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Ich, er und die Liebe

von

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Von anstrengenden Wochen und indischem Blumenkohl

Wenn es möglich wäre, würde ich diese Woche gern umtauschen. Ist mir auch egal, was ich stattdessen für eine bekomme. Meinetwegen nochmal die mit den Windpocken, wo ich gedacht hab, dass ich an diesem blöden Juckreiz eingehen muss. Oder die, wo ich mit dem Arm im Stacheldraht hängengeblieben bin und mit sage und schreibe fünf Stichen genäht werden musste und mir dieser Arsch von Notarzt ne mit Sicherheit mal stumpfe Spritze direkt neben der Wunde reingejagt hat. Angeblich um alles zu betäuben, aber ich schwöre, dem hat das gefallen, mich so leiden zu sehen. Das alles war jedoch ein Scheißdreck gegen die Tage, die hinter mir lagen. Gefühlt hatte ich sogar mit dem Kopf zwischen den Seiten eines Buches geschlafen und es waren keine angenehmen Träume gewesen, die mich dadurch heimgesucht hatten.

 

In unserer Klasse herrschte durch die vielen rauchenden Köpfe permanent Waldbrandgefahr und die Stimmung war insgesamt angespannt, was sicherlich auch noch auf einige andere in der Luft liegende Dinge zurückzuführen war. Zum Glück strengte sich selbst Oliver bei den Prüfungen an und hielt anderweitig erstaunlicherweise die Füße still. Lag vielleicht auch daran, dass Anton und ich wieder dazu übergegangen waren, die Pausen in der Bücherei zu verbringen. Das war zwar ein bisschen feige, aber immerhin besser als ständig auf Konfrontationskurs zu gehen und Streit zu provozieren. Auch Julius konnte ich durch diese Tatsache ein bisschen beruhigen, als ich am Dienstag im „Monopoly“ aufschlug.

 

 

„Es ist wirklich alles in Ordnung“, sagte ich, während ich an meiner Cola nippte. Draußen war es drückend warm und ich rechnete fast damit, abends nach dem Training durch einen Wolkenbruch zum Auto rennen zu müssen. Wobei das wirklich besser gewesen wäre als diese anhaltende Schwüle. „Oliver hat gerade genug damit zu tun, seine Versetzung zu retten. Wenn ich Glück habe, bin ich ihn nächstes Schuljahr ganz einfach durch natürliche Auslese los.“
 

„Ich hoffe es“, meinte Julius. „Mit solchen Typen ist wirklich nicht zu spaßen. Dumme Sprüche sind eine Sache und alles andere als angenehm, aber wenn du schon mal um dein Leben gerannt bist, weil dich eine Gruppe von irgendwelchen Idioten zusammenschlagen wollte, dann siehst du die Sache anders.“

 

Ich drehte mein Glas zwischen den Fingern. „Ist dir das schon mal passiert?

 

„Mir nicht, aber ich hab davon gehört. Beim Stammtisch und anderswo. Und auch ich bin durchaus schon mal einen Umweg gegangen, weil ich ein mulmiges Gefühl dabei hatte, einer Gruppe junger Männer ganz allein zu begegnen. Es gibt einfach viel zu viele Leute, die meinen, sich dadurch profilieren zu müssen, dass sie andere ausgrenzen, bedrohen oder sogar tätlich angreifen. Wobei natürlich längst nicht alle von denen irgendwelche Rechtsextremen sind. Das geht durch alle Gruppierungen und Schichten.“

 

„Mhm“, machte ich. „Ich versteh nur nicht, warum Oliver sich nun ausgerechnet auf mich so eingeschossen hat. In unserer Klasse gibt es auch zwei Mädchen mit nicht-deutschem Elternhaus. Warum hat er sich denen gegenüber nie irgendwie rassistisch geäußert? Da haut doch irgendwas nicht hin.“

 

Julius zuckte nur mit den Schultern und machte sich daran, eine Getränkebestellung nach draußen zu bringen, aber mich ließ die Frage nicht so ganz los. Genau dieses Thema hatte ich nämlich bereits mit Anton erörtert und die Antwort, die er mir gegeben hatte, hatte mich nachdenklich gemacht. Er hatte die Theorie aufgestellt, dass Oliver sich eventuell seiner sexuellen Orientierung selbst nicht so ganz sicher war und deswegen so stark auf mich reagierte, weil er unterbewusst seine eigenen Neigungen ablehnte. Auf dem Hintergrund seines offenbar nicht gerade toleranten Elternhauses schien das gar nicht mal so weit hergeholt. Doch so schön diese Idee ja auch war und so leid er mir tat, wenn das tatsächlich stimmte, beantwortete mir das immer noch nicht die Frage, wie ich jetzt damit umgehen sollte? Ich konnte ihm schließlich schlecht ne Blume ins Haar stecken und darauf hoffen, dass er darauf nicht mit einer Faust in meinem Gesicht antwortete.
 

„Gibt es eigentlich auch homophobe Schwule?“, fragte ich Julius, als er wieder reinkam. Die wenigen Gäste, die bisher eingetrudelt waren, saßen zum Glück alle draußen im Biergarten, sodass wir uns ungestört unterhalten konnten.
 

„So was kommt vor“, gab er zurück. „Ist wohl sogar gar nicht mal so selten. Warum? Glaubst du, dass dieser Oliver auch schwul ist?“

„Keine Ahnung. Möglich wär’s. Ich glaube, mein Gaydar ist irgendwie immer noch kaputt.“

„Du kriegst den Dreh schon noch raus.“

„Na, wenn du das sagst.“

 

Blaugrüne Katzenaugen funkelten mich von der anderen Seite des Tresens an.

 

„Du machst dir wirklich Gedanken um den Kerl, oder?“

„Klar mache ich das. Immerhin sitze ich neben ihm, da kann ich das Problem ja wohl kaum einfach ignorieren.“

„Nein, ich meinte, dass du dir weniger Sorgen darum machst, was dir passieren könnte, sondern dir darüber den Kopf zerbrichst, warum er nun so ein Arschloch ist.“

„Ist das nicht normal?“

„Nein, so überhaupt nicht.“

 

Julius lächelte jetzt, kam um den Tresen herum und streichelte mir, nachdem er sich mit einem schnellen Seitenblick versichert hatte, dass uns niemand zusah, mit der Hand über die Wange.
 

„Das liebe ich so an dir. Du bist so ein wunderbarer Mensch. Warmherzig, tolerant, offen anderen gegenüber.“

Ein wenig verlegen senkte ich den Blick. „Oh ja, total offen. Vermutlich wirst du hier gleich aufwischen müssen.“

„Wie meinst du das?“

„Na wer für alles offen ist, kann doch schließlich nicht ganz dicht sein.“

„Blödmann.“

 

Er versetzte mir einen leichten Stoß und eilte dann nach draußen, weil dort jemand nach der Bedienung verlangt hatte. Ich blieb mit meiner mittlerweile warmen Cola zurück und konnte mir immer noch keinen Reim auf die ganze Sache mit Oliver machen.

 

Einerseits hatte Julius natürlich recht. Wenn Oliver es wirklich auf mich abgesehen hatte und womöglich noch auf die Idee kam, irgendwelche Kumpel anzuheuern, um mich fertigzumachen, konnte das richtig unangenehm, wenn nicht sogar gefährlich werden. Und was, wenn wir ihm mal zusammen begegneten? Ich würde mir nie verzeihen, wenn Julius meinetwegen etwas zustieß. Aber andererseits … Wenn Oliver tatsächlich selbst schwul war und nur wegen seines bescheuerten Vaters so reagierte, brauchte er doch Hilfe und nicht noch mehr Ausgrenzung. Er brauchte Freunde. Echte Freunde. Leute, denen er sich anvertrauen konnte. Aber wie sollte ich das bewerkstelligen, wenn er mich ja offenbar hasste wie die Pest?

 

Du kannst sie nicht alle retten, raunte mir ein kleines Stimmchen zu, das ausnahmsweise mal nicht wie Anton sondern eher wie Julius klang. Du hast selbst genug Probleme. Hör auf, dich mit denen von anderen zu belasten.

 

„Wie gern würde ich das tun“, seufzte ich und leerte mein Glas bis auf den letzten Tropfen.

 

Die Stimme hatte ja recht. Die Woche war noch nicht vorbei, ich hatte noch zwei Klassenarbeiten vor mir, musste so ganz nebenbei mal wieder den Rasen mähen und meine häuslichen Pflichten erfüllen (vielleicht wurde es besser, wenn ich bei meiner Mutter ein bisschen rumjaulte, wie viel ich zu tun hatte?) und dann rückte ja auch der Samstag jeden Tag ein Stückchen näher. Wenn mich jemand gefragt hätte, warum ich dem Besuch bei Lali mit solchen Bauchschmerzen entgegensah, ich hätte es nicht sagen können. Vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, dass ich in irgendeinem Punkt ganz gewaltig versagen würde. Ich wusste nur nicht so wirklich, welcher das sein würde.

 

Julius war wieder reingekommen und schenkte jetzt neue Getränke ein, bediente die Kaffeemaschine und orderte in der Küche zwei Eisbecher. Dabei musste ich quasi zwangsläufig die ganze Zeit auf seinen Hintern starren. Ich erinnerte mich, dass das Gespräch das letzte Mal im Bett nochmal auf gewisse Vorlieben gekommen war. Er hatte mich plötzlich gefragt, wie ich es gefunden hatte, mit Manuel zu schlafen, und ich hatte geantwortet, dass ich schon ziemlich begeistert gewesen war. Womit ich Julius allerdings erstaunt hatte, war die Tatsache gewesen, dass ich „unten“ gelegen hatte.
 

„Das hätte ich nicht gedacht“, hatte er offen zugegeben und anschließend gemeint, dass es ihn allerdings nicht wirklich wunderte, dass Manuel mir nicht den leichteren Part überlassen hatte. Und dann hatte er mich gefragt, ob ich es mal andersrum ausprobieren wollen würde. Ich hatte mich bei der Antwort ein wenig bedeckt gehalten – schließlich hatte er ja deutlich gesagt, dass er das eigentlich nicht so mochte – aber der Gedanke ließ mich seit dem nicht mehr los. Und wenn ich Julius jetzt so beobachtete, waren die Assoziationen, die ich zu seinem Hinterteil in der engen Jeans hatte, nicht wirklich jugendfrei.
 

„Ach fuck“, murmelte ich, als ich merkte, dass ich hart geworden war. Na ganz toll. Julius hatte jetzt definitiv keine Zeit und ich konnte ja wohl schlecht aufs Klo gehen und mir einen runterholen, während er hier vorne arbeitete. Und jetzt hatte er auch noch gemerkt, dass was nicht in Ordnung war. Fragend sah er mich an

 

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Nee, geht schon.“

„Was ist denn los?“

„Nichts.“

„Du siehst nicht nach nichts aus.“

 

Ich stöhnte auf.

 

„Bitte, Julius, es ist nichts. Zumindest nicht, wenn du nicht weiter nachfragst.“

„Bist du sicher?“

„JA!“
 

Erschrocken hielt ich mir den Mund zu und Julius sah mich tadelnd an. Dabei war er es doch gewesen, der hier die ganze Zeit so dumm rumfragte. Grummelnd gab ich schließlich doch zu, wo das Problem lag. Er verkniff sich sichtbar ein Schmunzeln.
 

„Hey, kenn ich. Passiert halt.“

„Dann hör auf, so blöd zu lachen.“

 

Er sah mich an und sein Blick wurde wärmer.

 

„Weißt du eigentlich, dass du manchmal schrecklich niedlich bist.“

„Oh ja, mach mir noch mehr solche Komplimente, dann hat sich mein Problem gleich ganz schnell von selbst erledigt.“

„Ich dachte, das wolltest du.“

„Will ich ja auch, aber … ach, geh und bring dein Eis weg. Das schmilzt sonst.“

 

Er lachte, schnappte sich sein Tablett und war gleich darauf verschwunden. Ich jedoch dachte sehnsüchtig daran, wann wir uns wohl das nächste Mal in den Laken wälzen würden und ob Julius seine Ankündigung dann tatsächlich wahrmachen würde. Irgendwie hoffte ich fast, dass er das tat.

 

 

 

„Sind wir bald daaaa?“

 

Ich gab mir redliche Mühe, das letzte Wort ordentlich zu dehnen und auch sonst möglichst nervig zu klingen. Julius lachte nur.
 

„Ja, wir sind gleich da, du Quatschkopf.“

„Selber Quatschkopf.“

„Wenn du frech wirst, setze ich dich im Park aus. Und ich verrate dir nicht in welchem.“

„Fieser Möpp!“

 

Er grinste und betätigte den Blinker, woraufhin sich Ilonas Auto in eine Straße mit huckeligem Kopfsteinpflaster hineinbewegte. Waren wir gerade eben noch über zweispurige Straßen gebraust, holperten wir jetzt durch ein reines Wohngebiet. Viele mehrstöckige Häuser, viel Grün und wenig Parkplätze. Dafür allenthalben angeschlossene Fahrradanhänger auf den Bürgersteigen und irgendwie keine Sau auf der Straße. Man hätte denken können, dass es hier ruhig war, doch als ich ausstieg, ließ mich ein ohrenbetäubendes Tuten zusammenfahren.
 

„Alsterdampfer“, erklärte Julius mit einem Grinsen. „Na komm, Lali wartet schon auf uns.“

 

Mit gemischten Gefühlen folgte ich Julius zu einem Haus, das zwei Straßen weiter lag. Die hellblaue Fassade mit den weißen Ornamenten und schmiedeeisernen Balkonen, den zahlreichen Erkern und Winkeln sowie dem vielen Grün drumherum wirkte gediegen und einladend. Da drinnen gab es bestimmt jede Menge weitläufige Altbauwohnungen mit Blick aufs Wasser und solche Scherze. Mich hätte man jedoch gerade genauso gut in eine Arrestzelle des Towers in London führen können. Ich bekam kalte Schweißausbrüche und hatte offenbar auch nicht die gesündeste Gesichtsfarbe, denn Julius sah mich besorgt an.
 

„Ist alles okay mit dir? Du bist so blass.“

„Ja, ich … ich hab nur ein bisschen Panik, dass sie mich nicht leiden kann.“

 

Julius, der bereits auf der ersten Stufe der breiten Treppe mit dem schwarzen Geländer gestanden hatte, kam zurück und nahm mich in den Arm.

 

„Hey, jetzt bleib mal ganz locker. Sie wird dich mögen. Welchen Grund sollte sie haben, es nicht zu tun?“

„Keine Ahnung. Vielleicht gefällt ihr meine Nase nicht.“

„Sie wird deine Nase lieben.“

„Oder meine Haare. Ich muss ganz dringend mal wieder zum Friseur.“

„Ich finde, das steht dir so.“

„Und meine Klamotten sind ganz furchtbar.“

„Du siehst bezaubernd aus.“

 

Ich seufzte. Irgendwie musste er das wohl sagen, denn schließlich hatte ich dieselben Sachen an wie bei unserem ersten Date … Kuss … wie auch immer. Ich hatte einfach nichts Besseres finden können, als ich heute Morgen den Kleiderschrank durchforstet hatte. Zum Glück war meiner Mutter nicht aufgefallen, dass ich mich so herausgeputzt hatte. Sie wäre womöglich noch misstrauisch geworden. Immerhin dachte sie ja, dass ich den Tag bei Anton verbringen würde.
 

„Na los, sie wird dich schon nicht fressen.“

„Versprichst du es?“

„Ja, tue ich. Lali ist nämlich Vegetarierin. Und mein Onkel ist heute nicht zu Hause, weil er arbeiten muss. Also komm schon.“

 

Ich seufzte noch einmal und erklomm an Julius’ Seite nun endlich die Treppe zur Haustür. Er klingelte und kurz darauf ertönte ein Summen, als von oben geöffnet wurde. Wir stiegen bis in den zweiten Stock hinauf, wo kaum, dass wir den Treppenabsatz erreicht hatten, eine der Wohnungstüren aufgerissen wurde. Vor uns stand eine junge, dunkelhaarige Frau, die uns beide anstrahlte.
 

„Julius!“, quietschte sie und schwang sich in seine ausgebreiteten Arme. „Ihr habt viel zu lange gebraucht. Ich warte schon seit einer Ewigkeit.“

„In Stellingen war mal wieder Stau.“

„Wie immer also.“

 

Kaum hatte sie Julius losgelassen, wandte Lali sich mir zu. Sie war klein, schlank, hatte große, braune Augen und einen ziemlich breiten Mund. Und sie war jünger, als ich erwartet hatte. Maximal Ende 20. Außerdem trug sie eine normale Jeans und ein schwarzes Top und nicht etwa einen Sari, wie ich irgendwie angenommen hatte. Als ich ihr die Hand hinstreckte, legte sie ihre jedoch flach aneinander und beugte leicht den Kopf.
 

„Du bist sicher Benedikt. Namaste.“

 

Sie lächelte und ich stand da mit meiner blöden Hand, die wie bestellt und nicht abgeholt zwischen uns in der Luft hing.

 

Julius bemerkte das und erklärte mir todernst: „In Indien gilt es als unhöflich, als Mann eine fremde Frau zu berühren. Selbst unter guten Bekannten ist das nicht üblich.“

 

Ich blinzelte ein paar Mal, merkte, wie ich knallrot anlief, und schaffte es dann endlich, meine Hand wieder zurückzuziehen. In dem Moment brachen Julius und Lali in schallendes Gelächter aus.
 

„Nur ein Spaß“, sagte Lali immer noch lachend und zog jetzt auch mich hinab in eine Umarmung. „Du musst dir keine Gedanken machen. Wir leben hier ziemlich modern.“

„Na da bin ich aber froh“, krächzte ich noch und ließ mich widerstandslos nach drinnen zerren.

 

Die Wohnung war, wie ich bereits erwartet hatte, groß und hell. Es gab viel Weiß, viel helles Holz, einige bunte Accessoires und insgesamt weniger Indisches, als ich erwartet hatte. Allenfalls das Bild mit dem Elefanten, das über der großen Couchlandschaft hing, sowie einige Kunstgegenstände, ließen auf fremdländischen Einfluss schließen. Dafür gab es umso mehr Kinderspielzeug, das sich lustig durch das ganze Wohnzimmer verteilte. Mittendrin saß ein kleiner, schwarzhaariger Junge und kaute auf einer Gummigiraffe herum.

 

„Javan!“, rief Julius und kniete sich vor das Kind, dessen Alter ich nicht einschätzen konnte. „Oh, ist der groß geworden. Er sitzt ja schon ganz alleine.“

„Er krabbelt auch wie ein Wilder und zieht sich überall hoch. Furchtbar sage ich dir. Ich kann nichts mehr irgendwo liegen lassen. Bald fängt er bestimmt an zu laufen. Johann hat gesagt, er war auch so früh dran damit.“

„Dann pass bloß auf, dass du die Tischdecken weglässt. Das kann wirklich böse ausgehen.“

„Wem sagst du das. Letzte Woche hat er drei Teller zerdeppert. Zum Glück hat er dabei nichts abbekommen.“

„Oh Lali, du musst vorsichtiger sein.“

 

Julius sah seine Tante böse an, bevor er sich wieder dem mopsigen Kind zuwendete, das ihn aus großen, braunen Augen musterte.
 

„Magst du mal zum Onkel Julius kommen?“, fragte Julius in säuseligem Tonfall und streckte die Arme aus. Das Kind schien wenig begeistert. Es verzog das Gesicht und suchte irgendwo hinter Julius nach Blickkontakt mit seiner Mutter. Die kam und nahm den kleinen Wonneproppen auf den Arm.
 

„Siehst du? Du bist zu selten hier“, schimpfte sie. „Er kennt dich gar nicht mehr.“

„Was meinst du, wem von uns das am meisten leidtut.“

 

Mit leuchtenden Augen drehte sich Julius jetzt zu mir herum.

 

„Ist er nicht bezaubernd?“

„Äh ja, ganz toll. Ein wirklich süßes Kind. Wie alt ist er denn?“

„10 Monate.“

 

Lali hatte mir geantwortet und lächelte stolz.

 

„Julius hat mir erzählt, dass deine Schwester auch bald ein Baby bekommt.“

„Äh ja, das stimmt.“

„Wann ist es denn soweit?“

„Im Januar.“

„Oh, ein Winterkind! Wie schön.“

„Äh, ja.“

„Und sie heiratet bald?“

„Ja. Ende August.“

 

Gott, ich hörte mich so was von beschränkt an. Lali musste ja denken, dass ich ein vollkommener Vollidiot war. Und ehrlich gesagt fühlte ich mich auch wie einer. Ich stand hier in dieser schicken Wohnung, die vor Kindergedöns überquoll, und kam mir so dermaßen fehl am Platz vor, dass ich am liebsten schreiend das Weite gesucht hätte. Oder mich in Julius’ Arme geflüchtet, aber das ging nicht, weil Lali in diesem Moment Anstalten machte, Klein-wie-hieß-er-noch an Julius zu übergeben. Das Kind guckte zwar etwas kritisch, aber als Julius begann, mit ihm herumzulaufen und irgendwelchen Blödsinn zu erzählen, war das schnell vergessen. Glückliches Babyglucksen füllte den Raum. Ich hätte echt gerne mit dem Kleinen getauscht.

 

„Babys sind nicht so dein Ding, oder?“, fragte Lali und lächelte mich an.

„Na ja, ich kenne mich da nicht so aus“, gab ich zu. „Ich hab ein bisschen Angst, dass ich was kaputtmache. Den Kopf abbreche oder so.“

 

Sie lachte und zeigte dabei wieder ihre weißen Zähne. Durch ihre leicht bräunliche Haut strahlten sie nur umso mehr. „Bei den ganz Kleinen muss man den Kopf tatsächlich stützen, aber bei Javan musst du dich davor nicht mehr fürchten. Der reißt eher dir ein paar Haare aus.“

 

Lali sah zu Julius, der immer noch vollauf beschäftigt war, danach wandte sie sich wieder an mich.

„Möchtest du etwas trinken? Wir könnten in die Küche gehen. Ich muss noch das Mittagessen vorbereiten.“

„Gerne.“

 

Ich folgte ihr in die Küche, die nicht weniger geräumig war als der Rest der Wohnung. Der größte Teil des Platzes wurde allerdings von einem riesigen Küchentisch eingenommen, während die helle Küchenzeile eher klein gehalten war. Dementsprechend kam Lali zu mir an den Tisch, um Kartoffeln zu schälen. Und mich zu verhören natürlich.
 

„Du gehst also noch zur Schule“, fing sie ganz harmlos an. „Weißt du schon, was du später mal machen willst?“

„Na ja, noch nicht so richtig. Bis dahin sind ja noch drei Jahre. Ich muss demnächst meine Leistungskurse wählen.“

„Und welche werden das sein?“

„Mathe, denke ich. Und dann noch was dazu.“

„Und was?“

„Weiß ich noch nicht genau. Physik wahrscheinlich.“

„Du willst also ein Wissenschaftler werden.“

„Ja, vielleicht.“
 

Sie lächelte und ging zum Kühlschrank, um einen Blumenkohl herauszuholen. Fragend hielt sie ihn hoch.

 

„Isst du Blumenkohl?“

„Ja, gerne. Bei uns gibt es den oft mit holländischer Soße.“

„Ach, was ist das für eine?“

„So ne weiße?“

„Aha.“

 

Sie machte sich daran, das Gemüse zu putzen und in kleine Röschen zu teilen, während ich betreten in mein Seltersglas schaute. Wie es aussah, stellte ich mich nicht besonders geschickt an. Ich hatte keine Ahnung, was ich mal werden wollte, ich konnte nicht kochen und ich mochte keine Kinder oder konnte zumindest nicht viel mit ihnen anfangen, während Julius mich angesichts dieses kleinen Fratzes anscheinend vollkommen vergessen hatte.

 

„Ist alles in Ordnung? Du guckst so bedrückt?“

 

Ich schreckte hoch. „Äh ja, ich … ich sollte vielleicht mal nachsehen, was Julius macht.“

„Ja, tu das. Er vermisst dich sicher schon.“

 

Leider hatte ich so gar nicht den Eindruck, dass das so war. Ich stand in dem Flur dieser liebevoll unordentlichen Wohnung und hatte das Gefühl, dass ich auch gehen könnte, ohne dass es jemand bemerkte. Ich würde keine Lücke hinterlassen. Als ich jedoch vorsichtig um die Ecke schielte, sah Julius freudestrahlend zu mir hoch.
 

„Hey, ich hab mich schon gefragt, ob Lali dich vielleicht doch geschlachtet hat. Komm her. Wir spielen gerade Abgeben.“

 

Er saß auf dem Boden und hatte um sich herum eine Reihe Spielzeuge ausgebreitet. Das Kind … äh Javan, saß vor ihm und musterte mit ernster Miene einen roten Plastikbecher, bevor er ihn an Julius weiterreichte.

 

„Danke“, sagte Julius, lächelte Javan an, und gab den Becher dann wieder zurück. „Bitte sehr.“
 

Das Kind nahm den Becher und steckte ihn sich in den Mund. Es sabberte etwas.

 

„Ist er nicht süß.“

„Äh ja, ganz reizend. Wirklich.“

 

Ich musterte das Baby und es schaute kritisch zurück. Wahrscheinlich fragte es sich auch, wer wohl die zwei eigenartigen Onkel waren, die da plötzlich in sein riesiges Kinderzimmer geplatzt waren und seine Becher von ihm haben wollten. Wäre mir in dem Alter vermutlich auch komisch vorgekommen.

 

„Komm her“, sagte Julius nochmal und klopfte neben sich auf den Boden. „Kannst mitspielen.“

„Okay.“

 

Ich setzte mich und streckte die Hand aus. „Bekomme ich den Becher?“

 

Javan sah mich an und verzog die Stirn zu einem grüblerischen Runzeln. Als ich gerade dachte, dass er eingeschlafen war, nahm er doch tatsächlich den angesabberten Becher aus seinem Mund und reichte ihn mir. Ich lächelte etwas gequält, als ich das nasse Ding bekam.

 

„Danke“, sagte ich und zog den Becher zu mir rüber. Javans Miene wurde entsetzt, er verzog den Mund und begann zu weinen.
 

„Hab ich was falsch gemacht?“

 

Julius lächelte. „Nein, alles ganz normal. Gib ihm den Becher einfach wieder.“

 

Ich versuchte es, aber Javan wollte den Becher nicht. Er wollte gar nichts mehr, sondern schrie nur umso lauter, bis Lali irgendwann aus der Küche geeilt kam.
 

„Er hat nur Hunger“, erklärte sie. „Kommt, das Aloo Gobi ist fast fertig und Javans Essen hab ich bereits vorbereitet.“

 

Sie nahm den Kleinen hoch und ging vor uns her in die Küche. Ich wollte ihr gerade folgen, als Julius mich zurückhielt. Er strahlte mich regelrecht an und zog mich in seine Arme.

 

„Und, was sagst du? Gefällt sie dir?“

„Sie ist nett.“

 

War sie ja wirklich. Nichts von dem, was bisher passiert war, gab Anlass zur Sorge bis auf meine eigene, dumme Einbildung. Wahrscheinlich musste ich einfach ein bisschen lockerer werden.

 

„Sie hat dich ausgequetscht, oder?“

 

Ich versuchte gar nicht erst, es zu leugnen. Julius seufzte ein bisschen.
 

„Tut mir leid, ich hätte dich vielleicht vorwarnen sollen. Lali sieht in mir manchmal eben doch noch ihr zweites Kind. Oder vielleicht ihren kleinen Bruder. Sie meint es aber nicht böse. Sie will nur …“

 

Er unterbrach sich und lächelte. Misstrauisch runzelte ich die Stirn.
 

„Was will sie?“

„Nichts.“

„Julius!“

Er seufzte. „Sie will mich beschützen. Es gab da mal jemanden, der mir sehr wehgetan hat. Lali will einfach verhindern, dass das noch einmal passiert.“

 

Ich schwieg betreten. Anhand der Tatsache, dass sein Onkel Lali noch nicht gekannt hatte, als Julius noch in der Schule gewesen war, konnte es dieses Mal nicht um die Sache mit dem Mobbing gehen. Es musste also noch etwas in Julius’ Vergangenheit geben, von dem er mir bisher nichts gesagt hatte. Ich zog ihn ein wenig näher.

 

„Erzählst du mir davon?“

„Vielleicht später. Jetzt ist erst mal das Essen fertig. Komm, wir gehen in die Küche.“

 

 

Aloo Gobi stellte sich als Curry-Gericht mit Blumenkohl und Kartoffeln heraus. Der kleine Javan bekam im Prinzip das Gleiche, nur ohne Salz, wie mir Lali erklärte.

 

Während des Essens löste sich die angespannte Stimmung langsam. Wir aßen und redeten und sahen Javan dabei zu, wie er mit seinen speckigen Ärmchen eins ums andere Mal sein Essen vom Tisch fegte, das ihm seine Mutter immer wieder geduldig vorsetzte. Julius erzählte von seiner Schule und davon, dass ich ihm in Englisch buchstäblich den Hals gerettet hätte.

 

Lali lachte. „Dann hat er jetzt also ein anderes Opfer gefunden, der ihm das in seinen Schädel einnagelt.“

„Einhämmert“, korrigierte Julius sie. „Und es kann ja nicht jeder so talentiert sein wie du.“

 

Lali sprach wirklich gut Deutsch, nur die Art, wie sie die Worte betonte und ab und an eine falsche Vokabel benutzte, verrieten, dass sie eigentlich mit einer anderen Muttersprache groß geworden war. Sie wandte sich an mich.
 

„Sprichst du viele Sprachen?“

„Na ja, was heißt viele? Englisch und ein bisschen Französisch. Davon zwar zu wenig für eine echte Unterhaltung, aber es würde reichen, um mich zum Eiffelturm durchzufragen.“

„Das ist gut. Dann geht ihr nicht verloren, wenn ihr mal zusammen in den Urlaub fahrt. Julius ist da ein hoffnungsloser Fall.“

„Hey!“

 

Er protestierte lachend und die beiden alberten ein bisschen herum, bevor sie anfingen, mich mit indischen Vokabeln zu füttern. So lernte ich, dass „Aloo“ Kartoffel heißt und „Gobi“ Blumenkohl und auch sonst noch allerlei, was in der Küche herumstand. Selbst der kleine Javan beobachtete meine Versuche, dieser neuen, ungewohnte Sprache Herr zu werden mit Vergnügen, bis er irgendwann anfing, sich mit den kleinen Fäusten die Augen zu reiben und unruhig in seinem Stuhl herumzuzappeln. Als sein Gemecker lauter wurde und sich nicht mehr ignorieren ließ, stand Lali auf.

 

„Er ist müde“, sagte sie und hob ihn auf den Arm. „Zeit fürs Mittagsschläfchen. Wollt ihr so lange warten? Es kann allerdings eine Weile dauern, bis er eingeschlafen ist.“
 

Ich erwartete fast, dass Julius zusagte, aber er überraschte mich.
 

„Nein, wir gehen dann. Ich will mit Benedikt noch woanders hin. Wir bleiben ein anderes Mal länger, ja?“

 

Die Verabschiedung fiel deutlich kürzer aus, als die beiden sich sicherlich gewünscht hätten, denn Javan befand offenbar, dass es jetzt endgültig reichte mit dem Besuch. Er plärrte das halbe Treppenhaus zusammen, sodass wir uns schneller als erwartet auf den Weg machten. Unten angekommen nahm Julius meine Hand.

 

„Wollen wir ein bisschen spazieren gehen?“

„Ja gerne.“

 

Hand in Hand liefen wir durch die nahezu menschenleeren, sonnenbeschienenen Straßen, bis wir irgendwann an einen Kanal kamen, über den eine breite, steinerne Brücke führte. Wir stellten und darauf und sahen hinunter ins Wasser. Unten fuhren zwei Leute in Kanus vorbei.
 

„Schön hier, oder?“, fragte Julius. Ich nickte.

 

„Ich hab überlegt, ob ich hierher ziehe, wenn ich mit der Lehre fertig bin. Also vielleicht nicht direkt hierhin, aber nach Hamburg halt.“

„Mhm.“

„Was hältst du davon?“

 

Ich schielte zu ihm rüber, wie er auf das Geländer gestützt dastand und mich erwartungsvoll ansah. Tja, was sollte ich dazu sagen? Hamburg war weit weg. Ziemlich weit sogar. Andererseits waren bis dahin ja auch noch drei Jahre hin. Dann wäre ich ebenfalls fertig mit der Schule. Ein seltsamer Gedanke. Langsam schob ich meine Mundwinkel nach oben.
 

„Ich würde sagen, dass ich mir dann wohl ne Bahncard holen muss.“

„Das wäre natürlich eine Möglichkeit.“

 

Er lachte plötzlich und griff wieder nach meiner Hand.

 

„Komm, wir gehen zum Auto zurück. Ich will mit dir noch woanders hin.“

„Ach ja, und wohin?“

„Das ist eine Überraschung.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  z1ck3
2020-08-12T06:52:55+00:00 12.08.2020 08:52
Ich finde es schön, dass Benedikt sich über das "Warum" bei Oliver Gedanken macht. Auch wenn er ihm vielleicht nicht helfen kann, ist das eine nette Wesensart. Nicht viele Menschen denken über das warum nach. Eigentlich nur über das, wie beeinflusst mich das. Ich fürchte nur, dass die Stimme recht hat Benedikt kann nicht jeden retten... Julius wohl auch nicht. Bei dem scheint ja viel Mist passiert zu sein, aber nicht drüber reden ist auch keine Lösung...
Antwort von:  Maginisha
12.08.2020 12:32
Hey z1ck3!

Ja, manchmal fällt es schwer, daran zu denken, dass es bei jedem Menschen auch irgendein "Warum" gibt. Dass all die Leute, denen man begegnet, keine Figuren sind, die einfach verschwinden, wenn man sie nicht mehr sieht, sondern jeder einzelne ein Leben hat, durch das er mehr oder weniger glatt durchläuft. Die unfreundliche Frau an der Kasse, der Typ, der einem die Vorfahrt nimmt, usw.

Dass du ansprichst, dass Benedikt Julius retten will, finde ich in Bezug auf das nächste Kapitel interessant. You will see. ^_~

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Snowprinces
2020-08-12T05:08:33+00:00 12.08.2020 07:08
Hey ho
sehr schönes Kapitel 😊
Überanstreng dich nicht bei den Wetter ich freue mich auf das nächste

was kaltes zutrinken hinstell
Antwort von:  Maginisha
12.08.2020 07:33
Ach was. Ich arbeite einfach nachts. Schlafen wird eh überbewertet. :D

Trinken ist aber immer gut. 🍹
Von:  KaffeeFee
2020-08-11T08:44:16+00:00 11.08.2020 10:44
Lali ist niedlich. Und ich kann verstehen, dass die Benedikt auf den Zahn fühlt. Wer würde das nicht? Allerdings will ich jetzt unbedingt wissen, was Julius so schlimmes in seiner Vergangenheit erlebt hat... und natürlich, was die Überraschung ist und was die Andeutung mit dem Sex zu bedeuten hat!

Ohh, so viele offene Fragen... schrecklich 😅

Bis zum nächsten Kapitel, koffeeinhaltige Grüße, die KaffeeFee 🍹☕
Antwort von:  Maginisha
11.08.2020 12:20
Hey liebste Kaffee-Fee!

All deine Fragen werden schon im nächsten Kapitel beantwortet. Ich muss es nur noch fertig schreiben. :D

Mal sehen, was mein hitzematschiges Hirn heute noch so zustande bringt. Viel fehlt nämlich nicht mehr.

Zauberhafte Grüße
Mag


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