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Ich, er und die Liebe

von

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Von heimlichen Treffen und gläsernen Realitäten

„Du willst WAS?“

 

Julius und ich lagen auf seinem Bett – nein, dieses Mal angezogen, keine Bange – und er hatte mir gerade einen Vorschlag gemacht, von dem ich nicht so recht wusste, wie ich ihn finden sollte.

 

„Ich hab gesagt, ich will mit dir nach Hamburg fahren, um Lali zu besuchen. Ich war ohnehin ewig nicht mehr da und sie würde dich gerne kennenlernen.“

„Öhm.“

 

Viel mehr fiel mir dazu gerade nicht ein. Ganz davon abgesehen, dass ich mir dafür wohl eine interessante Ausrede würde einfallen lassen müssen (Anton?) war das so ein bisschen … äh, wie sage ich das jetzt am besten? Es hatte so was von „Ich will dich meinen Eltern vorstellen“, obwohl das natürlich Schwachsinn war, denn schließlich hatte Julius’ Mutter mich ja schon kennengelernt und mit seinem Vater würde ich wohl eher nie das Vergnügen haben. Aber beim ersten Zusammentreffen mit Ilona war ich schließlich noch nicht an Julius interessiert gewesen. Also so als „Freund“-Freund. Dieser Besuch klang jetzt ein bisschen danach, als wolle er sich zunächst ein Okay von seiner Tante einholen, bevor er etwas Festes mit mir anfing. Der Gedanke gefiel mir nicht. Was, wenn ich die Prüfung nicht bestand?
 

„Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist? Immerhin habt ihr euch doch so lange nicht gesehen. Da habt ihr sicherlich viel zu bequatschen.“

 

Julius’ Augen funkelten mich belustigt an. „Was meinst du denn, was in letzter Zeit großer Bestandteil unserer Telefongespräche war?“

„Ich weiß nicht? Die politische Lage in Indien?“

Du, du Pappnase.“

„Selber.“

 

Natürlich hatte ich mir das schon gedacht. Immerhin hatte Julius mir inzwischen gestanden, dass er sich eigentlich schon bei unserem ersten Treffen ein bisschen in mich verguckt hatte. Das zweite hatte es dann nicht besser gemacht und … na ja. Seit dem hatte er darauf gewartet, dass ich in ihm vielleicht auch endlich mehr sah, weil er gewollt hatte, dass ich derjenige war, der den ersten Schritt machte. Aber ich war ja anderweitig beschäftigt gewesen. Mit Manuel. Von dem ich mir immer noch nicht so ganz sicher war, ob das mit ihm nun gut oder schlecht gewesen war. Einiges davon war schön gewesen, anderes absolut schrecklich. Und unterm Strich? Was kam dabei raus? Und konnte man das so überhaupt betrachten? Wer wusste schon, ob ich ohne ihn an diesem verregneten Nachmittag überhaupt im „Monopoly“ gelandet wäre. Ja, wer wusste das schon.
 

„Na du bist aber schon wieder ganz weit weg“, hörte ich plötzlich eine Stimme ganz nah an meinem Ohr. Ich schüttelte leicht den Kopf und sah Julius an, der mich angrinste und mir einen Kuss auf die Nase gab.
 

„Na los, wir müssen weitermachen.“

Ich stöhnte. „Im Ernst? Julius, es ist Freitagabend. Wie kannst du da von mir erwarten, dass ich mit dir englische Grammatik pauke? Noch dazu welche, die so elend blöd ist.“

„Weil du es mir versprochen hast und ich am Montag eine wichtige Arbeit schreibe.“

„Ja aber es ist Freitag!“

 

Ich klang echt weinerlich. Ich weiß. Aber das war wirklich Folter. Nicht nur, dass ich mir schon den zweiten Nachmittag hintereinander Jos blöde Fresse hatte angucken müssen, jetzt belästigte mich Julius auch noch mit seinen Hausaufgaben. Ja, ich hatte es ihm versprochen, aber da hatte ich ja nicht geahnt, dass das hieß „sofort“ und „Freitagabend“. An so einem Abend sollte man mit Pizza auf dem Sofa sitzen und sich von der Woche erholen oder meinetwegen bis in die Puppen feiern gehen, aber nicht Englisch pauken.

 

„Du weißt doch, dass ich morgen und übermorgen arbeiten muss. Also bleibt doch nur heute zum Lernen.“

„Was ist mit Sonntagmorgen?“, schlug ich vor. „Ich könnte zu dir kommen und wir machen es dann ganz frisch, dann hast du es bis Montag auch nicht vergessen.“

 

Ich sah genau, dass Julius überlegte. Er hatte dann immer so eine ganz kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Ich hatte schon gewitzelt, dass er in fünf Jahren bestimmt ein williges Botoxopfer wäre, woraufhin er mir eine halbe Stunde Kussverbot erteilt hatte. Eine Strafe, die mich echt hart getroffen hatte, wie ich zugeben musste. Zumal er sich wirklich Mühe gegeben hatte, es mir schwer zu machen. Dementsprechend ahnte ich, dass ich hier gerade eine reelle Chance hatte, aus dieser Lernsache rauszukommen, wenn ich es geschickt anstellte.
 

„Komm schon, Julius. Wir könnten auch was Schönes machen. Alles, was du willst.“

 

Seine Augen leuchteten auf. „Alles?“

 

Ganz kurz zögerte ich. Dieses verräterische Glitzern konnte eigentlich nichts Gutes heißen. Andererseits: Julius war ein unheimlich lieber Kerl. Er würde schon nichts verlangen, zu dem ich nicht bereit war. Also nickte ich.

 

„Dann wirst du jetzt mit mir einen Film gucken, den ich aussuche.“

 

Ich ahnte Schlimmes.

 

„Werden sie in dem Film singen?“

„Ja.“

„Und tanzen?“

„Auch.“

 

Ich seufzte tief. „Na schön, welchen Schmachtfetzen hast du im Sinn?“

 

Er grinste und erhob sich. „Wirst du dann ja sehen. Komm mit runter. Meine Mutter geht bestimmt hoch in ihr Zimmer, wenn ich sie darum bitte.“

 

Ich war wirklich auf die ärgsten Sachen gefasst, als Julius den DVD-Spieler betätigte, der unter einem ziemlich kleinen Fernseher stand. Auch sein breites Grinsen war nicht unbedingt dazu angetan, mich in Sicherheit zu wiegen. Als dann allerdings das Disney-Logo auf dem Bildschirm erschien, sah ich ihn erstaunt an. Er grinste noch breiter, was eigentlich nicht ging, weil die Natur der menschlichen Schadenfreude da in weiser Voraussicht organische Grenzen gesetzt hat.
 

„Ich hab nie gesagt, dass ich nur indische Filme schaue. Und 'Mulan' ist schließlich ein Klassiker.“

 

Ich schüttelte den Kopf und streckte ihm die Zunge raus, bevor ich mich mit ihm auf das gar nicht mal so antike Sofa kuschelte. Es war orange und echt gemütlich. So gemütlich, dass ich doch glatt irgendwann einschlief, bevor der Film zu Ende war. Erst als eine sanfte Stimme in mein Ohr flüsterte, dass es Zeit war aufzustehen, erwachte ich langsam wieder aus meinem Schlummer.
 

„Wie spät ist es?“

„Halb zehn.“

„Oh Mist. Ich muss nach Hause.“

„Ich weiß.“

 

Er strich mir durch die Haare und sah mich mit so einem Ausdruck auf dem Gesicht an, dass ich mich unmöglich erheben konnte. Stattdessen reckte ich den Kopf, damit er mich küsste. Was er tat. Allerdings nur kurz. Vernünftig wie immer beendete er es, bevor das hier ausartete. Wobei ich gegen ein bisschen ausarten nichts gehabt hätte. Wirklich nicht.
 

„Soll ich dich nicht doch bringen?“, fragte er, während ich meine Schuhe anzog.

„Und mein Rad?“

„Das holst du Sonntag ab.“

 

Ich überlegte ernsthaft zuzusagen, bis mir gerade noch rechtzeitig der Fehler im System auffiel.
 

„Und wie komme ich dann Sonntag her? In meinem Kaff fährt an dem Tag kein Bus.“

 

Julius öffnete den Mund und ich wusste genau, was er sagen wollte. Dass er mich abholen würde. Aber dann fiel auch ihm ein, dass das nicht ging. Noch nicht.
 

„Na gut, dann fahr vorsichtig“, sagte er stattdessen.

„Klar, immer doch. Du weißt ja: Im Wald da sind die Räuber.“

„Quatschkopf.“

„Schisser.“

 

Er antwortete nicht, sondern lächelte nur und gab mir noch einen langen Abschiedskuss, bevor er mich hinaus auf die Straße entließ.
 

 

Der Samstag kam und ging fast ohne besondere Vorkommnisse. Meine Mutter war Freitagnacht erst lange nach mir nach Hause gekommen und ich hatte mich schlafend gestellt, sodass wir dort keinerlei Reibungspunkte hatten. Als ich ihr allerdings Samstagabend erzählte, dass ich am nächsten Tag weggehen wollte, wurde sie dann doch hellhörig.
 

„Ach, du bist verabredet? Mit wem denn?

 

„Ich treff mich mit … “ Ich konnte nicht schon wieder Anton sagen. Zumal es ein Sonntag war. Wenn meiner Mutter vielleicht doch irgendwann einfiel, dass Anton sonntags eigentlich keinen Besuch bekam, war ich fällig. „…ein paar Leuten aus der Schule. Wir wollen … schwimmen gehen.“

 

„Wo wollt ihr denn hin?“

„Einfach ins Schwimmbad. Kann aber sein, dass wir danach noch zu McDonald’s gehen, um heimlich Fast Food zu essen, den unsere Mütter uns sonst immer verbieten.“

„Nun werd mal nicht frech, junger Mann.“

„Würde mir nie einfallen.“

 

Ich grinste und sie guckte nur einen Augenblick lang böse, bis sie seufzte und natürlich den obligatorischen Zeigefinger hob, dass ich nicht zu spät heimkommen sollte wegen der Hausaufgaben. Da Julius allerdings spätestens um 16 Uhr im „Monopoly“ erwartet wurde, würde das sicherlich kein Problem werden.
 

 

Julius wiederum guckte etwas sparsam, als ich am Sonntag mit meiner Sporttasche bei ihm aufschlug.

 

„Hast du vor hier zu übernachten?“
 

Der Gedanke war gar nicht mal so unreizvoll, trotzdem schüttelte ich den Kopf.

 

„Nee, meine Mutter denkt, ich bin mit ein paar Leuten zum Schwimmen verabredet.“

„Ach so.“

 

Ich warf noch einen Blick auf die Tasche, die ich in eine Zimmerecke geworfen hatte und kam nicht umhin zu denken, dass ein bisschen sportliche Betätigung mir durchaus lieber gewesen wäre, aber es half ja nichts. Julius und ich mussten Grammatik büffeln. Und wie. Er hatte zwar erwähnt, dass Sprachen nicht so seins waren, aber dass er so schlecht war, hatte selbst ich nicht gedacht. Nach knapp zwei Stunden hatten wir es allerdings so einigermaßen hin und uns das Mittagessen, das seine Mutter gekocht hatte, redlich verdient.
 

Als wir danach wieder in seinem Zimmer standen, zog ich ihn an mich.

 

„Und was machen wir jetzt?“, fragte ich in möglichst neutralem Ton.

„Was hast du dir denn vorgestellt?“

„Weiß nicht.“

 

Ich zuckte mit den Achseln. Eigentlich hatte ich schon eine Idee, was ich jetzt gerne mit ihm machen wollte, aber ich wusste nicht, ob das jetzt irgendwie komisch rüberkam. Zumal der Gedanke, dass wir beide uns hier mehr oder weniger unbekleidet herumwälzten, während die anderen, braven Bürger ihr sonntägliches Mittagsschläfchen hielt, fast schon ein wenig eigenartig war. Wir würden bestimmt leise sein müssen. Oder wenigstens das Fenster zumachen, was anhand der steigenden Temperaturen unterm Dach auch nicht gerade attraktiv erschien.

 

Er lächelte. „Was hältst du davon, wenn wir tatsächlich Baden gehen?“

„Ins Schwimmbad?“

„Nein, ich weiß da was Besseres. Dort sind wir vermutlich ungestört und haben den ganzen Strand für uns alleine.“

 

Okay, das klang doch gar nicht schlecht.

 

„Na dann pack mal die Badehose ein.“

„Ich wollte eigentlich nackt ins Wasser.“

„Himmel, meine Nerven.“

 

Natürlich packten wir doch ganz ordentlich eine Badehose für Julius ein, bevor wir uns ins Auto setzten und er mit mir erst einmal eine halbe Weltreise machte. Als wir in einer kleinen Seitenstraße irgendeines Dorfes anhielten, dachte ich wirklich, er hätte sich verfahren. Hier gab es nämlich nichts außer drei Häusern und jeder Menge Bäume. Von Strand keine Spur.
 

„Wo sind wir hier?“

„Wirst du gleich sehen. Wir müssen erst noch ein Stück zu Fuß gehen.“

„Na da bin ich ja mal gespannt.“

 

War ich tatsächlich, denn nachdem wir erst durch ein kleines Waldstück gelaufen waren, standen wir plötzlich mitten im Schilf. Ich meine, ich bin ja nicht ganz klein, aber da war wirklich so überhaupt nichts mehr zu sehen außer einer grünen Blätterwand, die sich rechts und links des Weges im Wind wiegte. Außer dem Wispern der Blätter waren auch alle Geräusche verstummt. Wir waren vollkommen allein inmitten eines raschelnden, grünen Korridors, über dem sich ein wolkenloser, blauer Himmel spannte.
 

„Was ist? Kommst du?“

 

Julius stand auf dem Weg und sah mich mit leicht zusammengekniffenen Augen an. Heute trug er eine khakifarbene, kurze Hose und ein enges, weißes T-Shirt. Seine bloßen Füße steckten in braunen Sandalen. Ich hingegen war in Jeans und Turnschuhen unterwegs. Müßig zu erwähnen, dass mir zu warm war.

 

„Ja, klar, warte.“

 

Ich schloss zu ihm auf und nach einem kurzen Zögern griff ich nach seiner Hand. Der Weg war breit genug, so dass wir nebeneinander laufen konnten, ohne kopfüber ins Schilf zu kippen. Er lächelte und seine Finger schlossen sich enger um meine, bevor wir tatsächlich Hand in Hand durch das grüne Dickicht liefen.

 

Hinter einer Biegung endete der ungewöhnliche Spazierweg dann plötzlich. Das allgegenwärtige Grün wich zurück und gab den Blick auf einen breiten Wasserlauf frei. Am anderen Ufer gab es einen Sandstreifen, der zunächst in eine unebene Wiese und dann wieder in eine bewaldete Fläche überging. Beherrscht wurde das Bild jedoch von einer breiten, hölzernen Treppe, deren rutschfeste Bohlen auf eine von vier massiven Betonpfeiler getragene Brücke hinaufführten. Von hier unten sah es aus, als würden die Stufen direkt in den Himmel führen.

 

„Wer zuerst oben ist.“

 

Kaum hatte er das gesagt, hatte Julius schon meine Hand losgelassen und war losgelaufen.

 

„Ey!“, rief ich ihm hinterher und schaffte es natürlich nicht, ihn einzuholen. Zum Glück wartete er oben auf mich.
 

„Erster“, grinste er und lehnte sich an das graue Geländer. „Und? Hab ich zu viel versprochen?“

 

Ich sah mich um und wusste sofort, was er meinte. So weit das Auge reichte nur Wasser und Freiheit. Die Brücke, auf der wir standen, war an einer Engstelle zwischen zwei riesigen Seen errichtet worden. Die beiden von üppigen Schilfgürteln umrandeten Wasserflächen wurden lediglich durch eine schmale Landbrücke von dem mindestens noch einmal so breiten Meeresarm der Ostsee abgetrennt, auf dessen anderer Seite sich die Stadt befand, aus der wir gekommen waren. Von hier aus betrachtet wirkte sie seltsam unwirklich. Alles war so winzig klein. Selbst der markante Dom mutete an, als wäre er Teil einer Miniatur-Landschaft für Modelleisenbahnen. Vielleicht lag es auch daran, dass man die Menschen nicht mehr erkennen konnte. Man wusste, dass sie da waren, aber sie waren einfach so weit weg, so unerreichbar, das man unmöglich mit ihnen verbunden sein konnte. Als wären auch sie nur kleine Püppchen, nicht mehr als Spielzeuge, unecht und unbewegt. Eine Stadt in einer Schneekugel, während sich um uns herum das unendliche Wasser und das weite Grün der üppigen Landschaft ausbreitete.

 

Unwillkürlich atmete ich tief ein und konnte Julius neben mir lächeln hören.
 

„Du merkst es auch, nicht wahr?“

„Was?“

„Das Gefühl, einfach mal durchatmen zu können. Sich keine Gedanken machen zu müssen und einfach nur zu sein, wer man ist.“

 

Wieder sah ich auf das Wasser hinaus. Ja, das war es, was ich in mir spürte. Dieses Gefühl größer zu sein, als man eigentlich war. Ein Teil des Ganzen, statt nur ein Fremdkörper in einer Welt, die anders funktionierte als man selbst. Nicht nur in sich zu ruhen, sondern auch aus sich herausgehen zu können. Ohne Angst etwas verkehrt zu machen. Ohne Angst, irgendwo anzuecken. Weil es hier vollkommen egal war.
 

„Komm, wir schauen mal, wie die Wassertemperatur ist.“

„Dieses Mal bin ich aber Erster.“

 

Als ich tatsächlich vor Julius ins Wasser sprintete, nachdem ich mir meine Klamotten bis auf die Badehose vom Leib gerissen hatte, wünschte ich jedoch, dass ich lieber der ewige Zweite geblieben wäre. Es war nämlich einfach mal nur arschkalt. So zwei Zentimeter kalt, wenn ihr versteht, was ich meine.

 

„Ohne mich“, jaulte ich und sprang sofort wieder auf trockenen Boden zurück, wo ich bibbernd die Arme um mich schlang und mich die wunderbare Natur gerade mal kreuzweise konnte. Das war doch nicht in Ordnung. Von oben verbrennen und von unten in Eis packen. Aber ohne mich. Ich würde da ganz bestimmt nicht reingehen.

 

„Kneifst du etwa?“, lachte Julius, der sich gerade mal das T-Shirt über den Kopf gezogen hatte.

„Du wusstest das!“, keifte ich zurück. „Du hast gewusst, dass das einfach mal mördermäßig kalt ist.“

„Was hast du erwartet? Es ist gerade mal Mai.“

 

Ich sah ihn grummelig an, während er doch jetzt tatsächlich Anstalten machte, ins Wasser zu waten. Meinetwegen. Sollte er. Ich war doch nicht Reinhold Messner oder wie auch immer die seeische Entsprechung dafür hieß. Ich musste mir hier gar nichts beweisen. Schon gar nicht, indem ich mir im wahrsten Sinne des Wortes einen abfror.
 

„Wenn du mitkommst, könnten wir uns nachher gegenseitig wärmen“, bot Julius an und grinste, da man mir wohl ansah, dass ich aufgrund dieser Verlockung echt überlegte. Bei den Temperaturen wollte ich mir danach zwar eher was anziehen - viel anziehen wohlgemerkt – aber die Idee, das Julius dafür sorgen würde, dass mir wieder warm wurde, machte das Anbaden deutlich attraktiver. Und vielleicht musste ich mir ja doch ein ganz kleines bisschen was beweisen. Immerhin sah mein Beinahe-Freund zu.
 

„Na gut. Du hast es nicht anders gewollt“, grollte ich und bevor Julius wusste, wie ihm geschah, hatte ich die Entfernung zwischen uns überwunden, ihn einfach ins Wasser geschmissen und mich gleich hinterher. Wurde ja eh nicht besser, wenn man lange wartete, nicht wahr?

 

Julius kreischte entgegen seiner gerade noch so großen Schnauze ziemlich erschreckt auf, rächte sich dann jedoch sofort, indem er mich in dem eiskalten Tümpel festhielt und unter Wasser drückte. Na warte, das wirst du mir büßen. Im nächsten Augenblick war er derjenige, der die Luft anhalten musste, als ich mich mit vollem Gewicht auf ihn schmiss. Wir tobten und balgten und dabei vergaß ich irgendwie völlig, dass mir eigentlich kalt war, bis ich irgendwann bemerkte, dass Julius am ganzen Leib Gänsehaut hatte. Als ich sah, dass er auch noch zitterte und schon ganz blaue Lippen hatte, schlug ich ihm fest vor die Brust.
 

„Warum hast du nicht früher was gesagt?“

„W-wollte n-nicht a-aufgeben.“

„Spinner!“

„S-selber.“

 

Ich grinste und schob ihn in Richtung Ufer, wo wir uns zuerst abtrockneten und uns dann auf das verbliebene, trockene Handtuch quetschten. Julius war kalt wie ein Fisch, aber ich wickelte mich trotzdem um ihn, damit er endlich wieder ein bisschen Farbe ins Gesicht bekam. Als ich mich jedoch gerade darum bemühen wollte, die Durchblutung seiner Lippen noch ein bisschen zusätzlich anzukurbeln, hörten wir plötzlich einen Hund ganz in der Nähe bellen. Es folgte ein Pfiff und ein Ruf, der ankündigte, dass der Hund offenbar nicht allein war. Sofort stoben wir auseinander und setzten uns ganz manierlich nebeneinander hin. Julius zitterte immer noch und ich griff verstohlen nach seiner Hand, um wenigstens ein bisschen innere Wärme an ihn abzugeben, aber er entzog sie mir wieder und nickte nur in Richtung Brücke. Dort oben war jetzt ein Mann mit einem Boxer erschienen. Der Hund wetzte die Treppe hinunter, blieb kurz stehen um uns zu mustern und trollte sich dann ans Ufer, wo er interessiert an unseren Fußspuren herumschnüffelte. Sein Herrchen folgte deutlich gemächlicher und nickte uns freundlich zu.
 

„Mutig. Ist doch bestimmt noch kalt.“

„Ach, geht“, gab ich zurück. Julius schwieg nur.

 

Der Mann pfiff wieder nach dem Hund, der bellend zurückgerannt kam und erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelte, als er sah, dass sein Herrchen einen großen Ast zur Hand genommen hatte und diesen kurzerhand ins Wasser warf. Sofort sprang der Hund hinterher und preschte in vollem Tempo in die kalten Fluten, um sich das gute Stück wieder unter den Nagel zu reißen. Stolz wie Oskar brachte er es seinem Herrn zurück, der das Spiel gleich nochmal wiederholte. Und nochmal. Und nochmal
 

„Komm, wir gehen“, murmelte Julius.

 

Ich sah ihm an, dass er enttäuscht war. Natürlich konnte der Mann nichts dafür. Das hier war wahrscheinlich seine normale Ausgehroute oder er war halt hierher gekommen, um mit dem Hund schwimmen zu gehen. Konnte man ihm ja nicht verdenken. Aber für uns bedeutete das, dass die Realität in unsere kleine, grüne Blase eingebrochen war. Es hatte uns gezeigt, dass wir die in der Schneekugel gewesen waren. Und jetzt hatte sie jemand vom Regal gestoßen. Das Wasser war ausgelaufen, der Zauber verflogen. Willkommen zurück im richtigen Leben.
 

„Wir könnten noch zu dir nach Hause“, schlug ich vor, als wir wieder am Auto waren, aber Julius schüttelte den Kopf.

 

„Ich muss mich langsam fertig machen. Duschen und so. Wäre eh Zeit gewesen zu gehen.“

 

Ich wollte irgendwas sagen, dass es besser machte, aber mir fiel nichts ein. Und irgendwie hatte ich auch ein wenig das Gefühl, dass es meine Schuld war. Wenn ich nicht … na ja. Es hätte vieles einfacher gemacht.

 

„Mach dir nichts draus“, unterbrach Julius meine Gedanken. „Wir kommen ein anderes Mal wieder.“

 

Ich sah ihn an und er lächelte. Keine Spur von Vorwurf oder gar Bedauern. Einfach nur sein liebes, sanftes Julius-Lächeln. Also schob auch ich meine Mundwinkel nach oben und hoffte, dass ich ebenso zufrieden aussah wie er. Manchmal war glücklich sein eben wohl doch Einstellungssache. Nur würde ich, wie es aussah, an meiner Einstellung noch ein bisschen arbeiten müssen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Snowprinces
2020-07-31T21:51:17+00:00 31.07.2020 23:51
Hi

Ein schönes Kapitel und traurig dazu 😢
freue mich auf das nächste 😊

Kekse und eissckokolade mit sahne Haube hinstell

lieben Gruß
Antwort von:  Maginisha
01.08.2020 06:55
Hey Snowprinces"

Ja, ein bisschen traurig ist es schon, dass das alles so schwierig sein muss. Allerdings wollte ich genau das eben auch mit darstellen. Ich habe gerade eine Studie gelesen, in der stand, dass schwule Jungs oft das Problem haben, dass sie zwar den Wunsch nach einer festen Partnerschaft haben, diese aber aufgrund der äußeren Umstände (mangelnde Partner, ungeoutet usw.) nicht ausleben können. Was bleibt sind oberflächliche (Sex)-Bekanntschaften, da für mehr oft der Raum nicht da ist.

Aber keine Benage, die beiden werden schon noch ein wenig mehr Zeit miteinander bekommen. :)

Zauberhafte Grüße
Mag

P.S.: Ich werd noch kugelrund hier. :D
Von:  KaffeeFee
2020-07-31T21:35:54+00:00 31.07.2020 23:35
Ohhh ich liebe liebe liebe Mulan!!! "PLATZ, BERTA!"

Hätte der Herr mit Hund nicht woanders gehen können?! Manchmal bist du wirklich fies...
Aber immerhin gab es die versprochene Julius und Benedikt Zeit. Davon gibt es hoffentlich noch ganz viel mehr!

Bis dahin, koffeeinhaltige Grüße, die momentan voll im Wackenmodus befindliche KaffeeFee☕☕🌻
Antwort von:  Maginisha
01.08.2020 06:41
Wir mussten gestern mal wieder die Badeszene gucken. ;D

Der Weg ist nun mal beliebt für Hundespaziergänger. Ich konnte da nichts dafür. *pfeif* Aber die beiden bekommen noch mehr Zeit miteinander. Versprochen. :)

Zauberhafte Grüße
Mag

P.S.: Wie machst du Wackenfeeling? Mit Zelt im Wohnzimmer? :D
Antwort von:  KaffeeFee
01.08.2020 22:46
Mit Leinwand und viel Alkohol im Garten bei nem Kumpel😅🤘🤘
Antwort von:  Maginisha
02.08.2020 07:25
Sehr cool. Dann mal noch viel Spaß und wenig Kopfschmerzen. ^_~
Antwort von:  KaffeeFee
02.08.2020 15:24
Leider zu spät gelesen. 3 Stunden Schlaf, viel zu viel getrunken aber Spaß hatten wir😅
Von:  Ana1993
2020-07-31T10:32:05+00:00 31.07.2020 12:32
Irgendwie schön und irgendwie auch... traurig? Melancholisch?
Hm...
Würde die Beiden gerne mal durchknuddeln und mit heißem Kakao füttern und sagen, dass alles gut wird. Hach ja. Die sind schon niedlich zusammen!
Antwort von:  Maginisha
31.07.2020 16:46
Hey Ana,

tja, so ganz einfach ist das mit der Beziehung zwischen den beiden nicht. Schauen wir mal, wie es weitergeht. :)

Zauberhafte Grüße
Mag


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