Ich, er und die Liebe von Maginisha ================================================================================ Kapitel 40: Von steilen Hügeln und hübschen Zelten -------------------------------------------------- Am Montagmorgen gegen halb acht herrschte auf dem Pausenhof geordnetes Chaos. Ein ganzer Haufen Schüler mit noch mehr Fahrrädern und dazu unsere Lehrer, die uns umrundeten, wie zwei Schäferhunde eine Herde Lämmer, damit auch keines ausbüxte. Der Anführer vons Janze war natürlich Herr Wilkens, der im schicken Sportdress und mit neonfarbenem Helm unterwegs war. Er bildete dabei einen krassen Gegensatz zu Frau Kuntze, die anscheinend die Gelegenheit genutzt hatte, sich endlich mal in ihre bequemen Gartenklamotten zu schmeißen, und mit einem kugelrunden, roten Topf auf dem Kopf herumrannte, der den Eindruck eines wild gewordenen Gummiballs nur noch verstärkte. Eigentlich wunderte es mich ein bisschen, das ausgerechnet sie mitgekommen war, aber andererseits war die Auswahl an weiblichen Lehrkräften bei uns ja auch nicht gerade groß. Und Frau Kuntze schien sportlicher zu sein, als man ihr bei ihrer Figur zugetraut hätte.   „Ich schwimme jeden Morgen bei uns im See“, hatte sie verkündet, woraufhin irgendjemand nur „Hoffentlich nicht nackt!“ dazwischen gerufen hatte. Zum Glück für denjenigen hatte sie nicht rausgekriegt, wer es war.   „Corinna, jetzt hör auf zu meckern und setz endlich deinen Helm auf“, blaffte Herr Wilkens gerade, nachdem er sich versichert hatte, dass der Rest von uns bereits eingenordet war. Selbst Oliver hatte so ein Ding auf dem Kopf. Es war der, den Theo ihm mitgebracht hatte.   „Aber meine Frisur!“, jammerte Corinna. „Die interessiert die nächsten zehn Tage niemanden. Wohl aber, wenn wir die Fähre verpassen. Also los jetzt. Sie haben die Adresse, Frau Degenhardt?“   Sandras Mutter, die sich bereit erklärt hatte, den Gepäcktransport zu übernehmen, nickte.   „Ja, ich fahre dann mal. Wir sehen uns drüben.“ „Fein, und ihr alle macht euch bereit zur Abfahrt. Wir fahren hintereinander. Ich vorneweg, Frau Kuntze bildet das Schlusslicht. Und jetzt mal zack-zack.“   Und dann ging’s los. Zuerst durch die Stadt, was bei jeder Ampel einen halben Auflauf verursachte, bis wir dann die Häuser hinter uns ließen und auf dem Weg, der parallel zur Straße verlief, mehr oder weniger geordnet durch die Landschaft radelten. Ich hatte bald ein einigermaßen angenehmes Tempo gefunden und trat so vor mich hin in die Pedale. An der Spitze der Gruppe lieferten sich Theo, Jo und ein paar andere ein regelrechtes Wettrennen. Na meinetwegen, sollten sie. Ich verspürte wenig Lust, mich jetzt schon total auszupowern, obwohl es bestimmt Spaß gemacht hätte, da vorne mitzufahren. Aber eile mit Weile hieß es ja nicht umsonst. Außerdem hatte ich noch Antons Warnung im Ohr und wollte mich erst mal ein bisschen fernhalten. Man musste ja nicht gleich am ersten Tag Stress riskieren.   Nach ungefähr der halben Strecke rief Herr Wilkens dann eine kurze Pause aus. Die Gruppe hatte sich bereits so weit auseinander gezogen, dass zwischen den ersten und den letzten Rädern gute zwei Kilometer lagen. Offenbar passte ihm das gar nicht.   „Da seid ihr ja endlich“, rief er, als Frau Kuntze mit den letzten, schon leicht erschöpften Radlerinnen ankam. Es waren Corinna, ihre beste Freundin Charlotte und Mia-Marie, die ziemlich rot im Gesicht war.   „Können wir dann weiter?“, drängelte Ben. Er war mit einer der ersten gewesen, die hier angekommen waren.   „Ja, lasst uns weiterfahren“, maulte jetzt auch Jonas. „Das ist voll öde hier nur rumzustehen.“   Keines der Mädchen wagte, etwas dagegen zu sagen, aber ich sah genau, dass gerade Mia-Marie unbedingt noch eine Pause brauchte. Schließlich war sie gerade erst vom Rad gestiegen. Ich wandte mich an Herrn Wilkens.   „Können wir nicht zwei Gruppen machen? Eine schnelle und eine langsamere? Dann müssten die ersten nicht warten und die anderen sich nicht so abhetzen.“   Herrn Wilkens’ Miene hellte sich auf. „Das ist eine gute Idee. Also los, wer sich traut, mit uns Schritt zu halten, kann jetzt weiter fahren. Der Rest bleibt bei Frau Kuntze. Kriegst du das hin, Barbara?“   „Klar“, meinte Frau Kuntze und reichte Mia-Marie eine Wasserflasche. „Aber zwei oder drei von den schnelleren Fahrern sollten bei uns bleiben, falls was ist.“   „Okay, wer meldet sich freiwillig?“   Sandra war die erste, deren Arm nach oben schnellte, sodass sich ihre Freundin Nele natürlich anschloss. Nachdem sonst keiner Anstalten machte, hob ich schließlich auch noch die Hand. Herr Wilkens nickte zufrieden.   „Gut, dann mal Abflug. Wir sehen uns an der Fähre.“   Ich stellte mein Rad ab und machte es mir neben Mia-Marie bequem, die sich kurzerhand auf dem Grünstreifen niedergelassen hatte.   „Geht’s?“, fragte ich. „Nee, es fährt“, erwiderte sie grummelig. „Ich bin einfach nicht für solche Sachen gemacht. Wer auch immer behauptet hat, hier gäbe es keine Berge, ist noch nie diesen beschissenen Weg lang gefahren.“   Ich lachte, obwohl sie nicht ganz Unrecht hatte. Wenn die Leute an Schleswig-Holstein denken, haben sie meist Strand und Meer vor Augen. Oder jede Menge Schlamm und Fischbrötchen. Aber es gab hier durchaus auch die eine oder andere Erhebung, von denen ich irgendwann mal gelernt hatte, dass das mit Eiszeit und Moränen und irgendsolchem Kram zu hatte. Lang, lang ist’s her. Frau Kuntze wäre sicherlich entzückt gewesen, uns das nochmal zu erläutern, aber ich würde mich hüten, sie zu fragen. Das Gute an Klassenfahrten war schließlich, dass man in der Zeit keinen Unterricht hatte. Na zumindest gab es hier natürlich keine riesigen Berge, aber wenn man so wie Mia-Marie mit drei Gängen die Steigungen hochstrampeln musste, war das schon nicht so super. Ich kniff die Augen zusammen und überlegte.   „Hey, Sandra“, rief ich. „Würdest du eventuell mit Mia-Marie das Rad tauschen? Deins hat doch ne anständige Gangschaltung.“ „Klar, warum nicht.“   Mia-Marie sah mich an wie ein Auto. Ich zuckte mit den Schultern.   „Reiner Eigennutz. Ich will ja auch irgendwann mal ankommen.“   Mia-Marie zog zuerst eine Schnute, dann grinste sie.   „Kannst du eigentlich auch zugeben, wenn du nett bist?“ „Mhm, manchmal. Aber das ist so uncool, deswegen versuche ich es lieber mit ein bisschen Machogehabe zu überspielen.“ „Also wenn irgendwer kein Macho ist, dann du.“   Ich wusste nicht so genau, ob das jetzt ein Kompliment war, aber da Frau Kuntze in dem Moment zum Aufbruch drängte, blieb mir eine Antwort ohnehin erspart. Auf zur nächsten Etappe.     Der kleine Fährhafen, den wir mit der zweiten Gruppe tatsächlich erst kurz vor knapp erreichten, lag in einem verschlafenen, kleinen Ort an der Ostseeküste. War es morgens noch kühl gewesen, sodass man ohne Jacke nicht draußen hatte herumlaufen wollen, knallte jetzt schon wieder die Sonne vom Himmel. Man hätte sich beschweren können, wenn die Alternative nicht Nieselregen gewesen wäre, und den würde es sicherlich innerhalb der nächsten Woche noch früh genug geben.   „Los, los“, drängelte Herr Wilkens auch prompt wieder. Der Besitzer der Fähre hatte mit der Anzahl unserer Räder ohnehin schon eine Ausnahme gemacht und wenn wir nicht pünktlich waren, würde er uns einfach stehenlassen.   „Dann zelten wir eben hier“, brummelte Mia-Marie und schob Sandras Rad nach vorne zu den anderen, wo es von einem Mitarbeiter der Fährgesellschaft in Empfang genommen wurde, um es zusammen mit den anderen fachmännisch zu verladen.   Während wir warteten, sah ich mich um. War schon ganz idyllisch hier. Eine kleine Hafenanlage, in der Reihen um Reihen weißer Boote in verschiedenen Größen vor sich hin dümpelten. An der Promenade gab es ein paar Fressbuden und ein Restaurant, das mit waschechten Strandkörben statt Sitzbänken aufwartete, sowie einen kleinen Supermarkt und einige Souvenirgeschäfte, in denen bereits die ersten Kunden unterwegs waren. Einer davon war Corinna.   Die Fähre, mit der wir übersetzen würden, befand sich ein Stück weiter draußen an einem Pier, der bestimmt einen halben Kilometer weit in die Förde hineinragte. Vermutlich wegen des tieferen Fahrwassers. Dorthin führte ein langer Holzsteg, der nur an einer Seite ein Geländer hatte. Irgendwie sah ich schon jemanden von dem Ding aus ins Wasser fliegen. Möglicherweise auch Corinna. (Die hatte leider ein Talent für so was.) Ein Stück weiter entlang der Küste erstreckte sich dann noch ein flacher Strand, der wohl zu einem Campingplatz gehörte, den man in der Ferne erkennen konnte. Alles in allem somit wohl tatsächlich nichts weltbewegend anderes als das, was uns auf der anderen Seite erwarten würde. Aber vorgenommen war eben vorgenommen.   „Also hört mal zu“, startete Herr Wilkens gleich wieder eine Ansprache. „Auf der Fähre möchte ich, dass ihr euch nicht wie eine Horde Wildschweine benehmt. Es werden noch andere Fahrgäste anwesend sein. Somit wird weder getobt, noch gerannt, nicht über der Reling gehangen oder irgendwo rumgeklettert, wo man nicht hindarf. Außerdem bleiben alle Rettungsringe an ihrem Platz, wenn nicht wirklich jemand ins Wasser gefallen ist. Hab ich mich da klar ausgedrückt?“   Einstimmiges Gemurmel antwortete ihm. Was dachte der denn? Dass wir uns nicht zivilisiert verhalten konnten? Wobei, wenn ich da so an Oliver und Jo dachte, war ich mir nicht so ganz sicher. Sie waren es nämlich, die für den Einwurf mit den Rettungsringen verantwortlich waren.   Ich seufzte, setzte mich zu Elias und Timo auf die Stufe vor der Imbissbude und harrte der Dinge, die da kommen sollten.     Kurz darauf wurde die Fähre für die Besucher geöffnet und wir bestiegen zusammen mit den anderen Unglücklichen, die die Reise mit uns Chaoten zusammen würden durchstehen müssen, das weiße Boot. Die meisten von uns stürmten direkt weiter aufs Oberdeck, wo sie mehr als die Hälfte der dort befindlichen Plastiksitze mit Beschlag belegten. Der Rest verteilte sich auf dem halben Weg dahin im Innenraum und ließ sich an den Tischen und Bänken nieder.   Ich stand vor der Treppe, die zum Aussichtsdeck führte, und überlegte. Hoch zu Oliver und Jo wollte ich eigentlich nicht unbedingt. Aber zu Elias und Timo, der wohlgemerkt gerade einen vielseitigen Würfel ausgepackt hatte, würde ich ganz bestimmt auch nicht gehen. Den Heldentod konnte dieses Mal jemand anderes sterben. Also blieb ich kurzerhand, wo ich war, stellte mich an das Geländer des kleinen Deckvorsprungs ganz am Ende des Bootes und guckte hinunter aufs Wasser. Auf der anderen Seite der Förde konnte man irgendwo im Dunst bereits die dänische Küste erahnen. Trotzdem war zwischen hier und da ganz schön viel Wasser. Wie lange man da wohl würde schwimmen müssen …   Ganz in Gedanken versunken merkte ich nicht, wie jemand hinter mich trat. Plötzlich wurde ich gepackt und bekam einen kräftigen Stoß. Ich schrie auf und klammerte mich erschrocken am Geländer fest, als ich bereits ein Lachen hörte und der Druck auf meinen Schultern nachließ.   „Hey, ganz locker. Hast du etwa gedacht, dass ich dich reinschmeiße?“ „Theo!“   Er grinste mich an und stellte sich neben mich. Gemeinsam stützten wir uns auf das Geländer.   „Wo ist denn der Rest der Gang?“, wollte ich wissen.   Natürlich wusste ich, wo sie waren. Immerhin konnte man das lautstarke Gemecker von Phillip, dem offenbar irgendein Idiot seine Spielkarten entwendet hatte mit dem Erfolg, dass die jetzt auf dem ganzen Deck herumflogen, und die entsprechenden Kommentare dazu kaum überhören, aber ich meinte mit der Frage ja auch was anderes.   Theo nickte nur mit dem Kopf in Richtung Oberdeck und sah raus aufs Wasser. Ich tat es ihm nach und der Frieden währte ungefähr zwei Minuten, bevor erneut jemand die Treppe heruntergepoltert kam. Es war Jo. Als er sah, dass Theo bei mir stand, wurden seine Augen schmal.   „Hey, T, wo bleibst du denn? Ich dachte, du wolltest nur mal aufs Klo.“ „Bin aufgehalten worden.“ „Kommst du dann jetzt wieder hoch?“ „Ja, gleich.“   Jo wartete noch einen Moment, aber als er sah, das Theo sich einfach wieder umdrehte, zockelte er zu den anderen zurück und warf nur ab und an einen feindseligen Blick in unsere Richtung. Theo schien das zu spüren. Er seufzte.   „Und es geht schon wieder los.“ „So schlimm? „Nein, schlimmer.“   Theo wandte ein bisschen den Kopf in meine Richtung und grinste und ich erwiderte sein Grinsen fast so, als hätten wir beide eine geheime Verschwörung.   „Wenn sie dich ärgern, kommst du einfach wieder zu mir“, sagte ich, woraufhin er ein amüsiertes Schnauben von sich gab.   „Sollte der Satz nicht eigentlich von mir kommen?“ „Dann beschützen wir uns eben gegenseitig.“   Er lachte. „Na schön. Gegen die Dummheit dieser Welt.“   Theo hielt mir die Faust hin und ich schlug mit meiner dagegen. Dann seufzte er noch einmal.   „Ich muss dann mal wieder.“   Damit drehte er sich um und stieg die Treppe hinauf zu der Sitzreihe, auf der sich die anderen niedergelassen hatten. Ich sah noch, wie Oliver von Jo einen Rüffel erhielt, weil er nicht schnell genug die Füße weggenommen hatte, als Theo vorbeiwollte. Es hätte mich amüsiert, wenn es nicht so albern gewesen wäre.   Mit einem Mal ging ein Ruck durch das Schiff. Es begann irgendwo unter meinen Füßen zu rumoren und der Boden erzitterte im Takt des großen Motors, der das Schiff antrieb. Es dauerte noch ein paar Minuten, in denen der Steg, über den wir die Fähre betreten hatten, eingeholt wurde, die Luken geschlossen und die Taue gelöst, bevor es auf einmal in den Lautsprechern knackte. Der Kapitän begrüßte alle Fahrgäste auf dem Schiff, gab noch einige Details zu Fahrtroute und -zeit zum Besten und wünschte anschließend allen einen schönen Aufenthalt. Danach knackte es wieder und die Durchsage erstarb.   „Na endlich geht’s los. Wir warten ja schon ne halbe Ewigkeit“, nölte irgendwer von unserem Haufen, aber da kam auch schon unser Klassenlehrer aufs Deck und alle Proteste verstummten. Ich tat einfach mal unauffällig und blieb, wo ich war. Von hier aus hatte man eh den besten Ausblick.   Tatsächlich begann das Schiff langsam, sich zu bewegen. Allerdings mit dem Heck voran, sodass ich quasi vorne am Schiff stand, das gemächlich Fahrt aufnahm und so einen großen Bogen in Richtung Küste beschrieb. Als wir schließlich gewendet hatten, wurde der Motor gedrosselt, die Fahrt kam zum Erliegen und mit einem gewaltigen Aufschäumen des dunklen Wassers direkt unter mir setzte sich die Fähre in Richtung Dänemark in Bewegung. Das Land fiel zunehmend hinter uns zurück, die Häuser wurden immer kleiner und die Fahrt schneller. Leichter Seegang setzte ein und ein paar Möwen folgten dem Schiff wohl in der Hoffnung, irgendwas von dem Proviant zu erhaschen, der jetzt allerorts mit großem Geraschel ausgepackt wurde. Auch ich verspürte leichten Hunger und nahm meinen Rucksack, um mich dann doch zu Timo und Elias zu setzen.   Während ich mit Blick aus dem leicht trüben Fenster in mein Brot biss und mit halbem Ohr den Gesprächen um mich herum lauschte, kam mir der Gedanke, wie es wohl wäre, mit anderen Leuten hier zu sitzen. Anton, Julius und Theo wären eine nette Runde gewesen, obwohl ich irgendwie bezweifelte, dass die so funktioniert hätte. Die drei passten einfach so gar nicht zusammen. Trotzdem hatte die Vorstellung ihren Reiz und ich versank in Tagträumen, während wir mit jedem verstreichenden Seemeter weiter auf unser Ziel zuschipperten.     Als das Schiff auf der dänischen Seite wieder anlegte, nahm uns dieses Mal ein massiver Betonkai in Empfang, der zu einem malerischen Ort mit vielen buntgestrichenen Stadthäusern gehörte. Es erinnerte mich an das Viertel, in dem Julius lebte. War vermutlich kein Wunder, denn die Grenzen hatten sich ja hier oben immer mal verschoben.   Während wir auf unsere Räder warteten, gab Herr Wilkens schon wieder Anweisungen. Hier und da hörte ich Gemurre, weil einige wohl gehofft hatten, dass wir uns noch ein wenig in der Stadt aufhalten würden, aber wir hatten noch eine weitere Tour vor uns und unser Klassenlehrer hatte in unsere Zeltaufbaukünste anscheinend ungefähr genauso viel Vertrauen wie in unsere Kondition. Er wollte daher rechtzeitig am Campingplatz ankommen.   „Außerdem wartet ja Frau Degenhardt auf uns. Also nicht motzen, sondern klotzen, meine Lieben. Auf geht’s.“     Was folgte war – man ahnt es – Radfahren. Der einzige Unterschied zu vorher war, dass wir es nicht mehr so eilig hatten, sodass ab und an auf die Nachzügler gewartet werden konnte, und die seltenen Straßenschilder in dänischer Sprache daherkamen. Ansonsten gab es um uns herum nur Landschaft, Landschaft, Landschaft. Ab und an lag mal ein See rechts oder links der Straße, manchmal auch ein paar Häuser, aber im Großen und Ganzen bewegten wir uns immer weiter durch grüne Felder und Wiesen in Richtung „nach vorne“, ohne wirklich zu wissen, wo es eigentlich hingehen sollte. Herr Wilkens fuhr mit ner Karte vorneweg (Ja wirklich, ne Karte. Er war da irgendwie altmodisch.) und wir wie die braven Schäfchen hinterdrein.   Anfangs versuchte ich ja noch, ein bisschen bei Mia-Marie zu bleiben, aber die meinte nur irgendwann, ich solle ruhig fahren, sie käme schon klar. Vielleicht war es ihr auch ein bisschen unangenehm, dass ich den einen Berg tatsächlich mit ihr zusammen geschoben hatte, während alle anderen mal eben locker hochgefahren waren.   „Meine Mutter meint, ein gutes Rad wäre bei mir Geldverschwendung und würde eh nur geklaut werden“, hatte Mia-Marie zwischendurch geschnauft. „Deswegen fahre ich nie Rad, weil es mir zu anstrengend ist.“   Ich fand die Logik bestechend. Ein perfektes Perpetuum mobile der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Half Mia-Marie jetzt aber auch nicht weiter, also ließ ich sie in Ruhe und machte mich auf, ein bisschen weiter zur Spitze aufzuschließen. Ich endete bei Timo und Elias, die gemütlich nebeneinander fuhren und so den Radweg blockierten. Na ja, sollte mir auch recht sein. Blieb ich eben hinter den beiden und sah mir weiter Dänemark an. War ja so auch ganz hübsch.     Als irgendwann das Meer in Sicht kam, seufzten trotzdem die meisten relativ erleichtert auf. Immerhin waren wir heute schon die zweite Strecke dieser Größenordnung unterwegs und ich orakelte mal, dass morgen nicht wenige von uns mit Muskelkater rumlaufen würden. Ausnahmen (aka Theo) bestätigten die Regel.   Grüne Hecken umfriedeten den Campingplatz und unterteilten ihn in verschiedene Bereiche. Als Herr Wilkens von der Platzleitung zurückkam, brachte er die Information mit, dass wir in einem der noch leeren Abschnitte ein Stück weit vom Hauptgebäude entfernt lagern würden. Den Platz hatte man extra von Wohnwagen und ähnlichem für uns freigehalten. Ich vermutete zwar stark, dass man die anderen Camper lieber von uns fernhielt, aber da der Bereich eben und sauber war, wollte ich mal nicht meckern. Frau Degenhardt war mit ihrem Kombi samt Anhänger auch schon vor Ort und so wurde erst mal fleißig ausgeladen.   Zelt um Zelt, Tasche um Tasche warf unser Lehrer aus dem Hänger und während die meisten schon dabei waren, sich häuslich einzurichten, warteten Timo, Elias und ich immer noch darauf, endlich unser Zelt zu bekommen. Als schließlich alle bunten Päckchen die Ladefläche verlassen hatten, stieg unser Lehrer ab.   „Das da ist dann wohl eures“, sagte er und zerrte eine riesiges, schmutzigweißes Paket vom Boden. Meine Augenbrauen schossen nach oben. Das war jetzt nicht Timos Ernst. „Ist halt ein LARP-Zelt“, meinte der nur und zuckte mit den Schultern. „Mein Bruder hat’s günstig gebraucht bekommen, deswegen ist es auch ein bisschen größer. Wir sollten uns also genug Platz suchen.“   Genug Platz war gar kein Ausdruck, denn wo die anderen auf minimalem Raum hausten und sich in ihrem Schlafkojen maximal halb umdrehen konnten, nahm der Wust an Zeltplane, den wir hier zu dritt entfalteten, so gar kein Ende. Am Schluss hatten wir ein rundes Gebilde auf dem Boden liegen, in das ich mich locker zweimal quer hineinlegen konnte. Mit Schuhen!   „Wie hoch wird denn das Ding?“, fragte ich vorsichtshalber, als ich dazu noch die jeweils etwa einen Meter langen Stangenstücke betrachtete, die Timo gerade zu einem Zeltmast zusammensteckte.   „Och, ich glaube, du kannst locker darin stehen“, gab der zurück und dachte wohl, dass mich das beruhigte. Was es nicht tat. So gar nicht. Statt jedoch auf meine leicht entgeisterte Miene einzugehen, fing Timo an, noch allerlei Dinge mehr auszupacken. Unter anderem einen Hammer. Kein Mensch hatte hier einen Hammer. Nur ich und diese zwei Nerdlinge, mit denen zusammen ich offenbar während der Klassenfahrt in einem echten Ritterzelt nächtigen würden. Na herzlichen Glückwunsch.   Andererseits konnte man bei der Besatzung des Zelts ja wirklich auf Ideen kommen.   Timo hatte es nämlich wie auch immer geschafft, selbst seine Sommerklamotten ausschließlich in den Farben Beige, Schlammbraun und Ocker zu bekommen. Zusammen mit der Prinz-Eisenherz-Frisur und der spindeldürren Gestalt wäre er in jedem Fantasystreifen sofort als Knappe oder dritter Waldelf von links engagiert worden. Elias hingegen war die Rolle des trutzigen Zwergs wie auf den Leib geschrieben, was allerdings mehr an seinem Äußeren denn an seinem Charakter lag. Elias war nämlich ausgesprochen höflich und geriet höchstens dann mal aus der Fassung, wenn jemand behauptete, klassische Musik wäre total langweilig.   Im Gegenzug zu seinem also eher langmütigen Charakter erschien sonst nahezu alles an Elias auf seltsame Weise zu kurz geraten. Er hatte kleine, klobige Füße, stämmige Beine, knubbelige Knie, einen Körper, der quasi keine Taille besaß, kräftige Arme und kurze, dicke Finger, mit denen er jedoch ungefähr einer Million Musikinstrumente Töne zu entlocken verstand. Das Ganze wurde dann noch von einem murmelförmigen Kopf und einer Haarmatte gekrönt, die mich immer ein wenig an ein braunes Schaf nach der Schur erinnerte. Das Einzige, was an Elias groß war, war seine Nase und nein, ich weiß nicht, ob man dadurch irgendwelche Rückschlüsse auf andere Körperteile ziehen konnte. Außerdem konnte er Unmengen von Essen vertilgen, was er jeden Tag aufs Neue mit seiner bis an den Rand gefüllten Brotbüchse unter Beweis stellte. Man sieht, die Assoziation zu so einem bärtigen Stollengräber kam nicht ganz von ungefähr.   So ganz überzeugt war ich trotzdem nicht, als nun ausgerechnet er den Hammer in die Hand bekam – immerhin war er Künstler, kein Zimmermann – um dann zu versuchen, die Heringe in den Boden zu schlagen, die von der Länge her locker ausgereicht hätten, um ein kleines Schwein daran zu grillen. Da ich ja aber dazu verdonnert worden war, am Ende der Prozedur ins Zelt zu kriechen, um dort irgendwie die Stelle zu finden, an der der Zeltpfahl durch ein winziges Loch gepiekt werden musste, um das ganze Ding aufzurichten, hielt ich schön die Füße still und wartete ab. Kurz darauf wünschte ich mir allerdings, Elias wäre etwas schneller zugange gewesen oder Timo hätte einen zweiten Hammer dabei gehabt, dann wäre ich nämlich bereits abgetaucht gewesen, als Dick und Doof auf der Bildfläche erschienen um rumzustänkern.   „Was macht ihr denn da?“ Jos Stimme triefte vor Hohn.   „Na Zelt aufbauen.“ Timo schien vollkommen unbeeindruckt und reichte Elias einen neuen Bratspieß.   „Sieht aber nicht so aus“, frotzelte Oliver.   „Stimmt“, fiel Jo gleich wieder mit ein. „Sieht eher aus, als würdet ihr für Halloween proben. Und ihr müsst euch gar nicht verkleiden.“   Oh man, die waren ja geistreich. Zum Glück hatte Elias bereits den vorletzten Hering in der Hand und ich machte mich einfach schon mal daran, mit der Zeltstange (dem Zeltpfahl) ins Innere zu kriechen. Leider war die Leinwand nicht schallisolierend, sodass mir das Gelächter der beiden Volltrottel und deren Witze über die dämliche Figur, die ich dabei abgab, laut in den Ohren dröhnte.   Ich knurrte und biss die Zähne zusammen, während ich mich drinnen durch das weiße Labyrinth tastete. Timos und Elias' Versuche, die Stoffmassen von außen anzuheben, machten das Ganze nur unwesentlich leichter und es dauerte eine ganze Weile, bis ich endlich die Stelle fand, an der ich den Mast einsetzen musste. Ich stach also zu und drückte und schob und binnen weniger Augenblicke erhob sich um mich herum ein Palast. Aber so richtig.   „Woah, wie groß ist denn das? Wollt ihr das untervermieten?“ „Und was sollen die dämlichen Girlanden.“   „Das ist eine Schabracke“, teilte Timo inzwischen schon etwas frostiger mit. „Und das da ist ein Ritterzelt, wie man es fürs Rollenspiel verwendet. Da sind solche bunten Plastikdinger wie eures nämlich absolut unerwünscht.“   Ich konnte regelrecht hören, wie die beiden Störenfriede Luft holten, um sich weiter über unsere Behausung lustig zu machen, als sich noch eine Stimme einmischte. Theo. Guter, alter Theo.   „Hey, das Ding ist ja voll riesig. Da wissen wir doch schon, wo abends die Party steigt.“   Äh, hatte er gerade Party gesagt? Theo, was machst du?   „Party?“, fragte jetzt auch Jo. „Na klar. In dem Ding kann man bestimmt locker mit sieben Mann oder so sitzen.“   Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Theo um den Hals zu fallen, weil er Oliver und Jo das Maul gestopft hatte, oder aber ihm selbigen umzudrehen, weil er uns die beiden anscheinend als abendliche Dauergäste unterzuschieben gedachte, entschied ich mich für Möglichkeit C. Jammern.   „Könnt ihr dann endlich mal die Seile spannen, damit ich hier wieder rauskann?“ „Ach Mensch, Benedikt, dich haben wir ja voll vergessen.“   Ja, danke Elias, das ist mir aufgefallen. Und jetzt husch, schwing den Hammer und mach endlich das blöde Zelt klar.   Es raschelte am Eingang und im nächsten Moment schob sich eine zweite Gestalt zu mir herein. Es war Theo. Er grinste.   „Du residierst ja hochherrschaftlich.“ „Mhm, super. Ich lebe in Hobbingen. Fehlen nur noch die sieben Zwerge, die hier einfallen und alles ratzekahl fressen.“ „Es waren 13.“ „Hä?“ „Beim Hobbit. 13 Zwerge.“   Ich blinzelte und konnte es kaum fassen. Theo kannte den Hobbit? Im Ernst jetzt?   „Soll ich dir helfen?“ Er wies auf die Zeltstange.   Ich wollte gerade sagen, dass das nicht notwendig war, als Elias draußen ans Werk ging und mir das Ding fast aus den Händen rutschte. Blitzschnell war Theo bei mir und gemeinsam schafften wir es gerade noch so zu verhindern, dass uns die Zeltplane und mitsamt dem Mast unter sich begrub. „Hey, erst hinterher spannen“, rief Theo nach draußen und schüttelte den Kopf. „Da hast du ja wirklich ein paar Spezialisten erwischt.“ „Tja, man muss nehmen, was man kriegen kann.“ „Wem sagst du das.“   Wir grinsten uns an und hielten gemeinsam die Zeltstange an Ort und Stelle, während Timo und Elias sich bemühten, das Ganze nun einigermaßen störungsfrei zu vertäuen. Keine halbe Stunde später stand unser neues Heim vollkommen korrekt und ziemlich groß zwischen all den bunten Plastikmuscheln. Und es hatte tatsächlich Schabracken. Wie wunderbar.   „Warum eigentlich immer ich“, murmelte ich so leise, dass mich niemand hören konnte. Niemand außer Theo, der immer noch neben mir stand und versuchte, sein Gesicht unter Kontrolle zu behalten. Es gelang ihm nicht so wirklich.   „Na dann, bis zum Abendessen, mein Herr Benedikt“, sagte er und deutete eine Verbeugung an, bevor er sich mit seinen beiden Vasallen zusammen vertrollte. Ich sah ihm nach und fand, dass es immer noch ziemlich viele Dinge gab, die ich über Theo nicht wusste. Und irgendwie drängte es mich, sie herauszufinden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)