ich glaubte, es müsse gleich zerspringen. Das hier musste ein völlig verrückter Traum sein. Das konnte nicht passieren. Ich stand kurz davor, ihn zu küssen. Wahrscheinlich würde er gleich zurückschrecken und verkünden, dass er es sich anders überlegt hatte, dass alles nur ein Scherz gewesen war, aber er tat es nicht. Er blieb und hielt ebenso den Atem an wie ich. Also nahm ich all meinen Mut zusammen, schloss die Augen und überbrückte auch noch das letzte Stück, um unsere Lippen endlich zusammenzubringen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)